Der Kleine Fürst Classic 61 – Adelsroman: Das Amulett Der Liebe 1a3i41

Der kleine Fürst Classic – 61 –

Das Amulett der Liebe

Bettina von Stätten sucht nicht nur die Vergangenheit …

Viola Maybach

Vorsichtig öffnete Bettina von Stetten die Flügeltür, die zum Schlafzimmer ihrer Großmutter führte. Der Zustand von Fürstin Emilia zu Leven hatte sich in den letzten Tagen erheblich verschlechtert, deshalb verließen Bettina, ihre Eltern und ihr Onkel die große alte Villa der Fürstin kaum noch. Sie war immer stark gewesen, aber vor einigen Monaten hatte sie sich ganz plötzlich verändert, war in geradezu unheimlich kurzer Zeit alt und hinfällig geworden und hatte etwas gesagt, das ihr noch kurz zuvor niemals über die Lippen gekommen wäre: »Ich habe keine Freude mehr am Leben.« Schmal und blass lag sie in ihrem Bett, die Augen hielt sie geschlossen, der Kopf mit den weißen Haaren war leicht zum Fenster geneigt. Sie bewegte sich nicht, doch schien sie Bettinas Anwesenheit zu spüren, denn sie fragte mit brüchiger Stimme: »Bist du das, Tina?« »Ja, Omi. Soll ich dir etwas bringen? Hättest du gern etwas zu trinken?« »Nichts, danke. Setz dich zu mir, Kind. Es ist schön, dass du jetzt bei mir bist.« Sie atmete schwer, bevor sie hinzusetzte: »Ich möchte dir etwas geben, ich denke, es wird Zeit.« Bettina setzte sich zu ihr ans Bett und griff nach ihrer Hand. Wie klein sie geworden war! Fast wie eine Kinderhand. »Sag so etwas nicht, Omi, wir haben Zeit genug.« Emilia öffnete die Augen und sah ihre einzige Enkelin an. Ihre Augen waren voller Liebe. »Ich werde sterben, Kind. Du weißt es, und ich weiß es auch. Und ich möchte, dass du dir, wenn ich tot bin, eins immer vor Augen hältst: Ich habe nichts mehr gegen den Tod einzuwenden, er kommt zum richtigen Zeitpunkt. Ich habe viel Schönes erleben dürfen, dafür bin ich dankbar, aber jetzt habe ich keine Kraft mehr.« »Aber … aber du warst immer so lebendig, alle haben dich für viel jünger gehalten, Omi! Warum hat sich das geändert?« Emilia lächelte. Es war ein fernes, entrücktes Lächeln, das Bettina erschreckte. »Zu spät«, murmelte sie. »Was ist zu spät, Omi? Bitte, rede doch mit mir. Vielleicht ... vielleicht findest du deine Lebensfreude ja noch wieder! Wir beide könnten noch einmal eine

Europareise machen, wie damals. Das war die schönste Reise meines Lebens, ich werde sie nie vergessen. Oder wir fliegen in die Südsee, das war doch ein Traum von dir. Nichts ist zu spät, so lange man …« Emilia hob müde eine Hand, um ihre Enkelin am Weiterreden zu hindern. »Kind, bitte, hör auf. Ich werde sterben. Du willst mir doch nicht meine letzten Stunden schwer machen?« »Natürlich nicht«, flüsterte Bettina mit tränenerstickter Stimme. »Aber wie soll ich denn ohne dich zurechtkommen? Du warst immer auf meiner Seite, hast mir zugehört, wenn ich Kummer hatte, mir einen Rat gegeben, wenn ich ihn brauchte. Ohne dich schaffe ich es nicht.« »Deine Eltern lieben dich, Tina, auch wenn sie es nicht so zeigen können wie ich, weil sie einen anstrengenden Alltag haben mit viel Arbeit und auch vielen Sorgen. Aber sie lieben dich, und sie würden alles für dich tun.« Emilia holte tief Luft. »Glaub mir, ich weiß das. Und jetzt sei bitte so gut und geh da drüben zu meinem Schrank.« Verwundert und verunsichert befolgte Bettina die Anweisung ihrer Großmutter. »Öffne ihn. Auf der rechten Seite befinden sich Schubladen. In der untersten liegt ein Kästchen. Nimm es bitte heraus und komm wieder zu mir.« Bettina brachte ihrer Großmutter das schwarze Kästchen, das sie nie zuvor gesehen hatte. »Hier bitte, Omi.« Emilia schüttelte den Kopf. »Mach es auf, Kind.« Auch das tat Bettina. Auf dunkelblauem Samt lag ein goldenes Amulett, dessen Mitte ein winziges Herz aus Diamanten zierte. Es war eine wunderschöne Arbeit, die Bettina sprachlos bewunderte. »Es gehört jetzt dir, Tina«, sagte Emilia. »Ich hoffe, dass du es trägst, wenn ich tot bin – und dass dich dieses Amulett immer daran erinnert, dass du eine der größten Freuden meines Lebens gewesen bist.« Bettina liefen Tränen über die Wangen, als sie sich über ihre Großmutter beugte, um sie zu küssen. »Danke, Omi. Es ist so unglaublich schön, ich weiß gar nicht,

was ich dazu sagen soll.« Emilia lächelte. »Tina, mein Kind«, murmelte sie. »Du musst nichts sagen.« Bettina setzte sich wieder auf den Stuhl, erneut griff sie nach der Hand ihrer Großmutter. »Warum habe ich dich dieses Amulett nie tragen sehen, Omi? Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum man etwas so Schönes im Schrank liegen lässt.« Emilias Gesicht war ihrer Enkelin zugewandt. »Ich hoffe«, erwiderte sie leise statt einer Antwort, »dass du glücklich wirst, Tina.« »Clemens und ich, wir werden so glücklich sein, wie du es mit Opa gewesen bist, Omi.« Die alte Dame lächelte. Es war erneut dieses entrückte Lächeln, das Bettina zuvor schon mit Furcht erfüllt hatte. »Nur eins noch, Tina: Die Briefe in meinem Schrank, nimm sie an dich und verbrenn sie. Stell mir keine Fragen dazu, verbrenn sie einfach.« »Briefe?« »Gleiche Schublade, weiter hinten«, murmelte Emilia. »Ich will nicht, dass sie in falsche Hände gelangen. Wirst du dafür sorgen? Versprich es mir. Ich wollte sie längst selbst vernichten, aber ich …« Ihre Stimme war immer schwächer geworden, bis sie schließlich erstarb. »Ich verbrenne sie, Omi, das verspreche ich dir.« Emilia stieß einen tiefen Seufzer aus. »Tina«, sagte sie leise, »geh nicht weg, lass du mich nicht auch noch allein.« »Aber nein, Omi, ich bleibe hier, bei dir.« Die Augen der alten Fürstin schlossen sich, der Kopf sank ein wenig zur Seite, eine kaum wahrnehmbare Bewegung. »Omi? Omi!« Tief in ihrem Inneren wusste Bettina sofort, dass sie keine Antwort von ihrer

Großmutter bekommen würde – nie mehr. Aber sie rief weiter, immer lauter, immer verzweifelter, bis sich die Tür des Zimmers öffnete und ihre Eltern und ihr Onkel Albrecht, Fürst zu Leven, hereinkamen. Marisa von Stetten legte ihrer Tochter beide Hände auf die Schultern und zog sie sanft zurück. »Es ist vorbei, Tina«, sagte sie mit Tränen in den Augen. »Es ist vorbei.« Dann beugte sie sich über ihre Mutter und küsste sie, ihr Bruder Albrecht tat es ihr gleich. Bettina begann haltlos zu schluchzen. Georg von Stetten trat nun ebenfalls näher. Er umarmte Frau und Tochter und zog sie an sich. So standen sie eine Weile verzweifelt und fassungslos an Emilias Totenbett, und Bettina schoss der Gedanke durch den Kopf, dass sie ihren Eltern nur selten so nahe war wie gerade jetzt. Auch das habe ich dir zu verdanken, Omi, dachte sie. Das und vieles andere mehr.

*

Graf Florian zu Stolzenberg bewohnte mit seiner jüngeren Schwester Clara eine großzügige Wohnung, die es jedem von ihnen erlaubte, sich auszubreiten, ohne den anderen zu behindern. Sie hatten sich schon immer gut verstanden und fanden diese Lösung daher sehr angenehm: Jeder führte sein eigenes Leben, war aber dennoch nicht allein. »Hier, die Post«, sagte Clara zu Florian, der in der Küche stand und Kaffee kochte. »Und die Zeitung.« »Hab nicht viel Zeit«, murmelte er. »Wir haben gleich als erstes heute Morgen eine Sitzung, bei der sich wieder alle wichtig machen werden. Du weißt, wie ich das hasse, aber ich muss erscheinen. Ich mache sowieso nicht genug Wind um meine Leistungen, andere verstehen das viel besser – und die haben deshalb auch bessere Aufstiegschancen.« Florian arbeitete als Wirtschaftsprüfer in einer ziemlich großen Firma, wo erheblicher Konkurrenzdruck herrschte. Es kam in letzter Zeit immer häufiger

vor, dass Clara, die sich für eine Ausbildung zur Krankengymnastin entschieden hatte, ihn abends massieren musste, weil ihm vor lauter Anspannung der Rücken weh tat. »Dann mach dich halt auch mal wichtig! Mit einem richtigen Frühstück im Magen lassen sich solche Sitzungen in jedem Fall besser ertragen«, erklärte sie jetzt, praktisch wie immer. »Iss wenigstens einen Toast, so spät ist es noch gar nicht.« Er warf einen Blick auf die Uhr. »Stimmt«, gab er zu, »aber ich habe überhaupt keinen Appetit.« Sie hatte das Brot bereits in den Toaster geschoben und deckte jetzt mit flinken Bewegungen den Tisch. »Der kommt schon«, sagte sie. »Los, setz dich, ich überwache die Kaffeemaschine und mache noch schnell Milch warm.« Die beiden Geschwister sahen einander sehr ähnlich mit ihren dichten dunklen Haaren, den dunklen Augen und den schmalen ebenmäßigen Gesichtern. Allerdings überragte der junge Graf seine Schwester um einen Kopf, worüber sie sich manchmal beschwerte – vor allem, wenn sie fand, dass er sich aufspielte. So nannte sie seine Bemühungen, ihr gute Ratschläge zu geben, wenn sie gerade keine Verwendung dafür hatte. Doch das kam nicht oft vor, meistens verlief ihr Zusammenleben in perfekter Harmonie. Als Florian den ersten Toast gegessen hatte, griff er zum zweiten, ohne es zu merken. Clara lachte in sich hinein – sie hatte es ja gewusst! Gleichzeitig griff er nach der Zeitung und blätterte sie flüchtig durch. Mit einem Mal jedoch erstarrte er mitten in der Bewegung. »Was ist denn?«, fragte sie und stellte ihre Kaffeetasse ab. »Fürstin Emilia zu Leven ist gestorben«, murmelte er. »Das ist traurig für die Familie, aber wir kennen sie doch nicht einmal, Flo«, erwiderte Clara verwundert. Er schob die Zeitung von sich. »Stimmt«, gab er zu, »aber mir hat mal jemand von ihr erzählt. Sie muss eine tolle Frau gewesen sein.« »Ja, das habe ich auch gehört«, erklärte Clara. »War sie nicht schon ziemlich

alt?« »Noch keine achtzig, also für heutige Verhältnisse nicht besonders alt«, antwortete er und stand auf. Der zweite Toast blieb angebissen liegen, auch seine noch halbvolle Tasse Kaffee ließ er stehen. »Ich muss los, Clara. Bis heute Abend dann.« Er küsste sie flüchtig auf beide Wangen, dann verließ er die Wohnung. Nachdenklich zog Clara die Zeitung zu sich heran und schlug noch einmal die Seite mit den Todesanzeigen auf. Aufmerksam las sie die Bekanntgabe vom Hinscheiden der alten Fürstin, aber sie konnte keinerlei Hinweis entdecken, der ihr eine Erklärung für die Reaktion ihres Bruders lieferte. Sie hatten Emilia zu Leven nicht gekannt, niemand in ihrer Familie hatte jemals etwas mit ihr zu tun gehabt, so weit sie wusste. Warum also reagierte Florian dann so merkwürdig auf die Nachricht ihres Todes? Sie stellte fest, dass es auch für sie Zeit wurde, das Haus zu verlassen, und so verschob sie ihre Grübeleien auf einen späteren Zeitpunkt. Vielleicht interpretierte sie auch nur zu viel in Florians Reaktion hinein. Wenig später, als sie ihren ersten Patienten massierte, hatte sie die kleine Begebenheit in der Küche bereits vergessen.

*

»Danke, dass du so schnell gekommen bist«, sagte Bettina, als ihr Verlobter Clemens von Gernshagen sie in die Arme schloss. »Ich wäre gern noch früher hier gewesen, aber ich habe keinen Flug bekommen«, erklärte er. Er schob sie ein Stück von sich und betrachtete sie prüfend. »Du hast wohl überhaupt nicht geschlafen, seit deine Großmutter gestorben ist?« Ihre Augen füllten sich sofort mit Tränen, und er zog sie wieder an sich. Sie weinte leise. »Ich kann nicht schlafen, Clemens. Ich hätte sie noch so gebraucht, und jetzt ist sie nicht mehr da. Zu ihr konnte ich immer gehen, sie hat mich

verstanden, auch wenn ich dummes Zeug gemacht habe. Sie war … ach …« Sie schluchzte bitterlich, er hielt sie fest. Ihm war sofort nach Erhalten der Todesnachricht klar gewesen, dass sie untröstlich sein würde. Selten hatte er ein so inniges Verhältnis erlebt wie das zwischen Bettina und der alten Fürstin. Es hatte ihn beinahe mit Neid erfüllt. Es musste schön sein, jemanden zu haben, dem man bedingungslos vertrauen konnte. Jemanden, der einen liebte, auch wenn man Fehler beging. Das war es, was er in seiner Beziehung zu Bettina zu finden hoffte – aber ihm war klar, dass die Liebe zwischen Mann und Frau etwas anderes war als die zwischen Großmutter und Enkelin. Endlich beruhigte sie sich. »Entschuldige«, sagte sie leise. »Eigentlich hatte ich Zeit genug, mich an den Gedanken zu gewöhnen, dass sie mich irgendwann verlassen würde, aber ich habe immer gedacht, sie erholt sich wieder. Sie war ihr Leben lang so stark – und dann, auf einmal …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann es immer noch nicht fassen, Clemens.« Er strich ihr liebevoll über die glänzenden roten Haare. Diese Haare waren es gewesen, die ihn zunächst auf sie aufmerksam gemacht hatten. Die Haare, ihr sprühendes Lachen, die lebhaften Augen … Seine Eltern waren von ihrer Verbindung ebenso begeistert gewesen wie Bettinas Eltern, und er wusste, dass sie, dezent im Hintergrund, einige Anstrengungen unternommen hatten, um ihre Kinder zusammenzubringen. Nun, was ihn anging, wäre das unnötig gewesen. Er hatte sich auf den ersten Blick in Bettina verliebt. Er wusste, dass es bei ihr anders war, aber er sprach nicht mit ihr darüber. Sie hatte seinen Antrag angenommen, das genügte ihm. Vielleicht war es von ihrer Seite nicht die ganz große Liebe, aber wenn sie ihm eine Chance gab, dann würde er alles tun, um diese ihre Liebe noch zu erringen. »Den Tod eines geliebten Menschen kann man wahrscheinlich nie fassen«, erwiderte er jetzt und kam sich dabei schrecklich unbeholfen vor. Er hatte noch nie einen Menschen verloren, den er liebte, wie also sollte er da die richtigen Worte finden, um Bettina zu trösten? Sie legte ihre nasse Wange an seine Brust. »Ich bin froh, dass du da bist, Clemens«, murmelte sie. »Dir kann ich wenigstens sagen, wie ich mich fühle.« »Das kannst du deinen Eltern auch sagen, Tina.«

»Ja, natürlich. Aber sie haben schon wieder so viel zu tun – ich habe den Eindruck, sie lassen gar keine Trauer zu. Sie ersticken ihre Gefühle in Aktivität. Es gibt ja auch vor einer großen Beerdigung so viel zu organisieren …« »Sei nicht ungerecht«, bat er. »Deine Eltern sind nun einmal Menschen, die ihre Gefühle nicht gut zeigen können. Das heißt aber nicht, dass sie keine haben.« Sie löste sich von ihm, ihre Augen waren wieder trocken. »Ja, das weiß ich«, gab sie zu. »Wir sind einfach sehr verschieden.« Jetzt lächelte sie sogar. »Sie finden es, glaube ich, ein wenig befremdlich, dass ich meine Trauer so offen zeige.« »Ich würde deine Großmutter gerne sehen, Tina.« »Sie ist in der Friedhofskapelle aufgebahrt. Ich begleite dich gern.« »Aber zuerst sollte ich deine Eltern begrüßen, denke ich.« Während er das tat, dachte Clemens, dass Bettina mit der Beschreibung ihrer Eltern nicht Unrecht hatte: Sie schienen schon wieder im Stress zu sein, jedenfalls kamen sie ihm vor wie immer, so kannte er sie. Normalerweise war es die Arbeit in ihrer gemeinsamen Firma, die sie unter Druck setzte – nun war es eben die Organisation einer großen Beisetzung. Von Trauer war in der Tat wenig zu spüren, zumindest auf den ersten Blick. Aber Marisa von Stettens Mund war schmal und lächelte nicht, und ihre Augen waren glanzlos. Auch Georg von Stetten war stiller als sonst. Sie trauerten durchaus, nur zeigten sie es anders als ihre Tochter. »Wir fahren zum Friedhof, Clemens möchte Omi sehen«, erklärte Bettina. Überraschend sagte ihre Mutter: »Ich würde gern mitkommen, wenn es euch nicht stört.« »Natürlich stört es nicht, Mama.« Bettina warf ihrer Mutter einen unsicheren Blick zu, doch Marisas Gesichtsausdruck verriet nicht, was in ihr vorging. Als sie in der Kapelle am offenen Sarg der alten Fürstin standen, wurde auch Clemens die Kehle eng. Er hatte Emilia erst kennengelernt, als sie, nach allgemeiner Aussage ihrer Verwandten und Freunde, nur noch ein Schatten ihrer selbst gewesen war – aber selbst da war sie noch eine beeindruckende

Persönlichkeit gewesen. Plötzlich erinnerte er sich, dass sie ihn bei seinem letzten Besuch, als er einige Minuten mit ihr allein gewesen war, gefragt hatte: »Werden Sie meine Enkelin glücklich machen, Clemens?« »Das hoffe ich«, hatte er geantwortet. »Jedenfalls werde ich alles tun, was in meiner Macht steht.« »Manchmal ist das nicht genug«, hatte sie gemurmelt. Gleich darauf war Bettina ins Zimmer zurückgekehrt. Ihm wurde klar, dass er die Erinnerung an diese Begegnung sorgfältig verdrängt hatte – vor allem wegen der letzten Bemerkung Fürstin Emilias. Und nun stellte sich also heraus, dass dies die letzten Worte gewesen waren, die sie in ihrem Leben an ihn gerichtet hatte: »Manchmal ist das nicht genug.« Wie hatte er das nur bis jetzt vergessen können?

