Felicity Ward
SAG MIR, WER ICH BIN
Roman
Aus dem Englischen von Sabine Leopold
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1. eBook-Ausgabe 2021 © 2021 Felicity Ward © der deutschsprachigen Ausgabe: 2021 Europa Verlag in Europa Verlage GmbH, München Umschlaggestaltung und -motiv: Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich Übersetzung des Vorworts aus dem Englischen: Dr. Sylvia Zirden, Berlin Layout & Satz: Robert Gigler, München Konvertierung: Bookwire eISBN: 978-3-95890-406-4
Alle Rechte vorbehalten. www.europa-verlag.com
»… Ein Schrei, der die Hölle zerriss, und darüber hinaus die Herrscherin über das Chaos und die Finsternis erschreckte.«
John Milton, Verlorenes Paradies
Inhalt
VORWORT DER AUTORIN
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
VORWORT DER AUTORIN
Um es mit Hugh MacLennans¹ Worten aus dem Vorwort zu seinem Roman Two Solitudes zu sagen: »Weil dies eine Geschichte ist, möchte ich sie nicht mit einem Vorwort belasten, doch irgendetwas in der Art scheint mir nötig zu sein, denn es handelt sich um einen Roman über Kanada.« Und da viele meiner Leserinnen und Leser kaum etwas über Kanada oder Montreal, wo mein Roman spielt, wissen werden, halte ich ein Mindestmaß an Hintergrundinformationen für unentbehrlich. Außerdem verdankt sich diese Geschichte – die auch unabhängig von ihrem Schauplatz und ihrem allegorischen Charakter gelesen werden kann – der großen Trauer um eine Stadt, die ich erst liebte, dann hoffnungslos deprimierend fand und nie wiedersehen wollte und inzwischen wieder lieben kann. Dass das längst untergegangene Montreal meiner Kindheit nach einer schrecklichen Zeit der Verwüstung nun in vollkommen neuem Gewand wiedergeboren wird und aufblüht, ändert nichts an meinem Schmerz über das, was damals geschah: den ganzen Hass und die Feindseligkeit zwischen den beiden Kulturen und Sprachen, die ich liebe und die beide zusammen Montreal zu der wunderbaren, faszinierenden und unglaublich charmanten Inselstadt gemacht haben, die es ist.
Kanada ist ein Land mit zwei offiziellen Sprachen: Französisch und Englisch oder Englisch und Französisch, je nachdem, welche Sprachgruppe man meint zuerst nennen zu müssen (was schon auf die darunterliegenden Spannungen hindeutet). Als ich noch ein Kind war, konnte kaum ein englischstämmiger Kanadier außer Diplomaten und weit gereisten oder gerade erst eingewanderten Menschen ein Wort Französisch – weder in der Provinz Quebec noch irgendwo sonst in Kanada. Soweit ich weiß, sprachen auch nur wenige der Franzosen in der Provinz Englisch, obwohl manche natürlich dazu gezwungen waren, besonders in Montreal, wo sie das Englische beherrschen mussten, um eine Anstellung zu finden. Es war unmöglich, Bus- oder Taxifahrer, Hausmeister oder gar Anwalt zu werden, wenn man nicht die Sprache der damaligen Elite – der Briten – sprach, die zwar eine winzige Minderheit waren, aber eine enorme Macht hatten. Heute ist Montreal in jeder Hinsicht eine französischsprachige Stadt.² Die meisten englischen Muttersprachler haben die Flucht ergriffen, als es
verboten wurde, am Arbeitsplatz Englisch zu sprechen oder zu schreiben³, und vermutlich aus diesem Grund scheinen sich die heutigen Montrealer nicht mehr von den »Anglais« bedroht zu fühlen. Dennoch sprachen bei einem kürzlichen Besuch dort alle Franzosen, mit denen ich mich traf oder die in Geschäften und Restaurants arbeiteten, ganz selbstverständlich auch fließend Englisch (im Gegensatz zu den späten 70er- und frühen 80er-Jahren, als selbst diejenigen, die Englisch konnten, bewusst auf Französisch antworteten, wenn man sie auf Englisch ansprach). Ich würde die französischstämmigen Einwohner von Montreal heutzutage als zweisprachig bezeichnen: Zumindest sprechen sie besser Englisch als viele der verbliebenen »Anglos« Französisch, obwohl es auch bei diesen große Fortschritte gibt. In jedem Fall hat sich die einst giftige Atmosphäre zwischen den beiden Sprachgruppen weitgehend aufgelöst und einem überwiegend entspannten und freundlichen Miteinander Platz gemacht.
Und doch: Es gibt bis heute keine Bezeichnung für einen Bewohner des Landes, mit der beide Bevölkerungsgruppen zufrieden wären. Um noch einmal Hugh MacLennan zu zitieren (mit Sätzen, die 1945 geschrieben wurden, aber immer noch Gültigkeit haben): »Wenn die französischsprachigen Kanadier das Wort ›canadien‹⁴ verwenden, meinen sie damit in der Regel nur sich selbst. Ihre englischsprachigen Landsleute nennen sie ›les anglais‹. Englischsprachige Bürger handeln nach dem gleichen Prinzip. Sie bezeichnen sich selbst als ›Kanadier‹ und ihre französischsprachigen Landsleute als ›Frankokanadier‹ (heute wohl eher ›Québécois‹, wobei die beiden Ausdrücke nicht synonym sind).«
In Montreal schwankte die Vorherrschaft der einen Sprache über die andere im Laufe der Zeit. Im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert war die englischsprachige Bevölkerung in der Minderheit und bestrebt, Französisch zu lernen. 1831 bildeten die Briten sowohl in Quebec City als auch in Montreal, wo sie sich als Kaufmanns- und Unternehmerklasse etabliert hatten, die Mehrheit. Während dieser Zeit des rasanten wirtschaftlichen Wachstums kehrten sich die Verhältnisse um, und die Franzosen begannen Englisch zu lernen. Der wirtschaftliche Aufschwung führte zu einem Zustrom der frankokanadischen Landbevölkerung in die Metropole, und weil gleichzeitig viele anglofone Montrealer in andere aufstrebende Städte und Provinzen im Westen
abwanderten, kehrte sich das Verhältnis wieder um, und im Jahr 1871 bildete die französischsprachige Bevölkerung aufgrund ihrer schwindelerregend hohen Geburtenrate⁵ wiederum die Mehrheit.
Zu dieser Zeit waren die Engländer bereits gut als herrschende Klasse etabliert, sowohl aufgrund ihrer kommerziellen und finanziellen Stärke als auch aufgrund ihrer Erziehung und Ausbildung, die der französischen weit überlegen waren. Das Ergebnis war, dass sich die englischsprachige Bevölkerung nicht bemühte, die Sprache der Mehrheit zu erlernen, und stattdessen behauptete, die katholische Kirche sei schuld, wenn die Franzosen von den Engländern als Bürger zweiter Klasse behandelt würden, denn sie habe die Gläubigen dazu ermutigt, riesige Familien zu gründen, für die sie kaum aufkommen konnten und die daher so unzureichend ausgebildet waren, dass sie mit ihren englischsprachigen Landsleuten nicht mithalten konnten. Obwohl nicht geleugnet werden kann, dass die katholische Kirche entscheidend dazu beitrug, ihre Gläubigen in Armut und von Bildung fernzuhalten, und dass sie in der Provinz Quebec lange Zeit überaus korrupt war, sind die Engländer damit meiner Meinung nach nicht von aller Verantwortung freizusprechen. An einem Ort wie Montreal oder in der Provinz Quebec, wo immer alles in beiden Sprachen gesagt und geschrieben wurde, erscheint es unbegreiflich und unentschuldbar, dass es jemals möglich war, dass Menschen nicht die Mehrheitssprache der Provinz, in der sie lebten, beherrschten. Die Tatsache, dass die Anglofonen in Quebec mit Ausnahme einer kleinen Handvoll aufgeklärter Geister bis vor Kurzem keinerlei Versuch unternahmen, auch nur ein einziges Wort Französisch zu verstehen, geschweige denn zu sprechen, musste bei den Frankokanadiern unweigerlich zu dem Eindruck führen, dass sie nicht nur gegen soziale und wirtschaftliche Ungerechtigkeit kämpften, sondern auch für den Erhalt ihrer Kultur und Sprache.
Glücklicherweise haben sich die Dinge in den letzten vierzig Jahren geändert. Die meisten englischstämmigen Kanadier in der Provinz Quebec haben sich bemüht, einigermaßen Französisch zu lernen, und einige sprechen es ziemlich fließend. Viele ihrer Kinder gehen inzwischen auf französische Schulen (in meiner Kindheit eine unerhörte Vorstellung, und ich vermute, es wäre auch rechtlich gar nicht möglich gewesen), und man kann hoffen, dass die beiden
Kulturen dauerhaft friedlich und freundschaftlich zusammenleben.
Als ich länger über das nachdachte, was in Quebec im Laufe der Jahrzehnte geschehen ist, war ich erstaunt, wie viele Parallelen es zu anderen Orten in der Welt gibt (Irland, der Nahe Osten, der Balkan, Südafrika, Pakistan, Indien, Kaschmir, um nur einige zu nennen) und wie sehr diese uralten und offenbar unüberwindlichen Feindschaften aus der Angst vor dem »anderen« geboren zu sein scheinen. Sogar an ansonsten friedlichen Orte, an denen es zufällig zwei oder mehr Kulturen und Sprachgruppen gibt, wie Belgien und sogar die Schweiz, oder wo zwei verschiedene Richtungen ein und derselben Region verbreitet sind (Katholiken gegen Protestanten, Sunniten gegen Schiiten), sind viele Menschen nicht in der Lage, ihre – meist von mangelndem Verständnis und der daraus entstehenden Angst verursachte – Abneigung gegen andere zu überwinden. Wie ein verängstigter Hund eher dazu neigt zu beißen, provoziert Angst auch beim Menschen Aggression, die bis zum Krieg führen kann. Diese Reaktionsweise kennen wir nicht nur von Einzelpersonen, sondern auch von ganzen Nationen. Wer missbraucht wurde, neigt dazu, andere zu missbrauchen; wer unterdrückt wurde, tendiert dazu, selbst ein Tyrann zu werden, wenn es ihm irgendwann gelingt, an die Macht zu kommen; wer verfolgt wurde, entwickelt eine Paranoia und verfolgt seinerseits diejenigen, die er fürchtet. Wer als Kind geschlagen wurde, neigt dazu, seine eigenen Kinder zu verprügeln; und wer als Schüler drangsaliert wurde (besonders im Internat), hat unbegreiflicherweise die Tendenz, seine Kinder auf genau dieselbe Schule zu schicken.
Es ist nur zu verständlich und nachvollziehbar, dass, wer vergewaltigt wurde, in ständiger Angst lebt, das Gleiche erneut zu erleben, so wie Überlebende eines Völkermordes niemals die Furcht verlieren, wieder bis fast zur vollständigen Auslöschung verfolgt zu werden. Daher halte ich die #MeToo-Bewegung für so wichtig, weil sie so vielen von uns Hoffnung für unsere Töchter und Enkelinnen und alle zukünftigen Frauen gegeben hat. Und zugleich bin ich besorgt, dass sie auf den Irrweg vieler Bewegungen zusteuert, die ins Leben gerufen wurden, um ein Unrecht zu korrigieren, und am Ende selbst zu Unrecht wurden. Ich beschloss daher, die Geschichte des Opfers einer versuchten Vergewaltigung in den Mittelpunkt dieses Romans zu stellen, und begab mich auf eine sehr umfangreiche Recherche zu diesem Thema. Zunächst sprach ich mit allen mir
persönlich bekannten Personen, die vergewaltigt wurden (damit meine ich keine sogenannten Date-Rapes oder Vergewaltigungen in der Ehe, sondern eine Vergewaltigung durch einen Fremden). Es waren ziemlich viele, und ich bin mir sicher, dass jede/-r von uns zahlreiche Betroffene kennt, ob er/sie sich dessen bewusst ist oder nicht. Außerdem habe ich ausführlich über das Thema gelesen und mich mit Ärzten, Psychiatern, Psychoanalytikern und Therapeuten in verschiedenen Ländern ausgetauscht, mit Polizeibeamten, die die Anzeigen von Vergewaltigungsopfern aufnahmen, mit Menschen in Frauenhän, mit Journalisten, Anwälten und Gefängnisinsassen. Immer wieder traf ich auf dasselbe Muster: Frauen, die vergewaltigt wurden, werden oft mehr als einmal vergewaltigt, und zwar nicht unbedingt von derselben Person; häufig werden auch ihre Töchter vergewaltigt. Von denjenigen, die ich persönlich kenne, ist eine dreimal von ganz verschiedenen Personen bei völlig unterschiedlichen Gelegenheiten vergewaltigt worden, und sie hat eine Tochter, der dasselbe als Jugendliche im Internat iert ist. Das von mir gesammelte Wissen bildet die Grundlage für dieses Buch, das eine Allegorie ist über die Gefahren, die Opfermentalität und Wiederholungsangst bergen. Gleichzeitig möchte ich Frauen ermutigen, ihre Angst und ihren Wunsch nach Rache nicht alle Hoffnung darauf, dass nicht alle Männer Vergewaltiger sind und dass sich der Umgang mit Frauen zum Guten ändern kann, zerstören zu lassen. Ich hoffe, dass das Ergebnis ein Roman ist, der einfach wegen seiner fesselnden Handlung gelesen werden kann, aber auch mehr Verständnis für den enormen Schaden, den Missbauch und Vergewaltigung anrichten, und die Denkweise Betroffener weckt. Gesellschaftliche Umschwünge haben die Tendenz, von einem Extrem ins andere zu führen. Offenbar fällt es uns Menschen sehr schwer, die goldene Mitte zu finden. So galten Frauen über viele Jahrhunderte hinweg bis vor Kurzem per se als schuldig (die biblische Eva als Verführerin und Verantwortliche für Adams Sündenfall), sie galten als weniger intelligent und kreativ als Männer (keine Rede davon, dass es Frauen sind, die Menschen erschaffen, und keine Rede von den zahlreichen Künstlerinnen im Laufe der Geschichte, deren Leistungen einfach von ihren Vätern, Brüdern und Ehemännern unterschlagen wurden). Diese extreme Sichtweise hat sich in den letzten Jahren relativiert, läuft nun aber Gefahr, ins andere ebenso realitätsferne Extrem zu kippen: Plötzlich sind alle Männer böse, ausbeuterische Frauenhasser und alle Frauen brillante Überfliegerinnen, große Kriegerinnen und in jeder Hinsicht fabelhaft. Dadurch würde aber nur eine Ungerechtigkeit durch eine andere ersetzt. Die #MeTooBewegung ist lebenswichtig, aber sie muss ehrlich sein, sie darf aus banalen Vorfällen keine monströsen Verbrechen machen, sie muss sich ihrer Sache sehr sicher sein, bevor sie jemanden beschuldigt, sie darf nicht vergessen, dass jeder
so lange unschuldig ist, bis seine Schuld bewiesen ist. Sie darf nicht von der Anklägerin zur Täterin zu werden, denn das wäre eine unfassbare Tragödie für alle Menschen.
Zum Schluss noch zwei Anmerkungen: Die Anfangsszenen dieses Romans spielen im Jahre 1962, deshalb habe ich mich bemüht, den Sprachgebrauch der damaligen Zeit zu berücksichtigen.
Außerdem möchte ich darauf hinwisen, dass dieser Roman reine Fiktion ist und alle Charaktere frei erfunden sind. Ich habe kanadisch klingende Namen für die Kanadier und schottische für die Menschen mit englischer Abstammung ausgewählt und möchte betonen, dass eine Namensgleichheit mit lebenden oder verstorbenen Personen reiner Zufall wäre.
1Hugh MacLennan (1907–1990), preisgekrönter kanadischer Schriftsteller, gilt als Begründer der kanadischen Literaturtradition; er war Professor für Englisch an der McGill University, zu seinen Studenten zählten Marian Engel und Leonard Cohen.
2Im Jahr 2016 waren 48,7% der Einwohner der Insel Montreal (also der Innenstadt ohne die Vororte) französische Muttersprachler, 16,8% englische Muttersprachler und die restlichen 34,4% stammten aus Ländern mit anderen Muttersprachen.
3Nachdem die »Front für die Befreiung Québecs FLQ« 1963 anfing, Bombenanschläge zu verüben, und in den 1970er-Jahren das – übrigens bis heute gültige – Gesetz 101 verabschiedet worden war, das den Gebrauch der englischen Sprache verbot (besonders auch im Geschäftsleben), begann ein Exodus der »Anglos«: Bis in die 1990er-Jahre verließen etwa 250 000 englischsprachige Montrealer (von zwei Millionen Einwohnern ingesamt) die
Provinz. Sie nahmen ihr Geld und ihre Firmen, darunter teils große Konzerne, mit nach Toronto, Vancouver, Calgary – überall dorthin, wo sie ihre Geschäftsbeziehungen mit dem Rest Kanadas und Nordamerikas in englischer Sprache weiterführen konnten.
4Heute würden sie wahrscheinlich eher »Québécois«, »Québécois pure laine« oder »Québécois de souche« (»waschechte Quebecer«) sagen.
5Jean Chrétien, 1993–2003 kanadischer Premierminister, war das achtzehnte von neunzehn Kindern (von denen nur neun das Säuglingsalter überlebten). Dies war in seiner Generation und noch viele Jahrzehnte später in einer frankokanadischen Familie die Regel. Erst als die katholische Kirche ihre absolute Macht über die Franzosen in Quebec verlor, sank die Geburtenrate von der höchsten auf die fast niedrigste in der westlichen Welt.
1
Ihre ersten Worte waren: »Ich wusste, dass ich in Paris sterben würde. Ich wusste es schon, als ich herkam.«
»Aber Sie sind nicht gestorben«, erwiderte der Arzt. »Sie sind am Leben und werden wieder ganz gesund.«
Ein paar Minuten vorher noch war sie durch Zeit und Raum geschwebt. Alles war ganz klar und rein – eine blaue Leere. Da war nichts, nur der Raum: leer und klar wie ein Sommertag.
Ihr war heiß, und sie hatte entsetzlichen Durst. Sie wollte kalt sein, so kalt wie das blaue Nichts um sie herum. Sie wusste, dass sie sich nur noch ein bisschen treiben lassen musste, weiter hinaus, dann konnte sie sich abkühlen. Sie musste weiter weg schweben. Weg wovon? So weit ihre Blicke reichten, war nichts – nur ein endloses, ewiges, blaues Nichts.
Plötzlich entdeckte sie es, weit, weit weg, Tausende – vielleicht Millionen – von Meilen entfernt: ein winziger Ball, eine Sphäre, auch blau, aber dunkler und dichter. Sie betrachtete die Kugel interessiert. Was war das? Irgendwann einmal war das Gebilde sehr wichtig gewesen, aber sie wusste nicht, wieso. Es wurde »Erde« genannt, daran erinnerte sie sich noch. Aber was war das? Und warum war es so wichtig gewesen? Sie hatte keine Ahnung. Es erschien ihr absurd, dass diese winzige, unendlich weit entfernte Sphäre überhaupt je eine Rolle gespielt haben sollte.
Dennoch wusste sie eines ganz genau: Sie musste noch weiter weg von diesem Ball, wenn sie Abkühlung haben wollte.
Dann fühlte sie, wie jemand mit der flachen Hand auf ihre Wangen klatschte, und sie hörte eine Männerstimme.
»Machen Sie die Augen auf!«, rief der Mann auf Französisch. »Kommen Sie, wachen Sie auf! Geben Sie sich Mühe, nom de Dieu!«
In diesem Augenblick fielen ihr die Mimosen wieder ein – der Duft von Mimosen und das Geräusch des Meeres. Sie wollte das Meer sehen und den Mimosenduft riechen. Aber sie wurde zurückgerissen.
Rufe. Leichte Schläge. Rufe. Schläge. Musste er so schreien? Seine Stimme klang zornig. Sie versuchte sich zu konzentrieren und die Worte zu verstehen. »Die Schwestern waren Tag und Nacht bei Ihnen!«, brüllte er. »Tag und Nacht! Sie haben bei Ihnen gewacht, seit Sie zu uns gekommen sind. Aber was für einen Sinn hat das, wenn Sie nicht mithelfen? Sie müssen sich anstrengen. Kein Mensch kann Sie retten, wenn Sie sich selbst keine Mühe geben. Sie müssen selbst etwas tun. Versuchen Sie es! Machen Sie die Augen auf!«
Der Geruch nach Mimosen war sehr stark. Sie wollte sie genauso sehen wie die glitzernde Sonne auf dem Meer, deshalb öffnete sie die Augen.
»Enfin!«, sagte eine Frauenstimme.
Der Mann tätschelte noch immer kräftig ihr Gesicht.
»Nehmen Sie sich zusammen«, schrie er. »Sie müssen sich anstrengen, das können wir nicht für Sie übernehmen.«
Sie sah ihn überrascht und verletzt an. Wer war dieser Mensch? Dann entdeckte sie die Mimosen in einer Vase neben ihrem Bett. Wo war sie? Wer war sie? Nicht einmal das wusste sie. Sie betrachtete den Mimosenstrauß und war enttäuscht. Das waren nicht die üppig blühenden, vom Wind gebeugten Pflanzen, die sie sich vorgestellt hatte. Und da war auch kein Meer. Nicht einmal die Sonne schien. Und es gab auch keinen Strand und keine plätschernden Wellen. Nichts mehr war blau, sondern weiß. Alles weiß – sogar die Leute trugen Weiß, auch der Mann, der sich über sie beugte, schrie und in ihr Gesicht klatschte.
Sie hatte schrecklichen Durst und wünschte sich sehnlichst, dass man ihr Wasser bringen würde. Sie heftete den Blick auf den Mann, der endlich aufhörte, sie zu schlagen. Sein Gesicht war dem ihren sehr nahe.
»Tut mir leid«, sagte er, »aber ich musste das tun. Sie müssen sich anstrengen … Nein, schließen Sie nicht wieder die Augen. Können Sie mich hören? Wenn Sie nicht am Leben bleiben wollen, können wir Sie auch nicht retten. Das müssen Sie verstehen. Wir alle sind seit Tagen und Nächten bei Ihnen, seit Sie angekommen sind. Denken Sie an die Schwestern – weshalb sollten sie bei Ihnen wachen, wenn Sie sich selbst kein bisschen bemühen? Denken Sie darüber nach.« Sie drehte den Kopf ein wenig zur Seite und sah die Schläuche an ihren Armen – an beiden Armen. Die Schläuche führten zu Flaschen, die an einem Gestell befestigt waren. Blut tropfte in einem Schlauch, in dem anderen befand sich eine durchsichtige Flüssigkeit. Blut und Wasser. Wasser und Wein.
»Das ist Glukose«, erklärte der Mann, als er ihrem Blick folgte. »Sie brauchen
Nährstoffe.«
Allmählich nahmen die Dinge um sie herum Gestalt an, und sie erinnerte sich wieder, wie man alles nannte. Der Mann war ein Arzt – sie lag offenbar in einem Krankenhaus. Aber sie konnte sich an nichts und niemanden erinnern. Nicht an ihre Mutter und nicht an ihren Vater – an gar niemanden.
Sie war so müde. Müde und unendlich traurig. Fast wäre sie weit genug weg gewesen. Sie trauerte um den endlosen blauen Raum und die Kühle, die sie beinahe erreicht hatte.
»Ich werde Ihnen jetzt eine Injektion geben«, eröffnete ihr der Arzt.
Kaffeeduft weckte sie – einen Tag später, oder waren es zwei oder drei? Es roch köstlich. Zwei Schwestern halfen ihr, sich aufzusetzen, und hielten ihr eine große Schale mit café au lait an die Lippen. Es war das Wunderbarste, was sie je gekostet hatte. An dieses Aroma und den Geschmack des Milchkaffees würde sie sich erinnern, solange sie lebte. Und sie würde für den Rest ihres Lebens danach suchen, wo immer sie sich auch befand, aber nie wieder konnte der Duft so überwältigend und vollkommen sein wie an diesem Tag.
Am Nachmittag schoben sie den Wandschirm, der ihr Bett umgeben hatte, weg, und sie konnte die anderen Menschen in dem Krankenzimmer sehen. Nur alte Damen, und alle waren hinfällig oder sehr krank. Von Zeit zu Zeit starb eine, und dann rollten sie die mit einem Laken bedeckte Leiche an ihrem Bett vorbei – als könnte das Laken die Tatsache verbergen, dass die Frauen tot waren. Sie bekam eine Gänsehaut, wenn sie das beobachtete.
Ein leerer Sarg – oder war es eine Art Wagen? – stand in der Nähe ihres Bettes. Sie fand das makaber und angsteinflößend. Der Anblick machte sie trübsinnig. Bei nächster Gelegenheit erklärte sie der Schwester, dass sie das Sterben und die Nähe des Todes nicht mochte. Sie wollte keine Leichname sehen, die mit Laken über den Gesichtern an ihrem Bett vorbeigeschoben wurden.
»Sie waren dem Tode sehr nahe, als Sie eingeliefert wurden«, erwiderte die Schwester, »deshalb haben wir Sie in die Station gelegt, in der die todgeweihten Patienten liegen. Vielleicht sollten Sie lieber weg von hier, aber diese Station ist ruhiger als andere.«
»Ich finde dieses Ding grässlich«, sagte sie und deutete auf den Sarg. Sie kannte das französische Wort dafür nicht.
Die Schwester schien überrascht zu sein. »Stört es Sie?«, fragte sie und fügte hinzu, als sie ihren Blick sah: »Kein Problem, wir tun es weg.« Sie schob das scheußliche Gebilde hinter den Wandschirm.
Ein weiterer Tag verging. Sie bekam immer noch Bluttransfusionen. Wenn die Flasche installiert wurde und das Blut in ihre Adern tropfte, fühlte sie sich wunderbar: schläfrig und leicht, Leben druchflutete ihren Kreislauf. Der Tropf mit der Nährflüssigkeit war nicht mehr da. Sie bekam jetzt am Abend Suppe und café au lait am Morgen – das war der schönste Augenblick des Tages –, und zur Suppe brachten sie ihr immer ein Glas Rotwein. »Das ist gut für die Bildung von roten Blutkörperchen«, erklärte die Schwester und lachte über ihr erstauntes Gesicht. »Rotwein ist eisenhaltig, und außerdem hebt er die Stimmung. Der Doktor meint, Sie sollten jeden Abend ein Glas trinken.« Sie genoss das tägliche Glas Rotwein an den langen Sommerabenden genau wie den Milchkaffee. Er war im wahrsten Sinne des Wortes zu ihrem Lebenselixier geworden, ohne das sie verloren wäre.
Kurz nachdem sie das Bewusstsein wiedererlangt hatte, fragte der Arzt bei der Visite: »Macht es Ihnen was aus, wenn ich mich einen Moment zu Ihnen setze?« Die Schwestern verschoben den Wandschirm, und der Doktor nahm auf ihrer Bettkante Platz. »Wie fühlen Sie sich jetzt?«, erkundigte er sich.
»Ganz gut.«
»Na, ich bin jedenfalls froh, dass Sie Ihre Sprache wiedergefunden haben. Ich fürchte, ich muss Ihnen ein paar Fragen stellen, tut mir leid. Sie sind jetzt schon ein paar Tage hier, und wir wissen immer noch nicht, wer Sie sind oder was mit Ihnen geschehen ist. Können Sie mir irgendetwas darüber sagen?«
»Ich glaube, ich hatte Nasenbluten«, entgegnete sie.
»Sie haben tatsächlich aus der Nase geblutet, aber das war längst nicht alles. Sie hatten auch innere Blutungen – sie gingen vom Magen aus.«
»Ich hatte Nasenbluten«, wiederholte sie.
»Sie hätten niemals so viel Blut verloren, wenn es nur das gewesen wäre.«
Dazu sagte sie nichts.
»Es tut mir wirklich leid, dass ich das alles ansprechen muss«, begann er nach einer Weile wieder. »Ich hatte gehofft, dass Sie sich gut genug fühlen für diese
Unterhaltung.« Er machte eine Pause, aber sie schwieg immer noch. »Wir müssen mit Ihrer Familie Kontakt aufnehmen und Bescheid sagen, dass Sie hier bei uns sind. Können Sie mir sagen, wo wir sie erreichen?«
Sie dachte nach. »Ich weiß nicht. Ich glaube, sie könnten in Kanada sein. Oder in den USA. Ich bin nicht sicher.« Sie versuchte, ein Bild von ihrer Familie heraufzubeschwören, aber es blieb vage und flüchtig. Sie sah keine Gesichter vor ihrem geistigen Auge.
»Sie standen dem Tod schon auf der Schippe, als Sie hier eingeliefert wurden«, sagte der Arzt, ohne den Blick von ihr zu wenden. »Sie haben eine Menge Blut verloren. Erinnern Sie sich? Sie hatten große Schwierigkeiten zu atmen, weil Ihnen das Blut aus Mund und Nase lief.«
»Ja, daran erinnere ich mich. Sie haben mir nicht erlaubt, die Arme über den Kopf zu legen. Ich wollte meine Arme heben, aber sie haben es nicht zugelassen.«
»Sie wissen also noch, wie die Sanitäter sie behandelt haben?«
»Ja. Sie haben versucht, mich zu ersticken – dauernd drückten sie mir irgendwelche Sachen auf Mund und Nase. Und ich war sicher, dass ich ersticke.«
»Sie wollten nur die Blutungen stillen, und gleichzeitig haben sie Ihnen Transfusionen gegeben. Wissen Sie das nicht mehr?«
»Nein … nein, davon weiß ich nichts.«
»Sie waren sehr, sehr schwach, als Sie hier ankamen. Sie müssen sich körperlich sehr angestrengt haben, bevor diese Blutungen einsetzten. Warum waren Sie so erschöpft?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Trotzdem fällt Ihnen einiges wieder ein. Möglich, dass Sie an einer partiellen Amnesie leiden, aber ganz sicher bin ich mir in diesem Fall nicht. Wieso erinnern Sie sich an manche Dinge und an andere nicht, was glauben Sie? Wollen Sie sich an den Rest nicht erinnern?«
Sie schwieg.
»Ich versuche nur, Ihnen zu helfen«, versicherte er, und nach einer Weile fuhr er fort: »Sie haben oft von Mimosen gesprochen.«
»Neben meinem Bett stand ein Mimosenstrauß. Da drüben ist er noch, in der Vase. Mimosen duften sehr stark.«
»Aber Sie mögen den Geruch. Sie haben immer wieder nach Mimosen gefragt, deswegen hat eine der Schwestern einen Strauß gekauft.«
»Ich mag den Duft, ja. Er erinnert mich an Südfrankreich. Den Geruch – genau
wie den nach Eukalyptus und Basilikum – verbinde ich mit dem Mittelmeer.«
»Haben Sie einmal in Südfrankreich gelebt, oder tun Sie es noch?«
Sie überlegte einige Zeit, ehe sie antwortete: »Ich muss wohl dort gewohnt haben, aber ich glaube, ich war als Kind dort. Es hat mir sehr gefallen, das weiß ich, und ich liebe es noch immer.« Sie drehte den Kopf zur Seite und schloss die Augen. »Aber ich denke, ich lebe nicht mehr dort«, sagte sie schließlich. »Ich weiß nicht, wo ich wohne.«
»Es scheint fast, als hätten Sie sich zumindest einige Zeit hier in Paris aufgehalten, meinen Sie nicht? Sie wurden hier gefunden, und in dem Zustand, in dem Sie waren, konnten Sie nicht weit gefahren sein. Es muss hier iert sein, was immer es auch war.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich hier wohne. Ich kenne Paris nicht – wenigstens nehme ich das an. Wo hat man mich gefunden?«
»Vor der Gare St. Lazare. Jemand, der gesehen hat, wie Sie auf der Straße zusammengebrochen sind, hat uns telefonisch benachrichtigt. Die Polizei hat uns auch angerufen. Die Männer von der Ambulanz haben Sie sozusagen vom Bürgersteig vor dem Bahnhof aufgelesen.«
»Glauben Sie, dass ich von einem Auto angefahren wurde?«
»Nein. Sie kamen aus der Metrostation oder dem Bahnhof, zumindest sagen das
die Leute, die Sie gesehen haben.«
»Jetzt erinnere ich mich. All die Menschen standen um mich herum und starrten mich an. Ich konnte nicht richtig Luft holen.«
»Woher sind Sie gekommen? Waren Sie schon in Paris, oder sind Sie an diesem Tag hergefahren? Waren Sie mit dem Zug oder der Metro unterwegs? Daran müssen Sie sich doch erinnern.«
»Je ne puis pas«, sagte sie mit einem Seufzen.
Er lachte. »Peux«, korrigierte er sie. »Je ne peux pas. Ihr Französisch ist süß, sehr charmant, aber nicht perfekt. Ich denke, Sie leben nicht in Frankreich, zumindest noch nicht sehr lange. Wie alt sind Sie? Sechzehn? Siebzehn?«
»Sechzehn«, erwiderte sie ohne Zögern. »Ich bin sechzehn Jahre alt.«
»Wann haben Sie Geburtstag?«
»Am neunundzwanzigsten Juni.«
»Das war erst kürzlich.«
»Ja?«
»Kommen Sie, Sie werden sich doch an Ihren Geburtstag erinnern, da bin ich ganz sicher. Wo haben Sie ihn gefeiert?«
»Keine Ahnung, in Kanada vielleicht.«
»Wieso in Kanada? Leben Sie dort?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie haben Kanada schon einmal erwähnt. Sie sagten, Ihre Eltern könnten sich dort möglicherweise aufhalten. Sind Sie Kanadierin?«
»Ich weiß es nicht.«
»Sie kennen Ihr Alter und das Geburtsdatum ganz genau, wissen aber nicht, wer Sie sind oder woher Sie kommen. Wie ist so etwas möglich?«
»Ich weiß es nicht.«
»Hören Sie auf damit – sagen Sie nicht ständig ›Ich weiß es nicht‹. Strengen Sie sich an, und helfen Sie mir. Denken Sie nach! Hat Sie etwas erschreckt. Hat
Ihnen jemand Angst eingejagt?«
Sie starrte ihn an, sagte aber nichts.
»Sie hatten schlimme Verletzungen«, erklärte er. »Wunden, Prellungen und blaue Flecken, das wissen Sie sicher, nicht wahr? Sie sind ja immer noch zu sehen, und bestimmt spüren Sie sie auch. Es tut weh, stimmt’s? Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Sie große Schmerzen haben. Allons, mademoiselle. Denken Sie dran, ich bin Arzt. Nichts kann mich erschüttern. Wurden Sie in den Bauch oder Magen geschlagen oder getreten?« Er wartete geduldig. »Wenn es Ihnen leichter fällt, erzählen Sie mir alles auf Englisch. Ich verstehe genug, um den Kern der Geschichte zu erfassen, wenn Sie lieber englisch sprechen wollen.«
Er gab ihr lange Zeit, aber das Mädchen senkte nur die Lider. Er beobachtete, wie sich ihre Hände in die Bettdecke krallten und wieder lösten.
»Was ist mit Ihnen geschehen?«, fragte er noch einmal eindringlich.
Sie war aufgeregt, das konnte er nicht übersehen. »Ich hatte Nasenbluten«, sagte sie auf Englisch. »Das habe ich Ihnen doch schon gesagt, meine Nase hat geblutet.« Sie brach in Tränen aus.
Der Arzt beugte sich vor und legte leicht die Hand auf ihren Arm. Er ließ sie erst wieder los, als sie aufhörte zu weinen.
»Tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte Sie nicht aufregen, ich will wirklich nur
helfen. Wer war er? Wir könnten etwas gegen ihn unternehmen, wenn Sie uns sagen, was Ihnen widerfahren ist.«
Als er merkte, dass sie ihm darauf keine Antwort geben würde, stand er seufzend auf. »Wenn Ihnen einfällt, wer Ihre Eltern sind oder wo sie sich aufhalten, lassen Sie es mich bitte wissen. Wir würden sie gern benachrichtigen.« Sie zupfte noch immer an der Bettdecke, ihr Kopf war abgewandt, sodass er ihre Augen nicht sehen konnte. Er legte seine Hand kurz auf ihren Kopf. »Sie hatten keine Papiere bei sich, verstehen Sie. Die Sanitäter fanden auch keine Handtasche – wir wissen gar nichts über Sie.«
Er ging ins Büro der Oberschwester und nahm das Telefonbuch zur Hand, um die Nummer der kanadischen Botschaft herauszusuchen und dort anzurufen. »Es könnte möglich sein, dass eine kanadische Staatsbürgerin in unserem Krankenhaus liegt. Sie war mehr tot als lebendig, als sie eingeliefert wurde. Offenbar ist sie angegriffen worden – sieht nach versuchter Vergewaltigung aus, aber so weit ist es nicht gekommen. Außerdem sind Male an ihrem Hals, die darauf hindeuten, dass sie jemand gewürgt hat. Es geht ihr sehr schlecht, und wir müssen ihre Familie ausfindig machen … Nein, wir haben keine Papiere gefunden – keine Handtasche, nichts in den Taschen der Kleidung, nicht einmal eine Busfahrkarte …
Sie sagt, dass sie sich an nichts erinnert, obwohl ich den Verdacht habe, dass ihr mehr im Kopf herumspukt, als sie zugeben will. Trotzdem leidet sie eindeutig an partieller Amnesie. Sie hat keine Ahnung, wer sie ist oder wo ihre Eltern sein könnten … Nein, das ist nicht gespielt, sie weiß es wirklich nicht mehr … Ja … Ja, vielleicht … Das müsste aber eine Frau sein … Sie ist eine englischsprachige Kanadierin, ihr Französisch ist nicht fließend …
Ungefähr eins sechzig, hellhäutig, blond, graue Augen … Nein … Ja … Langes Haar, schlank, etwa fünfzig Kilo, würde ich sagen … Ja … Sie sagt, dass sie sechzehn Jahre alt ist, dessen scheint sie ziemlich sicher zu sein. Ich hätte sie
auch auf sechzehn oder siebzehn geschätzt, also denke ich, dass es stimmt. Außerdem behauptet sie, am neunundzwanzigsten Juni Geburtstag zu haben. Ich glaube nicht, dass sie sich schon lange in Frankreich aufhält, aber in diesem Punkt könnte ich mich auch irren. Möglich ist, dass sie von Südfrankreich nach Paris gekommen ist – offensichtlich kennt sie den Süden –, aber ich kann mit beinahe absoluter Sicherheit ausschließen, dass sie gerade erst aus dem Zug gestiegen ist. Dann wäre sie viel eher an der Gare de Lyon gewesen als an der Gare St. Lazare …«
Er hörte dem Beamten am anderen Ende der Leitung eine ganze Weile zu. Bis er ungeduldig wurde und dem Mann ins Wort fiel: »Offensichtlich! Wir brauchten sie gar nicht zu informieren. Die Polizei war schon dort, bevor der Notarztwagen eintraf. Sie haben rein gar nichts herausgefunden. Sie haben Suchmeldungen herausgegeben, Durchsagen in den Radiosendern laufen lassen, mit der Alliance Française Kontakt aufgenommen, in der Berlitz-School, der Sorbonne und vielen anderen Institutionen nachgefragt … Nichts, jedenfalls bis jetzt noch nicht. Niemand wird vermisst … Fein … Halten Sie mich auf dem Laufenden … Ich spreche sie besser ein paar Tage nicht darauf an, ihr Zustand ist bedenklich … sehr ernst … Nein, das kann ich nicht zulassen, dazu ist sie noch zu schwach. Ich werde Sie benachrichtigen, sobald sich ihr Zustand genügend gebessert hat …«
Während sie das Gesprächsthema zweier Männer war, starrte Sally an die Decke. Sie konnte sich an das Auto erinnern – nicht an die Marke oder an die Zulassungsnummer, aber daran, wie es ungefähr ausgesehen hatte. Und die Stimme – die Stimme hatte sie nicht vergessen, aber an sein Gesicht erinnerte sie sich nicht mehr.
2
Am nächsten Tag erfuhren sie, wer sie war. Die Leute, bei denen sie gewohnt hatte, kamen von einer Fahrt aus Burgund zurück und waren sehr besorgt, weil Sally nicht da war. Sie riefen die Polizei an. Es dauerte weitere sechsunddreißig Stunden, bis die Eltern ausfindig gemacht wurden, die eine Reise durch die Vereinigten Staaten machten. Sie hatten Montreal vor neun Tagen verlassen, eine Nacht in New England verbracht und waren dann langsam in Richtung Westküste durchs Land gefahren.
Die Nachricht vom bedrohlichen Zustand ihrer Tochter erreichte sie im Napa Valley. Zu diesem Zeitpunkt lag Sally schon eine Woche im Krankenhaus. Der Schock war so groß, dass sich ihre Mutter nie mehr richtig davon erholte.
Jetzt, wenn sie auf die damaligen Ereignisse zurückblickte, hätte Mrs. Hamilton nicht sagen können, was schlimmer gewesen war: gezwungen zu sein, wertvolle Zeit mit einer Zwischenlandung in New York zu vergeuden, während ihre Tochter auf der anderen Seite des Atlantiks um ihr Leben kämpfte, oder die Tatsache, dass Sally einige Zeit brauchte, bis sie ihre eigene Mutter erkannte, als sie schließlich vor ihrem Bett stand.
Mr. und Mrs. Hamilton starrten ihre Tochter fassungslos an. Sally lag matt und aschfahl in ihrem Bett und war von einer erschreckenden Anzahl medizinischer Geräte umgeben – und dann noch die Schläuche an beiden Armen!
»Warum bekommt sie noch Bluttransfusionen?«, wollte Mr. Hamilton von dem Botschaftsangestellten wissen, der sie vom Flughafen abgeholt hatte und ihnen als Dolmetscher zur Verfügung stand. »Fragen Sie den Arzt – ich will das
wissen. Sie kann doch nicht so viel Blut verloren haben. Und was ist in dem Tropf, wozu soll dieses Zeug gut sein? Was ist da drin?«
»Brock«, jammerte seine Frau. »Wir müssen sie hier herausholen. Wir haben ja gar keine Ahnung, wessen Blut sie ihr da geben. Es könnte von einem Senegalesen oder so stammen. Sie sollen sofort aufhören, ihr Blut zu geben. Die Franzosen verstehen nichts von Medizin. Um Himmels willen, hol sie weg von hier!« Mrs. Hamilton klammerte sich an ihren Mann, aber dann verließen sie ihre Kräfte. Sie sank auf das Bett und brach in Tränen aus.
Beinahe eine ganze Stunde übersetzte der Botschaftsangestellte die Fragen der Hamiltons, die er etwas abmilderte, und übermittelte ihnen die Antworten des Arztes.
»Ich weiß, dass Sie beide sehr aufgeregt sind«, schaltete er sich an einem gewissen Punkt persönlich ein, »aber dies hier ist eine ausgezeichnete Klinik. Ich weiß nicht, ob Ihnen das klar ist – Ihre Tochter hätte sterben können. Sie war tagelang ohne Bewusstsein, und die Ärzte hatten schon beinahe ihre Hoffnungen auf Rettung aufgegeben. Und sehen Sie sie jetzt an! Der Arzt und die Schwestern haben alles nur Menschenmögliche für sie getan … Gut, sie bekommt noch Transfusionen … Das andere? Der Arzt sagt, es ist ein Gerinnungsmittel; ihr Blut hat offensichtlich nicht die richtige Konsistenz … Seien Sie doch vernünftig, Sir. Sie können die Transfusionen nicht einfach absetzen … Das hat Ihnen Dr. Lamotte schon erklärt. Es dauert lange, bis ihr Körper wieder selbst Blut bilden kann. So wie ich es verstanden habe, versuchen sie, ihre Hämoglobinwerte zu verbessern – ich vermute, sie hat eine schlimme Anämie … Ja, natürlich bin ich auch kein Arzt, aber genau das hat er gesagt … Also gut, rufen Sie das amerikanische Hospital an, wenn Sie wollen. Sie können gleich von hier aus telefonieren. Dr. Lamotte ist gern bereit, den Ärzten dort den Fall zu schildern, und er ist sogar froh, wenn Sie die Meinung anderer Spezialisten einholen.«
»Okay, okay!«, brüllte Mr. Hamilton eine halbe Stunde später. »Wenn die Ärzte der amerikanischen Klinik überzeugt sind, dass das die richtige Behandlung ist, muss ich mich wohl oder übel damit abfinden. Trotzdem bin ich keineswegs glücklich darüber. Ich möchte, dass sie so schnell wie möglich in die amerikanische Klinik verlegt wird.«
»Der Doktor sagt, dass sie nicht transportfähig ist, und dieser Zustand wird noch einige Zeit andauern – mindestens zwei Wochen, meint er. Er kann es nicht verantworten, dass sie verlegt wird, solange sie noch so schwach ist … Nein, da bleibt er unerbittlich, und ich bin ganz sicher, dass er recht hat, Sir. Er ist der Überzeugung, dass ein solches Unternehmen im Moment sehr riskant sei … Was? Nein. Er sagt, er hat nicht die leiseste Ahnung, ob die Blutspender schwarz oder weiß sind, und das sei auch vollkommen unwichtig. Einzig und allein die Blutgruppe zählt. In jedem Fall gibt es unzählige Spender. Sie mussten Ihrer Tochter sehr viel Blut übertragen, seit sie hier ist.«
Der Botschaftsangestellte hielt es für besser, die nächsten Bemerkungen des Arztes nicht zu übersetzen – er kam seiner Aufgabe erst wieder nach, als sich Dr. Lamottes Ärger ein wenig gelegt hatte.
»Er erklärt, dass Ihre Tochter eine äußerst seltene Blutgruppe hat – wahrscheinlich haben nur vier Prozent der Weltbevölkerung diese Blutgruppe –, und es ist offenbar sehr schwierig, genügend Konserven zu finden. Er möchte Sie wissen lassen, dass er ihr deshalb Blut der Gruppe 0 übertragen musste, als der Vorrat des enden Typs aufgebraucht war … Ja, es kann jedem gegeben werden. Sie tun so was beileibe nicht gern, besonders nicht bei Frauen, aber es war unbedingt nötig, das möchte Ihnen der Doktor klarmachen.«
Mr. Hamilton unterbrach ihn, aber der Botschaftsangestellte hob einen Arm, um ihm Einhalt zu gebieten. »Der Arzt möchte, dass wir die Diskussion an einem anderen Ort fortsetzen. Er meint, das Ganze würde Ihre Tochter zu sehr aufregen.«
»Komm, Brock. Lass uns unten darüber sprechen«, bat Mrs. Hamilton, die die ganze Zeit die Hand ihrer Tochter gehalten und leise geweint hatte.
»Ich will wissen, wie das alles ieren konnte!«, bellte Mr. Hamilton. »Ich möchte mit meiner Tochter reden ohne diesen Menschenauflauf hier. Würden Sie uns bitte alle allein lassen? Louise, du auch. Ich will, dass alle von hier verschwinden.«
Mrs. Hamilton rührte sich nicht von der Stelle. Sie weinte noch immer und tupfte sich die Augen mit einem durchweichten Taschentuch ab.
Sally wünschte, sie würde endlich damit aufhören. »Bitte, wein nicht mehr, Mum«, flüsterte sie. »Mir geht’s gut. Die Leute hier sind großartig und sehr, sehr nett. Sie kümmern sich gut um mich.«
»Ich fühle mich schrecklich, Liebes«, schluchzte Mrs. Hamilton. »Wir hätten nicht zulassen dürfen, dass du herkommst. Ich habe immer gesagt, dass das ein Fehler ist, hab ich’s dir nicht gleich gesagt?« Sie wandte sich an ihren Mann. »Dein Vater war auch dagegen, stimmt’s, Brock? Wir hätten dich in die Schweiz schicken sollen. Ich habe geahnt, dass wir dir nicht erlauben sollten hierherzukommen.«
Sally machte ihre Eltern nicht dafür verantwortlich, sie selbst hatte darauf bestanden, nach Paris zu fahren, weil sie sich ihr Französisch nicht mit einem Schweizer Akzent verderben wollte. Und außerdem hatte sie es sich immer gewünscht, Paris zu sehen, während sie keinerlei Interesse an der Schweiz hatte. Ohne jeden Zweifel war sie selbst an allem schuld.
Wenigstens, dachte sie, hat meine Mutter so viel Takt, mich nicht nach den Geschehnissen zu fragen – ganz anders als Vater, er ist fest entschlossen, die Wahrheit zu erfahren.
»Komm schon, Sally«, insistierte er. »Ich möchte wissen, was, zum Teufel, iert ist. Es war ein Kerl, oder? Wo bist du ihm begegnet? Ist er Franzose? Wie heißt er? Sag uns, wer es war … Um Himmels willen, Kleines, du weißt, dass es mehr war als nur Nasenbluten! Du warst mit blauen Flecken und Wunden übersät, an deinem Hals sind Würgemale zu sehen gewesen, und du hattest innere Blutungen … Lieber Gott, Sally, sei doch vernünftig! Ich werde den verdammten Bastard kriegen, und wenn es mich das Leben kostet. Hat er dich vergewaltigt? War es das? Verflucht, du musst dich doch an irgendetwas erinnern können!«
An diesem Punkt schritt der Arzt ein, er nahm Mr. Hamiltons Arm und zerrte ihn aus dem Zimmer.
»Sie regen sie zu sehr auf. Bitte lassen Sie sie jetzt in Ruhe, sie muss schlafen. Mit der Zeit wird sie sich schon erinnern, wahrscheinlich …« Er führte den wild protestierenden Vater aus der Station.
Aber so leicht gab sich Mr. Hamilton nicht geschlagen. »Sie wurde vergewaltigt, habe ich recht? Sie versuchen, mir etwas zu verheimlichen. Der Kerl hat sie vergewaltigt, das weiß ich.«
»Nein«, erwiderte der Doktor. »Nein. Man hat es zwar versucht, aber der oder die Männer hatten keinen Erfolg. Ich vermute, dass sie Ihre Tochter umgebracht hätten, wenn es ihnen gelungen wäre, aber es ist nicht iert, das versichere ich
Ihnen. Der medizinische Beweis ist eindeutig … Es ist unmöglich, Mr. Hamilton. Ihre Tochter ist noch Jungfrau.«
3
Das Montreal aus Sallys Kindheit war nicht so wie das Montreal von heute. Aufgrund der sprachlichen und religiösen Unterschiede herrschte eine nicht allzu auffällige – und vom Stadtpunkt der Engländer durchaus akzeptable – Apartheid. Unter der Oberfläche hatte die Fehde zwischen den beiden Nationalitäten immer gebrodelt, aber Sally nahm wie die meisten Mitglieder der englischen Gemeinschaft die Franzosen gar nicht richtig wahr. Sie sprachen eine andere Sprache, besuchten ihre eigenen Schulen und Universitäten, lebten nach einer anderen Religion – nach einer sehr suspekten und primitiven, wurde Sally immer wieder erzählt. Die Priester seien allesamt korrupte, ignorante Trunkenbolde, die ihren Schäfchen das Geld abschwatzten, nur um die Taschen ihrer Soutanen damit zu füllen. Die Franzosen wohnten außerdem in Stadtteilen, in die kein englischstämmiger Bürger je einen Fuß setzte. Die einzigen französisch sprechenden Leute, denen Sally begegnete, waren Hausmeister, Taxifahrer und Straßenkehrer. Mit den alteingesessenen vornehmen Familien französischer Abstammung, den Senatoren, Professoren und Richtern hatte sie nie etwas zu tun gehabt – die lebten in einer anderen Welt.