*

»Wir fahren morgen zur Beisetzung von Fürstin Emilia«, sagte Baronin Sofia von Kant zwei Tage später. Sie und ihr Mann saßen mit ihren Kindern Anna und Konrad und ihrem Neffen Christian von Sternberg beim Frühstück. Christian war seit dem tragischen Unfalltod seiner Eltern praktisch ihr drittes Kind geworden, er war der einzige Sohn von Sofias Schwester Elisabeth gewesen, der Fürstin von Sternberg. »Und zwar sehr früh«, setzte Baron Friedrich hinzu. »Wir sind aber abends wieder zurück.« »Woran ist sie eigentlich gestorben?«, fragte Christian. »Als ich sie das letzte Mal gesehen habe, war sie unheimlich fit für ihr Alter – und so lange ist das noch gar nicht her. War sie krank?« »Alle, die sie in den letzten Monaten gesehen haben, sagen, dass sie im Sommer einen Knacks bekommen hat. Mit einem Mal alterte sie, wurde hinfällig und verlor wohl auch die Lebenslust.«

»Arme Tina, sie hat sehr an ihrer Großmutter gehangen.« »Ja, das hat sie. Wir werden sie zu uns einladen, vielleicht braucht sie eine Luftveränderung, wenn die Beisetzung vorüber und auch sonst alles geregelt ist.« »Geregelt?«, fragte der sechzehnjährige Konrad. »Meinst du ihr Erbe?« »Nach einem Todesfall sind immer viele Dinge zu regeln, Konny«, erwiderte der Baron, wobei er Christian mit einem besorgten Blick streifte. Der Tod seiner Eltern hatte ihn ernster und reifer gemacht, er wirkte älter als seine fünfzehn Jahre. Dennoch hatte er die Freude am Leben nicht verloren, wenn er auch nicht mehr so übermütig war wie früher. Zu seiner Erleichterung stellte Friedrich fest, dass der Junge dem Gespräch ganz ruhig folgte, es schien ihn also nicht zu überfordern. Jetzt mischte er sich sogar ein. »Das hast du doch bei mir gesehen, Konny. Bis deine Eltern das Sorgerecht für mich bekommen haben, war auch vieles zu klären.« »Du bist ja auch minderjährig«, stellte Konrad fest. »Aber das ist bei den Erben von Fürstin Emilia ja nicht der Fall.« »Trotzdem muss der Nachlass geklärt werden«, sagte der Baron in abschließendem Ton, den auch sein Sohn verstand. Jetzt erst begriff Konrad, dass seine Eltern der Ansicht waren, er hätte das Thema in Christians Gegenwart gar nicht erst vertiefen sollen. Aber für diese Einsicht war es natürlich zu spät. Hastig stand er auf. »Ich muss los«, sagte er. »Wir haben Mathe in der ersten Stunde.« Anna und Christian blieben noch sitzen, sie hatten in der ersten Stunde frei und konnten sich daher mehr Zeit lassen. »Mich würde es freuen, wenn Bettina zu Besuch käme«, sagte Christian. »Mich auch«, erklärte Anna. »Dann werden wir unsere Einladung auch in eurem Namen aussprechen«, sagte die Baronin. Lautes Bellen war zu hören, woraufhin sich Christian eilig erhob. »Ich muss

noch mit Togo raus, bevor wir fahren, Anna. Willst du mit?« »Ich habe heute Morgen so großen Hunger«, entschuldigte sich seine Cousine. »Geh allein, Chris.« Das tat er, gleich darauf hörte das Bellen schlagartig auf. Togo war Christians junger Boxer, den Sofia und Friedrich ihm kurze Zeit nach dem tödlichen Unfall seiner Eltern geschenkt hatten. Die beiden hingen mit großer Liebe aneinander. »Konny ist wie ein Elefant im Porzellanladen«, schimpfte Anna vor sich hin. »Nie begreift er, wann er besser den Mund halten müsste.« Sofia und Friedrich zogen es vor, diese Äußerung ihrer Tochter nicht zu kommentieren. Sie waren im Stillen aber ganz ihrer Meinung.

*

Es war reiner Zufall, dass Clara ihren Bruder am nächsten Tag sah, als er das Haus verließ. Sie saß in ihrem Auto, um zur Praxis zu fahren, hatte jedoch etwas vergessen und war daher im Begriff, noch einmal auszusteigen, als Florian das Haus verließ. Wie gelähmt blieb sie hinter dem Steuer sitzen und beobachtete ihn. Er trug schwarz, vom Kopf bis zu den Füßen, und es war nicht allzu schwer zu erraten, was er vorhatte. Offenbar wollte er an der Beisetzung von Fürstin Emilia zu Leven teilnehmen, die an diesem Morgen stattfinden sollte. Es war ihr in den vergangenen Tagen nicht gelungen, zu diesem Thema noch etwas aus ihm herauszubringen. Er war ihr entweder ausgewichen oder hatte so getan, als bildete sie sich seine besondere Anteilnahme an diesem Todesfall nur ein. Es kränkte sie, dass er sie für so dumm hielt, aber noch mehr verletzte es sie, dass er kein Vertrauen zu ihr hatte. Warum konnte er ihr nicht die Wahrheit sagen? Sie hatte, als ihr abends die Anzeige wieder eingefallen war, die Zeitung noch einmal durchsehen wollen, sie jedoch nicht mehr gefunden. Florian hatte nur mit den Schultern gezuckt. »Wahrscheinlich habe ich sie schon weggeworfen, es stand doch nichts Interessantes drin, Clara.«

Sie wartete, bis er weggefahren war, dann stieg sie aus und kehrte ins Haus zurück. Als sie die vergessenen Unterlagen gefunden hatte, konnte sie nicht widerstehen, sein Schlafzimmer zu betreten – und da lag sie, die Zeitung mit der Todesanzeige der alten Fürstin, direkt auf seinem Nachttisch. Hastig schloss sie die Tür wieder, normalerweise achteten sie die Privatsphäre des jeweils anderen, und sie hatte auch ganz bestimmt nicht herumschnüffeln wollen. Aber sie machte sich Sorgen um Florian. Er verhielt sich seltsam, und er wirkte bedrückt. Sie hatten einander schon durch etliche kleinere und größere Krisen hindurch begleitet – warum konnte das nicht auch dieses Mal so sein? Seufzend verließ sie die Wohnung wieder, stieg ins Auto und machte sich endlich auf den Weg. Zu allem Überfluss würde sie an diesem Tag auch noch zu spät kommen.

*

Florian suchte sich in der Kirche, in der der Trauergottesdienst für Fürstin Emilia zu Leven abgehalten wurde, keinen Sitzplatz. Er fand, der stand ihm nicht zu, er war ja gewissermaßen ein Eindringling, denn er hatte die Verstorbene persönlich nicht gekannt. Aber er musste ihre Familie, musste die Menschen sehen, die ihr nahe gestanden hatten. Also blieb er in der Nähe des Eingangs stehen, neben einer Säule. Als jemand neben ihm sagte: »Florian!«, sah er beinahe erschrocken auf. Sofia und Friedrich von Kant hatten soeben die Kirche betreten und ihn erkannt. Sie begrüßten sich leise, dann fragte die Baronin: »Willst du hier hinten stehen bleiben?« »Ja, ich … ich werde nicht bis zum Schluss bleiben können«, erklärte er, froh darüber, dass sie es offenbar nicht seltsam fanden, ihn hier zu sehen. Sofia und Friedrich nickten ihm noch einmal zu, dann gingen sie weiter nach vorn. Er sah, dass sie in einer der ersten Reihen Platz nahmen. Unauffällig blickte er sich um. Er fand etliche bekannte Gesichter. Wieso hatte er sich eigentlich eingebildet, er würde hier auffallen? Dieses war eine große

Beisetzung, die Fürstin war beliebt gewesen, viele Menschen hatten sie gekannt. Es wäre ohne weiteres möglich gewesen, dass auch er ihr zu Lebzeiten einmal begegnet wäre. Er hörte ein Raunen um sich herum und wandte den Kopf, um die Ursache dafür herauszufinden. Als er die kleine Gruppe von Menschen sah, die in diesem Augenblick die Kirche betrat, wusste er sofort, dass es sich um die engsten Angehörigen der alten Fürstin handeln musste, obwohl er sie nie zuvor gesehen hatte. Die Tochter der Verstorbenen war eine schmale Frau mit verschlossenem Gesicht, die hoch aufgerichtet am Arm ihres Mannes den Mittelgang entlangschritt. Dann kam Fürst Albrecht zu Leven, der etliche Jahre jünger war als seine Schwester und noch immer Junggeselle. Neben ihm ging ein jüngeres Paar, bei dem vor allem die Frau Florians Aufmerksamkeit weckte. Sie musste die bisher einzige Enkelin von Fürstin Emilia sein: eine bemerkenswert schöne Rothaarige, die anders als ihre Mutter ihre Trauer offen zeigte. Der Mann an ihrer Seite war ein schlanker Blonder mit sympathischem Gesicht. Mit brennenden Augen sah er den fünf Menschen nach, bis sie in der ersten Reihe Platz genommen hatten, direkt vor dem über und über mit Blumen geschmückten Sarg. Die Orgel begann leise zu spielen, und Florian senkte den Kopf. Plötzlich kamen ihm Zweifel, ob es richtig gewesen war, hierher zu kommen. Was tat er hier, wo er doch die Trauer der Anwesenden nicht teilen konnte? Doch zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass das so nicht stimmte: Er war durchaus von Trauer erfüllt – wenn diese sich auch nicht in erster Linie auf die Person der Verstorbenen bezog, sondern auf versäumtes, ungelebtes Glück … Er blieb bis zum Ende des Trauergottesdienstes, dann floh er. Aber als er wieder in seinem Wagen saß, fuhr er nicht sofort nach Hause, sondern blieb hinter dem Steuer sitzen, während er die schwarz gekleideten Menschen beobachtete, die aus der Kirche strömten. Er wartete, bis er die rothaarige Enkelin hinter dem Sarg ihrer Großmutter sah. Angeblich hatte die alte Fürstin früher auch rote Haare und grüne Augen gehabt – und sie war wohl auch sehr temperamentvoll gewesen. Er beschloss, die Enkelin kennenzulernen, das ließ sich sicherlich irgendwie einrichten. Und dann würde er herausfinden, was sie wusste – oder auch nicht.

Endlich ließ er den Motor an und machte sich auf den Heimweg.

*

Bettina erlebte die Beisetzung wie durch einen Nebel. Die Worte, die gesprochen wurden, erreichten sie kaum. Viele Gesichter tauchten vor ihr auf, Lippen bewegten sich und sagten etwas, ihre Hände wurden gedrückt, aber sie nahm das alles nicht richtig wahr. Während des Requiems konnte sie die Augen nicht vom geschlossenen Sarg abwenden – unvorstellbar, dass ihre Großmutter in dieser Kiste lag und sie nie wieder verlassen würde. Wo war ihre Seele jetzt? Schwebte sie durch den Kirchenraum? War sie in der Nähe? Oder gab es überhaupt keine Seele? Ihre Gedanken wanderten ruhelos hin und her. Erinnerungen kamen ihr, viele Erinnerungen, in denen ihre Großmutter eine Hauptrolle spielte. Wer hatte zwischen ihr und ihrer besten Freundin im Kindergarten vermittelt? Ihre Mutter versöhnt, als Bettina einmal gelogen hatte und aufgeflogen war? Ihr geholfen, als sie die kostbare chinesische Vase umgestoßen hatte? Mit ihren Lehrern gesprochen, wenn die mit ihren Leistungen nicht zufrieden gewesen waren? Wer hatte sie beim ersten Liebeskummer getröstet? Omi, ich komme nicht ohne dich zurecht, dachte sie verzweifelt. Du hättest noch bleiben müssen. Sie spürte, wie sich Clemens’ Hand um ihre schloss, das war immerhin tröstlich: Ganz allein war sie nicht. Auch ihre Mutter weinte, sah sie, und auch das war tröstlich. Sie fühlte sich ihrer Mutter näher als je zuvor, und das war ja seit dem Tod ihrer Großmutter nicht das erste Mal. Sie folgte dem Sarg blind vor Tränen, sie schwankte und wäre beinahe gefallen, als er in die Gruft eingelassen wurde. Clemens stützte sie, auch ihr Vater griff nach ihrem Arm und hielt sie fest. Sie tastete nach dem Amulett, das sie unter ihrem schwarzen Kleid trug. Noch hatte es niemand gesehen, hatte sie niemandem von ihrem letzten Gespräch mit Emilia erzählt. Aber irgendwann, wenn alles vorüber war, würde sie sich vielleicht ihrer Mutter anvertrauen.

Vertraute, liebe Gesichter tauchten mit einem Mal vor ihr auf. Die Beisetzung war vorüber, begriff sie – und nun standen Sofia und Friedrich von Kant vor ihr. Sofia sagte gar nichts, sie zog Bettina in ihre Arme und drückte sie an sich. So machte es auch der Baron, und Bettina fühlte warme Zuneigung zu den beiden in sich aufsteigen. Mehrmals war sie mit Emilia auf Sternberg gewesen – und sie hatte jeden einzelnen dieser Aufenthalte in wundervoller Erinnerung. Aber auch das gehörte der Vergangenheit an. Wenn sie jetzt nach Sternberg fuhr, würde sie es ohne Emilia tun müssen. »Ich bin froh, dass ihr da seid«, sagte sie leise und wischte sich einmal mehr die Tränen aus den Augen. »Aber das war doch selbstverständlich, Tina«, erwiderte die Baronin. »Wenn du das alles hier hinter dir hast und dich nach einer Luftveränderung sehnst, dann weißt du ja, dass du bei uns jederzeit herzlich willkommen bist. Das sollen wir dir ausdrücklich auch von den Kindern ausrichten. Sie würden sich über deinen Besuch sehr freuen. Clemens ist uns natürlich ebenfalls herzlich willkommen.« »Danke, Sofia«, flüsterte Bettina. »Es kann gut sein, dass ich eure Einladung annehme.« Sofia und Friedrich kondolierten nun auch Bettinas Eltern und ihrem Verlobten, verabschiedeten sich jedoch danach, denn sie hatten ja noch eine ziemlich lange Heimfahrt vor sich. Bettina hätte sie gern noch länger in ihrer Nähe gehabt – Sternberg verband sie mit ihrer Großmutter, und wenn die Sternberger bei ihr waren, war es damit in gewisser Weise auch Emilia. Aber natürlich wusste sie, dass solche Überlegungen nur Versuche waren, die bittere Wahrheit zu verdrängen: dass nämlich Emilia für immer gegangen war.

*

»Ein neuer Patient für dich, Clara«, sagte Tanja Rösler gegen Ende des Arbeitstages. Er war lang und anstrengend gewesen, Clara hatte bereits mehrfach verstohlen auf die Uhr geschielt. Ihr Körper war verspannt, sie brauchte selbst

eine Behandlung. So ging es ihr oft, wenn sie lauter schwierige Patienten hatte, und das war heute der Fall gewesen. »Der Mann ist der Letzte für heute. Soll ich dich massieren, wenn du fertig bist?«, fragte Tanja, die sie beobachtet hatte. »Das wäre großartig«, seufzte Clara. »Heute hat es mich echt erwischt.« »War ja auch ein langer Tag«, stellte Tanja fest. Sie war Claras Chefin, ihr gehörte die Praxis, die sie vor wenigen Jahren eröffnet und durch harte Arbeit bekannt gemacht hatte. Clara bewunderte Tanja für ihren Mut und ihre Tatkraft. Sie hatte zwei Kinder, die sie alleine großzog, und sie beklagte sich nie. Eine mollige Brünette war sie, mit warmen braunen Augen und einem Mund, der sich jederzeit gern zu einem Lächeln verzog. »Wer ist denn der Neue?«, erkundigte sich Clara jetzt. Tanja sah auf den Terminplan. »Bandscheibenvorfall im Lendenwirbelbereich«, stellte sie fest. »Er will sich nicht operieren lassen. Sein Name ist Ulrich von Dornfeld.« »Alter?«, erkundigte sich Clara. »Zweiunddreißig. Macht einen sympathischen Eindruck, wirkt aber durch seine Schmerzen ziemlich gestresst. Lass dir was einfallen, wie du ihm schnell helfen kannst, er scheint es nötig zu haben.« »Ist er schon da?« »Soeben eingetroffen. Kabine sechs. Ich hätte ihn selbst übernommen, aber ich habe noch zu tun.« »Dann mal los«, murmelte Clara und eilte zu Kabine sechs. Als sie eintrat, sah sie einen Mann in leicht gebeugter Haltung vor dem Massagetisch stehen, mit einer Hand stützte er sich darauf. Er war nicht direkt dick, aber auf dem besten Wege dahin. Als er sie hörte, hob er den Kopf und lächelte müde. Braune Haare, braune Augen, blass, angestrengt, stellte sie fest. Sympathisches Gesicht, kluge Augen. Sie war gut darin, sich sehr schnell ein Bild von einem Menschen zu machen – meistens war ihr erster Eindruck

zutreffend. Das half ihr bei der Behandlung. »Guten Tag, Herr von Dornfeld«, sagte sie ruhig, »ich bin Clara Stolzenberg.« Ihren Titel benutzte sie im Beruf grundsätzlich nicht, das fand sie einfacher. »Sehr erfreut«, murmelte er, um dann sofort hinzuzusetzen: »Die Schmerzen sind gerade wieder besonders stark. Und ich habe mich gefragt, ob ich mich vielleicht doch operieren lassen sollte, damit das ein Ende hat.« »Wir versuchen zunächst einmal, ohne Operation auszukommen«, sagte Clara. »Deshalb sind Sie schließlich hier. Die Operation läuft Ihnen nicht weg. Haben Sie Ihre Aufnahmen dabei?« Er nickte und reichte ihr einen Umschlag. »Hier, bitte sehr.« »Während ich mir die Aufnahmen ansehe, ziehen Sie sich bitte aus und legen sich auf die Liege.« Er stöhnte. »Das dauert eine halbe Stunde«, erklärte er. »An- und ausziehen ist eine Qual, weil ich dabei lauter für mich schmerzhafte Bewegungen machen muss.« »Dann helfe ich Ihnen«, sagte Clara. Es ging dann besser als erwartet, aber als ihr Patient bäuchlings auf der Liege lag, hatte er Schweißperlen auf der Stirn. Sie schaltete die Wärmelampe ein und richtete diese auf den geschädigten Bereich der Wirbelsäule. »Das wird Ihnen gut tun«, erklärte sie und vertiefte sich in die Röntgenbilder. Sie beobachtete ihn aus den Augenwinkeln und bemerkte, dass er sich bereits nach wenigen Minuten merklich entspannte. »Haben Sie Stress, Herr von Dornfeld?«, erkundigte sie sich. »Nicht mehr als andere auch«, erklärte er. Sie ließ die Wärmelampe an, als sie begann, mit ihren Händen seinen Körper zu erkunden. »Du hast magische Hände«, hatte mal jemand zu ihr gesagt, was natürlich Unsinn war. Aber sie war tatsächlich fähig, mit den Händen zu sehen, wie sie es nannte. Mit geschlossenen Augen untersuchte sie seinen Rücken, fuhr mit den Fingern die Wirbelsäule entlang, entdeckte Schwächen, Fehlstellungen und Verspannungen und wusste schließlich, als sie ihre Erkundungen beendet

hatte, schon ziemlich gut Bescheid über das, was ihm die Schmerzen bereitete. Er war nur ganz am Anfang zusammengezuckt, als sie ihre Hände auf seine untere Wirbelsäule gelegt und dort ruhig hatte liegen lassen. Danach hatte er sich nicht mehr gerührt, auch kein Wort gesagt. Sie schloss daraus, dass sie ihm zumindest keine weiteren Schmerzen zugefügt hatte. »Wie machen Sie das?«, fragte er jetzt. »Was meinen Sie?« »Sie scheinen genau zu wissen, wie Sie mich berühren müssen, damit es mir nicht weh tut«, erklärte er. »Das lernt man im Laufe der Zeit«, erwiderte sie. »Und eins kann ich Ihnen jetzt schon sagen: Wenn Sie so weitermachen wie bisher, werden Sie Ihre Schmerzen nicht los.« »So weitermachen wie bisher?«, fragte er verständnislos. »Sie wissen doch gar nichts über mein Leben.« Clara begann mit einer leichten Massage. »Ich weiß eine Menge«, widersprach sie. »Sie sitzen mehr oder weniger den ganzen Tag, ohne einen Ausgleich zu suchen. Sport treiben Sie überhaupt nicht mehr. Das haben Sie früher mal gemacht, aber mittlerweile fehlt Ihnen die Zeit. Das Rauchen hatten Sie aufgegeben, aber vor lauter Stress im Beruf haben Sie wieder damit angefangen. Wenn Sie schwere Sachen tragen, tun Sie das einseitig, die Schmerzen, mit denen Ihr Rücken darauf reagiert, übergehen Sie. Und natürlich ernähren Sie sich auch nicht sonderlich gesund, denn dafür fehlt Ihnen ebenfalls die Zeit. Tagsüber vergessen Sie das Essen meistens, also holen Sie es abends nach – und bei der Gelegenheit wird natürlich auch immer Wein getrunken und ordentlich geraucht. Danach fallen Sie wie betäubt ins Bett, ohne wirklich erholsamen Schlaf zu finden, und am nächsten Tag geht alles von vorne los.« Eine Weile war es still. Clara lächelte in sich hinein, sie wusste ziemlich genau, was folgen würde. Als er die Frage schließlich stellte, hätte sie beinahe laut gelacht. »Woher wissen Sie das alles?« Seine Stimme war ganz tief geworden vor lauter Verwunderung.