In Sallys Kindheit war Montreal eine blühende Stadt – romantisch und voller Leben, und der ganz besondere Charme resultierte aus ebenden sprachlichen und kulturellen Unterschieden, die sie auch auseinanderriss. Drei ganz verschiedene Kulturen hatten Montreal geprägt und die Mischung von altem Geld, Geschäftstüchtigkeit, Risikobereitschaft und dem Tatendrang der Neuen Welt, von schottischer Kompromisslosigkeit und presbyterianischer Rechtschaffenheit und der kolossalen Macht der katholischen Kirche machte die Einzigartigkeit dieser Stadt aus. England – genauer Schottland –, Frankreich und Nordamerika waren hier eine Dreiecksbeziehung eingegangen, und alle drei hatten ihre eigene Persönlichkeit und den eigenen Stil miteingebracht. Ein paar der Gebäude aus dem 17. und 18. Jahrhundert, welche denen, die aus derselben Periode stammten und in den nordwestlichen Provinzen Frankreichs standen, bemerkenswert ähnlich waren, wurden bis zu den Sechzigerjahren kaum beachtet, weil sie zwischen Läden, Hän und Kirchen undefinierbaren Stils versteckt waren. Mansarden des zweiten Empire und verzierte Kupferdächer des
wiedererstandenen Barock, toskanische Pilaster und dorische Säulen waren in Montreal nichts Ungewöhnliches. Die einheimische Architektur mit kunstvollen Simsen, art-nouveau-Glas, unzähligen Balkonen und verwirrend vielen von schmiedeeisernen Geländern gesäumten Außentreppen weicht im englischen Sektor Queen-Anne-Giebeln, neogeorgianischen Villen, Terrassen und Absurditäten aus dem 19. Jahrhundert wie Türmchen mit Zinnen und Erker.
Reihen grauer Steinhä wachten mit stiller Würde über diese prahlerische, kunstfertige Extravaganz aus der viktorianischen Zeit und standen im krassen Gegensatz zu den üppig verzierten Fassaden und dem unglaublichen Mischmasch verschiedener Stilrichtungen, die lediglich den Wohlstand der neuen Reichen des späten 19. Jahrhunderts zur Schau stellen sollten, aber nie die diskrete Eleganz der unauffälligeren Gebäude und Plätze der Nachbarschaft erreichten.
Es war eine Stadt der beaux-arts-Balkönchen, Steinbalustraden, der paarweisen Säulen mit Eckkapitellen, die ohne Mühe neben Renaissance-Fenstern, der Gotik nachempfundenen Stützpfeilern und der palladinischen Bauweise Bestand hatten – die Schotten, die im 19. Jahrhundert die Elite der Stadt bildeten, liebten diese Architektur. Erstaunlicherweise machte gerade die Vermengung der unterschiedlichsten Stilrichtungen den Reiz aus: romanische Torbogen und plumpe Säulen ließen sich mit spitzen Giebeln, Kolonnaden und Porticos der alten Griechen und Römer ein. Der Neoklassizismus hob sich vorteilhaft zwischen den frühen Wolkenkratzern hervor, und die Schnörkelverzierungen und Obelisken des Neubarock erschienen ganz natürlich neben den medaillonförmigen Ornamenten des zweiten Empire und den vorspringenden Simsen der Chicagoer Schule.
Riesige katholische Klöster und religiöse Bauten gehörten ebenso in die Umgebung wie das Sun-Life-Gebäude, ehedem das größte Bauwerk im gesamten britischen Empire – dort wurden die Goldreserven der britischen Regierung während des Zweiten Weltkriegs gebunkert. Die Wolkenkratzer waren Bestandteil der Stadt wie der Blick über den Saint-Lawrence-Strom oder
auf die Berge, nach denen der Ort benannt worden war.
Es war eine Inselstadt, in der sich lustige Cafés und preiswerte Bistros zwischen noblen Restaurants, privaten Kunstgalerien und edlen Boutiquen behaupten konnten. Die Straßen waren steil, die Ausblicke spektakulär und die Temperaturen extrem.
Im Winter, wenn der Saint Lawrence für Schiffe unbefahrbar war, senkte sich Ruhe über die Stadt – der Fluss war still, die Luft trocken und eisig. An wolkenlosen Tagen glitzerte die Sonne von einem blassblauen Himmel.
Nach den Monaten des Schweigens rissen die Schiffshörner im Frühling den Ort aus seiner Erstarrung, und die Ozeanliner brachen tapfer durch das schmelzende Eis, um die tausend Meilen bis zum offenen Meer hinter sich zu bringen.
Im Sommer flohen fast alle Bürger, die es sich leisten konnten, aufs Land; aber einige harrten doch aus, selbst ein paar Begüterte entschlossen sich freiwillig oder waren durch ihre Tätigkeiten dazu gezwungen. Während der heißesten Monate jedoch blieben die Menschen so oft wie möglich in den Hän. Nur im Frühsommer und dann wieder im Herbst, wenn die Temperaturen erträglich waren, saßen teuer gekleidete Damen in den Gärten und auf den Balkonen, plauderten und untermalten ihre Unterhaltungen mit dem Klirren der Eiswürfel in ihren Gläsern, während in anderen Teilen der Stadt alte Männer in Schaukelstühlen auf den Veranden dösten oder das Geschehen auf den Straßen im Auge behielten.
Im September wurde gold zu kupfer, pink zu orange und dann zu rot. Die Berge nahmen die Farbe von schwerem Wein an, und das Blau des Himmels vertiefte sich. Die Betriebsamkeit hielt wieder Einzug in der Stadt. Nonnen, die ihre Breviere an sich drückten, wanderten in Zweierreihen durch die Klostergärten;
die Franziskanermönche mit den braunen Kutten, die von Hanfseilen zusammengehalten wurden, zogen ihre Sandalen an und taten es den Nonnen gleich. Priester mit schwarzen Talaren hasteten durch die Straßen, und die Kinder gingen wieder zur Schule. Auf die Bürgersteige vor den Cafés wurden Tische und Stühle gestellt, in den Geschäften ging es lebhaft zu, und die Restaurants waren meistens voll. Die Männer strömten aus ihren Büros und strebten in die nächste Bar. Mütter schoben Kinderwagen über die von Bäumen gesäumten Gehwege, während Kinder zu den Klängen der Angelusglocke Himmel und Hölle auf dem Trottoir spielten.
Die Stadt war voller Kontraste – an den Hängen der Berge wohnten die Reichen in monumentalen Villen, während sich unten in den Straßen riesige Banken, die wie römische Tempel aussahen, und katholische Kirchen in der Größe von Kathedralen über begrünte Plätze hinweg mit uralter Rivalität beäugten.
Sally kehrte im Hochsommer 1962 in diese ungewöhnliche und atemberaubende Stadt zurück. Von dem Schock hatte sie sich immer noch nicht erholt. Obwohl sie froh war, wieder daheim zu sein, betrachtete sie jetzt diesen Ort – wie eigentlich die ganze Welt – mit anderen, ängstlichen Augen.
Eine Zeit lang konnte sie die Hitze als Ausrede anführen, um nicht ausgehen zu müssen, aber ihre Eltern merkten ziemlich schnell, dass die hohen Temperaturen auf der Straße nicht der einzige Grund waren, der sie im Haus hielt. Auch wenn sie nicht in vollem Umfang begriffen, wie grauenvoll es für Sally gewesen war, den schützenden Kokon der Klinik verlassen zu müssen, erkannten sie doch klar, dass sie schon allein der Gedanke an die Welt da draußen unsicher machte.
Louise war sehr in Sorge, weil ihre Tochter für ihren Geschmack zu abhängig von diesem Arzt in Paris geworden war. Sie hatte Sallys Abschied von ihm beobachtet und war schockiert gewesen, als sie Tränen in ihren Augen gesehen hatte. Dem Doktor war das auch nicht entgangen, davon war Louise überzeugt, denn er hatte die Hand auf Sallys Schulter gelegt und sie zur Tür gebracht.
Louise war unglücklich über die Zuneigung, die sich zwischen den beiden offenbar entwickelt hatte, und ihre bösen Ahnungen wurden noch schlimmer, als der Arzt etwas auf Französisch zu ihrer Tochter sagte, was wie ein leidenschaftliches Flehen klang.
In Wirklichkeit hatte Dr. Lamotte Sally lediglich geraten: »Sie müssen vergessen, was iert ist. Zwingen Sie sich, nicht mehr daran zu denken – ich meine das ernst. Die Sache ist ausgestanden, und so was geschieht nie mehr.« Er drehte sie zu sich herum und sah ihr fest in die Augen. »Was auch immer vorgefallen ist, Sie müssen es aus Ihrem Gedächtnis streichen. Wenn Sie das nicht tun, glauben Sie mir, dann zerstören Sie Ihr ganzes Leben.«
Als sie im Taxi saßen, um zum Flughafen zu fahren, bat Louise ihre Tochter, ihr zu übersetzen, was der Arzt zu ihr gesagt hatte, aber Sally zuckte nur mit den Schultern und murmelte ungehalten: »Er hat gar nichts gesagt, nur das Übliche eben.«
»Du scheinst ihn sehr gern zu mögen«, bemerkte ihre Mutter unklug.
Sally funkelte sie an. »Du würdest ihn doch sicherlich auch mögen, wenn er dir das Leben gerettet hätte«, versetzte sie schroff.
Die Hamiltons fanden nie heraus, was ihrer Tochter in Paris widerfahren war. Sie löcherten sie endlos, als sie wieder in Montreal waren, aber Sally war nicht bereit, sich ihren Verhören zu unterziehen. Deshalb bemühten sie sich immer wieder, die Sprache ganz beiläufig auf die Ereignisse zu bringen, ein- oder zweimal forderten sie sie auf, ihnen ihre Träume zu erzählen, und sie brachten sie zu Ärzten und Psychoanalytikern, aber nichts führte zum gewünschten Erfolg.
Sally erinnerte sich von Zeit zu Zeit in albtraumhafter Weise an Dinge, über die sie nie ein Wort verlor. Sie betrachtete die schreckliche Episode als etwas ganz Privates, das keinen anderen Menschen etwas anging. Sie war ohnehin nicht überzeugt davon, dass ihre verschwommenen Erinnerungen an diesen grauenvollen Zwischenfall nicht auf einem schlechten Traum beruhte, den sie gehabt haben mochte, als sie bewusstlos war und auf der Schwelle des Todes stand. Immerhin hatte sie halluziniert und einen kühlen, blauen unendlichen Raum gesehen. Warum sollte sie sich dann nicht vorstellen, die seltsamen, unbegreiflichen Dinge nicht geträumt zu haben? Als wollte sie sich selbst für ihre viel zu blühende Fantasie tadeln, redete sie sich, so gut es ging, ein, dass sie sich die ganze Sache nur eingebildet hätte.
Im Laufe der Zeit gaben es die Hamiltons auf, sie stellten keine Fragen mehr und kamen allmählich stillschweigend überein, sich mit Sallys Geschichte abzufinden, sie hätte nur Nasenbluten gehabt und dabei so viel Blut verloren, dass sie beinahe gestorben wäre. Um sich selbst zu beruhigen, machten sie unbeholfene Witze über die Episode und wiesen Sally fröhlich darauf hin, dass in ihren Adern nur noch Blut von Schwarzafrikanern floss.
»Wahrscheinlich ist es sogar noch schlimmer«, pflegte Sallys Vater in dem Versuch, der Sache eine heitere Seite abzugewinnen, zu sagen. »Ich denke, da ist auch noch Blut von den verdammten Arabern dabei. Du bist eine Araberin, Liebes, genau das – eine Vollblut-Araberin.« Er betonte das Wort »Araberin« so, dass Sally glauben musste, er hätte die Absicht, sie als etwas Schmutziges darzustellen.
»Warum könnt ihr mich nicht in Ruhe lassen?«, schrie sie ihre Mutter eines Abends an, dann rannte sie in die Küche und weinte bitterlich.
»Liebes, das war doch nur ein Scherz, das weißt du ganz genau.«
»Es ist ein mieser Scherz – ich finde ihn kein bisschen lustig, und außerdem ist es abscheulich und geschmacklos. Was ist so schlimm an Arabern, und wieso, zum Teufel, sollte sich jemand darum scheren, wessen Blut es war, solange es mir geholfen hat?«
»Komm, Süße, sei doch vernünftig. Dein Vater macht sich Sorgen um dich und versucht das mit humorvollen Bemerkungen zu kaschieren. Du solltest das nicht so ernst nehmen.«
»Er hält mich für verdorben und schmutzig, stimmt’s? Ich weiß, dass er das tut.«
»Das ist doch Unsinn – wie kommst du nur auf so einen Gedanken?«
Sie war schmutzig, und das war ihr in bestimmten Momenten selbst klar. Sie war eine Ausgestoßene – sie fühlte sich besudelt und war überzeugt, dass sie selbst an allem die Schuld trug. Sie musste etwas getan haben, was ihn provoziert hat, irgendwie hatte sie es herausgefordert. Sie verachtete sich selbst für das, was iert war, und sie hatte Angst vor Männern.
4
Nichtsdestotrotz machte sie allmählich Fortschritte. Sie beendete erfolgreich die Schule, studierte an der Universität und absolvierte einen Sekretärinnenkurs. Sie fand sogar eine Anstellung, aber ihr tägliches Leben wurde von einer tief sitzenden Furcht beherrscht. Sie war unfähig, mit einem Taxi zu fahren, weil sie die grässliche Situation, allein mit einem Mann in einem Auto eingesperrt zu sein, nicht ertragen konnte. Genauso wenig konnte sie normal weitergehen, wenn sie wusste, dass jemand hinter ihr war – sie drehte sich ständig um, weil sie sehen wollte, wer sie verfolgte, dann überquerte sie entweder die Straße oder blieb stehen, um die Person vorbeizulassen. Sie ließ immer alle vor, und das war in einer belebten Stadt, wie sie selbst sehr genau wusste, ziemlich mühsam. Sally verbrachte viel Zeit mit dem Rücken an den Hausmauern, manchmal blieb sie in Eingängen stehen und tat so, als suchte sie etwas in ihrer Handtasche oder als müsste sie einen Stein aus ihrem Schuh entfernen, und das nur, um harmlosen anten die Möglichkeit zu geben, sie zu überholen. Es war unerträglich für sie, jemandem den Rücken zuzukehren. In Restaurants saß sie immer an der Wand, und wenn nur noch Plätze frei waren, auf denen sie mit dem Rücken zum offenen Raum hätte sitzen müssen, ging sie lieber wieder.
Schließlich erkannte sie, dass sie Auto fahren lernen musste, wenn sie sich sicher in der Stadt bewegen wollte. Sie drängte ihre Mutter, ihr Unterricht zu geben, dann bat sie ihren Vater, den Fahrprüfer zu fragen, ob er selbst bei der Prüfung mit im Wagen sitzen dürfe, damit sie nicht allein mit diesem Mann sein musste.
Als Sally ihren Universitätsabschluss hinter sich hatte und nach einer Stellung suchte, wollte ihr Vater sie dazu überreden, in seiner Anwaltskanzlei anzufangen, aber zu seiner großen Enttäuschung erfüllte sie ihm die Bitte nicht und nahm stattdessen eine Arbeit bei einer Wohltätigkeitseinrichtung an, die sich um die Belange und den Schutz missbrauchter Frauen kümmerte. Dort saß sie nur mit Frauen in einem Büro und fühlte sich sicher. Die neue Aufgabe interessierte sie sehr, sie verminderte jedoch keineswegs ihre Angst vor
Männern.
»Warum arbeitest du nicht mit deinem Vater zusammen?«, fragte Louise in regelmäßigen Abständen – Sallys Berufswahl erschreckte sie zutiefst. »Du würdest viel mehr verdienen und hättest gute Zukunftsperspektiven – bei dieser schlecht bezahlten Wohltätigkeitsarbeit hast du doch keinerlei Aussichten auf eine Beförderung.«
»Um Himmels willen, Mum, was hätte ich in Dads Kanzlei verloren?«
»Du hast Jura studiert, oder nicht? Warum benutzt du dein Wissen nicht so, wie es sich gehört? Weshalb verschwendest du deine Zeit mit all diesen deprimierenden Fällen? Das ist nicht gut für dich. Du bist nicht für so eine Aufgabe geschaffen.«
»Wenn ich bei McEwan und Hamilton angefangen hätte, wäre ich nichts anderes als eine Sekretärin. Ich hätte nichts mit Recht und Gesetz zu tun.«
»Doch nur am Anfang, während du dich einarbeitest, das hat dir dein Vater bereits ausführlich erklärt. Du würdest sehr bald Verantwortung übertragen bekommen.«
»Aber ich will schlicht und einfach nicht in der Kanzlei arbeiten und auch keine Anwältin sein. Ich habe in der McGill Jura studiert, um euch einen Gefallen zu tun und weil ihr so ein Theater darum gemacht habt. Ich habe wirklich keine Lust dazu.«
»Liebes, hör auf mich …«
»Nein, das tue ich nicht. Dir sind andere Menschen vollkommen gleichgültig. Dad und du, ihr seid beide gleich, ihr wollt nicht einmal wissen, was in dieser schrecklichen Welt vor sich geht.«
»Das ist nicht fair, Sally. Dein Vater wäre nicht Rechtsanwalt geworden, wenn er sich nicht um die Belange anderer Leute kümmern würde – und du könntest ihm helfen. Du wärst sicher sehr gut.«
»Bestimmt nicht, weil mich Gesellschaftsrecht nicht interessiert. Ich habe keine Lust, den Reichen zu helfen, kannst du das nicht verstehen? Da draußen auf den Straßen gibt es Frauen, die von ihren verrückt gewordenen Männern verprügelt werden, Frauen, die kein Heim und kein Geld haben und trotzdem ihre Kinder irgendwie großziehen müssen. Ich werde das, was ich im Studium gelernt habe, für solche Fälle benutzen.«
Sally versuchte, ihre Erinnerungen auszuschalten, aber ihre Schuldgefühle und die Angst konnte sie nicht unterdrücken. Im Grunde wusste sie, dass sie keine Schuld traf, trotzdem fühlte sie sich irgendwie verantwortlich. Sie sagte sich immer wieder, dass der Mann ein Wahnsinniger gewesen sein musste, und sie versuchte, sich einzureden, dass nicht unbedingt alle Männer so wie er waren. Nur wäre sie nach den Erfahrungen, die sie im Büro machte, jede Wette eingegangen, dass es eine ganze Menge solcher Wahnsinniger gab. Der Kerl, der ihr so übel mitgespielt hatte, lief auch noch irgendwo frei herum – und außer ihm noch viele andere, daran konnte kein Zweifel bestehen. In ihrem tiefsten Inneren wusste sie, dass sie nichts Provokantes getan hatte – sie hatte ihn niemals zuvor gesehen, um Gottes willen! –, dennoch hatte sie das unsinnige Gefühl, dass sie aus unerfindlichen Gründen verantwortlich für den Vorfall war.
Um genau zu sein, sie gab sich die alleinige Schuld daran: Sie musste ausgesehen haben wie eine leichte Beute. Wahrscheinlich hatte sie den Eindruck gemacht, ein verschrecktes, naives und wehrloses Mädchen zu sein. All das hatte auch gestimmt, und es traf heute noch zu. Sie musste Verletzlichkeit und Hilflosigkeit wie jedes leichte Opfer ausgestrahlt haben, und auch daran hatte sich bis heute nichts geändert, das bewiesen ihr die merkwürdigen und unerfreulichen Zwischenfälle, die sich ständig ereigneten. Unangenehme Kreaturen männlichen Geschlechts schienen geradezu aus den Gehsteigritzen zu kriechen, wo immer sie den Fuß hinsetzte, und zum Leben zu erwachen. Wenn sie in der Metro fuhr, Wohnungen besichtigte, die sie mieten wollte, im Supermarkt war, überall waren Männer, die obszöne Bemerkungen machten oder ihre Finger nicht bei sich lassen konnten und sie kniffen. Vollkommen Fremde – es waren immer Wildfremde. Warum? Es war ihre Schuld. Sie wusste einfach, dass es an ihr lag.
Das Seltsame war, dass sie sich nicht an sein Gesicht erinnern konnte, sosehr sie sich auch anstrengte. Ihr war noch deutlich bewusst, dass er Mitte zwanzig gewesen war – ihr war er alt erschienen –, aber sie wusste nicht mehr, wie er ausgesehen hatte.
Na ja, so ganz stimmte das nicht … Sie erinnerte sich an seine Größe, seine Gestalt, an seine weiche, helle Haut und daran, dass er Franzose war. Sie sah sogar noch sein helles Haar vor sich – es war nicht richtig blond, aber heller als hellbraun und dicht, gerade und gut geschnitten. Trotzdem war er gesichtslos. Es war ihr unmöglich, sein Gesicht vor ihrem inneren Auge entstehen zu lassen.
Am besten war ihr seine Stimme im Gedächtnis geblieben, nicht der Tonfall, als er im Café auf sie zugekommen war und sie gefragt hatte, ob sie Deutsche, Französin oder Engländerin sei, aber sein späteres Flüstern, als er ihr sanft und einschmeichelnd ins Ohr gehaucht hatte: »On fait l’amour un peu … mais, si, tu verras, on va faire l’amour …«
Wie diese Stimme im Auto geklungen hatte, wusste sie nicht mehr, aber die Worte waren in ihr Gehirn gebrannt. Sie wollte das Seitenfenster herunterkurbeln, um Hilfe herbeizurufen, aber es gab gar keine Kurbel. Sie fuhren viel zu schnell, sodass sie es nicht riskieren konnte, aus dem Wagen zu springen – bestimmt wäre sie von einem anderen Auto überfahren worden, wenn sie sich auf die Straße gestürzt hätte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als mit den Fäusten ans Fenster zu trommeln, zu schreien und zu hoffen, dass sie die Aufmerksamkeit irgendeines Menschen auf sich ziehen würde.
Sie hämmerte und schrie, aber er stellte das Radio auf volle Lautstärke und brüllte über das Dröhnen hinweg: »Du kannst so viel Krach machen, wie du willst, kein Mensch wird dich hören.«
Sie erinnerte sich an die Place de la Concorde, sonst hatte sie keine der Straßen erkannt. Paris war eine fremde Stadt für sie, da sie erst vor wenigen Tagen dort angekommen war. Sie rasten mit halsbrecherischer Geschwindigkeit, aber das taten alle anderen Verkehrsteilnehmer auch. Sie flitzten über die Place de la Concorde und kreisten um den Polizisten, der auf einem Podest mitten auf dem Platz stand, mit den Armen fuchtelte und in eine schrille Trillerpfeife blies. Ja, an diesen Verkehrspolizisten erinnerte sie sich noch genau. Er sah lächerlich aus mit dem kleinen runden Käppi und dem dunkelblauen Cape. Dieses Cape war wirklich idiotisch, es war viel zu kurz. Er schleuderte es um sich und schwenkte seinen bâton wie ein irrer Dirigent, der ein Symphonie-Orchester in Schach hält.
Sie hatte alles getan, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, so fest wie nur möglich an die Scheibe getrommelt, gewunken und geschrien. Der Polizist hatte ausgesprochen selbstzufrieden ausgesehen, das wusste sie noch. In einer Welt, die ihn normalerweise vollkommen ignorierte, fielen ihm ihre fruchtlosen Versuche natürlich auf, als sie in dem Auto an ihm vorbeiraste, aber er deutete sie falsch. Da er ansonsten nur auf Gleichgültigkeit bei den Pariser Autofahrern stieß, konnte er sich ein selbstgefälliges Grinsen nicht verkneifen, und er erwiderte ihr Winken mit einem fröhlichen Schwenken seines Arms. Dann schleuderte er sein Cape über die Schulter und hob sein bâton mit einer
großartigen Geste, um ihr zu zeigen, dass er sehr wohl erkannt hatte, wie hoch sie seine Bedeutung einschätzte.
In diesem Moment wurde Sally klar, dass ihre Lage hoffnungslos war. Kein Mensch würde ihr beistehen oder sie vor dem drohenden Unheil schützen. Niemand hatte ihr in dem Café geholfen, in dem sie für alle sichtbar belästigt worden war. Die Leute mussten bemerkt haben, dass sie sich gestört fühlte, sie hatte ja nicht einmal den Mut gehabt, ihren Kaffee auszutrinken, sondern Geld auf den Tisch geschmissen und die Flucht ergriffen. Bestimmt hatten alle Anwesenden gesehen, dass er ihr nachgelaufen war, und man hätte meinen können, dass wenigstens einer ihr zu Hilfe kam, aber nichts … Sie rannte und rannte, bis sie vollkommen erschöpft war, aber niemand rührte auch nur einen Finger, nicht einmal als sie hinfiel.
Sie hatte keine Ahnung mehr, wie sie in das Auto gekommen war. In ihrem Gedächtnis gab es immer noch schwarze Lücken. Sie wusste noch vage, wie sie sich aufgerappelt hatte und weitergelaufen war, um sich dann zwischen den parkenden Autos hindurchzuzwängen. Daran erinnerte sie sich noch genau, weil sie zu diesem Zeitpunkt überzeugt war, ihn abgehängt zu haben. Die Autos standen dicht nebeneinander in einer Reihe, und gerade als sie durch einen der schmalen Durchgänge huschen wollte, flog eine der Wagentüren auf und versperrte ihr den Weg.
Hatte er das Auto gestohlen? Sicherlich war es nicht sein eigenes – das wäre ein zu großer Zufall gewesen. Möglicherweise hatte sie sich das alles nur eingebildet, sie musste es erfunden haben. So, wie sie sich an die Ereignisse erinnerte, konnten sie sich unmöglich abgespielt haben. Trotzdem hatte sie mit ihm in dem Auto gesessen. Hatte er ihr einen Schlag auf den Kopf versetzt? Oder hatte er sie einfach gepackt und mit sich gezerrt? Sie wusste nichts mehr von dieser Zeitspanne.
Dann war da noch etwas: Wie war sie die vielen Treppen hinaufgekommen? Sie
erinnerte sich noch, wie sie hinuntergerannt war – ganz genau sogar; ihre Beine waren wie Gelee, und sie hatte keine Ahnung, wo sie sich befand –, aber wie war sie in die Dachwohnung gelangt? Sie entsann sich noch, dass er in einer menschenleeren Straße angehalten – Gott allein wusste, in welchem Teil von Paris – und gesagt hatte: »Voilà chez moi!« Wie das Haus ausgesehen hatte, wusste sie beim besten Willen nicht mehr, und sie erinnerte sich nicht mehr an die Treppen. Sein Zimmer war im Dachgeschoss, also musste sie diese sechs Stockwerke irgendwie hinter sich gebracht haben. So etwas konnte man doch nicht vergessen, oder? Den Weg nach unten hatte sie ja auch noch im Gedächtnis, und zwar sehr gut.
Hatte sie die fehlenden Szenen verdrängt, oder war sie bewusstlos geschlagen und dann hinaufgetragen worden? Sie konnte sich schlichtweg kein Bild mehr davon machen, wie sie die Stufen, die Treppenabsätze und Flure überwunden hatte oder wie sie in das Bett gekommen war. Rein gar nichts mehr war zwischen dem Voilà chez moi und dem erbitterten Kampf auf dem schmalen Bett, bei dem sie sich verzweifelt an den langen Griff des schrägen Dachfensters geklammert hatte. Sie befanden sich im Dachgeschoss. Das Bett stand unter einer schrägen Wand, sodass der Fenstergriff direkt über ihrem Kopf war – der einzige Gegenstand in ihrer Reichweite. Sie hielt sich daran fest und gewann dadurch beträchtliche Stabilität. Sie hätte sich nie so gegen diese Angriffe wehren können, wenn dieser Griff nicht gewesen wäre. Sie hing die meiste Zeit daran und zog sich in die Höhe, um sich gegen den Wahnsinnigen zu stemmen und ihn von sich zu stoßen. Sie biss, kratzte, und natürlich schrie sie auch aus Leibeskräften, aber nichts davon schien ihn besonders zu beeindrucken. Der Fenstergriff hatte sie vor Schlimmerem bewahrt, davon war sie überzeugt.
Die Metro. Sie musste irgendwie in die Metro-Station gekommen sein. Sie erinnerte sich daran, dass sie zitternd durch die Straße gestolpert war und sich kaum auf den Beinen halten konnte. Sie redete sich ein, dass sie den Weg nach Hause schaffen würde, wenn sie nur eine Metro-Station fand. Offenbar hatte sie eine gefunden, sonst wäre sie nicht an der Gare St. Lazare gelandet, aber davon wusste sie überhaupt nichts mehr. Erst die Sanitäter, die sie auf eine Trage gelegt hatten, und die glotzende Menschenmenge auf der Straße hatten sich wieder in ihr Gedächtnis eingeprägt.
Warum hatte er sie gehen lassen? Das fragte sie sich immer und immer wieder. Sie mussten mindestens zwei Stunden auf diesem schmalen Bett gekämpft haben. Er war ihr unglaublich stark erschienen – unerschütterlich. Und sie selbst war nahe dran gewesen, aufzugeben.
Äußerst merkwürdig war auch, wie schnell sich seine Stimmung änderte. Erst war seine Stimme sanft und zärtlich. Was immer er ihr auch antat, egal wie gewalttätig er wurde, seine Stimme blieb sanft und grausam einschmeichelnd. Er flüsterte ihr leise ins Ohr: »On fait l’amour un peu. Oui, mon amour chérie, on va faire l’amour … mais si …«
Ab und zu zog er ihre Hand beinahe geduldig von dem Fenstergriff und verbog ihr den Arm, bis sie dachte, ihre Knochen würden zerbersten. Als sie vor Schmerz keuchte, lösten sich ihre Zähne, die sie in seine Schulter gebohrt hatte, und er drückte ihr ihren eigenen Arm aufs Gesicht. Dann beugte er sich über sie, hielt sie mit den Händen fest und rammte sein Knie mehrmals in ihren Bauch.
Später hockte er sich mit gespreizten Beinen über ihren Oberkörper, presste mit den Knien ihre Arme rechts und links von ihrem Kopf auf das Bett. Er hatte immer noch seine Hose an – er zog sie die ganze Zeit nicht aus. Mit einer Hand drückte er ihr die Kehle zu, mit der anderen holte er seinen Penis aus der Hose und schwenkte ihn über ihrem Gesicht.
In ihrer Kindheit war sie zusammen mit ihren Cousins nackt herumgesprungen, aber jetzt sah sie zum ersten Mal das Geschlechtsteil eines erwachsenen Mannes, und es jagte ihr entsetzliche Angst ein. Sie hatte zwar vorher keine Vorstellung gehabt, wie so etwas aussah, aber das hätte sie nie erwartet. Sie kniff ihre Augen fest zusammen, um nicht zusehen zu müssen, wie er masturbierte, und während der ganzen Zeit flüsterte er, dass er sie ficken würde.
Sally kreuzte die Beine und hielt sich, solange die grässliche Prozedur dauerte, eisern in dieser Stellung, auch noch als er mit der Gürtelschnalle auf sie einschlug und eine Bierflasche auf ihrem Schambein zertrümmerte.
Es war ihr auch jetzt, nach all den Jahren, unerträglich, an diese Szenen zu denken, und noch immer fühlte sie das Entsetzen über diesen plötzlichen Stimmungsumschwung: Gerade als sie kurz davor war, jeden Widerstand aufzugeben, stieß er ein Brüllen aus und sank schwer über ihr zusammen, dann sprang er laut keuchend vom Bett.
»Fous le camp!«, schrie er sie an. »Espèce de petite merde. Fous; mois la paix! Fous le camp!« Er zerrte sie auf die Füße und schleuderte sie gegen die Tür. Sie fiel. Er riss die Tür mit unnötiger Brutalität auf und zog Sally an ihren ohnehin schon zerfetzten Kleidern über den Boden bis zum Treppenabsatz. Dort versetzte er ihr mit dem Schrei: »Salope!« einen letzten, vernichtenden Fußtritt.
Als sie die ersten Stufen hinunterrollte, hörte sie, wie er die Tür zuknallte. Irgendwie gelang es ihr, sich aufzurappeln und die restlichen fünf Stockwerke hinunterzutaumeln. An diese Treppen würde sie sich ihr Leben lang erinnern, genau wie sie seine Stimme und die Worte noch im Ohr hatte. »Espèce de petite merde! Fous-moi la paix!«
5
Diese Erinnerungen waren nicht alle auf einmal zurückgekommen. Bruchstücke davon schossen ihr durch den Kopf, wenn irgendein Geräusch oder ein Geruch einen Prozess in ihrem Gehirn in Gang setzte. Sie fand nie heraus, welches Geräusch und was für ein Geruch einen Teil ihres Gedächtnisses wachrief, und sie verstand auch nicht die Zusammenhänge, aber allmählich formte sich ein Gesamtbild von den Ereignissen.
Je mehr Zeit verstrich, desto unsicherer wurde sie, ob sich wirklich alles so abgespielt hatte. Ihr Gedächtnis schien nicht gerade zuverlässig zu sein und ihr üble Streiche zu spielen, außerdem klafften da immer noch diese Lücken, und das schürte ihre Zweifel daran, dass sie sich auf ihr Erinnerungsvermögen verlassen konnte. Sie kannte ihre lebhafte Fantasie und fragte sich, ob sie die Geschichte im Laufe der Jahre nicht immer mehr im Geiste ausgeschmückt hatte – vielleicht hatte sie auch alles nur erfunden. Ob ihre Erinnerungen nun reine Fiktion waren oder nicht, ob sie versuchte, sie zu begraben, oder ob sie sie verleugnete, ihr Verhalten wurde in jedem Fall ständig von ihnen beeinflusst.
Es fiel ihr schwer, Umgang mit Angehörigen des männlichen Geschlechts zu haben, und sie fühlte sich in der Gesellschaft von Männern im Alter ihres Vaters weniger bedroht als von Zwanzig- oder Dreißigjährigen. Trotzdem war es ihr unmöglich, auch mit einem dieser älteren Herren allein zum Abendessen, zum Tanzen oder in einen Nachtclub zu gehen, sie vermied es, mit einem Mann im Auto zu sitzen oder Ausflüge zu machen – sie ging allem aus dem Weg, was mit Dunkelheit, der Nacht, der Zweisamkeit mit einem Mann oder auch nur der entfernten Möglichkeit körperlichen Kontakts zusammenhing.
In den ersten achtzehn Monaten nach ihrem Erlebnis in Paris schlug sie jede Einladung von Männern aus, aber während der folgenden Jahre sammelte sie
allmählich wieder so viel Courage, dass sie akzeptierte, wenn Freunde ihres Vaters – also Männer, die ihrer Meinung nach Vaterstelle an ihr vertreten könnten und deshalb keine Gefahr darstellten – sie zum Mittagessen ausführten. Oft waren auch die Ehefrauen bei diesen Gelegenheiten dabei, dann war Sally sehr zufrieden. Sie zählte am liebsten Paare zu ihren Freunden. Da sie sich weigerte, von einem Mann abgeholt zu werden und allein mit ihm in einem Wagen zu fahren, bestand sie jedes Mal darauf, dass sie sich erst im Restaurant trafen. Genauso wenig ließ sie zu, dass sie nach dem Essen zu ihrem Büro begleitet wurde. Aber auch diese Vereinbarungen verursachten große Probleme, denn, zu Sallys schlimmsten Ängsten gehörte die, ohne Begleitung ein Lokal, ein Café oder eine Bar betreten zu müssen.
Allein der Gedanke, sie müsste sich mutterseelenallein an einen Tisch setzen und auf jemanden warten, war ein Albtraum, der sie ständig verfolgte, und sie sann auf Mittel und Wege, einer solchen Situation auszuweichen. Sie machte es sich zur Gewohnheit, zu den Verabredungen zu spät zu kommen, sodass ihre Freunde gezwungen waren, nach ihr Ausschau zu halten. Falls sie aus irgendeinem Grund von niemandem erwartet wurde, machte Sally auf dem Absatz kehrt – manchmal kam sie dann später zurück, manchmal aber auch nicht. Häufig geriet sie so in Panik, wenn sie im Eingang stand und das Restaurant überblickte, dass sie die Person, nach der sie suchte, einfach übersah und voller Entsetzen davonstürmte, noch ehe sie ein Winken oder ein Zuruf erreichen konnte. Falls der Freund oder die Freundin zu spät dran war, was gelegentlich vorkam, traf Sally bei der nächsten Verabredung noch später ein – nach ein paar Vorkommnissen dieser Art gewöhnte sie es sich an, in den Lokalen anzurufen und nachzufragen, ob sie schon jemand erwartete, bevor sie sich selbst blicken ließ. Wenn man ihr versicherte, dass die fragliche Person schon Platz genommen hätte, ließ sie ausrichten, dass sie aufgehalten worden, aber schon auf dem Weg sei und gleich kommen würde.
Das Resultat dieses ausgeklügelten Selbstverteidigungssystems war, dass Sally bald als jemand galt, der keinerlei Zeitbegriff kannte. In späteren Jahren war es ihr schon so zur Gewohnheit geworden, unpünktlich zu sein, dass sie gar nicht mehr über die Gründe dafür nachdachte. Als sie fünfunddreißig war, kam sie immer und zu allem zu spät, gleichgültig, ob sie in Begleitung ihres Ehemannes
war oder allein und ob ein triftiger Grund dafür vorlag oder nicht. Zum ständigen Ärger ihrer Freunde und Bekannten wurde sie zu einer notorisch unpünktlichen Person.
Als sie fünfundzwanzig war, verursachten ihr die erheblichen psychischen Unzulänglichkeiten großen Kummer. In vielen Beziehungen war sie jedoch überraschend ausgeglichen: Sie war zufrieden mit ihrem Leben, hatte viele Freundinnen und einen interessanten, verantwortungsvollen Job; ihren Eltern war sie von Herzen zugetan, trotzdem liebte sie ihre Unabhängigkeit und war froh, dass sie ihr eigenes Geld verdiente, eine eigene Wohnung hatte und ein selbstständiges Leben führte. Sie war hübsch – sogar mehr als nur hübsch –, humorvoll, großzügig, selbstgenügsam und beliebt. Es machte ihr nicht nur nichts aus, allein zu leben, es gefiel ihr sehr gut so. Ihr einziges ernsthaftes Problem war eines, das sie niemandem anvertrauen konnte.
In Kanada wie fast überall auf der Welt war es für ein Mädchen ihres Alters ungewöhnlich, keine sexuellen Erfahrungen und Beziehungen zu haben – gerade in den Sechziger- und Siebzigerjahren herrschte auf diesem Gebiet eine große Freizügigkeit. Sally war sich dessen bewusst, und sie schämte sich, weil sie sich selbst für abnormal hielt. Sie wollte begehrt und geliebt werden, und sie wünschte sich, wie die anderen Mädchen zu sein.
Aus Scham und Verlegenheit nahm sie zu Lügen Zuflucht und erzählte ihren Freundinnen von irgendwelchen erfundenen Männern, über die sie bei ihren Gesprächen über sexuelle Abenteuer kichern und klatschen konnten. Sally machte immer ein großes Geheimnis aus ihren angeblichen Freunden und behauptete, sie könnte niemandem verraten, um wen es sich handelte, daher mutmaßten die anderen, dass sie Affären mit verheirateten Männern hatte. Da sie nie mit Vertretern des anderen Geschlechts zusammen gesehen wurde, außer wenn sie mit den Bekannten ihres Vaters zum Essen ging, gab sie ihren Freundinnen allen Grund zu der Annahme, dass sie reifere Herren bevorzugte.
Die Gesellschaft von Montreal war schon immer sehr freundschaftlich mit der jüngeren Generation umgegangen, man hatte ein Auge auf die Kinder befreundeter Familien, stand ihnen mit Rat und Tat bei, wenn es nötig wurde, und lud sie zum Cocktail oder Mittagessen ein. Deshalb fanden Sallys Eltern nichts Seltsames daran, dass ihre Tochter tagsüber mit ihren Bekannten ausging – die Einladungen erfolgten allerdings hauptsächlich aus Höflichkeit, auch wenn sich die älteren Herrschaften in der Gesellschaft eines hübschen, intelligenten Mädchens wohlfühlten.
Sally fühlte sich sicher mit den Freunden ihrer Eltern, und wenn ihr einmal ein Mann Komplimente machte, dann wusste sie, dass er es nur aus Freundlichkeit tat. Hätte ein jüngerer Mann ihr Aussehen oder ihren neuen Haarschnitt gelobt, wäre sie vor Schreck und Angst wie gelähmt gewesen.
Es war jedoch unvermeidbar, dass eines Tages einer der Hamilton-Bekannten die Tatsache, dass Sally zum dritten Mal in zwei Wochen seine Einladung annahm, falsch deutete und an einem Abend unerwartet in ihrer Wohnung auftauchte. Sally wich erschrocken zurück, als sie die Tür öffnete und ihm gegenüberstand. Noch ehe sie reagieren konnte, marschierte er in ihr Wohnzimmer und sagte in heiterem Tonfall: »Hallo! Ich dachte, ich könnte mich selbst einladen. Wie wär’s, wenn du mir einen Drink anbieten würdest?«
»Na ja, ich habe sehr viel zu tun«, erwiderte Sally nervös. »Ich muss einen Bericht über einen sehr komplizierten Fall schreiben, er soll morgen früh sauber getippt vorliegen und …« Zu ihrem Entsetzen legte er, noch ehe sie ihre Einwände zu Ende vorgebracht hatte, den Arm um sie und drückte sie fest an sich.
»Du bist sehr schön«, murmelte er in ihr Ohr, aber zu mehr kam er nicht.
»Lass mich los«, kreischte Sally schrill. »Verschwinde!«
»Komm schon, Baby, lass uns ein bisschen Spaß haben.«
»Nein!«, brüllte Sally in hellster Panik. »Raus hier! Lass mich in Ruhe und verschwinde!«
Unbeeindruckt von ihrer Heftigkeit, legte der Mann seine Hand auf ihren Mund und raunte: »Schsch, sei nicht so laut. Die Nachbarn meinen sonst noch, dass ich versuchen würde, dich umzubringen.« Er hielt ihr weiterhin den Mund zu, senkte den Kopf und knabberte an ihrem Hals. Sie wehrte sich und gab erstickte Schreie von sich. Er hielt das für den Ausdruck von Lust und biss ein wenig fester zu. Plötzlich spürte er, wie sie in seinen Armen schwach wurde, und hob den Kopf, um sie zu küssen, aber als er den Griff etwas lockerte und seine Hand von ihrem Mund wegnahm, flogen ihre Hände in die Höhe, und ihre Fingernägel rissen ihm tiefe Wunden in beide Wangen.
Er trat erstaunt einen Schritt zurück und ließ die Arme sinken. Sally war kalkweiß, und ihre Beine zitterten, aber er sah nur den Ausdruck in ihren Augen, nichts anderes. Sie starrten sich eine Sekunde an, dann drehte sich Sally um, sprang mit der Geschmeidigkeit eines Panthers zu dem Feuerlöscher und riss ihn von der Wand. Gleich darauf wirbelte sie wieder zu ihrem Peiniger herum und hielt den Feuerlöscher wie eine Waffe auf ihn gerichtet, doch er war schon auf dem Weg zur Tür.
Er wandte sich noch einmal zu Sally um, als er die Tür öffnete, und funkelte sie kalt an. »Tut mir leid«, sagte er knapp. »Es war ein Missverständnis, ich habe mich geirrt.«
Einen Augenblick später war er weg.
Sallys Ängste verminderten sich im Laufe der Zeit kein bisschen, und ihr wurde immer klarer, dass sie sich nur davon befreien konnte, wenn sie sich ihrem Trauma direkt stellte. Sie musste sich dazu zwingen, mit einem Mann zu schlafen, aber sie hatte keine Ahnung, wie sie das bewerkstelligen sollte, und ihr Vorhaben erschien ihr noch viel unmöglicher, als ihr bewusst wurde, dass ihr hypothetischer Liebhaber ein Franzose sein müsste. Sie wollte eine Art Exorzismus vollziehen, und ein englischstämmiger Kanadier konnte ihr die böse Vergangenheit nicht austreiben.
»Warst du je in einem der französischen Viertel von Montreal?«, fragte sie eine Kollegin im Büro.
»Nein«, erwiderte das Mädchen, »da möchte ich auch nicht hin, du etwa?«
»Ich glaube, es könnte ganz interessant sein, sich dort mal umzusehen.«
Sally stellte ihrer Mutter dieselbe Frage. »Ich war einmal in Outremont beim Dinner«, antwortete Louise. »Ein jüdischer Anwalt, der mit deinem Vater zusammengearbeitet hat, wohnte eine Zeit lang dort – ich glaube, dort leben viele Juden. Ich kann mich nicht erinnern, dass dort irgendetwas besonders französisch ausgesehen hätte.«
»Ich dachte eigentlich nicht so sehr an Outremont, sondern viel mehr ans Eastend. Warst du schon mal östlich der Mainstreet?«
»Na ja, ich bin ein paarmal durch das Viertel gefahren, aber ich kann nicht behaupten, es besonders gut zu kennen. Warum willst du das wissen?«
»Ach, nur so. Ich dachte, es könnte ganz lustig sein, einmal hinzugehen und alles anzuschauen – du weißt schon, nur ein bisschen herumspazieren und sehen, wie es dort ist.«
»Aber du kennst doch die Gegend um den Bonsecours Markt, und du warst oft genug in den Restaurants im alten Teil von Montreal.«
»Ja, aber das ist was anderes. Das ist nur ein eleganter Teil, der aufgekauft und renoviert wurde. Es ist eine Touristenattraktion und nicht echt französisch. Ich möchte die Winkel sehen, die nicht herausgeputzt wurden und in die Engländer nicht gehen. Ich möchte die wirklich französischen Gegenden erforschen – ich möchte wissen, wo die Franzosen leben.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dort sehr willkommen bist, und bestimmt gibt es auch nichts Besonderes zu sehen, obwohl, man hat mir erzählt, dass es einen guten Fischladen auf der St. Lawrence gibt.« Sally ließ sich nicht entmutigen. Ein paar Tage später machte sie sich in der Mittagspause auf den Weg und wanderte durch das Viertel zwischen dem Boulevard Saint Laurent und der Rue Saint-Denis umher. Zuerst hatte sie solche Angst, dass sie die Umgebung kaum wahrnahm, aber sie war fest entschlossen durchzuhalten, und darüber hinaus zwang sie sich, am nächsten Tag noch einmal in dieses Viertel zu gehen. Schon bald verbrachte sie die meisten Mittagspausen und Wochenenden damit, in diesem Teil von Montreal herumzuschlendern. Trotzdem dauerte es Monate, bis sie sich ein paar Straßen weiter weg wagte und den Boulevard Saint Laurent hinter sich ließ. Sie machte sich selbst vor, dass sie nur über die Grenze zwischen den beiden Kulturen zu fliehen brauchte, falls etwas geschah, womit sie nicht fertigwurde. Natürlich wusste sie in ihrem tiefsten Inneren, wie lächerlich dieser Gedanke war und wie ähnlich sich die Straßen auf beiden Seiten der Mainstreet waren, die die Franzosen von den Engländern trennte und
für Sally die Grenze zwischen dem Terror von Paris und der Sicherheit ihrer Heimat bedeutete.
Das Französisch, das sie hier hörte, klang ganz anders als jenes, welches sie aus ihrem Gehirn streichen wollte. Es war die Sprache, mit der sie aufgewachsen war und die sie ihr ganzes Leben auf den Straßen dieser Stadt gehört hatte – eine rüde Verzerrung der reinen, poetischen Sprache, die sich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte, aber es war ein uneheliches Kind und den eleganten Klängen ähnlich genug, um ihrem Zweck zu dienen, wie Sally fand.
Sie erzählte ihren Eltern nichts von diesen Expeditionen, sie wären viel zu besorgt gewesen, wenn sie von der Freizeitbeschäftigung ihrer Tochter gewusst hätten. Zwar waren sie nicht so sehr gegen die Franzosen wie viele ihrer Freunde, aber in letzter Zeit waren die Separatisten wieder besonders aktiv geworden, und die Hamiltons wären der Meinung gewesen, dass Sally unnötig große Risiken einging. Die Engländer waren nie beliebt gewesen, und wenn sie die Franzosen weiterhin so verachteten und ihnen misstrauten, würde die Stimmung der Frankokanadier rasch umschlagen und der unterschwellige Streit offen zutage treten. Sally wusste das alles, aber sie fühlte sich ohnehin schon gehasst und bedroht, sodass es keine große Rolle mehr spielte, ob sie Kenntnis davon hatte, dass sie als Feindin betrachtet werden könnte. In diesem Landstrich hatte sich nichts verändert, und es würde sich auch nie etwas verändern – es gab immer noch die beiden abgeschiedenen Teile aus Hugh MacLennans Roman – zwei Sprachen, zwei Religionen, zwei alte Kulturen, und eine Annäherung war offenbar nicht möglich. Wie zwei alternde Geschwister, die in der Kindheit um die Liebe der Mutter gebuhlt hatten und sich seither hassten, die sich jetzt jedoch das gemeinsam geerbte elterliche Haus teilten und gezwungen waren, ihren Lebensabend zusammen zu verbringen, fristeten Franzosen und Engländer ihr Dasein unter ein und demselben Dach und zankten bis in den Tod – die Auseinandersetzung zwischen den Engländern und Franzosen würde in Quebec wie sonst überall bestehen, solange die beiden Volksgruppen existieren. Unweigerlich stellte sich die Frage, ob nicht doch einer den anderen vermissen würde – wie es rivalisierende Geschwister auch tun –, wenn einer der Streithähne von der Bildfläche verschwände.
Sally war am unmittelbaren Rand dieser kulturellen Kluft aufgewachsen, und sie hätte gern eine Brücke über den Abgrund geschlagen. Wenn sie einen frankokanadischen Liebhaber finden konnte, daran glaubte sie fest, würde sie nicht nur ihre Persönlichkeit zu einem Ganzen zusammenfügen, sondern auch eine echte, ganze Kanadierin werden. Damit meinte sie eine Kanadierin mit zwei Kulturen – jemand, der nicht nur mit der anderen Seite sprach und sie verstand, sondern sich auch durch das Zusammenleben und den Akt der Liebe mit ihr identifizierte. Ob ihr Interesse an den Franzosen – man könnte fast sagen: ihre Besessenheit – durch die Episode in Paris zum ersten Mal aufgeflammt war, sei dahingestellt – in jedem Fall trieben sie jetzt ihre politischen Neigungen und ihre psychischen Bedürfnisse dazu, ganz in die Welt der Franzosen einzutauchen, bis sie sich in nichts mehr von ihnen unterschied. Sie würde eins mit ihnen sein, und dann gab es keinen Feind mehr. Nur dann, davon war sie überzeugt, konnte sie in Frieden leben.
6
Ein paar Monate nach ihrem ersten Ausflug ins französische Montreal, telefonierte Sally abends mit einer Freundin.
»Hast du Lust, morgen mit mir zu Mittag zu essen?«, fragte Lucy.
»Klar«, erwiderte Sally, »aber ich möchte ein paar Sachen auf dem Jean-TalonMarkt besorgen, macht es dir was aus, wenn wir das zuerst erledigen und wir uns dann in der Nähe ein Lokal suchen?«
»In der Nähe vom Jean-Talon? Machst du Witze? Himmel, das ist ewig weit weg. Warum, um alles in der Welt, willst du ausgerechnet dorthin?«
»Weil es ein wunderschöner Markt ist, und die Sachen sind billig – es ist dort ein bisschen wie auf den Märkten am Mittelmeer. Ich hole immer mein Gemüse und Obst von dort.«
»Das ist nicht dein Ernst.«
»Komm doch einfach mit und sieh es dir an, es gefällt dir bestimmt genauso gut wie mir. Ich nehme dich im Auto mit, wenn du es schaffst, um zwölf bei mir im Büro zu sein.«
»Glaubst du wirklich, dort gibt’s ein Lokal, in dem wir essen können?«, hakte Lucy unsicher nach.
»Ich weiß nicht genau … aber wenn wir nichts finden, können wir ja immer noch in die Saint-Denis oder die Main fahren.«
Sally gab sich viel zuversichtlicher und selbstsicherer, als sie sich tatsächlich fühlte. Sie wollte, dass Lucy sie begleitete. Sie hatte noch nie den Mut aufgebracht, allein in ein Restaurant zu gehen, und im französischen Teil der Stadt fiel ihr das ganz sicherlich nicht leichter als im englischen. Dennoch musste sie es tun, auch wenn ihr nichts anderes übrig blieb, als jemanden mitzuschleppen. Sie musste es einfach sehen.