»Ich habe Augen im Kopf, und was ich nicht sofort gesehen habe, das haben mir meine Hände verraten«, erklärte sie. »Sie müssen Ihr Leben verändern, Herr von Dornfeld. Und zwar grundsätzlich, sonst werden Sie nie wieder schmerzfrei sein, das garantiere ich Ihnen.« »Das hat mir mein Hausarzt auch schon gesagt«, murmelte er. »Aber ich kann doch nicht alles auf den Kopf stellen!« »Natürlich können Sie das! So alt sind Sie schließlich noch nicht, dass Sie sich von lieb gewordenen Gewohnheiten nicht mehr trennen können.« »Das hat gesessen«, stellte er fest. »Ich muss Sie ja irgendwie aufrütteln und motivieren«, erwiderte sie gelassen. »Also, was ist jetzt? Sind Sie bereit, Ihre eingefahrenen Gleise zu verlassen?« »Andere Ernährung, das Rauchen aufgeben, Sport treiben?«, fragte er. »Und noch einiges mehr«, antwortete sie. »Das ist Ihr Ernst, oder?« »Mein voller Ernst.« »Übrigens tut diese Massage unglaublich gut.« »Ja, ich weiß. Und alles andere, was ich Ihnen vorschlage, wird Ihnen auch gut tun. Sollten Sie aber nicht auf mich hören …« Er lachte leise. »Jetzt drohen Sie mir auch noch?« »Ich sage Ihnen nur, was Sie erwartet, wenn Sie Ihren ungesunden und schädlichen Lebensstil fortsetzen«, sagte Clara ruhig. »Glauben Sie mir: Sie werden es bereuen.« Sie beendete die Massage und sagte: »Ich werde Sie jetzt anders hinlegen. Das wird Ihnen seltsam vorkommen, Sie werden das Gefühl haben, etwas verrenkt zu liegen.« »Und warum machen Sie es dann?«, fragte er verwundert. »Das erkläre ich Ihnen hinterher.« Sie begann, die Haltung seines rechten Beins

zu korrigieren, danach seine Armhaltung. Auch den Kopf rückte sie anders zurecht. »Völlig verrenkt«, murmelte er. »Genauso liegen bleiben, Herr von Dornfeld!« »Das ist anstrengend, weil es so eine unnatürliche Haltung ist«, beschwerte er sich. »Es ist die richtige Haltung«, widersprach sie, »so sollten Sie eigentlich liegen, und das muss Ihr Körper wieder lernen. Bald werden einige Muskeln anfangen zu zucken, und Ihr Körper wird die neue Haltung schnell wieder lernen.« Zufrieden beobachtete sie die winzigen Bewegungen der arbeitenden Muskeln, und nach zehn Minuten erlöste sie ihren Patienten. Als Ulrich von Dornfeld aufstand, rief er verwundert: »Ich kann mich ja plötzlich bewegen wie ein gesunder Mensch! Mir tut überhaupt nichts mehr weh.« »Halt, einen Moment noch!«, sagte Clara. »Diese Schmerzfreiheit wird nicht anhalten, das ist Ihnen hoffentlich klar? Wir gehen jetzt gemeinsam durch, was Sie auf keinen Fall tun dürfen in den nächsten Tagen – auf gar keinen Fall, haben Sie mich verstanden?« Er nickte, und sie reichte ihm eine Liste, die sie Punkt für Punkt mit ihm durchging. Anschließend reichte sie ihm ein weiteres Blatt: »Einige Ernährungsvorschläge – und dann könnten Sie sich bis zum nächsten Mal überlegen, welcher Ausdauersport für Sie in Frage käme. Radfahren, Laufen, Schwimmen. Über den Muskulaturaufbau rund um Ihre Wirbelsäule reden wir das nächste Mal. Ach so, und das Rauchen geben Sie natürlich auch auf, ab sofort. Werfen Sie alles weg, was Sie noch an Zigaretten haben.« Sein Gesicht war so fassungslos, dass sie lachen musste. »Auf Wiedersehen, Herr von Dornfeld«, sagte sie freundlich, »wir sehen uns in drei Tagen!« Mit diesen Worten verließ sie die Kabine, denn sie ging davon aus, dass er jetzt keine Hilfe mehr beim Anziehen brauchte.

»Und, wie war’s?«, fragte Tanja. »Er muss noch viel lernen«, antwortete Clara, »aber er ist, glaube ich, kein hoffnungsloser Fall. Und mir geht es jetzt auch viel besser, ich glaube, ich brauche keine Massage mehr. Danke trotzdem für das Angebot, vielleicht komme ich ein anderes Mal darauf zurück. Bis morgen, Tanja.« Mit diesen Worten verließ Clara die Praxis. Es war noch immer ziemlich kalt, aber die Luft war klar, es regnete nicht. Sie atmete einige Male tief ein und aus und stellte verwundert fest, dass tatsächlich all ihre vorherigen Verspannungen verschwunden waren. Ob das an Ulrich von Dornfeld lag? Gut möglich, denn er gefiel ihr, und es würde ihr daher Freude bereiten, ihm zu helfen.

*

Marisa von Stetten beugte sich vor und fragte verwundert: »Was ist das für ein Amulett, Tina? Hat Clemens es dir geschenkt?« Es war das erste Mal, dass Bettina das Amulett offen trug, sie hatte bereits gespannt auf eine Reaktion gewartet. »Nein, ich habe es von Omi bekommen, kurz bevor sie … bevor sie gestorben ist«, antwortete sie. »Von meiner Mutter?«, fragte Marisa ungläubig. »Aber dieses Schmuckstück ist mir vollkommen unbekannt!« »Ja, ich hatte es auch noch nie gesehen«, erklärte Bettina, »und als ich sie danach gefragt habe, hat sie mir keine Antwort gegeben.« Marisa wandte sich an ihren Bruder. »Kennst du das Amulett, Albrecht?« Er schüttelte den Kopf. »Aber du weißt, dass ich mich für Schmuck auch nicht sonderlich interessiere, Marisa.« Sie wandte sich wieder an ihre Tochter. »Darf ich es mir einmal genauer

ansehen?« »Ja, sicher.« Bettina öffnete den Verschluss der Kette und reichte ihrer Mutter das Schmuckstück. Marisa studierte es eingehend. »Eine wunderschöne Arbeit ist das, alt und mit Sicherheit außerordentlich kostbar. Möglich, dass es aus dem Russland der Zarenzeit stammt.« Sie gab ihrer Tochter das Amulett kopfschüttelnd zurück. »Es kann doch nicht sein, dass meine Mutter ein solches Schmuckstück besessen hat und niemand wusste etwas davon!« Georg von Stetten mischte sich ein. »Vielleicht hat sie es aus einem bestimmten Grund nicht tragen wollen, Marisa. Kann doch sein, dass es traurige Erinnerungen in ihr weckte.« »Ja, genau«, stimmte Albrecht zu. »Das würde zu Mama en, dass sie ein Stück, auch wenn es noch so schön ist, dann lieber nicht mehr trägt.« »Traurige Erinnerungen? Wenn es ein Geschenk unseres Vaters war, Albrecht, dann hätte sie es doch zumindest bis zu seinem Tod vor zwei Jahren tragen können! Aber ich habe es auch davor niemals an ihr gesehen. Ich verstehe das wirklich nicht.« Noch immer hingen Marisas Augen an dem Amulett, das Bettina bereits wieder um den Hals trug. »Wer außer unserem Vater hätte ihr so etwas Kostbares schenken können? Zu ihrem Erbe, nach dem Tod unserer Großmutter, hat es sicherlich nicht gehört, das wüsste ich. Als ich noch klein war, gehörte es zu meinen liebsten Beschäftigungen, mir den Schmuck meiner Mutter anzusehen – sie hat mir zu jedem einzelnen Stück eine Geschichte erzählen können.« Eine Weile schwiegen sie, bis Bettina sich erinnerte, dass ihr in Emilias letzten Lebensminuten nicht nur das Amulett Rätsel aufgegeben hatte: »Ich habe Omi noch gefragt, warum sie auf einmal allen Lebensmut verloren hat, da hat sie mir geantwortet: ›Zu spät.‹« »Zu spät für eine Erklärung«, murmelte Fürst Albrecht. »Wahrscheinlich hat sie das damit sagen wollen.« Bettina nickte bedrückt. »Gleich danach ist sie gestorben. Ich hätte ihr gern noch mehr Fragen gestellt, auch zu dem Amulett, aber das war nicht mehr möglich.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Von den Briefen, die sie noch am Abend von

Emilias Tod an sich genommen hatte, sagte sie nichts, das hatte sie ja versprochen. Sie waren jetzt in ihrer Wohnung, und irgendwann würde sie dem Wunsch ihrer Großmutter nachkommen und sie verbrennen. Aber noch nicht sofort, das hatte Zeit. »Seltsame Geschichte«, murmelte Marisa. Plötzlich kam Bettina der Gedanke, dass ihre Mutter sich zurückgesetzt fühlen könnte – schließlich war sie Emilias Tochter gewesen. »Möchtest du das Amulett haben, Mama?«, fragte sie hastig. »Aber nein, Kind«, wehrte Marisa beinahe erschrocken ab. »Du hattest ein viel engeres Verhältnis zu meiner Mutter als ich – dachtest du, das wüsste ich nicht? Ihr wart euch ähnlich, während meine Mutter und ich einander im Grunde genommen immer fremd gewesen sind. Vielleicht damals nicht, als ich noch ein Kind war, aber seitdem …« Ihre Stimme verlor sich. Dann war es bei euch wie bei dir und mir, dachte Bettina, aber das sagte sie nicht laut. Es war ein schmerzlicher Gedanke, und noch immer hegte sie die Hoffnung, dass sie ihren Eltern eines Tages wirklich nah sein würde, denn das wünschte sie sich von ganzem Herzen. Marisa schien die Gedanken ihrer Tochter zu erraten. »Sie hat es dir gegeben, und sie wird sich etwas dabei gedacht haben, Tina«, sagte sie mit warmer Stimme – und dann tat sie etwas sehr Seltenes: Sie zog Bettina in ihre Arme. »Du siehst aus, wie sie früher ausgesehen hat«, sagte sie leise, »und du bist auch sonst wie sie. Trag das Amulett, dann wird sie dich auch weiterhin begleiten, Tina, wie sie es bisher getan hat.« Bettina erwiderte die Umarmung ihrer Mutter. »Danke«, flüsterte sie, als sie sich von Marisa löste. »Danke, Mama.«

*

»Florian!«, rief Baronin Sofia erfreut, nachdem der Anrufer seinen Namen

genannt hatte. »Das muss Gedankenübertragung gewesen sein – ich habe tatsächlich gerade eben an dich gedacht.« »Tatsächlich?«, fragte Florian. »Hattest du einen bestimmten Grund?« »Nein, eigentlich nicht. Vermutlich bist du mir in den Sinn gekommen, weil wir uns bei der Trauerfeier für Fürstin Emilia gesehen haben. Wir haben es sehr bedauert, dich nicht ein wenig ausführlicher sprechen zu können. Wir haben uns nach der Beisetzung noch in Emilias Haus getroffen, und ich muss sagen, erst dort haben wir wirklich Abschied von ihr genommen. Es war sehr bewegend, aber auch tröstlich, noch einmal in ihren Räumen zu sein.« »Mein Anruf hat mit der Beisetzung zu tun, Sofia«, gestand Florian. Wenn Sofia über dieses Geständnis verwundert war, so ließ sie es sich nicht anmerken. »In welcher Hinsicht?«, fragte sie ruhig. »Ich kenne niemanden aus Fürstin Emilias Familie«, erklärte Florian und behielt vorsichtshalber für sich, dass er auch die Verstorbene nicht gekannt hatte. »Aber das würde ich gern ändern. Bitte, frag mich nicht, warum – ich kann es im Augenblick niemandem sagen, aber ich habe Gründe für meinen Wunsch. Glaubst du, ihr könntet mir irgendwie behilflich sein?« »Wir haben Bettina, Emilias Enkelin, zu uns eingeladen, und wir hatten den Eindruck, dass sie durchaus interessiert ist, uns demnächst zu besuchen. Sobald alles geregelt ist, was in einem solchen Todesfall zu regeln ist.« »Aber es ist nicht sicher, ob sie zu euch kommt?« »Nein, und natürlich kann ich keinerlei Druck ausüben, das verstehst du sicherlich.« »Das sollst du auch nicht, um Himmels willen.« Sofia erkannte, dass er unter starkem seelischem Druck stand, auch wenn sie nicht wusste, warum das der Fall war. »Du bist auf jeden Fall ebenfalls herzlich eingeladen, Florian. Soll ich dir Bescheid sagen, wenn Bettina ihr Kommen ankündigt?« »Ich wäre dir sehr zu Dank verpflichtet, Sofia. Aber wenn sie die Einladung

ausschlägt …« Er verstummte und setzte dann leiser fort: »In dem Fall muss ich mir wohl etwas anderes ausdenken.« »Es kann doch nicht so schwierig für dich sein, eine junge Frau deines Alters kennenzulernen, Flo! Ich war ja ohnehin der Ansicht, dass ihr euch längst kennt.« »Nein, bisher nicht.« »Es kann sein«, setzte die Baronin beiläufig hinzu, »dass ihr Verlobter sie begleitet.« »Ich bin ganz allgemein an direkten Verwandten der alten Fürstin interessiert, Sofia. Es könnte auch die Tochter oder der Sohn sein, aber da sehe ich noch weniger Möglichkeiten, sie kennenzulernen, ohne dass sie mitbekommen, wie sehr ich daran interessiert bin.« Er seufzte. »Entschuldige, dass ich mich so geheimnisvoll anhöre, Sofia – aber es geht tatsächlich um ein Geheimnis, und zwar nicht um meins. Deshalb kann ich auch nicht mehr darüber sagen.« »Das musst du nicht«, erklärte Sofia gelassen. »Wenn du wüsstest, wie oft wir es hier auf Sternberg mit Geheimnissen zu tun haben, Florian!« Er stieß ein kurzes Lachen aus, das jedoch eher gequält als fröhlich klang. »Das hatte ich ganz vergessen: Anna und Christian decken ja so gern Geheimnisse auf. Vor denen muss ich mich dann also eher in Acht nehmen.« »Von mir erfahren sie nichts«, versprach Sofia, »und wenn sie gar nicht wissen, dass es ein Geheimnis gibt, können sie auch nicht versuchen, es zu lüften.« »Ich danke dir, Sofia. Für dein Verständnis, für deine Diskretion – und dafür, dass du versuchen willst, mich mit der Enkelin von Fürstin Emilia bekannt zu machen.« »Du bist unser Freund, Florian«, erwiderte die Baronin schlicht. »Und seinen Freunden versucht man immer zu helfen.« Nach dem Gespräch blieb sie eine Weile am Tisch sitzen, in Gedanken noch bei Florians Anliegen. Er hatte mit seinen Andeutungen durchaus ihre Neugier geweckt, aber das würde sie für sich behalten. Endlich stand sie auf. Immerhin ihren Mann würde sie einweihen, aber auch nur ihn.

Bei dem Gedanken an Anna und Christian lächelte sie unwillkürlich. Wenn sie das Gespräch gehört hätten, dachte sie, würden sie sofort anfangen zu überlegen, welches Geheimnis Florian hütete. Und vermutlich würden sie die Antwort finden. Fast bedauerte sie es, dass die beiden nichts davon erfahren würden.

*

»Was ist denn mit dir iert?«, fragte Clemens von Gernshagen verblüfft, als er seinen Freund mit federnden Schritten zur Tür hereinkommen sah. »Ich dachte, du bist kurz davor, dich operieren zu lassen!« Ulrich von Dornfeld lachte. »Das war, bevor ich der Frau mit den magischen Händen begegnet bin.« Er setzte sich Clemens gegenüber und bedeutete dem Kellner, ihm ebenfalls einen Kaffee zu bringen. »Frau mit den magischen Händen?« Clemens sah aus, als zweifelte er am Geisteszustand seines Freundes. »Sie ist einfach eine gute Krankengymnastin«, erklärte Ulrich. »Sie kennt sich aus, und ihre Hände fühlen alles, was in deinem Körper aus dem Gleichgewicht geraten ist. Sie kannte mich noch keine zehn Minuten, da wusste sie schon mehr über mich als andere nach zehn Jahren.« »Aber du willst mir jetzt nicht erzählen, dass sie dich mit ihren magischen Händen schlagartig von allen Schmerzen befreit hat, oder?« »Das mit den magischen Händen war ein Witz, Clemens! Sie hat mich für etliche Stunden von meinen Schmerzen befreit – und das ist schon mehr, als alle anderen, die sich bisher an mir versucht haben, von sich sagen können. Und sie hat mir ein paar Verhaltensmaßregeln mit auf den Weg gegeben, die mir das Leben erleichtern sollen. Das Verrückte ist: Sie wirken tatsächlich. Und morgen gehe ich wieder in die Praxis, ich freue mich jetzt schon darauf.« »Ich kenne dich gar nicht wieder«, stellte Clemens fest. »So entspannt warst du

lange nicht, Uli.« Ulrichs Gesicht wurde ernst. »Schlimm genug«, brummte er. »Das bedeutet doch nur, dass mich bislang Ärzte behandelt haben, die eher daran interessiert waren, dass ich meine Einwilligung zu einem operativen Eingriff gebe, als mir ohne großen Aufwand zu helfen. Und nun erzähl mir, wie es dir geht. Tina trauert wahrscheinlich, oder?« Clemens nickte. »Ich wusste, dass der Tod ihrer Großmutter sie hart treffen würde, aber es ist noch schlimmer, als ich es mir vorgestellt habe. Zum Glück hat sie sich jetzt entschlossen, für eine Woche oder so nach Sternberg zu fahren – dort ist sie oft mit der alten Fürstin gewesen, und es müssen jedes Mal wundervolle Aufenthalte gewesen sein. Ich hoffe sehr, dass es ihr gut tun wird, dort zu sein.« »Und du? Fährst du nicht mit?« »Ich kann in der Kanzlei schlecht eine ganze Woche fehlen, Tina hat es leichter, sie arbeitet ja freiberuflich als Übersetzerin. Aber ich werde zumindest ein Wochenende ebenfalls dort verbringen.« Ulrich seufzte. »Das Sternberger Gestüt hat ja mittlerweile einen erstklassigen Ruf. Ich würde mir die Pferde zu gern einmal ansehen.« »Das lässt sich sicherlich arrangieren, Uli. Aber ich dachte, du wolltest nie wieder auf einen Pferderücken steigen?« »Das war, bevor ich Frau Stolzenberg begegnet bin.« »Stolzenberg heißt sie? Die Grafenfamilie?« Ulrich machte ein erstauntes Gesicht. »Ich glaube nicht«, sagte er dann unsicher. »Ich dachte, sie heißt einfach Stolzenberg.« »Ist ja auch nicht so wichtig«, meinte Clemens. »Die Hauptsache ist, dass sie dir hilft. Ich bin sehr froh, dich endlich wieder einmal in entspannter Stimmung zu erleben.«

»Und ich erst!« Clemens warf begehrliche Blicke zur Kuchentheke. »Die haben hier so eine leckere Schokotorte – möchtest du auch ein Stück?« »Auf gar keinen Fall!«, antwortete Ulrich mit fester Stimme. »Ich muss abnehmen, um meine Wirbelsäule zu entlasten.« Clemens machte große Augen. »Hat das die Frau mit den magischen Händen gesagt?« »Jawohl, das hat sie, und ich bin fest entschlossen, auf sie zu hören.« »Wir werden ja sehen, wie standhaft du bist«, schmunzelte Clemens und bestellte ein Stück Schokotorte für sich. Es gelang ihm nicht, seinen Freund in Versuchung zu führen, nicht einmal probieren wollte Ulrich. »Eins zu null für dich«, stellte Clemens fest, als er sich den letzten Bissen in den Mund schob. »Diese Frau Stolzenberg muss wirklich eine sehr beeindruckende Frau sein, wenn sie dich dazu bringt, auf etwas Süßes zu verzichten.« Ulrich begnügte sich mit einem vielsagenden Lächeln.