Lucy war begeistert, als sie auf den Markt kamen. »Das ist großartig«, rief sie aus. »Wieso habe ich davon gar nichts gewusst?«
Lucy fühlte sich weniger sicher, als sie in ein Bistro auf der Rue Saint-Denis gingen. Sie waren die einzigen Engländer in dem Lokal, und beiden war unbehaglich zumute, weil sie auffielen. Sie bestellten ohne allzu große Schwierigkeiten auf Französisch.
Lucy entspannte sich, als das Essen erst einmal serviert war, Sally andererseits wurde mit jeder Minute nervöser. Sie war überzeugt, dass alle Anwesenden nur sie anstarrten. Sie hielt den Kopf gesenkt und gab vor, sich auf ihr Steak zu konzentrieren.
Als Lucy etwas sagte, hob Sally den Blick und bemerkte einen jungen Mann, der an einem der Nachbartische saß. Er beobachtete sie. Sie war ganz sicher, dass er
sie, seit sie hereingekommen waren, nicht mehr aus den Augen gelassen hatte. Sally wandte sich ab und bemühte sich, ihrer Freundin zuzuhören, aber sie spürte, dass sie unaufhörlich unter Beobachtung stand.
Eine Minute später schielte sie wieder zu dem Nachbartisch. Der Mann sah sie direkt an. Ihre Blicke kreuzten sich kurz, und Sally fühlte, wie ihr der kalte Schweiß aus allen Poren brach. Sie war unfähig, das Stück Fleisch hinunterzuschlucken, das sie sich gerade in den Mund gesteckt hatte. Sie klammerte sich an die Tischkante und schaute ihre Freundin voller Verzweiflung an.
»Was ist?«, fragte Lucy. »Du siehst schrecklich aus. Ist etwas nicht in Ordnung?«
Sally würgte mühsam den Bissen hinunter. »Mir ist nicht gut«, stammelte sie. »Ich muss hier raus – ich glaube ich werde ohnmächtig.«
»Warum, um alles in der Welt, hast du nichts gesagt, bevor wir bestellt haben? Wir können jetzt nicht einfach abhauen und die Steaks stehen lassen.«
»Tut mir ehrlich leid. Macht es dir was aus, wenn ich dich allein lasse? Du kannst zu Ende essen, und wenn du dann auch bezahlen würdest … Wir regeln das dann nachher – und ich fahre nicht ohne dich weg, das verspreche ich. Ich brauche nur ein bisschen frische Luft.« Sie stand auf und fügte kläglich hinzu: »Du brauchst dich nicht zu beeilen. Ich bin in der Nähe des Kleiderladens an der nächsten Ecke. Ich warte dort auf dich, okay?«
»Warum kommst du nicht wieder her? Ich brauche nur zehn Minuten.«
»Ich will nicht wieder hier hereinkommen. Ich warte lieber vor dem Geschäft auf dich. Bis später.«
Sie kam trotzdem wieder. Nicht bei dieser Gelegenheit, aber ein paar Tage später. Sie wurde von dieser Gegend angezogen wie eine Nadel von einem Magneten, und sie konnte sich der ungeheuren Kraft nicht entziehen, obwohl sie gar nicht den Wunsch hegte, noch einmal in dieses Stadtviertel zu fahren und herumzulaufen.
Sie betrat das Lokal nicht, sondern spähte nur durch die Fenster und hielt nach dem jungen Mann Ausschau. Im Grunde wollte sie ihn gar nicht wiedersehen, doch irgendetwas, was sie nicht unter Kontrolle hatte, trieb sie dazu, nach ihm zu suchen.
Sie kam immer wieder, bis sie ihn eines Tages entdeckte – nicht in dem Bistro, sondern auf der Straße. Sie vermutete, dass er in der Nähe arbeitete oder wohnte. Blickkontakte mit Fremden sind immer etwas sehr Gefährliches. Er bemerkte den Ausdruck in Sallys Augen sofort – es war nicht der beiläufige Blick von jemandem, der zufällig auf der Straße vorbeiging. Er drehte sich zu ihr um und sah ihr nach, dann erkannte er sie und beschloss, ihr zu folgen.
Sie hörte seine Schritte und wirbelte herum.
»Ich erinnere mich an Sie«, sagte er. »Sie waren neulich in dem Bistro, und Ihnen ging es nicht gut, stimmt’s? Arbeiten Sie hier irgendwo?«
Sie brachte kein Wort heraus. Auf der Straße herrschte reges Treiben, und eine Menge Leute waren in der Nähe, aber Sally hatte ja schon einmal die Erfahrung gemacht, dass niemand half, wenn man in Schwierigkeiten war.
»Möchten Sie einen Kaffee trinken?«, fragte er.
Sie starrte ihn wortlos an.
»Kommen Sie«, sagte er, »ich spendiere Ihnen einen Kaffee.«
Er führte sie ein paar Meter weiter in ein Café. Sally schlich neben ihm her wie ein Lamm, das zum Schlachter geführt wurde, ihr Verstand war vollkommen ausgeschaltet, und ihre Glieder bewegten sich, als würden sie nicht zu ihr gehören.
Es stellte sich heraus, dass er ein ausgesprochen liebenswürdiger und freundlicher junger Mann war. Sally fühlte sich um Lichtjahre jünger, weil sie es geschafft hatte, mit ihm einen Kaffee zu trinken. Seltsamerweise erleichterte es ihr dieser Schritt nicht, allein ein Lokal zu betreten, doch sie blühte regelrecht auf, wenn sie daran dachte, welcher Durchbruch ihr bereits gelungen war – so sehr, dass ihre Bekannten ihr ständig Komplimente über ihr gutes Aussehen machten. Sie strahlte fast so wie manche Frauen, die ein Baby erwarten oder den Anfang einer neuen Liebe erleben.
Immer wieder sagte sie sich selbst, wie absurd es war, sich so gut zu fühlen – schließlich hatte sie nichts anderes getan, als einen Kaffee mit einem Fremden zu trinken. Dennoch war dieser junge Mann die bedrohlichste Person gewesen, mit der sie sich je eingelassen hatte: Er war kaum älter als sie selbst, er war
Franzose, sie war ihm noch nie zuvor begegnet und wusste überhaupt nichts von ihm. Obwohl es den Anschein hatte, dass er sie mochte, war er ihr nicht zu nahe getreten, und er hatte auch nichts Furchteinflößendes oder Obszönes gesagt. Er hatte sie nur gefragt, ob sie Lust hätte, einmal mit ihm zu Mittag zu essen – nicht zu Abend, also drohte auch keine große Gefahr. Sally redete sich ein, dass er keine finsteren Gedanken haben konnte, da er ihr ein Restaurant in der Crescent Street im Herzen des englischen Montreal vorgeschlagen hatte. Sie wiegte sich keineswegs in Sicherheit, aber sie war sehr zufrieden mit sich selbst, weil sie es so weit geschafft hatte.
In den nächsten paar Wochen traf sie sich ziemlich oft mit ihm, und sie stellte sicher, dass ihre Freundinnen sie auch in seiner Begleitung zu Gesicht bekamen. Sie erzählte allen von ihm und sprach so oft über ihn, dass ihr Vater, der ohnehin nicht glücklich über diesen Frankokanadier war, eines Abends explodierte, als sie zusammen im Hillside Club Tennis spielten.
»Ständig heißt es: Jean-Pierre tut dies, und Jean-Pierre sagt das. Großer Gott, Sally, kannst du denn über nichts anderes mehr reden?« Er hatte große Mühe, sich zurückzuhalten und ihr zu verschweigen, was er von ihrem Freund hielt. Warum konnte sie nicht mit einem Jungen ausgehen, den sie kannten? Was, um alles in der Welt, war so verkehrt an Peter Fraser zum Beispiel? Oder an Robin McAllister oder Duncan Wentworth?
Louise ihrerseits war ziemlich sicher, dass Sally nie zuvor mit einem Jungen zusammen gewesen war, und obwohl sie nicht erbaut über die Wahl ihrer Tochter war, wollte sie durch Proteste und Diskussionen keinen Schaden anrichten – nicht gerade jetzt, da Sally erste Anzeichen von Normalität zeigte. Auch wenn Brock noch so oft behauptete, Sally sei ein stilles, aber tiefes Wasser und hätte eine Affäre mit einem älteren, einem verheirateten Mann aus ihrem Bekanntenkreis gehabt, war Louise ganz anderer Meinung, obwohl sie wünschte, Sally hätte tatsächlich etwas dergleichen hinter sich. Wenn Brocks Theorie über ihre Tochter und Jack Whymart nämlich der Wahrheit entsprechen würde, dann müsste sie sich nicht so große Sorgen machen. Sie fragte sich, ob Sally mit
diesem Jean-Pierre schlief – sosehr sie den Jungen auch missbilligte, es würde sie doch erheblich beruhigen. Trotzdem vermutete sie, dass sich Sally zurückhielt und niemanden an sich heranließ. Louise war überzeugt, dass sie überhaupt noch nie mit einem Mann im Bett gewesen war. Louise hatte recht: Sally hatte keine sexuellen Erfahrungen, und sie schlief auch nicht mit JeanPierre.
Die nächste Etappe auf Sallys Weg zur Gesundung bildete die Entscheidung, in ein Apartment auf dem Boulevard Saint-Joseph zu ziehen. Bis dahin hatte sie in der Summerhill Avenue gewohnt – eine Adresse, an der kein Mensch der Welt hätte Anstoß nehmen können. Ihre Eltern waren entsetzt und taten alles, um sie von ihrem Entschluss, ins französische Viertel zu übersiedeln, abzubringen, und all ihre Bekannten kamen ihnen zu Hilfe und hielten Sally vor, wie verrückt die Idee war und dass sie riskierte, überfallen, ausgeraubt und vergewaltigt zu werden. Sie würde dort keine Minute überleben können, behaupteten sie, aber Sally blieb hart. Sie musste es tun – sie wusste, dass sie gar keine andere Wahl hatte.
Sallys Umzug war traumatisch. Sie hatte solche Angst, dass sie krank wurde – sie bekam eine Gürtelrose und musste wochenlang das Bett hüten, dennoch gab sie nicht auf. Ihre Eltern holten sie für einige Zeit zu sich nach Hause, aber als es ihr wieder gut genug ging, bezog sie sofort in ihrer neuen Wohnung Quartier.
Jean-Pierre kümmerte sich kaum um sie während ihrer Krankheit, doch sobald sie sich in ihrer Wohnung endgültig niedergelassen hatte, ließ er sich wieder blicken. Ihn reizte, dass er sie nicht dazu bringen konnte, mit ihm ins Bett zu gehen, und es war offensichtlich, dass sie auch niemanden anderen hatte. Er vermutete, dass sie überhaupt noch nie mit jemandem geschlafen hatte, und gerade das rief seinen Eroberungsdrang wach – vielleicht war es ganz lustig, eine Jungfrau zu knacken. Ein für ihn untypischer Instinkt sagte ihm, dass es eine beträchtliche Heldentat wäre, wenn er es schaffen würde, mit diesem Mädchen zu schlafen. Er schlug Sally sogar vor, mit ihr zusammenzuziehen, wurde aber ohne Umschweife zurückgewiesen.
Er erwies sich als erstaunlich geduldig, was sie in Sicherheit wiegte. Während einiger Monate bearbeitete er ihre Psyche, bis sie schließlich einwilligte, abends mit ihm auszugehen. Eine ganze Woche lang führte er sie jeden Abend zum Essen aus, bis er sie an einem glorreichen Dienstag nach einem fürchterlichen Kampf überredete, anschließend einen Nachtclub zu besuchen.
Mehr Zugeständnisse konnte sie nicht machen. Trotzdem entwickelte sich zwischen ihnen eine Art Routine – sie hatten nicht viel gemeinsam, und es fiel ihnen sonst nichts ein, was sie hätten zusammen unternehmen sollen: Sie aßen jeden Abend gemeinsam und gingen danach in einen Club. Zuerst erschienen Sally die Bars ziemlich finster und gefährlich, aber allmählich gewöhnte sie sich an die Atmosphäre, überwand ihre Ängste und entdeckte einen neuen Lebensstil, der ihr gut gefiel.
Sie lebte ihre Liebe zum Tanzen voll aus, und sie mochte es, sich in Gesellschaft der Franzosen zu den Melodien von Charlebois und Pagliaro zu wiegen. Was noch schwerer wog, war die Tatsache, dass sie die primitive Sinnlichkeit in den verrauchten, sexbetonten Spelunken anregend fand.
Schon bald tanzte sie Wange an Wange mit Jean-Pierre, sie ließ sich von ihm küssen, erlaubte es, dass er sie berührte und fest in den Armen hielt. Wie eine Halbwüchsige, die plötzlich die Welt der Sünde entdeckt, fühlte sie sich erwachsen und weiblich, und – was noch wichtiger war, weil sie das bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen unterdrückt hatte – sie entwickelte eine Form der Sexualität und konnte sie auch ansatzweise ausdrücken.
Es dauerte nicht lang, bis Jean-Pierre die Veränderungen an Sally auffielen, und er versuchte wieder, sie ins Bett zu bekommen, diesmal hatte er beinahe Erfolg. Er brachte Sally so weit, dass sie sich fast ganz von ihm ausziehen ließ, aber dann ergriff sie die Panik, und sie weigerte sich, sich neben ihn ins Bett zu legen.
Noch bevor er protestieren oder ihr etwas klarmachen konnte, hatte sie ihre Kleider übergestreift und forderte ihn zum Gehen auf.
Nach dieser Begebenheit wiederholte sich Abend für Abend dasselbe Spielchen, und es endete immer in demselben jämmerlichen Debakel. Schließlich hielt es Jean-Pierre nicht mehr aus. Er sagte ihr auf den Kopf zu, dass sie psychisch krank sei, vollkommen verrückt, eine totale Niete. Er tobte und nannte sie eine Göre, die die Männer bis zum Äußersten reizte und sie dann zum Teufel schickte, und ein eiskaltes Monster, das sich seinen Spaß aus der Quälerei machte.
»Du bist frigide!«, brüllte er. »Du solltest schleunigst zu einem Seelenklempner gehen und dich dort auf die Couch legen. Du kannst ehrlich nicht ganz dicht sein! Du bist eine durchgedrehte Schlampe. Was stimmt eigentlich nicht mit dir? Bist du lesbisch, oder was? Das ist es, was? Ich hätte es mir gleich denken sollen. Jesus, ich habe mich doch tatsächlich mit einer Lesbe eingelassen! Du widerst mich an. Wir sind fertig miteinander. Ich will dich nie wieder sehen.«
Sally hockte wie ein Häuflein Elend mit tränenüberströmtem Gesicht da – sie war unfähig, sich zu verteidigen oder irgendetwas zu erklären.
Das war die letzte Begegnung mit Jean-Pierre. Er knallte die Tür lautstark hinter sich zu und verschwand für immer aus ihrem Leben.
Sally dachte über die Dinge nach, die er ihr vorgeworfen hatte. Er hatte in gewisser Weise recht gehabt, und sie wusste das auch. Sie war offensichtlich verrückt, und obwohl sie keine lesbischen Neigungen zu haben glaubte, fühlte sie sich eindeutig in der Gesellschaft von Frauen wohler als in der von Männern.
Einen Monat später rief Louise Sally im Büro an, um ihr mitzuteilen, dass ihr Patenonkel wieder in Montreal war. »Er kommt morgen Abend zum Essen zu uns. Dein Vater und ich, wir würden uns freuen, wenn du auch kommen würdest.«
»Gern, um wie viel Uhr?«
»Wir haben ihn für halb acht eingeladen, aber für dich wäre es wahrscheinlich einfacher, du würdest gleich von der Arbeit herfahren, wenn man bedenkt, wo du wohnst.«
»Gut, dann bin ich um sechs Uhr da, wenn es euch recht ist.«
7
Carson Mackenzie und Brock Hamilton kannten sich seit ihrer Kinderzeit, ihre Familien waren schon seit drei Generationen befreundet. Carson und Brock waren am selben Tag eingeschult worden, hatten dasselbe Internat und dieselbe Universität – McGill – besucht. Brock studierte Jura und Carson politische Wissenschaften; er hatte immer vorgehabt, viel zu reisen, und sich einen Beruf ausgesucht, bei dem dies möglich war.
Carson widmete sich sofort nach seinem Studienabschluss dem politischen Journalismus, und mit dreißig wurde er Auslandskorrespondent für die CBC Nachrichten. Die nächsten dreiundzwanzig Jahre war sein Hauptstandort London gewesen, aber er fuhr regelmäßig nach Paris, Bonn und Beirut und unternahm kurze Reisen, um aus den jeweiligen Krisengebieten der Welt zu berichten.
Jetzt, mit dreiundfünfzig Jahren, kehrte er nach Montreal zurück, weil er es im Gegensatz zu früher leid war, in der Weltgeschichte herumzugondeln. Er war froh, dass er seine Karriere mit einem Posten bei Radio International Canada beenden konnte. Wenn er ehrgeiziger oder in Geldnöten gewesen wäre, hätte er sicherlich die weit bedeutsamere und lukrativere Stelle angenommen, die ihm die CBC in Toronto angeboten hatte, aber wie alle echten Montrealer mochte er Toronto überhaupt nicht und hielt die Stadt immer noch für dasselbe fürchterliche Nest, das es in seiner Jugendzeit gewesen war.
Sally Hamilton war drei Jahre alt gewesen, als Carson Montreal verlassen hatte, aber er war im Laufe der Jahre hin und wieder zu einem kurzen Besuch in die Stadt gekommen, um seine Familie und die Freunde zu besuchen. Allerdings hatte er Sally zum letzten Mal gesehen, als sie mit fünfzehn Jahren im Landhaus ihrer Eltern in den Laurentians einen heißen Sommer verbracht hatte. Schon damals hatte er sie für ungewöhnlich hübsch gehalten, aber als er jetzt zu den
Hamiltons kam, war er ehrlich überrascht, zu welcher Schönheit sie herangewachsen war.
Carson hatte nicht nur eine stattliche Körpergröße, sondern war auch eine starke Persönlichkeit. Er liebte es, im Mittelpunkt zu stehen, und war ein unverbesserlicher Frauenheld. Schon auf den ersten Blick fiel ihm auf, dass Sally, obwohl sie eine Augenweide war, besonders sensibel und angreifbar erschien, und er fühlte sich dazu getrieben, Eindruck auf sie zu machen.
Während des Essens erzählte er ohne Punkt und Komma von Gewehrkugeln, die ihm um die Ohren geflogen waren, während er auf einem Balkon in Beirut gesessen und einen Drink zu sich genommen hatte, und schilderte, wie er sich gefühlt hatte, als die Granaten um ihn herum einschlugen und er einen Artikel über die Geschehnisse diktieren musste. Normalerweise hätte die Prahlerei keinen Eindruck auf Sally gemacht, aber Carson hatte noch einen Pluspunkt: Er war humorvoll und witzig und konnte gut erzählen. Zudem war er freundlich und hatte großes Mitgefühl mit Sally. Obwohl die Hamiltons nach all den Jahren kaum noch die Erfahrungen, die ihre Tochter in Paris gemacht hatte, erwähnten, wusste Carson ebenso viel davon wie jeder andere, denn Brock hatte ihn damals sofort angerufen und ihn gefragt, wie man am besten mit der französischen Polizei umging. Carson hielt sich in Bonn auf, als es ierte, aber er kannte Paris ziemlich gut und konnte Brock ein paar Namen von Leuten nennen, die ihm sowohl bei der kanadischen Botschaft als auch bei der Préfecture weiterhelfen konnten. Natürlich war nicht viel bei Brocks Bemühungen herausgekommen, da Sally sich geweigert hatte mitzuarbeiten, trotzdem hatten Polizei und Botschaft ihr Möglichstes getan, den Hamiltons in dieser misslichen Lage beizustehen.
Brock hatte sich vor dem Essen mit Carson im Ritz zu einem Aperitif getroffen und ihm von den Sorgen erzählt, die Sally ihm bereitete. »Sie hatte ein paar Monate einen frankokanadischen Freund«, sagte er. »Ich war ganz und gar nicht mit ihm einverstanden, das kann ich dir sagen, aber ich habe den Mund gehalten, weil Louise glaubte, dass Sally durch ihn allmählich wieder normaler wird.«
»Wann war das, und wie lange ging die Sache?«, wollte Carson wissen.
»Vor ungefähr sieben oder acht Monaten ist sie das erste Mal mit ihm ausgegangen. Eine Zeit lang hat sie von nichts anderem mehr gesprochen, aber plötzlich war Ruhe, ich weiß auch nicht, warum. Sally hat nie ein Wort darüber verloren und seinen Namen nie wieder erwähnt.«
»Glaubst du, sie hat einen neuen Freund?«
»Soweit wir wissen, nicht. Louise meint, dieser Jean-Pierre war der einzige, den sie jemals hatte, ist jedoch überzeugt, dass sie nicht mit ihm geschlafen hat. Sie hat meiner Meinung nach recht. Früher einmal habe ich mir eingebildet, sie hätte eine Affäre mit Jack Whymart, aber das war ein Irrtum, wie ich später erfuhr. Ich bin fast sicher, dass sie noch nie mit einem Mann im Bett war. Natürlich will ich nicht, dass meine Tochter zum Flittchen wird – das möge Gott verhüten –, aber sie ist sechsundzwanzig, um Himmels willen! Auch das würde mich nicht so sehr beunruhigen, wenn sie nicht die ganze Zeit so verängstigt wirken würde. Es scheint keine Möglichkeit zu geben, ihr die Angst zu nehmen. Sie fürchtet sich noch zu Tode.«
»Ihr hättet sie zu einem Psychoanalytiker bringen sollen …« Als er Brocks Miene sah, fügte Carson hastig hinzu: »Du weißt, dass ich die Burschen eigentlich nicht ausstehen kann – ich hatte noch nie was für sie übrig –, aber Sallys Fall ist offenbar sehr ernst. Sie braucht Hilfe, das musst du einsehen. Sie braucht professionelle Hilfe.«
»Mein Gott, Carson, glaubst du wirklich, wir hätten das noch nicht versucht? Zwei Jahre lang haben wir auf sie eingeredet, aber sie wollte nichts davon hören.
Sie sagte, dass sie niemandem etwas erzählen würde, auch keinem Psychiater. Einmal habe ich sie einem Analytiker vorgestellt, den wir kennen – einem Kerl namens Fisher, du kennst ihn auch, oder? Ich habe ihn dazu gebracht, mit uns zusammen im University Club zu essen. Als er gegangen war, sagte ich Sally, dass er ein Psychiater ist und sich für sie Zeit nehmen würde, falls sie seine Hilfe in Anspruch nehmen wollte. Du hättest ihre Reaktion erleben sollen! Sie klammerte sich an mich, flehte mich an und jammerte: ›Du kannst mich doch nicht mit diesem Mann allein in einem Zimmer lassen. Das darfst du nicht! Ich kann mich nicht auf eine Couch legen, wenn ein Wildfremder im Zimmer ist.‹«
»Na ja, das kann ich verstehen. Brock, denk doch mal nach – du kannst nicht ernsthaft von ihr verlangen, dass sie sich mit einem fremden Mann sozusagen in einem Zimmer einschließt. Besonders nicht, wenn sie sich bei der Therapie hinlegen muss. Schick sie zu einer Frau – nur eine Frau kann sie behandeln.«
»Auch das haben wir probiert. Wir haben sie gedrängt, zu dieser Frau zu gehen, die Angie Belmont empfohlen hat. Sally marschierte nach fünf Minuten aus dem Sprechzimmer. Sie war wütend auf Louise, weil sie sie hingebracht hatte, und sagte: ›Wie kannst du erwarten, dass ich einer solchen Person irgendetwas anvertraue? Sie ist eine Idiotin, und meine Angelegenheiten gehen sie sowieso nichts an. Ich werde niemandem auch nur das Mindeste erzählen, also lasst mich endlich in Ruhe.‹ Was sollten wir machen? Wir konnten sie ja nicht hinprügeln. Was hättest du getan?«
»Ich weiß es auch nicht. Möchtest du, dass ich mal mit ihr rede?«
»Sie wird dir auch nichts sagen, so gut kenne ich sie. Aber ein Versuch kann ja nichts schaden, denke ich. Vielleicht nimmt sie wenigstens einen Rat von dir an.«
»Ich lade sie einfach zum Mittagessen ein und sehe, was ich aus ihr herausbekomme.« Er schwieg eine Weile, dann setzte er hinzu: »Sie war zu jung, um allein nach Paris zu fahren, Brock. Es ist eine verrufene Stadt, und sie war erst sechzehn.«
»Das ist uns jetzt auch klar. Aber sie war damals wild entschlossen, besser Französisch zu lernen. Ich denke, die vielen Ferien, die wir in Südfrankreich verbrachten, haben den Wunsch in ihr geweckt, mehr von dem Land kennenzulernen … Wie auch immer, wir haben sie ja nicht fahren lassen, ohne Vorkehrungen zu treffen. Sie sollte bei einer Freundin von Annabel Horton wohnen, also wäre sie nicht ganz allein gewesen.«
»Hast du nicht gesagt, sie hätte ein chambre de bonne gehabt?«
»Sie wohnte in der Mansarde, weil es in der Wohnung der Familie kein Gästezimmer gab, aber es war nur ein Stockwerk höher. Sie sollte die Mahlzeiten mit den Leuten einnehmen und wie ein Familienmitglied bei ihnen wohnen. Es war einer dieser unglücklichen Zufälle, dass die Großmutter der Gastgeber starb und sie überstürzt nach Burgund reisen mussten, gerade als Sally ankam. Ich fürchte nur, die unselige Geschichte wäre auch iert, wenn sie nicht weg gewesen wären. Sie hätten ja nicht von morgens bis abends an ihrer Seite kleben können.« Brock starrte unglücklich in sein Glas. »Sie waren schrecklich betroffen, als das alles ierte.«
Bei dem Abendessen schenkte Carson Sally seine volle Aufmerksamkeit, und sie war hocherfreut darüber. Sie hatte ihn zwar immer schon gemocht, aber vergessen, wie unterhaltsam er war. Als er ihr vorschlug, seine Heimkehr bei einem Mittagessen zu feiern, sagte sie bereitwillig zu.
»Ich habe deinen Schulabschluss, deinen einundzwanzigsten Geburtstag und wer
weiß, was sonst noch alles, versäumt«, sagte Carson zu ihr. »Ich war ein lausiger Patenonkel, aber jetzt möchte ich das wenigstens ein bisschen wiedergutmachen. Magst du Schalentiere? Austern? Hummer? Gut, dann gehen wir ins Desjardins und schlagen uns den Bauch voll. Ich hoffe, das Essen dort ist noch so gut wie früher. Deine Eltern meinen, es ist noch immer fast dasselbe.«
Als es Zeit zum Aufbruch wurde, bot er ihr an, sie nach Hause zu bringen, aber sie lehnte ab wie immer, wenn ein Mann sie im Auto mitnehmen wollte. Brock verzog hinter ihrem Rücken das Gesicht und sagte laut: »Nein, Carson, heute nicht. Ich fahre Sally abends, wenn es dunkel ist, immer selbst heim, nicht wahr, Liebes?«
Sie warf ihrem Vater einen erleichterten Blick zu. »Ja, danke.« Sie hatte das Gefühl, dass sie ihrem Patenonkel eine Erklärung schuldig war, und wandte sich ihm zu. »Dad gefällt die Gegend nicht, in der ich wohne, deshalb besteht er darauf, mich bis zur Wohnungstür zu bringen. Er glaubt, dass die Saint-Joseph voller Banditen, Mörder und sonstigem Gesindel ist.«
»Du wohnst tatsächlich in der Saint-Joseph?«, rief Carson aus. »Wie, zum Teufel, bist du auf diese absurde Idee gekommen?«
»Ich mag die Franzosen«, erwiderte sie schlicht.
»Wirklich? Na, das kommt aber äußerst selten in dieser Stadt vor. Schön – mein Patenkind hat Mumm, wer hätte das gedacht? Ihr könnt ehrlich stolz auf eure Tochter sein«, sagte er zu Brock und Louise. »Das nenne ich Mut.« Er bedachte Sally mit einem breiten Lächeln, das seine Zweifel blendend kaschierte.
8
Ein paar Tage später sah Carson Mackenzie Sally zu, wie sie Austern schlürfte, und ihm kam der Gedanke, dass es eine schreckliche Verschwendung war, wenn eine junge, hübsche Frau ein solches Leben wie sie führte. Sie war eine gute Unterhalterin, humorvoll, interessiert, und ihre Schönheit war auf seltsame Weise anrührend. Als sie ihm so gegenübersaß und von einer lustigen Begebenheit erzählte, die sich in ihrem Büro abgespielt hatte, fiel es ihm schwer, sich an ihren verängstigten, geradezu gehetzten Gesichtsausdruck zu erinnern, der ihn so erschreckt hatte, als sie in das Restaurant gekommen war.
Sie hatte sich entsetzlich verspätet, ihr Gang war unsicher und schwankend, fast als könnte sie sich kaum mehr auf den Beinen halten oder würde gleich ohnmächtig zu Boden sinken. Sie blieb neben der Tür stehen und sah sich mit einem panischen Blick um. Carson schwenkte die Speisekarte durch die Luft, um sie auf sich aufmerksam zu machen, aber sie starrte ins Leere, ohne irgendetwas wirklich wahrzunehmen, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und rannte hinaus, als wären ihr alle Höllenhunde auf den Fersen.
Carson sprang auf und lief ihr nach. Auf der Straße holte er sie ein und legte ihr eine Hand auf die Schulter, um sie zurückzuhalten, ehe sie sich zu einer Gruppe von Frauen flüchten konnte, die gerade die Straße überqueren wollte. Sie reagierte mit erstaunlicher Heftigkeit, als sie seine Hand spürte. Ein Beben wie nach einem Stromschlag durchlief ihren Körper. Er spürte, dass sie angespannt war wie die Saiten einer Gitarre. Dann wirbelte sie herum wie nach einem Peitschenschlag, ihre Augen waren weit aufgerissen und dunkel vor Angst, als sie ausholte und ihn mit ihrer Faust, die sich in Stahl verwandelt zu haben schien, traf.
»Sally!«, schrie er. »Sally, was ist los mit dir, um Gottes willen?«
Ihr Blick änderte sich schlagartig, als sie erkannte, wen sie vor sich hatte, und sie schnappte erschrocken nach Luft. »O Carson, es tut mir entsetzlich leid«, keuchte sie. »Ehrlich, ich wusste nicht, dass du es bist.« Sie sah ihn unglücklich an. »Ich habe dir doch nicht ernsthaft wehgetan, oder? Wie schrecklich von mir! Es tut mir wirklich leid. Ich habe einfach nicht gemerkt, dass du es bist.«
»Sally, mach dir keine Gedanken um mich«, beschwichtigte er sie und nahm ihren Arm. »Es macht wirklich nichts. Komm, unser Tisch wartet auf uns. Lass uns gehen und etwas zu essen bestellen.«
Jetzt wartete er, bis sie mit ihren Austern fertig war, schenkte ihr Chablis nach und beobachtete, wie sie dem Hummer zu Leibe rückte. »Es schmeckt köstlich«, schwärmte sie. »Ich kann mich nicht erinnern, je so gut gegessen zu haben. Schön, dass du wieder in Montreal bist und hierbleibst.«
»Sally, was war vorhin mit dir los? Warum bist du weggelaufen? Und für wen hast du mich gehalten, als ich dich auf der Straße eingeholt habe?«
Sally rutschte unbehaglich auf dem Stuhl hin und her und täuschte vor, Schwierigkeiten mit den Hummerscheren zu haben.
»Komm, ich helfe dir«, bot ihr Patenonkel an, während er sich über den Tisch beugte und ihr die Scheren aufbrach. »Sally, bitte, sag mir, was los war, ich werde auch mit niemandem darüber reden. Ich versichere dir, dass mich nicht so schnell etwas erschüttert, aber ich kann dir vielleicht helfen. Wäre das nicht einen Versuch wert?«
Sie bedachte ihn mit einem kläglichen Blick. »Das alles ist viel zu kompliziert«, erwiderte sie und seufzte.
»Natürlich ist es kompliziert. Ich vermute, es ist verdammt schwierig, aber gerade deswegen ist es wichtig, dass du darüber sprichst. Wozu sind Patenonkel da, wenn sie nicht in schwierigen Situationen helfen?« Sie lächelte jämmerlich.
»Hör mal, Sally, ich war verheiratet, habe mich im Laufe der Jahre ganz schön herumgetrieben und meinen Spaß gehabt – ich war bei Saufgelagen dabei, die tagelang dauerten, und habe mich mit Huren vergnügt. Ich habe zugesehen, wie meine Frau an Krebs starb. Eins meiner Kinder ist aus der Gesellschaft ausgestiegen, und das andere wurde mit fünfzehn Jahren schwanger. Einige meiner Freunde sind Junkies oder sonst wie ausgeflippt. Ich habe Kriege beobachtet, dem Tod ins Auge gesehen und erlebt, wie Kinder von Granaten zerfetzt wurden. Ich war nicht in der Lage, meinem Freund das Leben zu retten – er war auf eine Mine getreten und schwer verwundet, und ich konnte ihn nicht rechtzeitig wegbringen. Er starb vor meinen Augen. Du kannst mir glauben, dass ich auch Albträume habe. Nichts, was du mir erzählst, kann mich schockieren. Ich bezweifle sogar, dass es etwas sein könnte, was ich nicht schon einmal von jemand anderem gehört oder irgendwo gesehen habe.«
»Okay«, sagte Sally. »Ich werd’s versuchen. Aber du musst mir schwören, dass du mit niemandem darüber sprichst.«
»Ich schwöre es – kein Mensch wird etwas von mir erfahren. Ich habe zwar eine Menge Fehler, aber ich habe noch nie das Vertrauen eines anderen missbraucht.« Er wartete, aber Sally fummelte wieder nervös an ihrem Hummer herum. Er füllte erneut ihr Glas. »Trink noch ein bisschen Wein«, empfahl er. »Vielleicht hilft es dir. Das alles hat etwas mit Paris zu tun, nicht wahr?«
»Ja.«
»Was ist dort geschehen?«
Sie gab keine Antwort.
»Sally, ich bin sicher, dass du dieser Hölle entfliehen kannst, sobald du darüber sprichst. Du wirst dich nie befreien, wenn du die Last nicht mit jemandem teilen kannst. Warum gibst du dir nicht einen Ruck und vertraust dich mir an?«
»Das will ich ja … aber es ist so schwer. Ich bin selbst nicht sicher, was genau iert ist. Manchmal denke ich, dass ich mir alles nur eingebildet habe.«
»Gut, lass uns annehmen, du hättest dir wirklich alles eingebildet. In gewissem Sinn spielt es gar keine Rolle, ob es tatsächlich vorgefallen ist oder nicht. Das einzig Wichtige ist die Wirkung, die die Dinge – diese Fantasien, wenn du so willst – auf dich ausgeübt haben und noch ausüben. Erzähl mir, woran du dich zu erinnern glaubst. Du fühlst dich bestimmt gleich viel besser, wenn du dir alles von der Seele redest.«
»Versprichst du mir, dass du meinen Eltern nichts erzählst?«
»Ich gebe dir noch einmal mein Wort, dass keine Menschenseele etwas von mir erfährt – weder deine Eltern noch sonst jemand.«
Er merkte, dass sie mit sich kämpfte. Ihre Augen wurden trüb, und sie zitterte sichtlich. Carson streckte die Hand aus und legte sie beruhigend auf die ihre. »Keine Angst, Sally, ich werde dir nicht wehtun.«
»Er hat immer wieder gesagt, dass wir Liebe machen sollen«, flüsterte sie, ohne Carson anzusehen. Sie hielt ihren Kopf gesenkt.
»Wer war er?«, fragte Carson nach einer Weile des Schweigens.
»Ich weiß es nicht.« Sie schaute auf, und Carson sah, dass Tränen über ihre Wangen rollten. »Ich weiß es nicht«, wiederholte sie. »Ich habe ihn nie zuvor in meinem Leben gesehen.«
»Wo hat sich das Ganze abgespielt?«
»In seinem Zimmer … wenigstens nehme ich an, dass es sein Zimmer war. Es war unter dem Dach. Du weißt schon, eins von diesen chambres de bonne.«
»Das Zimmer, in dem du gewohnt hast?«
»Nein, natürlich nicht«, entgegnete sie ungehalten. »Ich sagte doch, es war sein Zimmer. Warum hätten wir bei mir sein sollen? Ich kannte den Kerl ja nicht einmal.«
»Wo hast du dich mit ihm getroffen?«
»Ich habe mich nicht mit ihm getroffen, das will ich dir die ganze Zeit schon klarmachen – ich habe ihn nie in meinem Leben gesehen!« Sie wurde noch nervöser und sah sich ängstlich um.
»Beruhige dich, Sally. Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst.« Er nahm wieder ihre Hand. »Wie bist du in dieses Zimmer gekommen?«
»Das weiß ich nicht mehr. Er hat mich hingebracht, vermute ich. Da waren diese vielen Treppen, aber ich erinnere mich nicht mehr an sie.«
»Du musst dich daran erinnern, sonst würdest du nicht von ihnen sprechen.«
»Ich weiß noch, dass ich sie hinunterlief, ich habe aber keine Ahnung mehr, wie ich hinaufgekommen bin. Wie ich schon sagte, das Zimmer war unter dem Dach im sechsten Stock. Ich muss hinaufgegangen sein, aber ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie.«
»Hat er dich gebeten, mit ihm in sein Zimmer zu gehen?«
»Nein, er hat mich einfach hingebracht.«
»Wie? Hat er dich getragen?«
»Ich weiß es nicht. Ich kann mich an diesen Teil wirklich nicht mehr erinnern.«
»Wo wart ihr, bevor er dich in sein Zimmer gebracht hat?«
»Auf der Straße.«
»Vor seinem Haus?«
»Als wir ankamen, ja. Er sagte: ›Voilà chez moi‹, deshalb dachte ich, dass er dort wohnte.«
»Wo war das, ich meine, in welchem Teil von Paris?«
»Ich weiß es nicht.«
»Ungefähr. Du musst doch eine Ahnung haben, in welchem quartier du warst.«
»Nein, habe ich nicht«, versetzte sie. »Ich kenne mich in Paris nicht aus. Ich war doch nur ein paar Tage dort, und außerdem ist er so schnell gefahren.«
»Er hat dich zu dem Haus gefahren?«
»Ja.«
»Gut, und wo warst du, als du in sein Auto gestiegen bist?«
»Auf der Straße.«
»Auf welcher Straße?«
»Keine Ahnung.« Sie zappelte wieder auf ihrem Stuhl herum. »Ich bin gerannt – so schnell, dass ich die Straßenschilder nicht sehen konnte.«
»Warum bist du gerannt?«
»Weil ich vor ihm weglaufen wollte.«
»Wo hat das alles angefangen?«
»In einem Café.«
»Hast du mit ihm zusammen gegessen?«
»Selbstverständlich nicht. Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich ihn gar nicht kannte. Wie konnte ich dann mit ihm essen? Ich habe in dem Lokal gesessen und allein einen Kaffee getrunken. Ich wollte mir Notre-Dame ansehen, also muss das Café in der Nähe gewesen sein.«
»War er auch dort?«
»Ja. Er kam an meinen Tisch und belästigte mich. Du weißt schon … er hat mich gefragt, ob ich Engländerin oder Deutsche bin und so. Er setzte sich einfach hin und ließ mich nicht mehr in Ruhe. Kein Mensch hat mir geholfen. Von Anfang bis zum Ende war niemand da, der mir geholfen hat – nicht einmal der Polizist … Ich will nicht mehr darüber sprechen.« Sie brach in Tränen aus.
Carson ließ sie eine Weile weinen, schließlich fragte er: »Sprichst du zum ersten Mal über diese Sache?« Sie nickte. »Du machst das großartig«, lobte er sie. »Gib jetzt nicht auf. Ich weiß, wie schwer es für dich ist, das kannst du mir glauben, aber es ist eine große Erleichterung, wenn man einmal alles loswird. Trotzdem ist hier nicht der richtige Ort für ein solches Gespräch. Möchtest du mit zu mir kommen und mir dort den Rest erzählen?«
Er begriff sofort, dass er einen Fehler begangen hatte. Sally sprang auf und hatte wieder diesen leeren Blick. Carson eilte ihr nach, als sie zur Tür lief. »Tut mir leid«, sagte er, als er ihren Arm zu fassen bekam. »Geh nicht. Bitte, geh nicht weg. Ich hätte dir diesen Vorschlag nicht machen dürfen, das war wirklich dumm von mir.« Sie wollte sich von ihm losreißen, aber er hielt sie fest. »Schau mich an, Sally – sehe ich aus wie jemand, der dir etwas antun will? Komm, wir setzen uns wieder hin. Lass uns einen Kaffee trinken.« Er spürte, wie die Spannung aus ihr wich. »Komm – komm und setz dich mit mir an unseren Tisch.«
»Alle starren mich an«, flüsterte sie, während sie in ihrer Handtasche nach einem
Taschentuch kramte.
»Ja und? Darum brauchst du dich nicht zu kümmern. Diese Leute geht das alles gar nichts an, aber wenn es dir lieber ist, brechen wir sofort auf. Wir können den Kaffee genauso gut woanders trinken.«
»Tut mir leid«, sagte sie, als er sie zurückführte. »Ich wollte mich nicht so schlecht benehmen, es ist nur …«
»Du brauchst mir nichts zu erklären, dein Verhalten war nur allzu verständlich, und du hast dich nicht schlecht benommen. Möchtest du noch einen Kaffee, oder soll ich die Rechnung verlangen?«
»Ich würde gern gehen, wenn es dir recht ist.«
»Gut, dann bezahle ich gleich.«
Sobald sie im Freien waren, versuchte Sally erneut, sich aus dem Staub zu machen. »Danke, Carson«, sagte sie. »Du warst sehr freundlich, und das wundervolle Essen habe ich ehrlich genossen, es war köstlich.«
»Was ist mit dem Kaffee? Lass uns zu Murray’s gehen – es sei denn, du würdest lieber einen Spaziergang zum Ritz machen. Dort gibt es den besten Kaffee in der Stadt.«
»Das ist lieb von dir, aber ich muss jetzt wirklich gehen. Ich habe heute Nachmittag noch einiges zu erledigen.«
»Was hast du heute zu erledigen? Um Himmels willen, Sally, es ist Samstag. Du hast das ganze Wochenende Zeit. Ich bin sicher, das kann warten. Möchtest du vielleicht einen Milchshake oder etwas anderes statt Kaffee?«
»Nein, danke, ich muss ehrlich gehen. Wiedersehen, Carson, und noch mal vielen Dank.« Sie machte sich entschlossen auf den Weg, aber Carson gab nicht auf und blieb an ihrer Seite. Er hatte nicht vor, sie allein zu lassen, bevor sie ihm die ganze Geschichte erzählt hatte. Er ahnte, dass er sie nie wieder so weit bringen würde, über ihre Erinnerungen zu reden, wenn er jetzt lockerließ, und dann würde sie sich niemals von der Last befreien.
»Hör mal«, sagte er, als sie die Mackay Street hinaufgingen, »ich weiß, dass du nicht darüber sprechen möchtest, aber ich halte es für ausgesprochen wichtig, dass du mir alles erzählst. Wir müssen ja keinen Kaffee trinken oder in ein Lokal gehen. Wir können einfach durch die Gegend spazieren, auf den Berg gehen oder zum Haus deiner Eltern – wohin du willst. Es ist mir egal, was wir tun, aber ich lasse dich nicht allein, bis du über die Sache geredet hast. Es ist zu wichtig. Du wirst nie frei sein, wenn du dich nicht zwingst, jetzt darüber zu sprechen.«
Sally suchte nach Ausflüchten, aber schließlich willigte sie ein, in Carsons Gesellschaft zu bleiben – nur Paris erwähnte sie mit keinem Wort, als sie kreuz und quer durch die Stadt schlenderten. Sie führte Carson an all die Plätze, die in ihrer Kindheit eine Rolle gespielt hatten. Er ahnte, dass sie uralte Erinnerungen heraufbeschwören musste, um sich auch den Zwischenfall wieder ins Gedächtnis zu rufen, den sie so viele Jahre in den tiefsten Tiefen ihres Bewusstseins vergraben hatte. Sie blieben vor dem Haus ihrer Großeltern stehen, gingen an ihrer alten Schule vorbei und über den Campus von McGill, um der RedpathBibliothek einen kurzen Besuch abzustatten, und setzten sich auf eine Bank auf dem McTavish, den Sally als Kind so sehr geliebt hatte.
Sie sahen sich das Sun-Life-Gebäude an, tranken Tee im Ogilvy’s und gingen an dem Kloster vorbei, das Sally früher so große Angst gemacht hatte. Sie durchquerten Montreal hin und zurück.
Und als wäre das noch nicht genug, schleppte Sally ihren leidgeprüften Patenonkel durch die Sherbrooke Street nach Westmount, auf den Mount Pleasant und zum Rosemount Crescent. Als sie die Cedar Avenue erreichten, war Carson bereits vollkommen außer Atem.
»Mein Gott, Sally«, keuchte er, als es wieder bergauf ging, »hab ein Herz, ich bin dreiundfünfzig. Ich bin ein alter Mann und muss mich hinsetzen.«
»Du kannst dich ausruhen, wenn wir oben sind. Erst müssen wir zur Sunnyside und die Treppen hinaufklettern.« Trotzdem gestattete sie ihm, einen Moment zu verschnaufen, während sie Montreal, das sich vor ihr ausbreitete, überblickte. »Ist es nicht wunderschön?«, fragte sie. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass es irgendwo auf der Welt schöner ist als hier.«
Endlich erreichten sie die Belvedere, und Carson sank erschöpft auf eine Bank. Sally stützte ihre Ellbogen auf das Mäuerchen und betrachtete den St. Lawrence. Sie schien Ruhe und Frieden aus dem Anblick der Stadt, dem riesigen Strom und dem Mount St. Hillary und dem Mount St. Bruno, die in den letzten Strahlen der untergehenden Sonne glühten, zu schöpfen.
Sally gefiel es, dass Montreal eine Insel war, das verlieh ihr Sicherheit. Sie liebte es, von Wasser umgeben zu sein, auf einem Berg zu stehen und auf die Stadt und das Wasser hinunterzusehen.
Es wurde schon dunkel, als sie sich von der atemberaubenden Aussicht losriss und sich ihrem Patenonkel, der noch immer auf der Bank kauerte, zuwandte. »Jetzt bin ich okay«, sagte sie. »Wir können reden, wenn du möchtest. Wir brauchen nicht hier zu bleiben. Wir können irgendwo hingehen, wo es wärmer ist.«
»Das wäre ein Segen«, erwiderte er lächelnd. »Ich weiß ja nicht, wie es mit dir ist, aber ich könnte einen Drink vertragen. Wohin willst du?«
»Ich weiß nicht. Mach du einen Vorschlag.«
Carson dachte einen Moment nach. »Wir könnten in den University Club gehen«, meinte er. »Da sind sicher nicht so viele Leute.«
Sie überraschte ihn mit der Bemerkung: »Ich denke, deine Wohnung wäre besser.«
»Bist du sicher?«
»Ja, ich glaube schon. Ich fürchte mich nicht mehr – ich weiß auch nicht, warum.«
»Gut, dann lass uns ein Taxi suchen …«
Der entsetzte Zug in ihrem Gesicht war nicht zu übersehen.
»Sag bloß nicht, dass du auch Angst vor Taxis hast«, sagte Carson. »Komm schon, Sally, du bist nicht allein. Wir sind zu zweit, vergiss das nicht. Kein Mann würde dir etwas antun, wenn ein anderer in unmittelbarer Nähe ist.«
»Ich würde lieber zu Fuß gehen«, erwiderte sie. »Deine Wohnung ist nicht weit von hier.«
»Na ja, so nah ist es nun auch wieder nicht. Aber wenn du unbedingt willst …« Er erhob sich seufzend von der Bank und fügte sich in sein Schicksal.
»Du hast große Geduld mit mir gehabt«, sagte Sally, als sie den Berg hinuntergingen. »Ich bin dir sehr dankbar. Tut mir leid, dass ich dir so zur Last gefallen bin.«
»Du bist mir keineswegs zur Last gefallen. Vielleicht ist es sogar ganz gut für mich, wenn ich mich viel an der frischen Luft bewege.«
9
Carson hatte eine große Wohnung in einem Häblock in Westmount Square. Sally wirkte auf dem Weg vollkommen entspannt, bis sie das Haus betraten. In Carson kochte die Wut hoch, als sie in Panik geriet und sich weigerte, den Aufzug zu benutzen. Carson verbarg seine Empfindungen und forderte sie nur auf: »Könntest du mir bitte erklären, warum du so nervös wirst, wenn du mit mir in einen Lift steigen sollst, nachdem es dir schon nichts mehr ausmacht, mit in meine Wohnung zu kommen?«
»Ich fühle mich so eingeengt in einem Fahrstuhl. Ich kann mich nicht in einem geschlossenen Raum aufhalten, wenn ich nicht jederzeit eine Tür aufmachen kann. Aber du kannst ja hinauffahren, ich gehe zu Fuß.«
»Gut«, sagte Carson. »Das Angebot nehme ich an, ich fürchte nach dem Gewaltmarsch von heute Nachmittag schaffe ich die vier Stockwerke nicht mehr.«
Er erwartete sie oben auf der Türschwelle zu seiner Wohnung. Sally sah ihn furchtsam an, und Carson wusste nicht, wie er sie beruhigen sollte.
»Möchtest du als Erste in die Wohnung gehen? Oder willst du, dass ich hineingehe und die Tür offen lasse? Wie ist es dir lieber?« Er beobachtete ihre Augen, während er auf eine Antwort wartete.
»Geh du zuerst«, sagte sie. »Macht es dir was aus, wenn ich die Tür offen lasse?«
»Selbstverständlich nicht. Du kannst das handhaben, wie du willst. Ich bin im Wohnzimmer, da drüben.«
Er durchquerte den Flur und ging in einen Raum auf der rechten Seite. Sally folgte ihm nach ein paar Minuten, nachdem sie das Schloss der Wohnungstür genauestens untersucht hatte, um sicherzugehen, dass sie keine Schwierigkeiten haben würde, wenn sie schnell Reißaus nehmen musste. Beruhigt drückte sie die Tür zu und ging auch ins Wohnzimmer. »Ich habe die Tür doch zugemacht«, verkündete sie. »Du hast doch nichts Komisches vor, oder?«
»Natürlich nicht. Lieber Gott, Sally, für wen hältst du mich? Sieh her, ich sitze hier, und du kannst dich da drüben niederlassen – wenn du laut genug sprichst, verstehe ich dich gut. Ich werde mich nicht von der Stelle rühren, das verspreche ich. Aber erst würde ich uns beiden gern mit deiner Erlaubnis einen Drink holen. Ich jedenfalls kann einen brauchen, das sage ich dir, und ich könnte mir vorstellen, dass es dir nicht anders geht. Bist du einverstanden, wenn ich mich darum kümmere?«
»Klar.« Sie lachte gezwungen, blieb aber eisern in der Tür stehen.
»Was möchtest du haben?«
»Was trinkst du?«
»Einen doppelten Rye mit Eis, wenn du nichts dagegen hast, dass ich in die Küche gehe und Eis hole.«
»Geh nur. Ich stelle mich solange an die Wohnungstür.« Sie ging durch den Flur und machte die Tür zum Treppenhaus auf.
Jesus, dachte Carson, das kann ja heiter werden, wenn es so weitergeht. Er kam sich wie ein heimtückischer Mörder, den man in seinen eigenen vier Wänden gestellt hat, oder wie ein Psychopath unter strengster Bewachung vor, als er vorsichtig in die Küche schlich und die Eiswürfel aus dem Gefrierfach holte.