*

Einige Tage nach der Beerdigung von Fürstin Emilia platzte Clara der Kragen. »Wenn du nicht reden willst, in Ordnung, Flo«, herrschte sie ihren Bruder an, »aber tu nicht dauernd so, als sei alles in Ordnung! Ich bin nicht blind, und ich weiß genau, dass dich etwas beschäftigt. Von mir aus sag mir, ich soll dich in Ruhe lassen, weil du nicht reden willst, aber spiel mir nicht so eine erbärmliche Komödie vor!« Er war sichtlich erschrocken über diesen Ausbruch, mit dem er nicht gerechnet hatte. »Tut mir leid, ich wollte dich nicht gegen mich aufbringen, Clara«,

beteuerte er. »Ja, es stimmt, dass mich etwas beschäftigt, aber ich kann nicht darüber reden.« »Und warum sagst du das nicht gleich?«, fragte sie, mit in die Hüften gestemmten Armen und zornig blitzenden Augen. »Du hast dich schon mal so seltsam verhalten, das war, als Opa gestorben ist. Damals war mir völlig klar, dass dir sein Tod viel näher ging, als du zugeben wolltest – auch näher als mir. Ihr beiden habt ja immer zusammengehangen wie Pech und Schwefel. Aber ich hatte das gleiche Gefühl wie jetzt: dass da noch mehr ist, aber dass du es mir nicht sagen willst.« »So hast du das empfunden?«, fragte er. »Natürlich habe ich das so empfunden!« Noch immer war sie zornig. »Das meinte ich nicht«, erklärte er. »Ich meinte, dass wir zusammenhingen wie Pech und Schwefel, Opa und ich?« »Das habe ich nicht empfunden, das war so«, stieß sie hervor. »Ehrlich gesagt, ich war manchmal schon neidisch auf euren Männerbund, und ich habe mich auch ausgeschlossen gefühlt, weil ich keine Chance hatte, Opa so nahe zu kommen wie du.« »Das wusste ich nicht«, stammelte Florian. »Er hat dich doch genau so gern gehabt wie mich, Clara!« »Vielleicht hat er das, aber ihr beide wart eine verschworene Einheit, es gab etwas, das euch zusammengeschmiedet hat. Wie ich schon sagte: ein Männerbund. Da konnte ich nicht mithalten.« Er ging zu ihr und schloss sie in die Arme. »Tut mir leid«, murmelte er. »Du bist meine beste Freundin, Clara, ich hoffe, das weißt du?« »Ja, meistens weiß ich es«, erwiderte sie, bereits mit einem halben Lächeln. Ihr Zorn war endlich verraucht. »Aber nach seinem Tod warst du auch ganz durcheinander und wolltest nicht reden, deshalb bin ich jetzt darauf zu sprechen gekommen. Ich versteh das schon, dass man über manche Dinge nicht reden will, aber was ich nicht verstehe, ist, dass du mir das nicht einfach sagen konntest. Das wäre für uns beide einfacher gewesen.«

»Tut mir leid«, wiederholte er. »Du hast Recht, ich habe mich blöd benommen. Aber ich dachte, wenn ich sage, dass ich über etwas Bestimmtes nicht reden will, dann lässt dir das vielleicht keine Ruhe, und du …« Sie hielt ihm den Mund zu. »Mein Problem, oder? Und jetzt lass uns nicht mehr darüber sprechen.« »Du fühlst dich jetzt aber nicht zurückgesetzt, oder?«, fragte er unsicher. Sie lächelte. »Ein bisschen schon«, erwiderte sie. »Aber ich werde darüber hinwegkommen, dass du neuerdings Geheimnisse vor mir hast.« »Vielleicht hast du ja auch welche vor mir?« Zu seiner Verwunderung errötete sie heftig und wandte sich dann rasch ab. Er verzichtete darauf, ihr weitere Fragen zu stellen, um sie nicht in Verlegenheit zu bringen. Beim Abendessen sagte er: »Ich fahre nächste Woche nach Sternberg, Sofia und Fritz haben mich eingeladen, und ich glaube, dass mir ein Ortswechsel gut tun würde. Ich muss meinen Kopf mal gründlich auslüften.« »Dafür ist Sternberg immer der richtige Ort«, erwiderte Clara. Er war froh, dass sie nicht weiter fragte, warum er ausgerechnet jetzt wegfuhr und ob diese überraschende Reise etwas mit seiner seltsamen Stimmung der letzten Tage zu tun hatte. Sie würde sich ihren Teil denken, aber sich auf jeden Fall an ihr Versprechen halten, nicht weiter nach dem Geheimnis zu forschen, das er ihr nicht hatte anvertrauen wollen. Ihn überschwemmte eine Welle von Liebe zu seiner kleinen Schwester. Er wollte ihr ja alles erzählen – aber noch nicht jetzt. Noch war es zu früh, aber eines Tages würde er sie einweihen.

*

»Ich fahre morgen nach Sternberg«, erzählte Bettina ihrer Freundin Annette Breuer. »Die Kants haben mich eingeladen, und ich werde diese Einladung annehmen. Hier fehlt mir im Augenblick die Luft zum Atmen.« Annette griff nach ihrer Hand und drückte sie. Sie war einige Jahre älter als Bettina und arbeitete als Bibliothekarin. Eines Tages waren die beiden ungleichen Frauen miteinander ins Gespräch gekommen, und daraus war mit den Jahren eine tiefe Freundschaft geworden. »Wenn du das Gefühl hast, du solltest eine Weile wegfahren, dann tu das unbedingt«, sagte sie. »Du hast mir ja schon öfter erzählt, dass Sternberg so schön ist und dass du dich dort immer sehr wohl gefühlt hast.« »Ich war ja meistens mit meiner Großmutter dort«, erwiderte Bettina. »Sie hat Sternberg geliebt.« »Und dich«, stellte Annette fest. »Das Amulett, das sie dir geschenkt hat, bevor sie starb, ist der schönste Beweis dafür. Hast du ihre Briefe schon verbrannt?« Annette war der einzige Mensch, dem Bettina von den Briefen erzählt hatte. Sie wusste, dass ihre Freundin kein Wort darüber verlieren würde. »Ich bringe es nicht fertig, Annette. Und ich … ich bin stark in Versuchung, wenigstens einen davon zu lesen. Es steht kein Absender drauf, ich weiß nicht einmal, von wem die Briefe sind.« Sie schielte zu ihrer Freundin hinüber. »Fändest du das sehr schlimm?« Annette schüttelte den Kopf. »Natürlich nicht, aber ich denke, wenn sie gewollt hätte, dass du die Briefe liest, hätte sie es dir gesagt, meinst du nicht?« »Sie hat nicht gesagt, dass ich sie nicht lesen soll. Nur sollte sie sonst niemand in die Finger bekommen.« Annette ließ sich das durch den Kopf gehen. »Wenn das so ist, dann wollte sie es vielleicht doch«, sagte sie endlich zögernd. »Immerhin hat sie dir die Existenz dieser Briefe verraten.« »Wahrscheinlich sind es die Liebesbriefe, die mein Opa ihr geschrieben hat«,

vermutete Bettina. »In diesem Punkt war meine Omi ja ein bisschen – wie soll ich das ausdrücken? Beinahe prüde. Sobald es um die Liebe ging, wurde sie immer sehr still. Sie hat mal zu mir gesagt, sie fände es schrecklich, wenn die Leute ihre Gefühle laut in alle Welt hinausposaunten.« »Prüde?«, fragte Annette verwundert. »Das hast du ja noch nie so gesagt, Tina. Sie war doch aber sehr aufgeschlossen, deine Großmutter.« »Ja, das stimmt. Sie war auch immer an allem Neuen sehr interessiert. Aber wie gesagt: Über die Liebe hat sie nicht gern geredet.« »Die Liebe als Gefühl oder eher die körperliche Liebe?« »Beides. Sie hat über beides nicht viel gesagt.« »Und als du dich mit Clemens verlobt hast?« »Sie hat mir Glück gewünscht und mich gefragt, ob ich sicher bin, dass er der Richtige für mich ist.« Bettinas Stimme klang ein weniger spröder als zuvor. Annette schwieg. Dies war ein heikles Thema, an das die beiden Freundinnen nicht mehr rührten. Annette schätzte Clemens als Menschen sehr, und sie wusste, dass er Bettina aufrichtig liebte. Aber sie war der Ansicht, dass Bettinas Gefühle für ihren Verlobten eher freundschaftlicher Art waren – was Bettina nicht einmal leugnete. Sie fand nur, dass das die beste Basis für eine Ehe war. Liebe vergeht, Freundschaft besteht – so lautete ihre Überzeugung. Es war einer der wenigen Punkte, in denen die beiden Freundinnen vollkommen unterschiedlicher Ansicht waren und um Streit zu vermeiden, streiften sie das Thema nur noch selten, so wie jetzt. Aber nicht zum ersten Mal fragte sich Annette, wie ein so emotionaler Mensch wie Bettina eine solch unromantische Vorstellung von der Liebe haben konnte. Jetzt entschied sie sich, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, und so kam sie auf Sternberg zurück. »Du wirst also den kleinen Fürsten wiedersehen«, stellte sie fest. »Wie alt ist er jetzt?« »Christian ist fünfzehn. Anna ist dreizehn, Konrad sechzehn.« »Ärgert Christian sich nicht mittlerweile über seinen Spitznamen?«

»Überhaupt nicht, Annette! Es ist ja auch eher ein Kosename, weißt du? Sobald er volljährig ist, wird er der nächste Fürst von Sternberg sein – insofern t es doch sehr gut, dass die Leute ihn jetzt ›Der kleine Fürst‹ nennen, obwohl er Prinz Christian ist.« Annette lächelte. »Ich bin ja nur durch dich mit der Welt des Adels in Berührung gekommen – aber ich muss schon sagen: Das mit euren Titeln ist ganz schön kompliziert, jedenfalls für jemanden, dem die Adelswelt fremd ist.« »Dir ist sie ja jetzt nicht mehr fremd«, stellte Bettina fest. »Und ich werde dir auch die anderen Feinheiten noch beibringen, glaub mir.« Die kleine Spannung war vorüber, sie lachten beide. Wenig später trennten sie sich, um an ihre jeweilige Arbeit zurückzukehren.

*

»Marisa hat angerufen«, berichtete die Baronin am Abend vor Bettinas Eintreffen auf Sternberg. »Bettina hat Emilias alte Villa geerbt und noch einiges mehr. Marisa und Albrecht sind zu gleichen Teilen bedacht worden, sie erben das gesamte Vermögen. Emilia hat offenbar alles so geregelt, dass es keine Erbstreitigkeiten geben kann.« »Aber die hätte es doch ohnehin nicht gegeben, oder?«, fragte der Baron verwundert. »Marisa und Albrecht verstehen sich gut, es gibt nur eine Enkelin bisher – und außerdem sind alle Zweige der Familie wohlhabend.« »Emilia wollte wohl vorsichtig sein«, vermutete Sofia. Konrad mischte sich ein. »Wieso heiratet Albrecht eigentlich nicht? Er ist doch schon über vierzig, und wenn er keine Kinder bekommt, gibt es keine neue Fürstenfamilie.« »Was für eine blöde Frage!«, ereiferte sich Anna. »Wenn er die richtige Frau schon gefunden hätte, wäre er bestimmt längst verheiratet.«

»Na ja, aber in seinem Alter könnte er sie schon gefunden haben, oder?« »Offenbar nicht«, erklärte die Baronin in einem Ton, der andeutete, dass sie das Gespräch nicht fortzusetzen wünschte. »Marisa erwähnte außerdem noch ein altes Amulett, das Emilia Bettina vermacht hat. Ein sehr schönes Amulett, sagte sie. Seltsam sei nur, dass niemand dieses Schmuckstück jemals vorher zu sehen bekommen habe.« Verwunderte Gesichter wandten sich ihr zu. »Wie geht das denn?«, fragte Anna. »Wenn es der alten Fürstin gehört hat, dann muss sie es doch irgendwann mal getragen haben.« »Vor allem, wo es so schön sein soll«, setzte Christian hinzu. »Das habe ich allerdings auch noch nie gehört«, meinte der Baron, »dass eine Frau ein besonders schönes Schmuckstück einfach im Schrank liegen lässt.« »So ähnlich hat sich Marisa auch ausgedrückt, aber es gibt keine Antwort mehr auf die offenen Fragen. Keiner kannte das Amulett, und Emilia hat es Bettina buchstäblich in den letzten Minuten ihres Lebens geschenkt.« Sofia fing einen Blick auf, den Anna und Christian wechselten. Sie unterdrückte ein Lächeln. Um dieses Geheimnis könnt ihr euch ruhig kümmern, dachte sie – dann fällt euch hoffentlich nicht auf, dass Florian auch eins hat, und er muss nicht befürchten, dass ihr es aufdeckt. »Komische Geschichte«, sagte Konrad und drückte damit aus, was alle dachten. Er weckte nicht einmal Annas Widerspruch.

*

»Ich weiß nicht, wie Sie das machen«, murmelte Ulrich, als er sich von der Massageliege erhob. »Ich bin erst so kurz bei Ihnen in Behandlung, aber ich fühle mich schon wie ein neuer Mensch.«

»Vielleicht liegt es daran, dass Sie bereits abgenommen haben?«, lächelte Clara. Er sah sie erstaunt an. »Das können Sie sehen?«, fragte er. »Es sind erst zwei Kilos, Frau Stolzenberg.« »Aber sie machen sich bemerkbar«, stellte Clara fest. »Warten Sie nur ab: Wenn ich mit Ihnen fertig bin, sind Sie ein neuer Mensch.« Er musste über diese Formulierung lachen. »Das klingt ja beinahe wie eine Drohung!«, rief er. »Oh nein, es ist ein Versprechen.« Jetzt war sie ganz ernst. »Rauchen Sie noch?« Er musste den Blick abwenden. »Hin und wieder«, murmelte er. »Ganz aufhören … Das schaffe ich einfach nicht.« »Wenn Sie nicht aufhören, breche ich die Behandlung ab«, sagte sie streng. Er wollte protestieren. »Aber das können Sie nicht …« Sie ließ ihn nicht ausreden. »Oh doch, das kann ich. Ich kann sagen, dass ich mit Ihnen nicht zurechtkomme, dann springt eine Kollegin oder ein Kollege für mich ein.« Ulrich stellte sich störrisch. »Ich verstehe nicht, was das Rauchen mit meinem Rücken zu tun haben soll!« »Alles hängt mit allem zusammen«, erklärte Clara geduldig. »Sie müssen lernen, sich gut zu behandeln – und dazu gehört, dass Sie nicht mehr rauchen, denn das schädigt Ihren Körper in vielfacher Hinsicht. So einfach ist das.« »Es ist überhaupt nicht einfach«, murrte er. »Es ist sogar sehr schwierig.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn gelassen an. »Sie haben die Wahl, Herr von Dornfeld.« »Das ist Erpressung«, brummte er. »Sie wissen genau, dass ich mir wünsche, weiterhin von Ihnen behandelt zu werden.« »Kein Problem«, erklärte sie mit strahlendem Lächeln, »Sie müssen nur mit dem

Rauchen aufhören, und wir beide werden noch lange miteinander zu tun haben.« »Erpressung«, wiederholte er, aber jetzt lächelte er auch. »Nennen Sie es, wie Sie wollen, das ist mir gleichgültig. Hauptsache, Sie hören auf mich.« »Ganz schön selbstbewusst sind Sie«, murmelte er. »Wenn ich das nicht wäre, könnte ich diesen Beruf nicht ausüben«, erwiderte sie. »Wir sehen uns in drei Tagen.« Sie war schon an der Tür, als er fragte: »Sind Sie Gräfin zu Stolzenberg?« Langsam drehte sie sich noch einmal zu ihm um: »In meinem Privatleben schon, aber hier nicht. Da genügt Stolzenberg. Auf Wiedersehen, Herr von Dornfeld.« Ihr Ton war kühler als zuvor. Er zog sich an, was ihm mit jedem Mal leichter fiel. Ihre Reaktion war eine Warnung gewesen, den beruflichen Rahmen, in dem sie sich bewegten, nicht zu verlassen – zumindest hatte er ihre Worte so verstanden und mehr noch ihren Tonfall. Er beschloss jedoch, sich nicht so schnell entmutigen zu lassen. Sie gefiel ihm auch jenseits ihrer außerordentlichen beruflichen Fähigkeiten, und irgendwann würde er ihr das sagen oder zeigen. Wenn er sich traute …

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»Kennst du Florian zu Stolzenberg?«, fragte der kleine Fürst, als Bettina einen Tag nach ihrer Ankunft auf Sternberg mit ihm im Schlosspark Stöckchen für Togo warf. »Nein, wir sind uns nie begegnet«, antwortete sie. Er warf ihr einen prüfenden Blick zu. »Aber es stört dich nicht, dass er kommt?«

»Was für eine Frage, Chris! Natürlich stört es mich nicht. Ich trauere um meine Großmutter, aber das bedeutet nicht, dass ich mich von der ganzen Welt zurückziehen möchte. Und da ihr mit ihm befreundet seid, scheint er ja ein angenehmer Mensch zu sein.« Jetzt war sie es, die ihn prüfend ansah. »Darf ich dich einmal begleiten, wenn du deine Eltern auf dem Hügel besuchst?« »Wir können gleich gehen, wenn du willst. Ich hatte mir das sowieso schon überlegt, weil ich heute noch nicht bei ihnen war. Sie warten schon auf meinen Besuch, weißt du.« Sie nickte, als hätte er nichts Besonderes gesagt. Christian sprach in Gedanken mit seinen verstorbenen Eltern, und wenn sie das früher ein wenig merkwürdig gefunden hatte, so stellte sie jetzt fest, dass sie selbst sich ganz genau so verhielt: Sie sprach mit Emilia und dachte oft genug, dass ihre Großmutter ihr auf die eine oder andere Art und Weise eine Antwort zukommen ließ. So war es auch bei Christian, er hatte es ihr selbst erzählt. »Sie schicken mir Zeichen, damit ich weiß, dass sie mich gehört haben.« »Und was für Zeichen, Chris?« »Ein Rotkehlchen, das mir etwas vorsingt; ein Eichhörnchen; manchmal schenken sie mir auch einen Blick auf den Mond, obwohl der Himmel wolkenverhangen ist. Sie schaffen es immer, mich irgendwie wissen zu lassen, dass sie noch bei mir sind und Anteil an meinem Leben nehmen.« Dieses Gespräch hatten sie am vergangenen Tag geführt. Jetzt näherten sie sich zielstrebig dem Hügel am Rande des Schlossparks, auf dem sich die Familiengräber befanden. Es war ein idyllischer Ort, denn von dort aus hatte man einen weiten Blick über die umliegenden Täler. Togo war vor ihnen oben, sie folgten ihm langsamer. Der junge Boxer hatte sich bereits vor der Gruft niedergelegt, in der Christians Eltern ihre letzte Ruhe gefunden hatten. »Er begleitet dich wohl oft?«, fragte Bettina. »Fast immer«, erklärte Christian. »Und er weiß, dass ich Zeit brauche, wenn ich hier bin.«

»Ich werde dich nicht stören«, versprach sie. Lange stand Christian vor der Gruft, die Augen fest auf die Namen seiner Eltern gerichtet, die in goldenen Lettern auf einer schlichten Steinplatte vor der Gruft standen. Bettina hielt sich im Hintergrund. Sie ließ den Zauber des Ortes auf sich wirken und sprach wieder einmal mit Emilia: »Ich weiß, du bist noch bei mir, Omi. Bitte, verlass mich nicht, ich habe das Gefühl, dass ich dich gerade jetzt mehr brauche denn je.« Als Christian sich zu ihr umdrehte und sagte: »Wir können gehen. Oder soll ich dich zuerst noch herumführen? Es gibt hier oben ein paar sehr interessante alte Grabsteine«, erwiderte sie: »Die möchte ich gerne ansehen, Chris.« Togo hatte den Hügel bereits wieder verlassen, sie hörten ihn unten im Park bellen. Das hinderte sie jedoch nicht daran, noch eine ganze Weile oben zu bleiben und vor verschiedenen Grabsteinen stehenzubleiben. Manchmal wusste Christian eine Geschichte zu erzählen, manchmal lasen sie nur stumm die Inschriften. »Wie jung die Leute früher oft gestorben sind«, flüsterte Bettina. »Auch viele Kinder«, setzte Christian hinzu. Als sie den Hügel schließlich verließen, griff Bettina nach seiner Hand. »Danke, Chris.« Mehr sagte sie nicht, mehr war auch nicht nötig.

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»Danke für Ihre Hilfe, Clemens«, sagte Marisa von Stetten, als ihr zukünftiger Schwiegersohn Anstalten machte, sich zu verabschieden. Er war der Juniorpartner des langjährigen Rechtsanwalts und Notars der Familie – so hatten sie ihn überhaupt kennengelernt. Jetzt hatte er es übernommen, die Einzelheiten

der Erbschaftsangelegenheiten abzuwickeln. »Das ist mein Beruf, Frau von Stetten«, erwiderte er. Einmal mehr überlegte sie, ob sie ihm nicht endlich das Du anbieten sollte, aber sie beschloss wieder einmal, es zu verschieben. Dazu gehörte ein privater Rahmen, und der war im Augenblick nicht gegeben. »Außerdem mache ich das gern«, setzte er mit seinem ruhigen Lächeln hinzu. »Zumal in diesem Fall keine Streitigkeiten zu erwarten sind. Fürstin Emilia war von beeindruckender Weitsicht.« »Ja, das war sie«, seufzte Marisa. »Wie geht es denn jetzt weiter?« »Bettina muss sich entscheiden, was sie mit dem Haus anfangen will«, erklärte er. »Sie hat sich bisher nicht dazu geäußert.« »Vielleicht ziehen Sie beide dort ein?«, fragte Marisa. »Es müsste natürlich modernisiert werden, aber …« Sie brach ab und sah ihn neugierig an. »Haben Sie noch nicht darüber gesprochen?« Er schüttelte den Kopf. »Sie ist sehr in sich gekehrt seit dem Tod ihrer Großmutter, Frau von Stetten.« »Ja, das ist mir auch schon aufgefallen«, murmelte Marisa. »Man sollte ja eigentlich meinen, dass der Tod meiner Mutter mich viel mehr bedrückt als sie – aber so ist es nicht. Die beiden haben sich näher gestanden als meine Mutter und ich, so traurig das auch klingen mag.« »Ich glaube«, erwiderte Clemens ruhig, »das gibt es öfter als man denkt. Großeltern müssen nicht mehr erziehen, sie stehen nicht mehr so sehr in der Verantwortung wie Eltern – das macht es leichter für sie, entspannt mit ihren Enkeln umzugehen.« Marisa schenkte ihm ein dankbares Lächeln für seine einfühlsamen Worte, dann wechselte sie abrupt das Thema, wie so oft, wenn ihr etwas zu nahe zu rücken drohte. »Wann fahren Sie nach Sternberg?«

»Zum Wochenende«, erklärte er. »Ich freue mich schon darauf.« Er verabschiedete sich von Marisa und Georg und verließ das Haus. »Sie sollten bald heiraten, Tina und er«, murmelte Georg und sprach damit aus, was seine Frau gedacht hatte. »Wir werden das Thema anschneiden, wenn sie zurück ist«, erklärte Marisa. »Ich finde auch, sie sollten endlich Nägel mit Köpfen machen, und ich denke, Clemens’ Eltern sehen das genauso.« »Wenn ich ehrlich sein soll, Marisa: Als wir uns das erste Mal darüber unterhalten haben, wie schön es wäre, wenn die beiden ein Paar würden, habe ich nicht geglaubt, dass das jemals Wirklichkeit wird. Tina ist so anders als wir, dass ich dachte, sie wird sich niemals in einen jungen Mann verlieben, den wir gut finden.« »Und dann hat sie es doch getan«, stellte Marisa zufrieden fest. »Wollen wir bald essen?« Georg nickte. »Aber danach haben wir noch einiges zu tun. Du weißt, die Vorstandssitzung …« Sie nickte. Die hatte sie nicht vergessen. »Natürlich«, erklärte sie ruhig. »Aber mit leerem Magen kann man nicht arbeiten, Georg.« Sie waren sich einig, wie immer.