»Du hast mir noch nicht gesagt, was du trinken möchtest«, rief er. »Willst du einen Rye mit Ginger? Eine Bloody Mary? Ich mache aber auch einen großartigen Martini, wenn du etwas haben möchtest, das dir die Schädeldecke abhebt.«
»Ich nehme einen Rye mit Ginger«, rief Sally zurück.
»Mit oder ohne Eis?«
»Mit Eis bitte.«
»Schön, wird bereits serviert.« Er tauchte mit einem Tablett, auf dem einige Flaschen Gingerale und ein Eisbehälter standen, am anderen Ende des Korridors auf. »Der Rye und die Gläser sind im Wohnzimmer – ich rufe dich, wenn ich deinen Drink fertig habe, okay?« Er verschwand im Wohnzimmer und schrie einen Moment später: »Dein Glas steht auf dem Tisch neben dem Sofa. Ich sitze mit meinem Drink ganz am anderen Ende des Zimmers. Du kannst reinkommen, ich bewege mich nicht vom Fleck, es sei denn, du gestattest es mir
ausdrücklich.«
Sally schloss die Eingangstür wieder und betrat zögerlich das Wohnzimmer. Carson saß, wie er es angekündigt hatte, am anderen Ende des Raums und hielt ein großes Glas in der Hand. Sally ließ sich auf dem Sofa nieder und nahm den Drink, den er ihr hingestellt hatte.
»Gratuliere«, sagte er. »Du hast für einen Nachmittag ganz schön viel geschafft. Du hast dir den Drink ehrlich verdient.«
Sally lächelte unsicher, hob ihr Glas und trank einen kleinen Schluck.
»Also«, begann Carson nach einem kurzen Schweigen. »Wo waren wir stehen geblieben? Du bist weggelaufen, aber dann bist du in dem Auto von diesem Kerl gelandet. Wieso bist du eingestiegen?«
»Ich bin nicht eingestiegen – ich weiß nicht mehr, wie ich in das Auto gekommen bin.«
»Hat er dich aufgefordert, mit zu ihm nach Hause zu fahren?«
»Nein.«
»Was hat dich dazu gebracht, dich in den Wagen zu setzen? Hat er dir angeboten, dich heimzubringen?«
»Nein.« Sie trank noch einen Schluck. »Wenigstens glaube ich das nicht. Ich kann mich ehrlich nicht daran erinnern, warum ich plötzlich im Auto saß. Vielleicht habe ich das alles ja auch nur erfunden – ich habe all die Einzelheiten vergessen, deshalb könnte es auch reine Fantasie sein. Ich muss mir die ganze Sache eingebildet haben.«
»Davon bin ich keineswegs überzeugt, Sally. Immerhin bist du im Krankenhaus gelandet. Was ist das Letzte, woran du dich erinnerst – ich meine, was war vor dieser Autofahrt?«
»Ich bin hingefallen, konnte aber aufstehen und weiterlaufen. Ich habe versucht, mich durch die parkenden Autos zu quetschen. Plötzlich sprang eine Autotür direkt vor mir auf, und ich hatte keinen Platz mehr, auszuweichen. Er muss in dem Wagen gesessen und die Tür aufgestoßen haben. Ich weiß nicht, wie er dahin gekommen ist – ich verstehe es überhaupt nicht. Ich weiß nicht einmal, wo genau das war.«
»Na, wahrscheinlich hat er dich irgendwie auf den Beifahrersitz gezerrt. Vielleicht hat er dich auch auf den Kopf geschlagen, und du warst für einen Moment nicht bei Bewusstsein. Erinnerst du dich, ob du eine Wunde am Kopf hattest?«
»Nein.«
»Wie auch immer er es geschafft hat, es scheint zumindest so, als hätte er dich regelrecht entführt, meinst du nicht auch?«
»Ja … ja, ich denke schon.«
»Gut. Und was geschah dann?«
»Er fuhr los – ziemlich schnell. Ich weiß ehrlich nicht, wohin. Irgendwann waren wir an den quais – am rechten Ufer; ich bin mir sicher, dass es das rechte war. Wir überquerten die Place de la Concorde – vorher, glaube ich –, und ich hämmerte mit den Fäusten an das Fenster, um die Aufmerksamkeit der Leute auf mich zu ziehen.«
»Warum hast du nicht einfach das Fenster heruntergekurbelt?«
»Es gab keine Kurbel, sie war abgebrochen. Ich habe geschrien und gegen die Scheibe getrommelt, aber er hat das Radio so laut gedreht, dass niemand etwas hören konnte. Er sagte: ›Du kannst so viel Krach machen, wie du willst, niemand wird dich hören.‹«
»Hat er englisch oder französisch gesprochen?«
»Französisch. Er war Franzose. Er hat überhaupt nur französisch gesprochen.«
»Hat niemand bemerkt, dass du an das Fenster klopfst?«
»Doch, der Gendarm, aber er hat nichts unternommen.«
»Was für ein Gendarm?«
»Da stand einer mitten auf der Place de la Concorde. Das sind keine Gendarmen, ich weiß – es sind Verkehrspolizisten, aber ich nenne sie Gendarmen. Er stand auf einem runden Podest, oder wie immer man das nennt. Er hat mich auf jeden Fall gesehen und gewinkt.«
»Er hat dir zugewinkt?«
»Ja … komisch, nicht wahr? Er dachte, ich würde ihm winken! Er sah so lächerlich aus mit diesem kurzen Cape. Wir sind an ihm vorbeigerast.«
»Und er ist direkt zu diesem Haus gefahren?«
»Ja.«
»Und dort sagte er: ›Voilà chez moi.‹ Hat er sonst noch was gesagt?«
»Nein. Wenn doch, dann erinnere ich mich nicht mehr daran. Ab da weiß ich überhaupt nichts mehr, erst als wir oben waren, habe ich alles wieder bewusst wahrgenommen.«
»Gut. Woran erinnerst du dich als Nächstes?«
Sally starrte auf ihre Hände, dann nahm sie ihr Glas vom Tisch und schaute es an, als hätte sie es nie zuvor gesehen. Sie neigte es vorsichtig erst nach rechts, dann nach links und beobachtete, wie sich die Eiswürfel darin bewegten.
Carson wartete.
»Was ist dann iert?«, hakte er nach einer Weile nach.
Sally fragte statt einer Antwort: »Kann ich noch ein bisschen Eis haben?«
»Klar. Möchtest du dich selbst bedienen, oder soll ich es dir holen? Es ist in dem Eisbehälter dort drüben.«
»Ich hole es mir selbst.« Sie stand auf und ging zur Anrichte. Carson registrierte, dass sie ihn dabei nicht aus den Augen ließ, und bewegte keinen Muskel. Er musste warten, bis sie wieder saß, erst dann konnte er es wagen, sein Glas vom Tisch zu nehmen. In diesem Moment, das war ihm klar, wäre sie am liebsten davongelaufen. Eine falsche Bewegung oder Bemerkung, und er hätte alles verdorben.
Lange Zeit sagte keiner von beiden etwas, bis Carson schließlich vorschlug: »Wie wär’s mit noch einem Schluck Rye, wenn du schon dabei bist. Sieht so aus, als könnte dein Glas noch einen Nachschlag gebrauchen.«
»Ja, ich denke, ich möchte noch einen Schluck. Kann ich mir selbst etwas
nehmen?«
»Das weißt du doch. Du kannst tun und lassen, was immer du willst.«
»Du möchtest auch noch etwas, nicht wahr? Wirst du sitzen bleiben, wenn ich dir die Flasche bringe?«
»Selbstverständlich. Ich lasse mein Glas da auf dem Tisch stehen. Du kannst mir jederzeit die Flasche auf dem Schädel zertrümmern, wenn ich auch nur niese.« Er lachte – mehr aus Nervosität als über den lahmen Scherz.
Sally lachte auch, aber unsicher. »Ich weiß, dass ich mich albern benehme«, sagte sie. »Es tut mir leid, aber ich kann nicht anders.«
»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf. Das Ganze ist eher lustig, es könnte ein neues Partyspiel werden. So was findet bestimmt großen Anklang.«
Sally lachte wieder, diesmal klang es echt. Sie stellte ihr Glas auf die Anrichte, goss sich Rye und Gingerale nach und ging mit der Flasche in der linken Hand auf Carson zu. Mit der Rechten umklammerte sie den Flaschenöffner – es war eines von diesen altmodischen Dingern mit einem scharfen Metalldorn, mit dem man Löcher in Dosen stanzen konnte. Sie hielt den Öffner wie einen Dolch, und Carson war bewusst, dass sie vorhatte, ihn damit zu durchbohren, wenn er sich bewegte. Sie füllte sein Glas auf und beobachtete ihn dabei, dann huschte sie rückwärts wie ein Krebs wieder zur Anrichte. Sie ist entschlossen, mir nicht den Rücken zuzukehren, dachte Carson. Wie, zum Teufel, ist nur ihr französischer Freund mit ihr zurechtgekommen?, fragte er sich. Er wartete, bis sie sich wieder auf dem Sofa niedergelassen hatte, dann fragte er: »Du hattest doch einen
französischen Freund, oder? Hast du ihn auch so behandelt wie mich jetzt?«
»Am Anfang schon. Nach einer Weile, als ich mich an ihn gewöhnt hatte, nicht mehr.«
»Darf ich dir eine ganz persönliche Frage stellen, auch wenn es mich nichts angeht?«
»Möglicherweise gebe ich dir keine Antwort, aber du kannst es ja versuchen.«
»Hast du mit ihm geschlafen?«
»Nein.«
»Aber ihr seid eine ganze Weile zusammen gewesen, oder?«
»Ja.«
»Hast du ihm irgendetwas von deinem Erlebnis in Paris erzählt?«
»Nein.«
»Er hat doch sicher versucht, mit dir ins Bett zu gehen, stimmt’s?«
»Ja.«
»Ist eure Beziehung deshalb zu Ende?«
»Ja.«
»Wolltest du nicht mit ihm schlafen?«
»Nein. Eigentlich dachte ich am Anfang, ich würde wollen … ich habe es mir theoretisch vorgestellt. Ich glaubte, ich müsste es tun. Du weißt schon, ich dachte, dass …« Ihre Stimme versickerte, doch nach einer längeren Pause fügte sie hinzu: »Ich konnte es nicht. Es war einfach unmöglich, und das war’s dann.«
»Lass uns wieder über Paris sprechen. Kannst du mir erzählen, was ierte, als ihr in dem Zimmer wart?« Sally wurde unruhig und zappelig, und Carson bat leise: »Komm, Sally, versuch es.«
Sie nahm ein Sofakissen an sich und presste es an ihre Brust. »Ich kann nicht«, jammerte sie mit dünnem Stimmchen. »Es ist entsetzlich peinlich. Ich möchte nicht einmal daran denken. Ich will nie wieder auch nur einen Gedanken daran verschwenden.«
»Er hat versucht, dich zu vergewaltigen, nicht wahr?«
»Es war so widerlich … ich habe mich fürchterlich geekelt. Ich kam mir so schmutzig vor. Du kannst dir nicht vorstellen, wie schmutzig … Ich will nicht darüber reden«, schloss sie und fing an zu weinen.
Carson hätte sie gern getröstet und wünschte, er könnte sie in die Arme nehmen und ihr über den Kopf streichen. Sie drückte das Kissen fest an sich und wiegte sich vor und zurück, während sie ihren Tränen freien Lauf ließ.
»Du hast keinen Grund, dich schmutzig zu fühlen«, sagte er. »Er war derjenige, der sich wie ein Schwein benommen hat. Das musst du unbedingt begreifen. Was auch immer er dir angetan hat, es war nicht deine Schuld. Bitte, erzähl mir, was geschehen ist. Hat er dich ausgezogen? Wenn du dir alles von der Seele redest, bist du endlich frei von allem. Dann ist es ein für alle Mal vorbei.«
»Es ist mir fürchterlich peinlich. Ich kann nicht …«
»Ich habe dir schon beim Essen gesagt, dass es nichts gibt, was mich in Verlegenheit bringen könnte. Natürlich bin ich über das, was iert ist, entsetzt wie jeder, der von einer solchen Geschichte hört. Aber du schockierst mich nicht, ich bin nicht entsetzt über dich. Kein Mensch verurteilt dich, und niemand gibt dir die Schuld an dem Vorfall, das musst du einsehen.«
Sally wiegte sich immer noch vor und zurück und drückte das Kissen fest an sich. »Er hat mich geschlagen«, murmelte sie endlich mit gesenktem Kopf. »Er hat mir sein Knie in den Bauch gerammt und mit seinem Gürtel auf meine Brust und die Beine eingeschlagen – mit der Gürtelschnalle.« Sie vergrub ihr Gesicht in dem Kissen und flüsterte: »Es hat wehgetan. Ich glaube nicht, dass er fest zugeschlagen hat, aber trotzdem hat es sehr wehgetan.«
»Was für ein Mistkerl!«, rief Carson aus. »Lieber Himmel, Sally, wie schrecklich.«
»Er hat immerzu ganz leise gesagt, dass wir Liebe machen würden. Er hatte eine ganz sanfte Stimme – du ahnst nicht, wie sanft sie geklungen hat. Er nannte mich ›chérie‹ und ›mon amour chérie‹. Er hat nicht … du weißt schon … er hat keine schlimmen Worte benutzt …«
»Du meinst …«
»Ich meine, er hat nicht ›baiser‹ oder so was gesagt. Seine Stimme klang so einschmeichelnd und lieb, und er hat immer wieder geflüstert: ›On va faire l’amour un peu‹, aber dabei hat er mir immer wieder sein Knie in den Bauch gestoßen oder sich auf meine Arme gekniet und sich … na ja, zur Schau gestellt. Er hat mich gewürgt und mit dem Gürtel ausgepeitscht.« Sie wollte ihrem Patenonkel von der Bierflasche erzählen, die er in sie hineinstoßen wollte, die jedoch vorher zerbrochen war – aber sie war so verlegen, dass sie keine Worte fand.
»Wie lange hat das alles gedauert?«
»Ich weiß es wirklich nicht. Mir erschien es wie eine Ewigkeit, aber irgendwie bilde ich mir ein, es hätte zwei Stunden gedauert – ich weiß auch nicht, wie ich darauf komme. Es könnte auch nur eine halbe Stunde gewesen sein.«
»Hat er dich vergewaltigt? Ich meine, so richtig? Sonst hat er dir ja in jeder
Hinsicht Gewalt angetan.«
»Nein. Er hat mich nicht vergewaltigt. Ich glaube, er hatte es ursprünglich vor, vielleicht aber auch nicht. Ich frage mich manchmal, ob das alles überhaupt tatsächlich iert ist.«
Carson bemerkte, dass sie ruhiger wurde, während sie redete. Sie hatte aufgehört zu weinen und zum Schluss sogar den Kopf gehoben, obwohl sie Carson immer noch nicht direkt ansehen konnte.
»Wie bist du von dort weggekommen?«
»Keine Ahnung – ehrlich. Ich meine, in der einen Minute dachte ich, ich hätte alles überstanden und er würde mich umbringen, und in der nächsten zerrte er mich vom Bett und schrie mich an, dass ich abhauen solle. Ich kann mir selbst nicht erklären, was genau vorgefallen war. Er war plötzlich ein vollkommen anderer. Er klang überhaupt nicht mehr einschmeichelnd, sondern brüllte mich an und nannte mich eine ›salope‹ und ›petite merde‹, dann schleifte er mich aus dem Zimmer und warf mich die Treppe hinunter – na ja, er hat mir in Wirklichkeit einen Tritt versetzt.«
»Er hat nicht versucht, dir nachzugehen?«
»Nein. Er schrie mir von oben Beleidigungen nach, aber dann ist er in dem Zimmer verschwunden und hat die Tür hinter sich zugemacht.«
»Wie bist du zur Gare St. Lazare gekommen? Dort hat man dich doch gefunden, oder nicht? Glaubst du, dass die Sache dort in der Nähe iert ist?«
»Nein, ich denke, es war nicht dort, aber sicher bin ich mir nicht. Ich bin überhaupt nicht mehr sicher, ob alles tatsächlich so abgelaufen ist. Ich erinnere mich, wie ich die Treppen hinuntergekrochen bin. Unten habe ich mich aufgerichtet, und ich weiß noch, dass ich keine Ahnung hatte, wo ich war, aber ich dachte, dass ich eine Metro-Station finden müsste, wenn ich immer weiter geradeaus gehen würde, und dass ich dann herausfinden könnte, wie ich am besten zu Madame Bonnards Wohnung käme – dort hatte ich ein Zimmer. Dann weiß ich nur noch, dass plötzlich Sanitäter und viele Leute um mich herum standen.«
»Gütiger Gott, Sally, was für eine grauenvolle Geschichte. Warum, um alles in der Welt, hast du nie mit jemandem darüber gesprochen? Man hätte ihn vielleicht ausfindig machen können, wenn du damals etwas gesagt hättest.«
»Ich weiß, aber ich war nicht in der Lage dazu. Ich kann es dir nicht erklären. Ich habe mich so sehr geschämt … Und außerdem konnte ich mich am Anfang an nicht viel erinnern. Es hat Jahre gedauert, bis mir das, was ich dir gerade erzählt habe, nach und nach einfiel. Während eines Zeitraums von zwei oder drei Jahren kamen die Erinnerungen bruchstückweise zurück.«
»Na, aber jetzt hast du es geschafft – du hast es fertiggebracht, mit jemandem über die Dinge, die dich so sehr belasten, zu reden – ist dir das eigentlich klar? Ich bin wirklich stolz auf dich.«
»Du wirst doch niemandem etwas erzählen? Du hast mir versprochen, es nicht zu tun.«
»Ich habe es versprochen, und ich halte Wort. Ich bin viel zu froh, dass du so großes Vertrauen zu mir hattest, als dass ich es durch irgendein unbedachtes Gerede verraten könnte. Nur eines solltest du wissen: Ich bin für dich da, wenn du mich brauchst oder vor etwas Angst hast. Dein Dad ist mein ältester und engster Freund, auch mit deiner Ma bin ich befreundet. Ich würde alles für sie oder für dich tun. Vergiss das nicht.«
Sally lächelte und sah ihm zum ersten Mal seit einer halben Stunde in die Augen. »Ich bin dir von Herzen dankbar, Carson. Du hattest so viel Geduld mit mir … Es ist nur … ich habe die meiste Zeit entsetzliche Angst. Es ist schrecklich. Ich fürchte mich so sehr …« Plötzlich brach sie wieder in Tränen aus und stürmte quer durch den Raum auf ihn zu. Carson sprang auf und breitete die Arme aus. Sie warf sich an seine Brust und schluchzte haltlos.
»Es ist ja gut, Sally«, sagte er, schloss sie in seine Arme und strich ihr übers Haar. »Alles wird wieder gut, du wirst sehen.« Er vermutete, dass ihr das Weinen guttat, deshalb ließ er sie an seiner Schulter schluchzen und unternahm nichts. Ihm fiel nichts ein, was er hätte sagen können, aber als er merkte, dass ihre Tränen allmählich versiegten, strich er ihr noch einmal über den Kopf. »Es wird alles gut, Sally«, wiederholte er.
»Ich muss mir die Nase putzen«, schniefte sie und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Im Bad steht eine Schachtel mit Papiertaschentüchern – bediene dich. Auf dem Flur die zweite Tür links.«
Carson schenkte sich noch einen Drink ein, während Sally draußen war. Er war ausgelaugt nach all den Gefühlsausbrüchen und Offenbarungen und überlegte, was er jetzt mit Sally anfangen sollte. Sollte er sie nach Hause schicken, damit sie sich richtig ausschlafen konnte? Wenn sie sich weigerte, ein Taxi zu nehmen, würde sie ihm vermutlich erst recht nicht erlauben, sie nach Hause zu bringen –
was, zum Teufel, sollte er tun? Er konnte sie schlecht mit der U-Bahn fahren lassen, also würde er sie zu Fuß begleiten müssen, aber das war das Letzte, was er sich jetzt wünschte. Er dachte fieberhaft nach, wo in dem Stadtviertel, in dem sie wohnte, eine U-Bahn-Station war. In diesem Teil von Montreal kannte er sich überhaupt nicht aus.
»Willst du irgendwo zu Abend essen?«, fragte er Sally, als sie zurückkam. »Oder soll ich dich lieber nach Hause bringen?«
»Ich glaube, ich möchte jetzt heim, wenn es dir recht ist. Ich bin auf einmal todmüde.«
»Das überrascht mich nicht – nach dem Gewaltmarsch heute Nachmittag und dem langen, anstrengenden Gespräch musst du ja total erschöpft sein. Sag mir, wie du normalerweise nach Hause kommst.«
»Eigentlich gehe ich abends selten aus dem Haus. Wenn doch, dann habe ich mein Auto dabei und fahre selbst. Heute habe ich es stehen lassen, weil ich wusste, dass es auf der Mackay keine Parkplätze gibt, und weil ich dachte, dass ich nach dem Mittagessen gleich wieder heimgehen würde. Tagsüber nehme ich gewöhnlich die U-Bahn, sie hält direkt gegenüber von meiner Wohnung.«
»Ich kann mir vorstellen, dass es dir nicht recht wäre, wenn ich dich mit dem Taxi heimbringen würde.«
»Es macht mir nichts aus, ein Taxi zu nehmen, wenn du dabei bist«, erklärte sie zu Carsons Überraschung.
»Lieber Gott, das ist wirklich ein Fortschritt! Das erleichtert die Sache erheblich. Ich rufe gleich beim Taxistand an.«
Eine halbe Stunde später hielt das Taxi auf dem Boulevard Saint-Joseph.
»Soll ich dich bis zur Wohnungstür begleiten, oder willst du lieber allein gehen?«, erkundigte sich Carson.
»Jetzt komme ich schon allein zurecht, ich bin daran gewöhnt, und mir geht es wieder gut. Aber du kannst gern mitkommen, wenn du willst.«
»Okay. Ich möchte nur sichergehen, dass du unbeschadet in deine Wohnung kommst, dann bin ich beruhigt.«
Er bat den Fahrer, auf ihn zu warten, und ging mit Sally die Treppe hinauf.
»Gute Nacht, meine Liebe«, sagte er, sobald sie die Tür aufgeschlossen hatte. »Vergiss nicht, dass ich immer für dich da bin, wenn du mich brauchst oder mit jemandem reden willst. Melde dich, wann immer dir danach ist. Du hast doch meine Nummer, oder? Vielleicht kannst du mich morgen anrufen, damit ich weiß, ob es dir gut geht.«
»Gern, aber mach dir keine Sorgen. Mir fehlt nichts, ich bin nur müde.«
»Schön, schlaf dich aus. Gute Nacht, Liebes.«
»Gute Nacht.« Sie sah ihm nach, wie er hinunterging, und rief noch: »Vielen Dank für alles, Carson!«
10
Carson wachte am nächsten Morgen früh beim Läuten der Kirchenglocken auf. In dieser Stadt kann man unmöglich vergessen, dass Sonntag ist, dachte er. In London hatte er nie bewusst Kirchenglocken gehört.
Er war steif von der körperlichen Anstrengung am Vortag. Es muss Jahre her sein, überlegte er, seit ich das letzte Mal so weit zu Fuß gegangen bin. Er wusste, dass er mehr Sport machen müsste, aber schon allein der Gedanke verärgerte ihn – er verabscheute es, daran erinnert zu werden, dass er nicht mehr der junge Mann von einst war.
Er blieb noch eine Weile im Bett liegen, dachte über Sally nach und hoffte, dass sie bei der nächsten Begegnung nicht in Verlegenheit geraten würde, jetzt, nachdem sie ihm die ganze Geschichte erzählt hatte.
Was brachte einen Mann dazu, sich so brutal aufzuführen?, fragte sich Carson. Hätte die Polizei ihn damals aufgespürt, wenn Sally sofort gesagt hätte, was er ihr in diesem Dachzimmer angetan hatte?
Brock hatte seinerzeit erzählt, der französische Arzt sei überzeugt gewesen, dass Sally umgebracht worden wäre, wenn der Angreifer sie richtig vergewaltigt hätte, aber Carson konnte keine Logik in dieser Schlussfolgerung erkennen, und er begriff auch nicht, warum der Kerl Sally erlaubt hatte, einfach so das Haus zu verlassen. War er etwa impotent gewesen und nicht so zum Zug gekommen, wie er es sich vorgestellt hatte? Hatte er sie deshalb ohne Weiteres gehen lassen? Der Arzt musste seine Gründe für die Annahme gehabt haben, dass es Sally das Leben gekostet hätte, wenn es ihr nicht gelungen wäre, eine Vergewaltigung zu
verhindern. Wäre sie für ein kriminelles Gehirn nicht mehr lebenswert gewesen, wenn sie sich hätte geschlagen geben und in ihr Schicksal fügen müssen? Die psychologischen Hintergründe einer solchen Tat konnte Carson nicht ausloten. Vielleicht hatten Ärzte mehr Erfahrungen mit kriminellen Typen dieser Art, als man gemeinhin annahm, und sie erkannten die Verhaltensmuster, die sonst niemandem auffielen.
Es ist seltsam, dachte Carson, dass Sally niemals ein Wort über die Sache verloren hat. Er hatte gelesen, dass Vergewaltigungsopfer unter Schuldgefühlen litten, konnte aber im Leben nicht verstehen, wieso sie sich selbst für die schrecklichen Vorfälle verantwortlich machten. Für Sally, die noch nie mit jemandem geschlafen hatte, muss das Erlebnis noch viel fürchterlicher gewesen sein als für jemanden, der schon einige Affären gehabt hatte. Trotzdem war ihm schleierhaft, wieso sie nicht darüber gesprochen hatte. Er hätte angenommen, dass ihr erster Gedanke hätte sein müssen, den Burschen so schnell wie möglich hinter Schloss und Riegel zu bringen.
Ihm wurde klar, dass er nichts von alldem wirklich begriff, und beschloss, die Grübeleien zu beenden und sich erfreulicheren Dingen zuzuwenden. Vielleicht fand er jemanden, der später mit ihm Tennis spielen würde – plötzlich war es ihm wichtig, in Form zu kommen.