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»Und, ist es schwer, nicht mehr zu rauchen?«, erkundigte sich Clara beiläufig, während sie Ulrich massierte. »Woher wissen Sie, dass ich aufgehört habe?«

Sie lachte. »Das rieche ich«, antwortete sie. »Rauch setzt sich in Kleidern und Haaren fest – das riecht jeder, nur derjenige nicht, der raucht. Wussten Sie das etwa nicht?« »Nein«, gab er zu. »Oder vielleicht wusste ich es, aber ich habe nicht darüber nachgedacht.« »Das hätten Sie aber besser getan«, erwiderte Clara. Sie beendete die Massage und begann, seine Haltung zu korrigieren – er kannte das ja jetzt schon. Erstaunt stellte er fest, dass er sich weniger verrenkt vorkam und dass seine Muskeln viel schneller reagierten als beim letzten Mal. »Sie machen Fortschritte«, freute sich Clara. »Merken Sie, wie Ihr Körper reagiert?« »Ja«, gab er zu. »Ich verstehe zwar nicht, was vor sich geht, aber ich merke, dass sich etwas tut.« »Sie müssen es nicht verstehen«, erklärte sie gelassen. »Wir gehen übrigens anschließend in den Geräteraum. Ab jetzt wird die Wirbelsäulenmuskulatur regelmäßig trainiert.« »Sie haben mir ja versprochen, einen neuen Menschen aus mir zu machen. Allmählich glaube ich sogar, das wird Ihnen gelingen!« »Ach, hatten Sie daran etwa Zweifel?« »Ein bisschen schon«, gestand er. »Für mich ist das ja alles ziemlich neu.« »Bald sind Sie ein alter Hase und kennen sich aus. So, jetzt stehen Sie bitte auf, ziehen die Sportkleidung an, die Sie mitbringen sollten, und dann treffen wir uns drüben im Gymnastikraum wieder.« »Ich habe mich gefragt, ob ich Sie vielleicht einmal zum Essen einladen dürfte«, sagte er so beiläufig wie möglich. Sie blieb stehen und drehte sich noch einmal zu ihm um. »Nein«, erwiderte sie freundlich. »Das heißt, natürlich dürfen Sie mich einladen, aber ich werde Ihre Einladung nicht annehmen. Es ist besser, wenn wir Distanz zu unseren Patienten halten, das verstehen Sie sicher.« Mit diesen Worten ging sie hinaus.

Ulrichs Gesicht brannte, als hätte sie ihn geohrfeigt. Eine solche Abfuhr hatte er seit seinen Teenagertagen nicht mehr bekommen. Aber es geschah ihm ganz recht: Er hätte es besser wissen müssen. Während der nun folgenden Trainingseinheit zum Muskelaufbau schenkte sie ihm nichts. Er war schweißgebadet, als sie endlich mit vergnügtem Unterton erklärte: »So, das war’s für heute, nun dürfen Sie sich erholen.« »Danke, das wird auch nötig sein«, brummte er. Immerhin schien sie ihm seine Einladung nicht nachzutragen, sie hatte sich ihm gegenüber verhalten wie immer. Als er nach Hause ging, war er dennoch niedergeschlagen. Er überlegte sogar, seine Behandlung von einer anderen Praxis übernehmen zu lassen, damit er nicht mehr ihr Patient war. Doch dämmerte ihm bald, dass auch dann nicht garantiert wäre, dass sie seine Einladung annahm. Vielleicht war es so, dass sie einfach nicht mit ihm ausgehen wollte? Das freilich war eine so niederschmetternde Vorstellung, dass sie eilig von sich schob. Sie fand ihn auch sympathisch, das merkte er doch! Aber ein kleiner Zweifel blieb, und der verdarb ihm nachhaltig die Laune, obwohl es ihm körperlich um so vieles besser ging als zuvor.

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Das Erste, was Florian auffiel, als Bettina und er einander vorgestellt wurden, war das Amulett, das sie trug. Er musste sich förmlich zwingen, es nicht allzu auffällig anzustarren. Dennoch war sein Blick ihr offenbar nicht entgangen, denn sie griff unwillkürlich danach. »Und ihr seid euch bisher tatsächlich nie begegnet?«, fragte Baron Friedrich, der die Vorstellung übernommen hatte. »Nie«, erklärten Bettina und Florian wie aus einem Mund. Daraufhin lächelten sie beide.

Sie war noch schöner, als Florian angenommen hatte. In der Kirche, bei der Trauerfeier für ihre Großmutter, hatte er sie ja nur flüchtig gesehen. Jetzt blickte er in ihre grünen Augen, sah den weichen Mund, die glatte weiße Haut und das perfekt geschnittene Gesicht. Sie sah wie ihre Großmutter als junge Frau aus. Er kannte ein frühes Foto von Emilia, ihre Enkelin war ihr wie aus dem Gesicht geschnitten. Er riss sich zusammen und sagte charmant: »Ich freue mich jedenfalls, dass dieser Zustand hiermit beendet ist.« »Ich freue mich auch«, erwiderte Bettina. »Ich weiß nicht, ob es angemessen ist«, fuhr Florian fort, »aber es ist mir ein Bedürfnis, Ihnen zum Tod Ihrer Großmutter noch nachträglich mein Beileid auszudrücken.« »Danke«, erwiderte sie leise. Dann biss sie sich auf die Lippen und wandte sich eilig ab, damit er nicht sah, dass ihre Augen schon wieder feucht wurden. Florian sah unsicher zu Baron Friedrich hinüber. Hatte er etwas falsch gemacht? Doch der Baron nickte ihm beruhigend zu, und gleich darauf hatte sich Bettina bereits wieder gefangen. »Entschuldigen Sie«, sagte sie, »mir ist ihr Tod sehr nahe gegangen, ich kann noch nicht über sie sprechen, ohne dass mir gleich die Tränen kommen.« »Ich weiß, wie das ist«, erwiderte Florian ruhig. »Als mein Großvater starb, ging es mir ähnlich. Wir standen einander sehr nahe.« »Wann war das?«, fragte sie. »Im letzten Sommer.« »Das ist dann ja auch noch nicht lange her«, stellte sie fest. »Nein, das ist es nicht. Er fehlt mir noch immer sehr.« »Das kann ich mir gut vorstellen.« Anna, Christian und Konrad stürmten die Treppe hinunter, um Florian zu

begrüßen, und damit war das heikle Gespräch erst einmal beendet. Florian war froh darüber. Er musste innerlich gelassener werden, wenn er sein Vorhaben in die Tat umsetzen wollte. Wenn er gleich mit der Tür ins Haus fiel, würde sie nur abwehrend reagieren, und das war nicht in seinem Sinne. Er wollte ja etwas von ihr, sie musste ihm erzählen, was er nicht mehr hatte in Erfahrung bringen können … »Warum ist Clara nicht mitgekommen, Flo?«, fragte Anna in diesem Augenblick. »Sie hat zu viel zu tun«, log Florian. Er wollte nicht zugeben, dass er seine Schwester nicht einmal gefragt hatte, ob sie ihn eventuell begleiten wollte. Er konnte sie im Augenblick hier nicht gebrauchen. »Früher ist sie öfter gekommen!«, maulte Anna. »Wenn man sich nur so selten sieht, wird man sich ganz fremd. Richte ihr das bitte aus, wenn du sie das nächste Mal siehst.« »Das verspreche ich dir, Anna.« Als Florian aufsah, begegnete er Bettinas Blick. Einen Moment lang hatte er das Gefühl, dass ihre Seele offen vor ihm lag. Sie war traurig und verwirrt, erkannte er, und sie hatte ein Geheimnis – so wie er eines hatte. Doch schon eine Sekunde später verschloss sich ihr Gesicht, und er fragte sich, ob sein vorheriger Eindruck vielleicht nur eine Täuschung gewesen war.

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»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte Annette Breuer die hübsche, dunkelhaarige junge Frau, die zögernd die Bibliothek betreten hatte. »Ganz bestimmt«, lautete die Antwort. »Ich suche ein ziemlich altes Buch, das im Buchhandel längst vergriffen ist. Es beschäftigt sich mit bestimmten Heilmethoden …« Sie nannte den Titel und setzte hinzu: »Ich weiß überhaupt nicht, wie man in einer Bibliothek nach Büchern sucht – Sie müssen mich für sehr dumm halten.«

»Überhaupt nicht«, versicherte Annette, »wenn man sich nicht regelmäßig in Bibliotheken aufhält, kann man sich dort gar nicht zurechtfinden. Ich glaube, ich kann Ihnen helfen mit dem Buch. Das ist früher berühmt gewesen, nicht wahr?« »Sehr«, bestätigte die junge Frau. »Ich möchte nur etwas nachschlagen …« »Sind Sie Ärztin, wenn ich fragen darf?« »Ich bin Krankengymnastin, und ich beschäftige mich viel mit verlorenem Wissen. Die Medizin hat zwar enorme Fortschritte gemacht im technischen Bereich – aber dafür ist einiges an Basiswissen verloren gegangen, weil man gedacht hat, das braucht man nicht mehr. Jetzt sind ja die Maschinen da, die können sowieso alles besser.« »Ich weiß, was Sie meinen«, erwiderte Annette. »Bitte, folgen Sie mir, die medizinischen Bücher stehen da hinten – und ich denke, da finden wir auch dasjenige, das Sie suchen.« So war es tatsächlich. Die junge Besucherin strahlte. »Ehrlich gesagt, ich hatte nicht wirklich Hoffnung, hier fündig zu werden. Kann ich mir das hier ansehen und es dann zurückstellen?« »Ja, natürlich. Aber ich hoffe, dass Sie unsere Bibliothek ab jetzt regelmäßig nutzen wollen? Dann brauchten Sie allerdings einen Benutzerausweis. Den würden Sie bei mir bekommen.« Annette wusste, wie man neue Kunden warb, sie hatte meistens Erfolg. So war es auch dieses Mal. »Ich suche mir nur schnell die Stelle heraus, die mich interessiert, danach komme ich zu Ihnen …« Die junge Frau schielte auf das Namensschild, das Annette an ihrer Kostümjacke trug und setzte hinzu: »Frau Breuer.« »Fein, dann hoffe ich, dass Sie finden, was Sie suchen.« Mit diesen Worten eilte Annette an ihren Platz zurück. In den nächsten beiden Stunden behielt sie die junge Frau im Auge – so schnell, wie die Besucherin gedacht hatte, wurde sie wohl doch nicht fertig.

Als sie das Buch endlich zurück ins Regal stellte und zu Annette an den Tresen kam, war es wenige Minuten, bevor die Bibliothek schloss. Ihre Augen strahlten. »Ich habe alles gefunden, was ich gesucht habe – und noch einiges mehr. Das Buch ist eine Fundgrube. Von jetzt an werden Sie mich regelmäßig hier sehen.« »Das würde mich sehr freuen«, erwiderte Annette. »Würden Sie mir dann bitte Ihren Namen sagen, damit ich Ihnen einen Ausweis ausstellen kann?« »Stolzenberg«, antwortete die junge Dame. »Carla zu Stolzenberg.« »Ach!«, rief Annette. »Das ist ja ein seltsamer Zufall. Meine beste Freundin hat mir gerade gestern Abend erzählt, dass sie einen Florian zu Stolzenberg kennengelernt hat. Ist das zufällig ein Verwandter von Ihnen?« »Das ist mein Bruder«, erklärte Clara und betrachtete die sympathische Bibliothekarin mit neu erwachtem Interesse. »Darf ich fragen, wer Ihre Freundin ist?« »Bettina von Stetten«, antwortete Annette. »Wir haben uns hier in der Bibliothek kennengelernt, vor mehreren Jahren. Sie arbeitet als Übersetzerin.« »Ach«, erwiderte die junge Dame und sah mit einem Mal sehr nachdenklich aus. »Sie ist also auch gerade auf Schloss Sternberg?« »Ja, sie hat gerade ihre Großmutter verloren und wollte sich zurückziehen, um zur Ruhe zu kommen.« Mit freundlichem Lächeln reichte Annette der neuen Bibliotheksnutzerin den Ausweis, kassierte den fälligen Mitgliedsbeitrag und wunderte sich ein bisschen, dass Clara zu Stolzenberg, die bis dahin alle Zeit der Welt zu haben schien, plötzlich sehr in Eile war und die Bibliothek nahezu fluchtartig verließ. Schade, dachte sie, ich hätte mich gern noch ein wenig länger mit ihr unterhalten. Aber das ließ sich ja vielleicht beim nächsten Mal nachholen. Alles sprach schließlich dafür, dass Clara zu Stolzenberg von jetzt an eine regelmäßige Besucherin der Bibliothek sein würde.

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»Du hast dich ernsthaft in deine Krankengymnastin verliebt?«, fragte Clemens verwundert, als er sich abends mit Ulrich traf. »Ja, ich glaube schon«, murmelte sein Freund niedergeschlagen, »aber mir scheint, ich habe nicht die geringste Chance, Clemens.« »Du gibst doch sonst nicht so schnell auf.« »Diese Frau raubt mir mein Selbstbewusstsein«, klagte Ulrich. »Schließlich liege ich fast nackt vor ihr, gepeinigt von meinen Schmerzen, und warte darauf, dass sie mich davon erlöst. Das ist keine ermutigende Ausgangsbasis für einen Verliebten.« Clemens konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. »Es klingt nicht wie der übliche Beginn einer Liebesgeschichte«, gab er zu. »Warum lässt du dich nicht woanders behandeln, Uli? Damit ist die Ausgangslage schlagartig eine andere, und du kannst ihr unbefangen begegnen.« »Die Idee ist mir auch schon gekommen, aber wer sagt mir, dass ich jemanden finde, der so gut ist wie sie? Ich glaube nämlich schon, dass sie in ihrem Job Außerordentliches leistet, Clemens. Und natürlich will ich nicht, dass meine Schmerzen zurückkehren.« »Es käme ja auf einen Versuch an«, meinte Clemens. »Aber es ist ein Risiko – und außerdem ist nicht gesagt, dass sie meine Einladung dann annähme, oder?« »Das ist allerdings richtig. Aber mir scheint, ganz ohne Risiko geht es in diesem Fall nicht.« »Irgendwann werde ich wieder fit sein und keine Behandlung mehr brauchen«, murmelte Ulrich. »Und so lange willst du warten?« »Immerhin sehe ich sie ja die ganze Zeit regelmäßig und kann ihr weiterhin beweisen, was für ein sympathischer, verlässlicher, humorvoller Mensch ich

bin.« »Du willst gar keinen Rat von mir hören, Uli«, stellte Clemens fest. »Ich will von dir hören, dass meine Versuche nicht von vornherein völlig aussichtslos sind!« »Wie soll ich das beurteilen können? Weißt du denn, ob sie gebunden ist?« Ulrichs Augen weiteten sich jäh, es war offensichtlich, dass ihm dieser Gedanke noch nicht gekommen war. »Sie trägt keinen Ring«, sagte er endlich. »Das heißt gar nichts. Sie kann frisch verliebt sein.« Ulrich musste zugeben, dass diese Möglichkeit bestand. »Sie ist übrigens wirklich eine Gräfin zu Stolzenberg, wie du vermutet hast, aber im Beruf nutzt sie den Titel nicht.« »Sie muss mit dem jungen Grafen verwandt sein, den Tina gerade auf Sternberg getroffen hat«, rief Clemens. »Er ist dort ebenfalls zu Besuch, das wusste sie vorher allerdings nicht.« Ulrich schenkte dieser Neuigkeit kaum Beachtung. Was interessierte ihn ein Verwandter von Clara? Er war an ihr interessiert, nicht an ihrer Familie. Als er sich wenig später von Clemens verabschiedete, war seine Laune so finster wie zuvor. Er sah einfach keine Lösung für sein Problem – und aufgemuntert hatte Clemens ihn auch nicht, im Gegenteil. Allein die Vorstellung, sie könnte in einen anderen Mann verliebt sein …

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Den ersten Vorstoß wagte Florian abends nach dem Essen, als er einige Minuten lang mit Bettina allein war. »Das ist ein wunderschönes Amulett, das Sie da

tragen«, bemerkte er. »Es ist mir sofort aufgefallen. Eine außergewöhnliche Arbeit.« »Meine Großmutter hat es mir geschenkt, kurz bevor sie …« Bettina stockte. »Entschuldigung«, bat Florian, »ich wollte nicht erneut schmerzliche Erinnerungen wachrufen.« »Nein, ich muss um Entschuldigung bitten«, entgegnete sie. »Ich sollte mich besser in der Gewalt haben.« »Aber wie denn?«, fragte er sanft. »Wenn man jemanden verliert, den man liebt, wirkt das lange Zeit nach. Mir geht es noch heute manchmal so, dass mir eine Erinnerung an meinen Opa plötzlich Tränen in die Augen treibt.« Sie schenkte ihm einen Blick voller Dankbarkeit für sein Verständnis. Florian ließ eine Weile verstreichen, bevor er sich weiter vortastete. »Sie hat es sicher oft getragen«, sagte er und zeigte auf das Amulett. »So ein schönes Schmuckstück ist viel zu schade, um es im Schrank liegen zu lassen.« »Seltsam, dass Sie das sagen, aber das Gegenteil ist der Fall. Keiner von uns hatte dieses Amulett jemals gesehen, auch meine Mutter kannte es nicht. Niemand von uns versteht es, aber meine Großmutter hat dieses Amulett in unserem Beisein nie getragen. Sie glauben nicht, wie ich mir schon den Kopf wegen einer vernünftigen Erklärung zerbrochen habe, aber bisher ist mir keine eingefallen.« »Vielleicht hat sie es versteckt?« »Ja, so sieht es aus – aber warum? Ich dachte zuerst, sie muss es von meinem Großvater bekommen haben, zu einem ganz besonderen Anlass. Und dann, nach seinem Tod, hat sie es nicht mehr tragen mögen, weil so viele Erinnerungen daran hängen.« Bevor Florian die Frage stellen konnte, beantwortete sie sie bereits: »Aber dann hätte sie es vor seinem Tod tragen müssen, und wir könnten uns daran erinnern. Diese Theorie ist also mit Sicherheit falsch.« »Vielleicht hat sie das Amulett von einem anderen Mann.« Bettina lächelte wehmütig. »Ausgeschlossen«, sagte sie. »Mein Großvater war

ihre erste große Liebe, es gab keinen anderen Mann für sie. Die beiden waren sehr, sehr glücklich miteinander.« Baronin Sofia und Baron Friedrich erschienen an der Tür zur Bibliothek. »Entschuldigt, dass wir euch so lange allein gelassen haben. Es gab ein kleines Problem, das wir lösen mussten.« »Hoffentlich nichts Ernstes?« »Eins der Küchenmädchen hat sich böse geschnitten, aber Herr Hagedorn war umsichtig wie immer. Nur ist trotzdem in der Küche eine Art Hysterie ausgebrochen.« »Können wir etwas tun?«, fragte Florian. Die Antwort bekam er von Eberhard Hagedorn, dem langjährigen Butler auf Schloss Sternberg. Ohne ihn, darin waren sich Schlossbewohner wie Besucher einig, wäre Sternberg nicht Sternberg gewesen. »Der Notarzt ist da, das Mädchen wird bereits behandelt«, erklärte er mit ruhiger Stimme. »Ich bedauere sehr, Frau Baronin, Herr Baron, dass Sie die Aufregung überhaupt mitbekommen haben.« Er sah so perfekt aus wie immer, keine noch so kleine Falte verunzierte den Sitz seines blütenweißen Hemdes. Sollten in der Küche Blutspritzer darauf gelangt sein, so sah man jetzt zumindest nichts mehr davon. »Aber Herr Hagedorn«, rief die Baronin, »das war doch nicht Ihre Schuld. Das Geschrei war nur schwer zu überhören, und natürlich sind wir erschrocken und wollten nachsehen, was iert war.« Der alte Butler deutete eine Verbeugung an und fragte höflich: »Was darf ich Ihnen zu trinken bringen?« Sie entschieden sich einstimmig für Rotwein und waren alle erleichtert, als sie eine halbe Stunde später hörten, dass der Notarzt die Wunde versorgt hatte, die im Übrigen weniger tief war als befürchtet. Sie würde schnell heilen. Für Florian ergab sich keine Gelegenheit mehr, mit Bettina ein Gespräch unter vier Augen zu führen. Das nächste Mal, nahm er sich vor, würde er seine Zurückhaltung aufgeben und das, was ihm auf der Seele lag, direkt ansprechen. Eine andere Möglichkeit schien es nicht zu geben, wenn er mehr in Erfahrung bringen wollte.

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»Er ist in dich verliebt«, stellte Tanja Rösler fest, als Ulrich die Praxis verlassen hatte. »Quatsch!« Clara merkte selbst, dass ihr Tonfall viel zu heftig war, um glaubwürdig zu wirken, und so zwang sie sich, bedeutend ruhiger hinzuzusetzen: »Er ist einfach begeistert, weil es ihm besser geht, und diese Begeisterung überträgt er vorübergehend auf mich. Er ist nicht der erste Patient, bei dem das so ist, Tanja.« »Mag ja sein, dass er auch über die Besserung seines Zustands froh ist, aber das ändert nichts an meiner Beobachtung: Der Mann hat sich in dich verliebt. Willst du mir etwa erzählen, er hätte noch nicht versucht, dir auch privat näherzukommen?« Claras Wangen brannten. »Doch«, gab sie zu, wobei sie es sorgfältig vermied, dem Blick ihrer Chefin zu begegnen, »aber ich habe ihn abblitzen lassen, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.« Tanja betrachtete sie amüsiert. »Warum sollte ich mir Sorgen machen? Bei uns gibt es kein grundsätzliches Verbot, sich privat mit einem Patienten einzulassen, Clara, das weißt du – ich möchte nur nicht, dass es zu Missverständnissen kommt. Du hast selbst gesagt, wie oft Patienten ihre Dankbarkeit mit anderen Gefühlen verwechseln …« »Das brauchst du nicht zu wiederholen, ich weiß es.« Clara machte ihr abweisendstes Gesicht, um Tanja am Weiterreden zu hindern, doch die kümmerte sich nicht darum. »Du bist auch in ihn verliebt«, stellte sie seelenruhig fest. Clara fuhr herum und blitzte sie zornig an. »Ich möchte mal wissen, wie du auf diese abwegige Idee kommst!«, fauchte sie. »Er ist überhaupt nicht mein Typ, das solltest du eigentlich wissen.«

»Dein Typ, dein Typ!«, wiederholte Tanja ungeduldig. »Was besagt das denn schon? Ich hatte immer eine Vorliebe für blonde Männer – und wer ist schließlich der Vater meiner Kinder geworden? Ein Dunkelhaariger.« Sie stockte und setzte dann mit ihrem breitesten Lächeln hinzu: »Na ja, vielleicht war das der Fehler. Wäre er blond gewesen, hätte ich mich vielleicht nicht scheiden lassen müssen …« Sie hatte es geschafft: Clara musste lachen. »Was für ein Unsinn, Tanja«, sagte sie. »Eben, mehr habe ich damit auch nicht zum Ausdruck bringen wollen«, erwiderte Tanja zufrieden, »nur, dass dieses ganze Gerede von ›mein Typ‹ Unsinn ist. Gib zu, dass du in ihn verliebt bist.« »Ich finde ihn sympathisch«, gestand Clara widerwillig. »Mehr nicht?« »Na ja, ich finde ihn sehr sympathisch, Tanja. Kannst du nicht endlich mal das Thema wechseln? Ich finde das allmählich langweilig.« »Ich überhaupt nicht«, erklärte Tanja vergnügt. »Wenn er den nächsten Annäherungsversuch macht, wirst du ihn also nicht noch einmal zurückweisen?« »Doch, das werde ich!«, behauptete Clara kratzbürstig. »Ich kann den Mann nicht mehr behandeln, wenn ich mich privat mit ihm einlasse – und diese Behandlung ist mir wichtig.« »Sie wird ja nicht ewig dauern«, stellte Tanja gelassen fest. Noch immer spielte ein amüsiertes Lächeln um ihre Mundwinkel. Clara gab sich geschlagen. »Der Gedanke ist mir auch schon gekommen, stell dir vor. Aber bis dahin wird noch ziemlich viel Zeit vergehen, so schnell wird seine Behandlung nicht abgeschlossen sein.« Mit einem Mal war Tanja ganz ernst. »Ich kann dir nur einen guten Rat geben, Clara: Wenn er dir wirklich gut gefällt und du den Eindruck hast, das könnte etwas Ernstes werden, dann zeig ihm das und entmutige ihn nicht so sehr, dass er sich zurückzieht. Du könntest es später bereuen. Er ist ein guter Typ, und es geht ihm mit dir nicht nur um ein Abenteuer.«

»Woher willst du das wissen?«, fragte Clara verblüfft. »Du kennst ihn so wenig wie ich. Er könnte auch ein notorischer Frauenheld sein, der mit jedem halbwegs attraktiven weiblichen Wesen flirtet, das seinen Weg kreuzt.« »Nein!«, widersprach Tanja mit großer Entschiedenheit. »So einer ist er nicht! Ich weiß das, glaub es mir einfach. Ich kann Menschen ganz gut beurteilen.« Das stimmte allerdings, sie hatte es schon öfter unter Beweis gestellt, wie Clara sich erinnerte. »Also gut, ich denke drüber nach, Tanja.« »Mehr verlange ich ja gar nicht. Sag mal, ist sonst noch etwas? Du warst heute so … in dich gekehrt.« »Das hat mit meinem Bruder zu tun«, erwiderte Clara nach kurzem Zögern. »Er benimmt sich seltsam, Tanja. Etwas bewegt ihn, aber er will mit mir nicht darüber reden. Und dann habe ich zufällig auch noch erfahren, dass seine Reise nach Sternberg keineswegs so zufällig war, wie er mir gegenüber behauptet hat.« Sie sah ihre Chefin mit schiefem Lächeln an. »Er hat mich angelogen, ohne Grund.« »Hab ein bisschen Geduld mit ihm. Er wird dir irgendwann schon erzählen, was los ist. Bisher war es jedenfalls immer so, es wird dieses Mal nicht anders sein.« »Ich mache mir aber Sorgen um ihn. Er hat sich verändert …« Clara schüttelte den Kopf. »Eigentlich nicht erst jetzt, sondern schon Nacht dem Tod unseres Großvaters. Seitdem ist er oft in sich gekehrt, hat so einen abwesenden Gesichtsausdruck und scheint mit seinen Gedanken meilenweit weg zu sein.« »Er trauert«, sagte Tanja. »Nicht nur das. Da ist noch etwas anderes.« Clara straffte sich. »Jetzt haben wir aber genug über mich und meine Probleme gesprochen.« »Morgen bin ich wieder dran«, lächelte Tanja, umarmte Clara und wünschte ihr noch einen schönen Abend.

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»Er ist irgendwie an dem Amulett interessiert«, sagte Anna am nächsten Tag, als Christian und sie Bettina und Florian beobachteten, die gemeinsam einen Spaziergang durch den Schlosspark machten. Sie waren zu weit entfernt, als dass man etwas Genaueres hätte sehen können, aber so viel war klar erkennbar: Sie unterhielten sich lebhaft miteinander. »Ich dachte eher, er interessiert sich für Bettina«, stellte der kleine Fürst fest. »Er ist ziemlich beeindruckt von ihr, Anna.« »Vielleicht stimmt ja beides«, meinte Anna. »Aber ist dir nicht aufgefallen, wie er das Amulett ansieht, sobald er denkt, man merkt es nicht?« »Doch, schon. Aber das könnte auch daran liegen, dass es besonders schön ist.« Er sah Annas skeptisches Gesicht und setzte hinzu: »Wahrscheinlich hast du Recht. Meinst du, er hat einen bestimmten Grund, sich dafür zu interessieren? Schließlich ist er ja kein Händler von wertvollem Schmuck.« »Es muss eher privat sein«, sagte Anna. »Meinst du, er ist vielleicht nur wegen des Amuletts hier? Ich meine, sein Besuch kam doch ziemlich überraschend, oder?« »Das schon, aber er kann ja nicht geahnt haben, dass Bettina dieses Amulett tragen wird, Chris. Niemand wusste vorher, dass es existiert.« »Niemand stimmt nicht«, widersprach er. »Der, der es der alten Fürstin geschenkt hat, wusste es schon.« Sie wechselten einen nachdenklichen Blick, dann sagte Anna achselzuckend: »Florian war es bestimmt nicht, Chris. Tina meint doch, ihre Großmutter hätte es von ihrem Großvater bekommen.« »Glaubst du das? Dann hätte sie es doch getragen!« Plötzlich leuchtete Christians Gesicht auf. »Weißt du was? Ich mache mit meinem Handy ein Foto von dem Amulett, ohne dass Tina es merkt, und dann fragen wir einen Juwelier, wie man Nachforschungen über die Herkunft so eines Schmuckstücks anstellt. Wenn es so wertvoll ist, wie wir vermuten, dann kann man bestimmt nachvollziehen, wem es mal gehört hat.«

Anna sah ihren Cousin bewundernd an. »Manchmal hast du echt gute Ideen, Chris.« »Oh, vielen Dank«, erwiderte er. »Du bist also einverstanden?« Ein leises Schnauben antwortete ihm. »Was für eine blöde Frage, Chris! Wir hätten schon längst auf diese Idee kommen sollen!«

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Florian hatte fest vorgehabt, Bettina zu sagen, was zu sagen war seiner Ansicht nach, doch jetzt, da sie gemeinsam durch den Sternberger Schlosspark liefen, konnte er es nicht. Ihre Schönheit schnürte ihm die Kehle zu, und er konnte nur noch daran denken, dass er sie, wenn er Sternberg wieder verließ, vermutlich nie wiedersehen würde. Er hatte wohl einen Laut von sich gegeben, denn sie fragte erschrocken: »Was ist denn? Sie sehen plötzlich aus, als hätten Sie Schmerzen.« Und genau das war es: Er hatte Schmerzen. Sein Herz tat ihm weh, seit er sie das erste Mal gesehen hatte. Sie war verlobt, das wusste er, aber das hatte ihn nicht daran gehindert, sich in sie zu verlieben, ihr sein Herz zu schenken, für das sie keine Verwendung hatte. Und die ganze Zeit hatte er sich eingeredet, es ginge ihm nur um das Amulett und alles, was damit zusammenhing, doch das war höchstens die halbe Wahrheit. »Nein, nein, es ist nichts. Ich habe nur gerade an etwas Trauriges gedacht«, beteuerte er eilig. »An Ihren Großvater?«, fragte sie. Er nickte stumm. Die Wahrheit konnte er ihr unmöglich sagen. »Ich denke hier auch sehr viel an meine Großmutter. Wir waren oft zusammen hier, ich erinnere mich an jeden einzelnen Aufenthalt.« Sie wandte sich Florian zu. »Seltsam, dass wir uns hier nie begegnet sind. Sie sind doch auch früher

schon hier gewesen?« »Ja, auch gemeinsam mit meinem Großvater. Mir scheint, es gibt einige Parallelen zwischen Ihnen und mir. Sie waren also auch der Liebling Ihrer Großmutter?« »Das war nicht schwer, ich hatte keine Konkurrenz, ich bin die einzige Enkelin. Mein Onkel, Fürst zu Leven, ist noch unverheiratet, und ich bin Einzelkind. Mehr Kinder als meine Mutter und meinen Onkel Albrecht hatte Emilia nicht. Sind Sie auch allein?« »Nein, ich habe noch eine jüngere Schwester, Clara. Aber wir waren uns so ähnlich, mein Großvater und ich, dass wir buchstäblich ein Herz und eine Seele waren. Clara hat das zum Glück immer sportlich genommen. Ich an ihrer Stelle hätte mich vielleicht ausgeschlossen gefühlt und wäre gekränkt gewesen.« »Ich war Emilia auch ähnlich«, berichtete Bettina. »Es gibt Fotos von ihr als junge Frau, da könnte man denken, ich sei abgebildet.« Ich weiß, dachte Florian, die Fotos habe ich schon gesehen. Aber ich hatte keine Ahnung, wie stark der Zauber ist, den du in Wirklichkeit entfaltest. An die Möglichkeit, ich könnte mich in dich verlieben, habe ich überhaupt nicht gedacht. Wie dumm von mir. Sie warf ihm einen scheuen Blick zu. »Jetzt machen Sie schon wieder so ein trauriges Gesicht«, sagte sie leise. »Entschuldigen Sie«, bat er. »Es muss der Ort sein, er ist so voller Erinnerungen.« Daraufhin schwieg sie, und er war dankbar dafür. Er würde ein anderes Mal mit ihr reden – gerade jetzt fühlte er sich dazu außerstande.

*

»Was ist denn?«, fragte Georg von Stetten, als er den Gesichtsausdruck seiner

Frau sah. »Ist etwas nicht in Ordnung? Das war doch Tina, oder?« »Ja, das war Tina«, antwortete Marisa. »Ich weiß gar nicht genau, warum sie angerufen hat, Georg.« »Wie meinst du das?«, fragte er verwirrt. »Sie ist unsere Tochter, da ist es doch normal, dass sie uns anruft, wenn sie unterwegs ist. Gerade jetzt, nach dem Tod deiner Mutter …« »Ich glaube, sie hatte etwas auf dem Herzen, aber sie hat sich nicht getraut, es mir zu sagen.« Diese Aussage verwirrte ihn noch mehr. »Etwas auf dem Herzen?«, fragte er gedehnt. »Aber sie hat doch noch nie …« Er brach ab, als ihm bewusst wurde, was er hatte sagen wollen. »Sie ist doch gar nicht der Typ, der sich bei uns ausweint«, erklärte er schließlich. »Wir sind nicht die Art Eltern, zu denen man gehen kann, wenn man sich ausweinen möchte«, korrigierte Marisa ihren Mann. »Wenn sie Kummer hatte, hat sie mit meiner Mutter darüber gesprochen, Georg, niemals mit mir. Und mit dir auch nicht. Das heißt aber nicht, dass sie das nicht gewollt hätte. Ich glaube, ihr war immer klar, dass wir dafür nicht zur Verfügung standen.« »Du meinst, wir haben uns nicht genug um sie gekümmert?«, fragte er unsicher. »In dieser Hinsicht vermutlich nicht«, erwiderte sie. »Wir waren immer schwer beschäftigt und im Stress, wir haben ihr ein stabiles Elternhaus geboten, aber für Gefühle jeglicher Art war meine Mutter zuständig. Wir beide verstehen uns blind, Georg – vielleicht ist sich Tina manchmal wie ein Eindringling vorgekommen.« Er war über ihre Worte geradezu erschüttert. »Aber das wäre ja furchtbar«, murmelte er. »Solche Gedanken habe ich noch nie gehabt. Ich war immer so stolz auf unsere stabile, selbstständige Tochter, die nicht wegen jedes kleinen Problems gleich weinend zu uns gelaufen kam …« »Wir hätten doch gar keine Zeit für sie gehabt«, stellte Marisa selbstkritisch fest. »Deshalb ist sie weinend zu meiner Mutter gelaufen, wenn sie Kummer hatte.«

»Und du meinst, jetzt hat sie Kummer?« »Ich bin keine Fachfrau auf diesem Gebiet, aber es kam mir so vor.« »Und was sollen wir jetzt tun? Nach Sternberg reisen?« »Das vielleicht nicht, aber wenn sie zurückkehrt, werde ich sie fragen, was sie bedrückt. Und ich hoffe, sie wird es mir sagen.« Georg lief mit auf dem Rücken verschränkten Armen im Zimmer auf und ab. »Und wenn sie ein richtig großes Problem hat?«, fragte er beunruhigt. »Ich kann nur hoffen, dass sie es uns sagt, wenn wir sie danach fragen«, erwiderte Marisa. Er blieb vor ihr stehen und nahm sie in die Arme. Zum ersten Mal seit sehr langer Zeit waren sie beide ratlos, was nun zu tun war.

*

Clemens freute sich mehr, als er sagen konnte, auf das Wiedersehen mit Bettina. Zugleich erfüllte ihn leise Unruhe. Er konnte es nicht genau in Worte fassen, aber bei seinen Telefongesprächen mit ihr hatte er gespürt, dass sich etwas verändert hatte, seit sie auf Sternberg war. Mit der Hellsichtigkeit desjenigen, der weiß, dass er stärker liebt als wiedergeliebt wird, ahnte er, dass diese Veränderung mit dem jungen Grafen Florian zu Stolzenberg zu tun hatte, obwohl sein Name höchstens ein- oder zweimal gefallen war. Etwas an der Art, wie Bettina es vermieden hatte, über ihn zu reden, hatte ihn hellhörig gemacht. Als sie erwähnt hatte, dass er ebenfalls auf Sternberg weilte, war sie noch vollkommen unbefangen gewesen, danach war sie von sich aus nicht mehr auf ihn zurückgekommen. Er, Clemens, hatte nach dem jungen Grafen gefragt, und sie hatte so getan, als müsste sie sich mühsam daran erinnern, dass er ebenfalls zu den Sternberger Gästen gehörte. Das Schloss ragte vor ihm auf, majestätisch thronte es auf seinem Hügel und

schien aus seinen vielen Fensteraugen auf die unter ihm liegende Landschaft zu blicken. Clemens ging vom Gas, um diesen außergewöhnlichen Anblick zu genießen. Gleich darauf verschwand das Schloss noch einmal, Clemens hatte den Fuß des Hügels erreicht und fuhr gemächlich die sich nach oben windende Straße entlang. Er vergaß all seine sorgenvollen Gedanken, als er aus dem Auto stieg und sich Bettina gleich darauf in seine Arme stürzte. Sie war so offensichtlich glücklich, ihn zu sehen, dass er sich einen Narren schalt, der Gespenster gesehen – oder besser gehört – hatte. »Ich bin so froh, dass du da bist«, flüsterte sie, nachdem sie ihn stürmisch geküsst hatte. »Und ich erst«, flüsterte er zurück. »Du hast mir gefehlt, Tina.« »Und du mir.« »Willkommen auf Sternberg, Herr von Dornfeld«, sagte Eberhard Hagedorn. »Bitte, treten Sie ein, um das Gepäck kümmern wir uns.« Auch die Schlossbewohner hießen den neuen Gast herzlich willkommen – und dann stand Clemens dem Mann gegenüber, um den seine Gedanken in den letzten Tagen so oft gekreist waren: Florian Graf zu Stolzenberg, ein gut aussehender Dunkelhaariger, groß und schlank, mit einem sympathischen Gesicht und klugen Augen. Sein Händedruck war fest, der Blick offen. Nichts deutete darauf hin, dachte Clemens, dass seine geheimen Befürchtungen einen realen Hintergrund hatten, und so schob er sie entschieden beiseite. »Es freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte er aufrichtig. »Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte Florian ernst. Ich bin ein Dummkopf, dachte Clemens. Worüber habe ich mir nur die ganze Zeit Sorgen gemacht?

*

Natürlich wusste der Juwelier, wer ihm da plötzlich in sein Geschäft geschneit

war. Der kleine Fürst war jedem Menschen in Sternberg bestens bekannt, seine Cousine Anna ebenfalls. Die beiden gingen, wie auch Annas Bruder Konrad, in Sternberg zur Schule, und sie bewegten sich im Ort mit großer Selbstverständlichkeit. Da sie niemals überheblich wirkten, waren sie allgemein beliebt – und man ließ sie in der Regel in Ruhe. Weder Anna noch Christian mochten es nämlich, wenn sie auf der Straße von wildfremden Menschen angesprochen wurden. »Guten Tag, Baronin Anna und Prinz Christian«, sagte der Juwelier zuvorkommend. »Wie kann ich Ihnen behilflich sein?« »Wir möchten etwas über die Geschichte eines bestimmten Schmuckstücks wissen«, erklärte Christian. »Wir haben es schon im Internet versucht, aber nichts gefunden bisher. Vermutlich haben wir an der falschen Stelle gesucht.« »Haben Sie das Schmuckstück dabei?«, erkundigte sich der Juwelier. »Nein, wir konnten nur ein Foto machen«, erklärte Anna. »Wenn wir es Ihnen zeigen, muss das unbedingt unter uns bleiben.« »Das ist selbstverständlich, Baronin Anna«, erwiderte der Juwelier, ohne gekränkt zu sein. Christian holte also sein Handy heraus und zeigte ihm das Foto, das er von Bettinas Amulett gemacht hatte. Es war ein gestochen scharfes Bild, das die Schönheit des Schmuckstücks erstaunlich gut wiedergab. Der Juwelier stieß einen Laut der Bewunderung aus. »Ein wunderschönes Stück«, murmelte er. »Russland, neunzehntes Jahrhundert. Es würde mich nicht wundern, wenn es der Zarenfamilie gehört hätte.« Die beiden Teenager lauschten ihm atemlos. »Ist es sehr wertvoll?«, fragte Christian. »Unermesslich wertvoll«, antwortete der Juwelier. »Festlegen kann ich mich nicht, dazu müsste ich mehr wissen, aber solche Stücke sind selten und deshalb außerordentlich gesucht. Lassen Sie es mich so sagen: Wenn zum Beispiel feststünde, dass die Zarin es getragen hätte, wäre es noch wertvoller. Bitte, senden Sie mir das Foto auf mein Handy, Prinz Christian, dann stelle ich ganz

diskret ein paar Nachforschungen an. Was möchten Sie denn vor allem wissen?« »Wem es gehört hat«, antwortete Anna wie aus der Pistole geschossen, während Christian das Foto verschickte. »Am liebsten hätten wir gewusst, wer die letzten zwei oder drei Besitzer waren. Geht das?« »Vielleicht, Baronin Anna. Es kann allerdings sein, dass die Käufer anonym bleiben wollten – dann kann man ihre Namen auch nicht ermitteln. Aber ich tue mein Bestes, wenn Sie mir ein wenig Zeit lassen.« »Wie viel Zeit?«, fragte Christian. Der Juwelier hörte seiner Stimme an, wie ungeduldig er war. »Kommen Sie am Montag nach der Schule wieder – vielleicht kann ich Ihnen bis dahin schon etwas sagen. Morgen ist ja Samstag, bis dahin ist es vielleicht ein wenig knapp.« »Wir bezahlen Sie natürlich für Ihre Mühe«, erklärte Christian. Der Juwelier schüttelte den Kopf. »Nicht nötig, Prinz Christian – diese Geschichte interessiert mich ja selbst. Ich führe öfter solche Nachforschungen durch, es ist eins meiner Hobbys.« Sie bedankten sich und verließen das Geschäft wieder. Der Juwelier wandte sich dem Foto zu, das er nun auf seinem Handy hatte. Er seufzte tief. Was hätte er darum gegeben, diese außergewöhnliche Arbeit einmal in den Händen halten zu dürfen – doch dieses Glück würde ihm wohl nie vergönnt sein.

*

An diesem Abend konnte Bettina nicht schlafen, und so verließ sie ihre Suite wieder. Sie hatte gedacht, Clemens’ Anwesenheit würde ihr helfen, den Aufruhr in ihrem Inneren zu besänftigen, doch das war nicht der Fall, im Gegenteil. Es hatte wenig Sinn, weiterhin zu leugnen, dass Florian zu Stolzenberg sie in einer Weise beunruhigte, die vollkommen unangemessen war. Sie war mit Clemens verlobt, würde ihn in absehbarer Zeit heiraten. Es war unrecht, wenn sie sich so stark zu einem anderen Mann hingezogen fühlte, den sie noch dazu praktisch

überhaupt nicht kannte! Sie lief die breite Treppe hinunter und betrat gleich darauf die Bibliothek, die ihr schon immer der liebste Ort auf Sternberg gewesen war. Im Kamin glommen noch einige Holzscheite, der Raum war nach wie vor angenehm warm. Sie kuschelte sich in einen der alten Ledersessel und blickte in die langsam ersterbende Glut. Omi, dachte sie, wenn du jetzt hier wärst, könnte ich mit dir reden, dir erzählen, was ich fühle. Du würdest mir raten, wie du es immer getan hast. Warum bist du ausgerechnet jetzt nicht mehr da? Und warum muss mir so etwas überhaupt ieren? Ich wünschte, ich wäre Florian zu Stolzenberg nie begegnet. »Oh!«, hörte sie eine überraschte Stimme von der Tür her sagen. »Ich hatte nicht damit gerechnet, hier noch jemanden anzutreffen.« Da stand er – der Mann, an den sie ständig denken musste, auch jetzt noch, da ihr Verlobter ebenfalls im Schloss weilte. Sie hatte gehofft, Clemens’ Anwesenheit werde ihr Klarheit bringen, seine Nähe werde Florians Anziehungskraft mit einem Schlag zunichte machen – doch das war nicht der Fall gewesen. Eher im Gegenteil … Sie liebte Clemens wie einen Bruder, Florian aber zog sie auf eine ganz andere Art und Weise an. Und jetzt tauchte er auch noch hier bei ihr auf, mitten in der Nacht. Sie musste fliehen, das spürte sie ganz deutlich, denn sonst würde mit Sicherheit ein Unglück geschehen. »Ich muss mit Ihnen reden«, stieß Florian hervor. Er saß plötzlich im Sessel neben ihr, ohne dass sie mitbekommen hatte, wie er dorthin gelangt war. »Reden? Worüber denn?« Ihre Stimme gehorchte ihr nicht richtig, sie räusperte sich. Er musste ja nicht unbedingt merken, wie sehr seine Gegenwart sie durcheinanderbrachte. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte, aber als er erwiderte: »Über Ihr Amulett« fühlte sie sich, als hätte ihr soeben jemand eiskaltes Wasser über den Kopf geschüttet. Verwirrt blinzelte sie. »Das Amulett?«, fragte sie. »Was gibt es denn da zu reden?« »Ich weiß, von wem Ihre Großmutter es bekommen hat«, erklärte er. Sie setzte sich kerzengerade hin und sah ihn an. »Wie bitte?«, fragte sie ungläubig. »Das ist vollkommen ausgeschlossen. Sie kannten doch meine

Großmutter nicht einmal.« »Sie glauben mir also nicht?« »Wie könnte ich denn?«, rief sie. »Niemand in unserer Familie weiß etwas über das Amulett, keiner hatte es jemals gesehen, bis zu dem Augenblick, als meine Großmutter es mir gab.« »Aber sie hat Ihnen doch nicht mehr erzählt, wer es ihr geschenkt hat?« »Nein, das hat sie nicht. Ich glaube aber immer noch, dass sie es von meinem Großvater bekommen hat. Nur weiß ich den Grund nicht, warum sie es nie getragen hat.« Seine Stimme schien von weither zu kommen, als er sagte: »Mein Großvater hat es ihr geschenkt.« Sie fing an zu lachen, obwohl sie keineswegs erheitert war. »Sie sind ja vollkommen verrückt geworden! Was fällt Ihnen denn ein, so etwas zu behaupten?« »Er hat es mir erzählt, kurz bevor er starb«, fuhr Florian unbeirrt fort. »Es war eine große, eine einmalige Liebe, die sie nicht ausleben konnten, weil sie beide verheiratet waren. Mein Großvater wäre sogar bereit gewesen, sich scheiden zu lassen, aber für Ihre Großmutter kam das nicht in Frage. Und dann …« Bettina stand auf. »Ich höre mir das nicht länger an!«, sagte sie zornig. »Meine Großmutter und mein Großvater waren ein sehr glückliches Paar, und ich dulde nicht, dass Sie ihr Andenken in dieser Weise beschädigen.« Er erhob sich ebenfalls. Sein Gesicht war sehr blass, die Augen wirkten fast schwarz. »Wenn Sie mir nicht glauben, dann machen Sie sich doch selbst auf die Suche nach Spuren meines Großvaters im Leben Ihrer Großmutter. Ich garantiere Ihnen: Sie werden sie finden!« »Und ich garantiere Ihnen, dass ich niemals danach suchen werde. Hören Sie? Niemals!« Mit diesen Worten stürzte sie aus der Bibliothek und lief so schnell die Treppe hinauf, dass sie mehrmals stolperte und beinahe zu Fall kam. Außer

Atem und mit wild klopfendem Herzen kam sie in ihrer Gästesuite an. Sie schlich zum Schlafzimmer und blickte durch die halb geöffnete Tür. Clemens schlief fest. Tränen liefen ihr über die Wangen, als sie zum Fenster ging und hinaus in den Schlosspark sah. Sie musste Sternberg verlassen – am besten sofort, damit sie Florian nie wieder begegnete.

*

Eberhard Hagedorn räusperte sich. »Frau Baronin, Herr Baron …«, begann er. Sofia und Friedrich saßen beim Frühstück. Es war Samstagmorgen, außer ihnen war bisher niemand erschienen. Die Jugendlichen schliefen sich aus, wie jedes Wochenende, und von den Gästen hatte sich bisher auch noch niemand blicken lassen. »Neuigkeiten, Herr Hagedorn?« »Frau von Stetten und Herr von Gernshagen haben Sternberg noch in der Nacht verlassen«, sagte er und legte einen Brief auf den Tisch. »Ich bin noch rechtzeitig wach geworden, um sie verabschieden zu können, die Gründe für ihren überstürzten Aufbruch haben sie Ihnen wohl in diesem Schreiben mitgeteilt. Sie hatten es in der Eingangshalle hinterlegt, aber ich habe es vorsichtshalber an mich genommen.« »Abgereist?«, fragte Baronin Sofia entgeistert. »Aber Herr von Gernshagen ist doch gestern erst angekommen! Und Frau von Stetten wollte mindestens eine Woche bleiben.« »Ich kann leider nichts dazu sagen, Frau Baronin, denn ich kenne die Gründe nicht.« »Natürlich nicht. Vielen Dank, Herr Hagedorn, dass Sie unsere Gäste verabschiedet und den Brief an sich genommen haben«, sagte Baron Friedrich.

Eberhard Hagedorn zog sich zurück, und der Baron schlitzte den Umschlag auf. Er zog ein Blatt heraus, auf dem nur wenige Zeilen standen, die er rasch überflog. »Das hilft uns auch nicht weiter«, brummte er und las dann laut vor: »Liebe Sofia, lieber Fritz, unvorhergesehene Umstände zwingen uns zu sofortiger Rückreise. Bitte verzeiht, aber wir konnten nicht bis zum Morgen warten. Tina und Clemens.« »Ich rufe sofort Marisa an«, sagte die Baronin. »Lass das lieber«, riet ihr Mann. »Vielleicht wissen sie und Georg von nichts, und wir würden nur zusätzliche Unruhe stiften.« »Aber was kann denn da nur vorgefallen sein, Fritz?« Er zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich habe nicht die geringste Ahnung«, gestand er. In diesem Augenblick erschien Florian, und sein Aussehen veranlasste die beiden, die überraschende Abreise ihrer anderen Gäste erst einmal zu vergessen. »Um Himmels willen, Flo, was ist denn iert?«, rief die Baronin. »Du siehst krank aus …« »Ich muss sofort abreisen«, stieß er hervor. »Bitte, fragt mich jetzt nicht nach den Gründen, ich kann sie euch nicht sagen, aber ich muss hier weg.« »Du auch? Ich möchte wissen, was hier auf einmal los ist«, rief der Baron. »Unsere Gäste verlassen Sternberg fluchtartig.« »Wieso?«, stammelte Florian. »Was ist denn mit … den anderen?« »Bereits heute Nacht abgereist«, stellte die Baronin fest. »Und ich nehme an, deren Abreise und deine Ankündigung, uns ebenfalls zu verlassen, stehen in engem Zusammenhang.« Florian nickte und nahm nun doch Platz. »Wenn sie schon weg sind, kann ich wenigstens noch einen Kaffee trinken«, murmelte er. Als er die Blicke seiner Gastgeber sah, setzte er hinzu: »Ich hatte ein Gespräch mit Bettina gestern

Abend oder besser heute Nacht. Ich habe ihr etwas gesagt, was sie nicht hören wollte, was aber der Wahrheit entspricht. Nicht im Traum habe ich eine solche Reaktion erwartet. Sie hat so getan, als wollte ich ihr etwas Böses antun.« »Eine unangenehme Wahrheit?«, fragte Sofia behutsam. »Offenbar«, murmelte er. »Mir war das, wie gesagt, nicht klar.« Er blickte verlegen auf. »Ich kann es euch genau so gut sagen, bei euch sind Geheimnisse immer gut aufgehoben gewesen …« Es klopfte leise, Eberhard Hagedorn erschien noch einmal und überreichte Florian einen Umschlag. »Von Frau von Stetten«, sagte er ruhig, bevor er sich wieder zurückzog. »Lies ihn zuerst, bevor du uns Geheimnisse anvertraust«, forderte Sofia Florian auf. Er öffnete den Briefumschlag. Ihm hatte Bettina nur einen einzigen Satz geschrieben, ohne Anrede, aber mit ihrer Unterschrift. »Wenn Sie Ihre unhaltbaren Behauptungen anderen gegenüber wiederholen, werde ich juristisch gegen Sie vorgehen. Bettina von Stetten.« Mit verschlossenem Gesicht schob er den Bogen zurück in den Umschlag. »Es scheint in der Tat besser zu sein, ich behalte das Geheimnis für mich«, erklärte er. »Sie droht mir andernfalls juristische Schritte an.« Sofia und Friedrich wechselten einen fragenden Blick. Sie konnten sich nicht vorstellen, um welche Art von Geheimnis es in diesem Fall ging, aber weitere Fragen verboten sich natürlich. »Und wenn ich diesen Kaffee getrunken habe, reise ich ab«, fuhr Florian fort. »Es tut mir sehr leid, dass ich euch Unannehmlichkeiten bereitet habe. Ich hoffe, ihr verzeiht mir.« »Es gibt nichts zu verzeihen, Florian«, erklärte der Baron. »Du bist uns jederzeit herzlich willkommen. Was immer zu diesen Unstimmigkeiten zwischen dir und Bettina geführt hat – wir hoffen, ihr könnt irgendwann ruhig darüber reden und alles ausräumen, was zwischen euch stehen mag.« »Das wünschte ich mir auch«, murmelte Florian, »aber ich fürchte, das bleibt ein

Wunsch. Wenn ihr gesehen hättet, wie sie über mich hergefallen ist …« Eine halbe Stunde später verließ er Sternberg. Sofia und Friedrich blieben ratlos zurück.

*

Clemens hatte schnell aufgehört, Bettina zu fragen, warum sie Sternberg mitten in der Nacht hatten verlassen müssen. Selten zuvor hatte er sie so aufgewühlt gesehen, aber was sie in diesen Zustand versetzt hatte, wollte sie ihm nicht erzählen, und sie konnte es wohl auch nicht. Er ließ sie also in Ruhe. Während der gesamten mehrstündigen Heimfahrt schwieg sie. Er selbst blieb am Steuer, denn ihm schien, dass er sie in ihrem Zustand besser nicht fahren lassen sollte. Zwar war er müde, aber die Sorge um Bettina und die Fragen, was wohl vorgefallen sein mochte, hielten ihn wach. Natürlich machte er sich Vorwürfe, so schnell eingeschlafen zu sein, aber er war müde gewesen nach einer anstrengenden Woche und der langen Herfahrt. Und nun, nach nur wenigen Stunden Schlaf, war er noch viel müder. Er hatte das Gefühl, dass etwas Entscheidendes geschehen war – etwas, das sich auch auf sein zukünftiges Leben auswirken würde, aber er hätte dieses Gefühl nicht in Worte fassen, geschweige denn erklären können, woher es kam. Er atmete auf, als sie ihre Heimatstadt erreicht hatten, und er machte keinerlei Versuch, Bettina zu überreden, die Nacht in seiner Wohnung zu verbringen. Ebenso verzichtete er darauf, sie zu fragen, ob er bei ihr bleiben solle, denn ihm war klar, dass sie allein sein wollte. Sie dankte ihm wortlos, aber mit einem liebevollen Kuss auf die Wange für seine Rücksichtnahme. »Ich rufe dich an«, sagte sie zum Abschied. Gleich darauf verschwand sie im Haus. Er war todmüde und hellwach zugleich. Langsam fuhr er die kurze Strecke zu seiner Wohnung, packte den Koffer wieder aus, hörte noch ein wenig Musik, trank einen Whisky. Er konnte vor Müdigkeit kaum noch denken, dennoch würde er noch immer nicht schlafen können, das wusste er. Also schaltete er die Musik aus und den Fernseher ein. Vielleicht fand er einen Film, der ihm beim Einschlafen half.

Einige Stunden später wachte er davon auf, dass er fror. Da endlich zog er sich aus und ging ins Bett.

*

Clara setzte sich kerzengerade im Bett auf, als sie ein Geräusch in der Wohnung hörte. Sie hatte lange geschlafen an diesem Sonntagmorgen und gerade beschlossen, aufzustehen – und nun hatte sie plötzlich das Gefühl, dass jemand in der Wohnung war. »Clara?« Sie sprang aus dem Bett und riss die Tür ihres Schlafzimmers auf. »Flo!«, sagte sie entgeistert. »Was machst du denn schon hier? Ich dachte, du wolltest länger auf Sternberg bleiben …« Jetzt erst fiel ihr sein Aussehen auf, und sie zog erschrocken die Luft ein. Ohne weiteres Wort umarmte sie ihren Bruder. »Was ist denn iert?« Er erwiderte die Umarmung mit einer Heftigkeit, die ihr deutlicher als jede Erklärung sagte, dass etwas vorgefallen sein musste, das ihn bis ins Innerste getroffen hatte. »Ich muss mit dir reden«, sagte er. »Sofort.« »Wenn ich mir dabei einen Kaffee kochen darf? Du weißt, ohne Kaffee kann ich nicht wach werden – und schon gar nicht denken oder zuhören.« Er nickte abwesend. Sie zog sich einen Morgenmantel über und ging in die Küche. Er folgte ihr mit blassem, verschlossenem Gesicht. Während sie die Maschine mit Wasser und Kaffeepulver füllte, sagte er: »Ich bin wegen Bettina von Stetten nach Sternberg gefahren – ich wusste, dass sie sich dort aufhielt. Sie ist die einzige Enkelin der alten Fürstin Emilia, die gerade verstorben ist.« Clara nickte nur. Das hatte sie sich nach der überraschenden Eröffnung der netten Bibliothekarin Annette Breuer schon selbst zusammengereimt. »Die Fürstin war lange Jahre die Geliebte unseres Großvaters«, setzte Florian hinzu.

Langsam drehte sich Clara zu ihm um. »Spinnst du? Wie kannst du so etwas behaupten, Flo?« »Er hat es mir erzählt, bevor er starb. Emilia war die große Liebe seines Lebens – nur sind sie sich leider zu spät begegnet, als sie nämlich beide schon mit anderen verheiratet waren. Ich glaube, am Ende seines Lebens musste er endlich mit jemandem darüber reden, und das war dann ich. Er hat mit so viel Liebe von ihr gesprochen, Clara …« Clara ließ sich langsam auf einen Stuhl sinken. In ihrem Kopf drehte sich alles. »Ich habe ihn immer für einen glücklichen Ehemann gehalten«, sagte sie fassungslos. »Ich auch. Er hat sich ja auch alle Mühe gegeben, uns in diesem Glauben zu lassen.« »Wann war das denn?« »Angefangen hat es vor über vierzig Jahren und wohl nie richtig aufgehört. Sie haben sich immer Briefe geschrieben, auch wenn sie sich nicht sehen konnten …« Er räusperte sich. »Irgendwann ist sie dann von ihm schwanger geworden.« »Was sagst du da?«, rief Clara erschrocken. Er nickte. »Fürst Albrecht zu Leven, Bettinas Onkel, ist auch unser Onkel, Clara. Zur Geburt seines Sohnes hat er ihr ein wundervolles Amulett geschenkt, das einmal der russischen Zarin gehört hat. Sie hat es nur tragen können, wenn sie zusammen waren – niemals in der Öffentlichkeit. Sie hat dieses Amulett ihrer Enkelin vermacht, ohne ihr die Wahrheit zu sagen.« »Ich glaube das einfach nicht«, murmelte Clara. »Er hat all die Jahre ein Doppelleben geführt? Unser grundsolider Großvater?« »Sieht so aus, ja. Und er ist beinahe daran zerbrochen. Bevor er starb, hat er mir gesagt: ›Sieh zu, dass dir so etwas nicht iert, Flo, es zerreißt einem nämlich das Herz. Ich hatte deine Großmutter immer gern, ich habe ihren Mut und ihre Klugheit geschätzt, aber ich habe mich, seit ich Emilia kannte, immer nur nach ihr gesehnt.‹« Der Kaffee war fertig, mit mechanischen Bewegungen füllte Clara zwei Becher,

einen davon reichte sie ihrem Bruder. »Danke.« Er trank und verbrannte sich prompt den Mund. Leise fluchend setzte er den Becher ab. »Aber zum Schluss waren sie doch beide frei«, sagte Clara langsam. »Unsere Großmutter ist gestorben, Fürstin Emilias Mann ebenfalls – hätten sie da nicht noch zusammenkommen können?« »Er wollte das schon vorher, er hätte uns alle verlassen, Clara – wegen Emilia. Aber das ist an ihr gescheitert. Vor allem wohl an ihrer Liebe zu Bettina, ihrer Enkelin. Und sie hatte auch Angst vor den Reaktionen der anderen, wenn alles herauskommen würde.« Florian griff erneut nach seinem Kaffee, dieses Mal trank er vorsichtiger. »Sie hatten sich vor einem Jahr gerade entschlossen, ihre Liebe öffentlich zu machen, als bei Opa Krebs festgestellt wurde. Er hatte nicht mehr lange zu leben, das haben ihm die Ärzte damals ja gleich gesagt.« Clara nickte. »Der Tumor war zu spät erkannt worden. Und Emilia? Hat sie dann einen Rückzieher gemacht?« »Er hat es ihr nicht gesagt, weil er nicht wollte, dass sie ihn langsam verfallen sieht. Er hat sich unter einem Vorwand zurückgezogen und sie dadurch wohl zutiefst gekränkt. Kurz vor seinem Tod hat er ihr dann einen Abschiedsbrief geschrieben und ihr alles erklärt. Ich habe mittlerweile in Erfahrung gebracht, dass die Nachricht seines Todes von einem Tag zum anderen eine Frau aus ihr gemacht hat, die nicht mehr leben wollte. Sie muss sich in kürzester Zeit sehr stark verändert haben.« »Und dann ist sie ihm in den Tod gefolgt«, murmelte Clara. In ihren Augen glänzten Tränen. »Was für eine traurige Geschichte, Flo – für Emilia, für unseren Opa, aber auch für unsere Oma und für Emilias Mann. Die müssen das doch gespürt haben und sehr unglücklich gewesen sein, auch wenn wir das nicht mitbekommen haben.« »Opa meinte, er hätte alles getan, um Oma trotzdem glücklich zu machen.« »Wo haben sich die beiden kennengelernt, weißt du das?«

»Ja, das weiß ich. Auf Sternberg.« »Und warum hast du nicht versucht, mit der Fürstin Kontakt aufzunehmen nach Opas Tod?« »Das hatte ich ja vor! Aber zuerst war ich so voller Trauer, dass ich mir ein solches Gespräch nicht zugetraut habe – ich wusste ja auch nicht, wie sie mich empfangen würde. Und dann …« »Dann ist sie ganz plötzlich gestorben.« Er nickte stumm. Schweigend tranken sie ihren Kaffee, bis Florian mit brüchiger Stimme sagte: »Das ist leider noch nicht alles, Clara.« Sie hielt den Atem an. War das, was er ihr erzählt hatte, denn noch nicht genug? »Ich habe mich in sie verliebt«, fuhr Florian fort. »In Bettina von Stetten, Emilias Enkelin. Dabei ist sie verlobt und wird in Kürze heiraten – und ich kann überhaupt nichts machen. Außerdem hasst sie mich jetzt, weil ich ihr die Wahrheit gesagt habe, die sie aber gar nicht hören wollte.« Er lachte auf, es klang bitter. »Mit anderen Worten: Die Geschichte wiederholt sich. Nur habe ich die Frau, die ich mein Leben lang lieben könnte, schon kennengelernt, bevor ich mich anderweitig gebunden habe. Zu spät ist es leider trotzdem.« Sie ging zu ihm, um ihn zu umarmen. Florian erwiderte die Umarmung mit wilder Verzweiflung. »Ruh dich erst einmal aus«, flüsterte sie. »Dann überlegen wir, was wir tun können. Vielleicht liebt sie ihren Verlobten gar nicht.« »Sie hat Sternberg mit ihm zusammen noch letzte Nacht verlassen«, versetzte Florian dumpf. »Für mich sieht das schon nach Liebe aus.« Daraufhin schwieg Clara, es gab ja auch nichts mehr zu sagen.

*

Bettina nahm zögernd den ersten Brief aus dem Kasten. Nach dem, was Florian ihr gesagt hatte, kam es nicht mehr in Frage, die Briefe ungelesen zu verbrennen. Sie musste Gewissheit haben, dass alles, was dieser unverschämte Mensch gesagt hatte, gelogen war. Reine Erfindung. Nie im Leben hatte ihre Großmutter während der Ehe mit ihrem Großvater ein Verhältnis gehabt. Nie im Leben! Sie entfaltete das Blatt und las: »Liebste, wann sehen wir uns wieder? Seit unserem letzten Treffen sind bereits zwei lange Wochen vergangen, und ich sehne mich so sehr nach dir. Du weißt, wozu ich bereit bin. Für dich würde ich meine Familie verlassen, denn ich kann nur glücklich sein, wenn du bei mir bist.« Sie las den Brief zu Ende, dann lies sie das Blatt sinken. Ihre Augen schwammen in Tränen. Ganz unten auf dem eng beschriebenen Briefbogen stand, statt einer Unterschrift, nur ein großes »J«. Sie legte den Brief auf ihr Bett und ging zum Fenster. Vor fünfundvierzig Jahren war dieser Brief geschrieben worden. Ihre Mutter war damals vier Jahre alt gewesen, ihr Onkel Albrecht noch gar nicht auf der Welt. Ihr Großvater hatte Gregor geheißen, seine Schrift war klein und rund gewesen, während der Schreiber dieser Zeilen eine steile, vorwärts strebende Schrift gehabt hatte. J. – dachte sie. Wie Johannes. Johannes zu Stolzenberg. Florian hatte die Wahrheit gesagt. Dieser Gedanke war so ungeheuerlich, dass sie eine Weile brauchte, bis sie die Kraft fand, zum Bett zurückzukehren, um die nächsten Briefe zu lesen. Von da an war es wie ein Sog. Sie wollte aufhören, konnte es aber nicht. Die verbotene Liebesgeschichte ihrer Großmutter zog sie immer tiefer in ihren Bann – und so las sie von vielen gestohlenen zärtlichen Stunden voller Glück, von langen Wochen voller Sehnsucht und Trauer über das verte gemeinsame Leben und endlich von der späten Schwangerschaft Emilias. Sie hielt den Atem an, als sie las, dass ihr Onkel Albrecht der Sohn von Florians Großvater war, sie ließ sich die Suche nach dem Amulett beschreiben und wie glücklich Johannes zu Stolzenberg gewesen war, es kaufen zu können, um es Emilia zu schenken – und kam endlich zum letzten Brief. »Liebste, wirst Du mir meine Lüge jemals verzeihen können? Ich bin krank und werde sterben – das ist der einzige Grund für meinen Rückzug. So gern ich Dich in meiner letzten Stunde bei mir gehabt hätte, so wollte ich Dir doch den

Anblick meines Sterbens ersparen. Die Chemotherapie hat mir zugesetzt, ich bin schwach, es wird nicht mehr lange dauern. Du aber sollst mich so in Erinnerung behalten, wie Du mich geliebt hast. Und sei gewiss, dass ich immer, immer an Dich denke. Du warst in jeder Sekunde bei mir, es ist kein Augenblick vergangen, in dem ich mich nicht nach Dir gesehnt hätte.« Bettina weinte jetzt hemmungslos. Das also war Emilias Geheimnis gewesen – und sie hatte es all die Jahre gehütet! Sorgfältig legte sie die Briefe in den Kasten zurück. Während sie das tat, erinnerte sie sich mit einem Mal an jenen Satz ihrer Großmutter, dem sie bis dahin kaum Beachtung geschenkt hatte. »Tina«, hatte Emilia gesagt, »geh nicht weg, lass du mich nicht auch noch allein.« Jetzt erst ging ihr dessen wahre Bedeutung auf – Emilia hatte von Johannes zu Stolzenberg gesprochen, der im Sommer verstorben war. »Warum hast du mir nichts davon erzählt, Omi?«, murmelte sie, als sie den Karton zurück in den Schrank stellte, unter ihre Kleider. Aber, erkannte sie mit plötzlicher Klarheit, ihre Großmutter hatte zahlreiche Andeutungen gemacht, dass eine falsche Entscheidung ein Leben lang nachwirken konnte – und immer wieder hatte sie eindringlich gefragt, ob Clemens ganz sicher Bettinas große Liebe sei … Und ich habe gelacht und gesagt, dass ich nicht an die große Liebe glaube, dachte sie. Woraufhin sie mich immer ganz merkwürdig angesehen hat, mit einer Mischung aus Mitleid und Besorgnis – so, als wüsste ich nicht, wovon ich rede. Und genau so war es ja auch. Clemens ist mein Freund, aber die Liebe, die aus diesen Briefen spricht, die Johannes zu Stolzenberg an meine Großmutter gerichtet hat – so eine Liebe empfinde ich für ihn nicht. Im nächsten Moment schon drängte sich ihr der Gedanke auf, den sie unter allen Umständen hatte vermeiden wollen: Vielleicht, wenn wir uns unter anderen Umständen begegnet wären, hätte ich Florian so lieben können …

*

Anna und Christian wussten sofort, dass der Juwelier erfolgreich gewesen war, denn er strahlte über das ganze Gesicht, als er sie sah. »Ich konnte zwei Familien ermitteln«, erklärte er, bevor sie auch nur fragen konnten, »die das Amulett besessen haben. Allerdings ist nirgends vermerkt, wo sich das Amulett derzeit befindet, aber das scheinen Sie ja zu wissen, sonst hätten Sie es nicht fotografieren können, nicht wahr?« »Ja, wir wissen, wem es jetzt gehört«, erklärte der kleine Fürst. »Bitte, sagen Sie uns, was Sie herausgefunden haben.« »Das Amulett verblieb bis 1916 in der russischen Zarenfamilie. Von dort gelangte es nach Frankreich, wo es eine Grafenfamilie erworben hatte, in der es jeweils von der Mutter an die älteste Tochter weitergegeben wurde. Im Jahre 1965 wurde es dann von einem deutschen Grafen erworben.« »Wissen Sie, welcher Graf das war?«, fragte Anna gespannt »Ja, ich weiß es – aber diese Information ist vertraulich zu behandeln. Nur durch eine Indiskretion ist der Käufer identifiziert worden, allerdings erst Jahre später. Er hat sich juristisch gewehrt, seitdem ist über das Amulett nichts mehr bekannt geworden.« Der Juwelier räusperte sich. »Es wurde seitdem nie mehr gesehen.« »Können Sie uns den Namen des Grafen sagen?«, fragte Christian. »Es könnte wichtig sein.« »Ich denke, ich kann Ihnen den Namen anvertrauen, Prinz Christian. Es war Graf Johannes zu Stolzenberg. Er ist im letzten Sommer verstorben.« Anna und Christian bedankten sich für die Mühe, die der Juwelier sich gemacht hatte, doch er wollte nichts davon wissen. »Es war mir ein Vergnügen«, beteuerte er, »ich hoffe, Sie können mit den Informationen etwas anfangen.« »Ganz bestimmt«, erklärte Christian. Danach hatten Anna und er es sehr eilig. »Flos Großvater hieß Johannes, Chris!«, stieß Anna hervor, sobald sie den Laden verlassen hatten. »Er muss gewusst haben, dass sein Opa Tinas Oma das Amulett geschenkt hat – und deshalb hat er uns besucht, als sie auch bei uns war.« »Du meinst, die beiden waren ein Liebespaar?«, fragte Christian. »Aber …«

»Ja, ich weiß. Aber fällt dir eine andere Erklärung ein?« »Eigentlich nicht. Meinst du, Florian hat mit Bettina darüber gesprochen? Und sie ist deshalb so schnell abgereist?« »Könnte doch sein, oder?« »Aber es muss noch mehr dahinterstecken, Anna! Er hat nicht nur das Amulett dauernd angesehen, sondern auch Tina. Und sie … ich glaube, sie mag ihn auch, aber das konnte sie nicht so zeigen, weil sie ja mit Clemens verlobt ist. Und Florian hat natürlich auch gedacht, dass er überhaupt keine Chance hat …« »Sollen wir uns einmischen?«, fragte Anna. »Wir könnten Flo sagen, dass er nicht einfach aufgeben soll. Ich finde Clemens zwar sehr nett, aber er ist einfach nicht der richtige Mann für Tina.« Das sah der kleine Fürst genauso, und damit war die Entscheidung gefallen.

*

»Wie lange soll das denn noch so weitergehen?«, fragte Ulrich. Clara sah ihn erstaunt an. »Wie bitte?«, fragte sie, merkte aber zu ihrem Ärger, dass ihr das Blut ins Gesicht stieg. »Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen, Herr von Dornfeld.« Sie betonte die förmliche Anrede in der Hoffnung, ihn so zum Schweigen zu bringen. Doch sie hatte sich getäuscht, er ließ sich vom einmal eingeschlagenen Weg nicht abbringen. »Ich möchte mit Ihnen ausgehen, das wissen Sie. Und ich glaube, eigentlich möchten Sie auch mit mir ausgehen, Frau Stolzenberg! Ich würde Sie gern näher kennenlernen, das habe ich bereits deutlich zum Ausdruck gebracht, aber Sie behandeln mich, als hätte ich Ihnen ein unmoralisches Angebot gemacht.« Über diesen Ausdruck musste sie lachen, und natürlich wusste sie, dass sie damit verloren hatte. Dennoch protestierte sie: »Unsinn, so behandle ich Sie überhaupt nicht, Sie übertreiben maßlos. Ich will mich nur bei meiner Arbeit nicht von

persönlichen Gefühlen stören lassen, das ist alles. Können Sie das denn nicht verstehen?« »Doch, aber ich denke, wir würden es schon schaffen, vernünftig damit umzugehen«, erklärte er. »Sehen Sie, ich mache rasante Fortschritte unter Ihrer kundigen Führung – da kann doch überhaupt nichts mehr schiefgehen, oder?« Sie stieß einen Seufzer aus. »Sie sind wirklich hartnäckig!«, stellte sie fest. »Ich dachte, ich hätte mich deutlich ausgedrückt.« »Das haben Sie ja auch, aber manche Dinge verstehe ich trotzdem nicht«, erklärte Ulrich mit breitem Lächeln. Sie wollte etwas erwidern, doch er hinderte sie daran, indem er sie in die Arme nahm und küsste. Das war ein so unerwarteter Überfall, dass sie völlig vergaß, sich zu wehren. Und je länger der Kuss dauerte, desto weniger Neigung verspürte sie, ihn vorzeitig zu beenden. Das war es schließlich, wovon sie schon seit Tagen träumte, und nun war dieser Traum Wirklichkeit geworden … Als er sie schließlich freigab, fragte er leise: »War das nun so schlimm?« »Das muss sich erst noch herausstellen«, erwiderte sie. »Du Schuft! Mich einfach zu überfallen.« »Aber es war ein sehr zärtlicher Überfall, oder nicht? Und er hat dir gefallen, gib’s zu.« Statt einer Antwort schloss sie die Augen und hob ihm ihr Gesicht entgegen. Eine weitere Aufforderung brauchte er nicht. Dass Tanja irgendwann einen Blick in den Raum warf und lächelnd die Tür schloss, als sie das Liebespaar sah, bekam weder Clara noch Ulrich mit.

*

Clemens genügte ein Blick in Bettinas Augen, um Bescheid zu wissen. »Du willst die Trennung«, sagte er. Ihr betroffener Gesichtsausdruck sprach Bände. Offenbar hatte sie sich auf eine längere Aussprache eingerichtet, bei der sie ihm mühsam würde erklären müssen, was in ihr vorging. Doch das war nun gar nicht nötig. »Ja«, bestätigte sie. »Darf ich trotzdem hereinkommen, Clemens?« »Du darfst immer hereinkommen, Tina«, erwiderte er mit so viel Wärme in der Stimme, dass ihr die Tränen kamen. Als sie einander gegenüber saßen, sagte er: »Du brauchst mir gar nichts zu erklären. Mir war immer klar, dass du mich nicht so liebst, wie ich dich liebe. Ich habe nur gedacht, dass du es mit der Zeit vielleicht würdest lernen können. Es ist Florian zu Stolzenberg, nicht wahr?« Sie brauchte mehrere Sekunden, bis sie antworten konnte. »Er hätte es vielleicht sein können, unter anderen Umständen, Clemens. Aber der eigentliche Grund, warum ich dich heute um die Auflösung unserer Verlobung bitte, liegt weiter zurück. Meine Omi …« Sie schluckte. Er beugte sich vor und griff nach ihrer Hand. »Was ist mit ihr?« Langsam und stockend enthüllte sie ihm Emilias Geheimnis. Sie verriet nicht alles – nur das, was wichtig war in diesem Zusammenhang. Er hörte ihr zu, ohne sie einmal zu unterbrechen. Als sie schwieg, sagte er leise: »Und als du diese Briefe gelesen hast, wusstest du, dass du nicht so empfindest.« Sie nickte. Er hatte sie schon immer gut verstanden. »Wirst du trotzdem mein Freund bleiben, Clemens?«, fragte sie ängstlich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du ganz aus meinem Leben verschwindest – und ich möchte es auch nicht.« »Ich werde immer dein Freund sein«, erwiderte er, und sie wusste, dass er ihr damit ein Versprechen gab, das er halten würde. Wenig später verabschiedeten sie sich mit einer langen Umarmung voneinander.

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»Wir haben Florian angerufen, Anna und ich«, berichtete Christian seinen Eltern. »Wir haben ihm gesagt, dass er nicht einfach aufgeben soll bei Tina. Er war sehr verwundert, dass wir praktisch das ganze Geheimnis herausgefunden hatten – und was wir noch nicht wussten, hat er uns dann erzählt. Er liebt Tina, das hat er uns gesagt – aber er denkt, sie wird ihm nie verzeihen, dass er das Bild zerstört hat, das sie sich von ihrer Großmutter gemacht hat. Wir glauben aber, dass das nicht stimmt.« Er hielt in seinem stummen Vortrag inne und endete dann mit einer Frage: »Oder glaubt ihr das? Ich wüsste sehr gern, was ihr dazu denkt …« Danach wartete er auf ein Zeichen seiner Eltern, und es ließ auch dieses Mal nicht lange auf sich warten: Der trübe graue Himmel direkt über ihm riss unvermittelt auf und offenbarte eine strahlend blaue Stelle, die aussah, als hätte sie jemand in das sie umgebende Grau geklebt. Der kleine Fürst lächelte. Die Antwort war eindeutig ausgefallen. »Ihr glaubt also auch, dass die Geschichte für die beiden gut ausgeht? Wenn ihr wüsstet, wie froh ich darüber bin. Bei meinem nächsten Besuch erzähle ich euch, ob wir alle miteinander Recht hatten.« So schnell der Himmel aufgerissen war, so schnell schloss sich das Grau wieder über der blauen Stelle. Der kleine Fürst beugte sich zu Togo hinunter, der noch immer ruhig neben ihm lag und sagte laut: »Wir gehen, Togo, komm!« Er drehte sich noch einmal zur Gruft um und setzte hinzu: »Auf Wiedersehen, bis morgen dann.« Dieses Mal ließ er den Boxer nicht voraus laufen, sondern rannte mit ihm gemeinsam den Hügel hinunter, durch den Park auf das Schloss zu.

*

Jemand löste sich aus dem Schatten der Mauer, als Bettina auf das Haus zusteuerte, in dem sie wohnte. Erschrocken hielt sie inne – und erkannte dann den Mann, um den ihre Gedanken kreisten, seit er ihr in der Bibliothek von Schloss Sternberg eine folgenschwere Geschichte erzählt hatte. »Florian!«, flüsterte sie. »Was machen Sie denn hier?« »Ich warte auf dich«, antwortete er. Seine Stimme klang rau, sie sah, wie blass er war, wie angespannt. »Ich warte schon ziemlich lange, weil ich dir sagen will, dass ich dich liebe, Bettina. Ich liebe dich so, wie mein Großvater deine Großmutter geliebt hat, und ich will nicht, dass mein Leben so verläuft wie seines: dass ich eines Tages sterbe in dem Bewusstsein, ein anderes Leben gelebt zu haben als das, wofür ich bestimmt war. Ich weiß, dass du mit einem anderen Mann verlobt bist – aber es könnte ja sein, dass dir Zweifel gekommen sind und wenn das so ist, dann bitte ich dich …« Weiter kam er nicht. Sie war mit zwei Schritten bei ihm, umschlang ihn mit beiden Armen und küsste ihn mit so viel Leidenschaft und Hingabe, dass er begriff: Er brauchte ihr nichts mehr zu erklären, denn sie fühlte wie er. Er presste sie an sich, denn noch hielt ihn die Angst gefangen, das alles könnte sich jeden Augenblick als Irrtum erweisen oder sie könnte sich in Luft auflösen, weil er nämlich nur träumte … Doch Bettina küsste ihn wieder und wieder und sagte endlich: »Ich liebe dich auch, Florian, und ich habe meine Verlobung mit Clemens bereits gelöst …« Es waren magische Worte, die Florian endlich mit Ruhe und Zuversicht erfüllten. Im Stillen dankte er seinem Großvater und Bettinas Großmutter, denen er die Erkenntnis verdankte, dass man die Liebe, wenn man sie denn gefunden hat, nicht wieder gehen lassen darf, wenn man nicht sein Leben lang darum trauern will. Und er dankte auch Anna und dem kleinen Fürsten, die ihm diese Erkenntnis noch einmal nachdrücklich in Erinnerung gerufen hatten. »In guten wie in schlechten Tagen, Bettina?«, fragte er leise. »In guten wie in schlechten Tagen, Florian«, antwortete sie.

– ENDE –

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