Er stand auf und machte sich Frühstück. Es war ein wunderschöner Spätsommertag. Die Sonne strömte durch die Fenster, und in der ganzen Stadt läuteten die Kirchenglocken in allen Tonlagen. Immer wenn er diese Klänge hörte, erinnerte sich Carson an die unterirdischen Gänge zwischen den verschiedenen Klöstern und Seminaren, Kirchen und Krankenhän, von denen man ihm erzählt hatte, als er ein Kind gewesen war – er dachte auch an die Waisenhä, von denen in diesem Zusammenhang auch die Rede war. Die Gänge, die während des Baus der Notre-Dame-Kirche zum Vorschein kamen, dienten einst als Fluchtwege bei den Angriffen der Irokesen, aber Gegner der katholischen Kirche hatten im frühen 19. Jahrhundert Schauermärchen von Mönchen und Priestern, die über die Nonnen und Novizen in den dunklen
Tunneln herfielen, in Umlauf gebracht. Man behauptete, dass Kinder, die nach diesen Gräueltaten zur Welt kamen, ohne Umschweife in die Kalkgruben unter der Notre-Dame geworfen worden seien. Obwohl die Urheber dieser Geschichten später für andere Dinge in Verruf kamen, war die Saat des Zweifels gesät, und die Protestanten verdächtigten die Priester und Nonnen immer noch, insgeheim ein gottloses Leben zu führen.
Als Carson sein Frühstück beendet hatte, schweiften seine Gedanken wieder unweigerlich zu Sally. Er machte sich Sorgen um sie. Als er um halb elf immer noch nichts von ihr gehört hatte, beschloss er, sie selbst anzurufen.
»Hallo«, sagte er, als sie den Hörer abnahm. »Ich wollte mich nur vergewissern, dass es dir gut geht.«
»Ich glaube, es ist alles okay. Ich bin gerade erst aufgewacht und hatte noch keine Zeit, es genau herauszufinden.«
»Was hast du heute vor?«
»Ich weiß nicht. Vermutlich nicht viel.«
»Hast du Lust, am Nachmittag mit mir Tennis zu spielen? Ich wollte in den Hillside Club.«
»Mensch, du hast ganz schön viel Energie! Ich hätte gedacht, dass du nach dem gestrigen Spaziergang noch vollkommen erledigt bist.«
»Eins kann ich dir sagen, Süße, ich finde es weit weniger anstrengend, ein paar Sätze Tennis zu spielen, als diesen verdammten Berg hinaufzustapfen. Was ist, möchtest du mitspielen?«
»Prima – um wie viel Uhr?«
»Ungefähr um drei?«
»Gut. Ich denke, Dad und Mum sind auch dort. Sie halten sich oft am Sonntagnachmittag im Club auf.«
»Soll ich sie anrufen und fragen, ob sie ein Doppel mit uns spielen?«
»Warum nicht?«
»Fein, ich sehe dich dann um kurz vor drei im Club.«
»Hallo, Brock«, sagte Carson wenige Minuten später, als sich Brock meldete. »Wie wär’s, wenn ihr beide, du und Louise, mit Sally und mir heute Nachmittag im Hillside Club ein Doppel spielen würdet?«
»Gute Idee«, erwiderte Brock, »lass mich das nur schnell mit meinem Boss besprechen.« Carson hörte, wie er nach Louise rief. »Ja«, sagte Brock nach einer
kurzen Unterhaltung mit seiner Frau, »sie ist auch einverstanden. Übrigens – warst du gestern mit Sally beim Essen?«
»Ja.« Carson wünschte, er hätte Brock nichts von seinem Vorhaben erzählt.
»Und sie ist tatsächlich aufgetaucht?«
»Sie war fünfzig Minuten zu spät, aber schließlich ist sie doch gekommen.«
»Verdammt noch mal, sie kommt immer zu spät. Was, zur Hölle, ist nur los mit ihr? Ich kriege es nicht in ihren Kopf, dass Pünktlichkeit ungeheuer wichtig ist. Ich hoffe, du hast ihr die Leviten gelesen – warte nur, bis ich ihr meine Meinung sagen kann.«
»Reg dich nicht auf, Brock, und sag bitte kein Wort zu ihr. Alles war bestens. Sie ist ein prima Mädchen. Du kannst stolz auf sie sein.«
»Konntest du mit ihr reden?«
»Ich habe zumindest eine ganze Menge gesagt, was ihr helfen könnte – ob sie es an sich herangelassen hat oder nicht, weiß ich nicht«, entgegnete Carson in der Hoffnung, so jeder weiteren Frage aus dem Wege zu gehen.
»Ich bezweifle, dass Sally besonders viel an sich herankommen lässt, wenn es um dieses Thema geht. Trotzdem – danke, dass du es versucht hast. Ich hänge
jetzt lieber auf, Louise möchte telefonieren. Wir sehen uns Viertel vor drei im Club.«
»Gut, bis später.«
Louise bemerkte eine Veränderung an ihrer Tochter, als sie sie mit Carson zusammen sah. Die beiden wirkten wie Komplizen. Sie hätte nicht den Finger auf den entscheidenden Punkt legen können, aber sie spürte dennoch, dass etwas anders war.
Sie registrierte, wie besorgt Carson um Sallys Wohlergehen war, und redete sich ein, dass das ihrer Tochter nur guttun konnte. Andererseits kannte sie Carson viel zu gut. Er musste die Frauen einfach umgarnen, besonders wenn sie jung und hübsch waren. Sie hoffte nur, dass er nicht vorhatte, Sally zu verführen.
Sie bat ihren Mann auf der Heimfahrt, ein diskretes Wörtchen mit seinem Freund zu reden. Brock hatte nie erfahren, dass Carson früher auch einmal hinter Louise her gewesen war, aber jetzt war sie ernsthaft versucht, ihm davon zu erzählen, als er die Sache mit einer wegwerfenden Geste abtat.
»Louise, um Himmels willen! Du weißt doch, dass sie sich mit all unseren Freunden gut versteht. Sie fühlt sich sicherer bei ihnen als bei Jungs ihres Alters.«
»Ja, aber diesmal ist es anders … Du brauchst gar nicht den Kopf zu schütteln. Es ist wirklich etwas anderes. Brock, hör mich an. Ich bin ihre Mutter, und Mütter erahnen vieles. Carson hat diesen seltsamen Blick, wenn er mit ihr spricht – er sieht sie irgendwie fürsorglich an.«
»Guter Gott, Louise! Warum sollte er keine Fürsorge empfinden? Ich habe dir doch gesagt, dass ich mit ihm geredet habe – er ist ihr Patenonkel, oder nicht? Was, zum Teufel, erwartest du von ihm? Gleichgültigkeit?« Brock hatte sich in Rage geredet.
Louise hatte noch nie Erfolg damit gehabt, ihn zu beschwichtigen, wenn er in dieser Stimmung war, aber sie versuchte es immer wieder.
»Schon gut, beruhige dich, mein Lieber. Du hast keinen Grund, mich anzuschreien.«
»Ich schreie nicht!«, brüllte er. »Außerdem – was wäre so schlimm daran, wenn Carson Interesse für sie hätte? Er ist mein bester Freund und einer der nettesten, ehrenhaftesten Männer auf diesem Globus. Er hat einen tollen Job und ziemlich viel auf der hohen Kante. Nach dazu hat er Köpfchen – er ist ein prima Kerl, und vielleicht fühlt er sich einsam seit Gails Tod. Hast du vielleicht auch schon mal daran gedacht?«
»Er ist zu alt für Sally, mein Lieber. Möglicherweise ist er einsam nach Gails Tod, aber trotzdem ist er für Sally viel zu alt.«
»Dir wäre es lieber, wenn sie an diesem Jean-Pierre hängen geblieben wäre, was? Du möchtest einen blöden französischen Kanadier zum Schwiegersohn und einen Haufen katholische Enkelkinder, stimmt’s? Sie wären alle Katholiken, ist dir das klar? Und Sally würde enden wie die ganze frankokanadische Brut – ohne Zähne, weil sie zu viel süßes Zeug in sich hineinstopft, und mit einer schreienden Kinderschar, die an ihrem Rockzipfel hängt.«
»Ich habe nie gesagt, dass ich mir wünsche, sie würde Jean-Pierre heiraten. Ich finde nur, dass Carson zu alt für sie ist.«
»Na, bis jetzt hatte sie weiß Gott nicht gerade viele Verabredungen – die Auswahl ist nicht sehr groß für Sally. Soweit ich weiß, war Jean-Pierre bis jetzt der Einzige, mit dem sie sich abgegeben hat. Ich wäre an deiner Stelle nicht zu pingelig, Louise, oder deine Tochter endet als alte Jungfer.«
11
Carson war in den folgenden Tagen sehr beschäftigt, und er hatte nicht viel Zeit, an Sally zu denken. Sie wiederum dachte viel über ihren Patenonkel nach und hoffte, dass er sich bei ihr melden würde, aber als er eine ganze Woche lang kein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, fasste sie sich ein Herz und rief ihn in der Redaktion an.
»Tut mir leid, wenn ich dich störe, Carson. Du hast bestimmt viel um die Ohren, aber es gibt etwas, worüber ich mit dir sprechen möchte. Es hat etwas mit dem zu tun, was ich dir neulich erzählt habe.«
»Wo bist du?«
»In meinem Büro.«
»Kannst du reden?«
»Nein.«
»Möchtest du mit mir zu Abend essen?«
»Hast du nicht etwas anderes vor?«
Eigentlich sollte er ein Feature für die Newsweek schreiben, aber das würde warten müssen. »Ich wollte arbeiten«, erwiderte er, »aber mir wäre es recht, wenn ich einen Vorwand hätte, das bis morgen zu verschieben.«
»Bist du sicher?«
»Ganz sicher. Ich muss die Arbeit ohnehin erst am Wochenende fertig haben, sie kann also ganz gut noch einen Tag liegen bleiben.«
»Fein, ich würde mich freuen. Diesmal komme ich mit meinem Wagen, dann brauchst du mich nicht nach Hause zu bringen. Wo sollen wir uns treffen?«
»Wie wär’s mit der Maritime Bar im Ritz? Dort kann man auch ganz anständig essen. Ich bin seit meiner Rückkehr noch nicht dort gewesen, jedenfalls …« Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. »Sally? Bist du noch dran?«
»Ja, entschuldige. Ich habe nur nachgedacht. Mir fällt es ziemlich schwer, ein Lokal ohne Begleitung zu betreten – um ehrlich zu sein, abends habe ich das überhaupt noch nie getan. Würde es dir was ausmachen, wenn ich dich von deiner Wohnung abhole und wir zusammen hingehen?«
»Nein, keineswegs. Komm nur, dann können wir erst noch was trinken, wenn du möchtest.«
Sally war in Hochstimmung, als sie die vier Stockwerke zu Carsons Wohnung
hinaufstieg. Noch vor einer Woche wäre sie unfähig gewesen, so etwas zu tun, und jetzt hatte sie kein bisschen Angst.
Carson wusste ziemlich genau, was ihn erwartete. Er war überzeugt, dass sie heute ungefähr das Gleiche durchmachen würden wie letztes Mal, aber als er Sally die Tür aufmachte, merkte er sofort, dass er sich geirrt hatte.
Sally begrüßte ihn mit einem freundlichen Lächeln. »Hallo, Carson«, sagte sie und drückte ihm einen Kuss auf die Wange.
Er trat einen Schritt beiseite, um es ihr zu ermöglichen, die Tür zu schließen, wenn sie wollte. Sie zog sie tatsächlich zu. Dann wartete er, ob sie ohne Probleme ins Wohnzimmer gehen würde – auch das tat sie, und er folgte ihr.
»Was darf ich dir anbieten?«, fragte er. »Was würdest du diesmal von einem Cocktail halten? Ich mache ganz anständigen Daiquiri, wenn du einen möchtest.«
»Sehr gern«, erwiderte sie, ging zum Sofa und setzte sich.
»Was macht die Arbeit?«, erkundigte sich Carson, als er Rum, frischen Zitronensaft und flüssigen Rohrzucker im Cocktailshaker mixte.
»Sie ist okay, das heißt, außer …« Sie beendete den Satz nicht.
»Außer was?«, fragte Carson nach, während er zerstoßenes Eis in den Mixer füllte und noch einmal alles kräftig durchschüttelte.
»Na ja, die Männer, die in die Fälle verwickelt sind … es sind durch die Bank sadistische Rohlinge. Es ist unglaublich, was sie ihren Frauen alles antun. Ich frage mich wirklich, ob überhaupt ein Mann normal ist. Sogar wenn wir zu zweit oder zu dritt sind, um mit diesen brutalen Kerlen zu reden, wie wir es tun müssen, sind die Situationen ziemlich bedrohlich. Du hättest den sehen sollen, mit dem ich heute verhandeln musste … Uns blieb keine andere Möglichkeit, als die Polizei zu rufen.« Sie schwieg, solange Carson den Shaker noch ein letztes Mal aus dem Handgelenk schüttelte, dann fragte sie: »Warum sind Männer so gewalttätig? Kannst du mir das erklären?«
»Du darfst nicht alle Männer nach denen beurteilen, mit denen du es beruflich zu tun hast. Die meisten Männer sind ganz anders, das versichere ich dir. Es liegt an deinem Job, dass du nur die brutalen, versoffenen Typen siehst, die ihre Frauen misshandeln. Ich denke, du solltest dich nach einer anderen Betätigung umsehen. Wenn du weiterhin diese Fälle bearbeitest, wird es nicht leicht für dich, die Angst vor Männern zu überwinden – sie wird höchstens noch schlimmer.«
»Ich weiß«, gab Sally zu, »aber ich muss es einfach tun. Ich habe das Gefühl, dass ich damit eine Schuld bezahle …«
»Eine Schuld? Um Himmels willen, worüber sprichst du überhaupt? Du schuldest keiner Menschenseele etwas.«
»Na ja, vielleicht ist es eher Pflichtbewusstsein als Schuldgefühl«, murmelte Sally und sah zu, wie Carson die Drinks eingoss. »Ich bin immerhin am Leben, obwohl ich eigentlich tot sein sollte, und ich muss, so gut ich kann, verhindern, dass so etwas einem anderen Menschen iert. Diese Frauen brauchen
jemanden, der sich für sie einsetzt … Es ist schwer, das zu erklären – ich muss es eben tun, das ist alles.«
Carson durchquerte mit den Drinks den Raum und beobachtete Sally dabei wie ein Luchs – er war darauf gefasst, sofort den Rückzug anzutreten, wenn sie nervös oder ängstlich wurde. Aber es schien ihr nichts auszumachen, dass er sich ihr näherte, also ging er weiter, bis er neben ihr war und ihr das Glas in die Hand drücken konnte. Immer noch war er nicht sicher, wie sie auf seine Nähe reagieren würde, deshalb nahm er nicht neben ihr, sondern in dem Sessel auf der anderen Seite des Raums Platz.
»Also«, begann er, »worüber wolltest du mit mir sprechen?«
Plötzlich sah sie sich unbehaglich um und schlug die Beine übereinander. »Es ist dumm«, sagte sie leise.
»Ich weiß, dass dir das ganz albern erscheinen muss, aber da ich dir schon so viel anvertraut habe, denke ich, dass ich dir auch den Rest erzählen sollte.«
»Gut.«
»Ich erinnere mich an sein Äußeres, aber ich weiß beim besten Willen nicht mehr, wie sein Gesicht ausgesehen hat, verstehst du das? Er hatte helles, ziemlich dichtes Haar, es war gut geschnitten, das weiß ich noch ganz genau – er hatte einen schicken französischen Haarschnitt –, aber ich kann mich überhaupt nicht mehr an sein Gesicht erinnern. Es ist verrückt. Ich hatte sein Gesicht praktisch die ganze Zeit direkt vor mir, und ich habe vollkommen vergessen, wie es aussah.«
»Offensichtlich hast du es aus deinem Gedächtnis gelöscht.«
»Ja, aber es ist lächerlich. Ich habe nicht einmal eine Ahnung, welche Farbe seine Augen hatten. Manchmal denke ich, er hatte graue Augen – grau oder blau –, aber dann wieder bin ich fast sicher, sie waren braun. Ich weiß nicht mehr, ob das Gesicht hager oder dicklich war, ob es schmal, rund oder eher eckig war. Er hätte ein ausgeprägtes oder gar kein Kinn haben können. Vielleicht hatte er sogar Pickel oder Narben – ich weiß es einfach nicht mehr.«
»Ich glaube, das ist ganz normal. Du willst sein Gesicht nicht vor deinem geistigen Auge sehen, und deshalb hast du es verdrängt.«
»Aber das beunruhigt mich.«
»Wieso?«
»Weil ich es wissen will. Ich möchte mich daran erinnern, wie er ausgesehen hat.«
»Suchst du nach ihm?«
»Irgendwie ja. Auf gewisse Weise suche ich ständig nach ihm.«
»Warum, um Gottes willen?«
»Weil er irgendwo da draußen herumläuft und wer weiß was anstellt. Er wird mich aufspüren, das weiß ich. Und ich möchte ihn kommen sehen. Ich muss wissen, wie er aussieht.«
»Ich bitte dich, Sally, er ist in Paris, wenn er nicht schon längst hinter Schloss und Riegel sitzt, was ziemlich wahrscheinlich ist. Du kannst ziemlich sicher sein, dass er inzwischen eingesperrt ist. Leute, die solche Dinge tun, kommen nicht ungeschoren davon – über kurz oder lang werden sie gefasst. Außerdem ist Paris dreitausend Meilen weit weg. Er hat bestimmt nicht vor, nach Montreal zu kommen. Das alles ist doch schon so lange her – neun oder zehn Jahre. Es ist vorbei, Sally. Vergangenheit.«
»Das ist leicht gesagt, aber ich empfinde es anders. Ich fühle, dass etwas an mir ihn dazu gebracht hat, das zu tun. Es war definitiv etwas, was mit mir zu tun hatte. Ich bin sicher, dass er mich immer noch sucht. Ich weiß es.«
»Sei nicht albern. Er war geistesgestört, krank. Mit ziemlicher Sicherheit hat er seit damals noch anderen bedauernswerten Mädchen Gewalt angetan, und bestimmt hat man ihn längst erwischt und verhaftet.«
Sally starrte blicklos an die Wand und hörte gar nicht mehr zu. »Er will sicher nicht, dass ich überall herumlaufe und den Leuten von ihm erzähle«, murmelte sie. »Früher oder später kriegt er mich. Ich weiß es.«
Carson bemühte sich nach Kräften, sie davon abzubringen, aber sie war wie in Trance. Sie hatte den Blick immer noch auf die Wand gerichtet, und ihre Augen
waren trüb. Offenbar bekam sie kein Wort von dem mit, was er sagte. Vielleicht hörte sie nicht einmal seine Stimme.
»Sally«, rief Carson nach einer Weile. »Sally, du musst mir zuhören.«
Sie drehte den Kopf in seine Richtung. Tränen schimmerten in ihren Augen. »Weißt du, was er getan hat?«, fragte sie dumpf, als würde sie ein Selbstgespräch führen. »Er hat eine Flasche auf meiner … zwischen meinen Beinen zertrümmert und sein … du weißt schon, was, hergezeigt und direkt über meinem Gesicht hin und her geschwenkt. Er hat mich damit geschlagen und … das Ding in mein Gesicht gerammt, in meine Haare – es war plötzlich überall.« Sie schluchzte. »Es war ekelhaft. Es war so schrecklich! Ich konnte es nicht ertragen. Ich wünschte, das alles wäre nie geschehen. O Gott, wie sehr ich mir das wünsche!« Sie ließ sich auf das Sofa fallen und vergrub ihr Gesicht in den Polstern. Ihr ganzer Körper wurde von einem Weinkrampf geschüttelt.
Carson hatte keine Ahnung, was er tun sollte. Er wartete eine Weile ab – er wagte es nicht, sich von der Stelle zu rühren, aber als die Schluchzer auch nach geraumer Zeit nicht nachließen, stand er auf und ging unsicher auf sie zu. Er fürchtete, dass sie im nächsten Moment aufspringen und zur Tür rennen würde. Sie blieb jedoch, wo sie war.
Carson kauerte sich neben sie auf den Boden und legte behutsam die Hand auf ihren Rücken. Sie zuckte zusammen, wich aber nicht zurück.
»Ich habe entsetzliche Angst«, flüsterte sie, ohne den Kopf zu heben. »In den letzten drei Nächten habe ich von ihm geträumt. Ich hatte diese Träume lange Zeit nicht, aber plötzlich sind sie wieder da.«
»Das kommt nur daher, weil du mit mir über die Vorfälle gesprochen hast.«
Sally setzte sich auf und sah ihn an. »Ja, wahrscheinlich«, stimmte sie schluchzend zu, aber sie wirkte keineswegs überzeugt.
Carson setzte sich neben sie und legte den Arm um ihre Schultern. »Sieh mal, Sally, du hast all die Erinnerungen ausgegraben, die du seit Jahren verdrängt hast. Es ist ganz natürlich, dass du auf einmal wieder davon träumst – vermutlich verfolgen dich diese Träume noch einige Zeit, solange du das, was aus dir herausgebrochen ist, verarbeitest.«
»Aber ich will nicht davon träumen! Ich will überhaupt nie wieder daran denken.«
»Ich kann mir vorstellen, wie schrecklich das alles für dich ist, aber du musst begreifen, wie wichtig es ist, dass du darüber sprichst – es ist lebensnotwendig für dich und heilsam.«
»Du verstehst das nicht«, schluchzte sie. »Ich habe ganz scheußliche Sachen geträumt – fürchterliche, grauenvolle Dinge. Und ich habe in diesen Träumen auch Szenen wieder erlebt, die ich vollkommen vergessen hatte.«
»Das bedeutet, dass du dich allmählich davon befreien kannst. Das ist gut, verstehst du das nicht? Du wirst es los. Es wird an die Oberfläche geschwemmt, und du kannst endlich die Last abwerfen.«
Sally kramte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und putzte sich die Nase, ehe sie ihr Gesicht mit den Händen bedeckte. Aber plötzlich sah sie Carson direkt an. »Ich wünschte, ich wüsste genau, dass er tot ist. Ich werde mich nie sicher fühlen, solange ich das nicht weiß.« Sie versetzte ihren Patenonkel in höchstes Erstaunen, als sie die Arme um ihn schlang und ihren gesenkten Kopf leicht gegen seine Schulter lehnte. Nach einem tiefen Seufzer hauchte sie: »Wenn es doch jemanden gäbe, der ihn tötet.«
Carson wusste nicht, was er darauf erwidern sollte, deshalb wiegte er sie schweigend in seinen Armen. »Es tut mir leid«, sagte Sally schließlich, »aber ich musste es jemandem erzählen. Du warst so nett zu mir, und ich musste dir sagen, was ich fühle.«
»Das war ganz richtig. Dafür bin ich ja da. Ich bin fest davon überzeugt, dass es heilsam für dich ist, wenn du jemandem deine Empfindungen anvertraust.«
»In meinen Träumen habe ich ihn umgebracht«, gestand sie leise. »Ich habe ein Messer in sein Herz gebohrt.«
»Ich weiß nicht viel über Träume und ihre Deutung«, erwiderte Carson ruhig, »aber ich denke, man tut vieles in seinen Träumen, woran man in der Realität nicht einmal denken würde.«
Sie saßen lange Arm in Arm da, bis Sally verkündete: »Ich habe Hunger. Hast du was dagegen, wenn wir zum Essen gehen?«
»Selbstverständlich nicht. Ich habe einen Tisch in der Maritime Bar reservieren lassen. Wir können sofort aufbrechen.«
Carson stand auf und reichte Sally die Hand. »Komm – ein gutes Essen ist jetzt genau das, was du brauchst. Möchtest du dein Auto nehmen oder in meinem Auto mitfahren?«
Sie zögerte, dann sagte sie: »Ich glaube, ich fahre mit meinem, wenn es dir recht ist. Dann komme ich später schneller nach Hause – abgesehen von allem anderen.«
Carson lachte unbehaglich. »Du traust mir immer noch nicht, wie? Also schön, wir treffen uns dort.« Plötzlich erstarrte sie.
»Was ist los? Habe ich etwas Falsches gesagt?«, fragte Carson erschrocken.
»Nein, ich habe mich anders entschieden«, entgegnete Sally. »Ich fahre mit dir, dann muss ich nicht allein in die Bar gehen.«
Mit einem Mal machte sich Ärger in Carson breit, und er war kurz davor, ihr den Kopf zurechtzusetzen, aber dann sah er ihren Gesichtsausdruck und hielt lieber den Mund. Jesus, sie ist wirklich vollkommen durcheinander, dachte er. Wie hat sie es nur geschafft, bis heute zu überleben?
Er vermutete, dass sie wieder Theater wegen des Aufzugs machen würde, und er behielt recht. »Okay, okay«, sagte er. »Wir gehen beide zu Fuß hinunter. Es macht mir nichts aus. Ich streike nur, wenn ich die vielen Treppen hinaufsteigen muss.«
Sally war zappelig im Auto und bestand darauf, dass ihr Fenster während der Fahrt offen blieb, aber sie erreichten ohne Zwischenfälle das Restaurant, und als sie an ihrem Tisch saßen, entspannte sie sich. Zu Carsons Erleichterung kam Paris nicht wieder zur Sprache. Stattdessen unterhielten sie sich über Politik, über seinen Job und alle möglichen anderen Dinge, und Sally wurde wieder zu dem lebhaften, hübschen Mädchen, das Carson vor vielen Jahren in den Laurentians oft zum Lachen gebracht hatte.
»Fährst du noch immer so oft in die Berge wie früher?«, fragte er.
»Nicht mehr ganz so oft, leider habe ich nicht mehr so lange Ferien wie in der Schule, aber an den meisten Wochenenden im Sommer bin ich dort. Mum zieht immer noch jedes Jahr für drei Monate hin, weil sie die Hitze in Montreal nicht verträgt, und Dad fährt im Sommer jeden Tag hin und her. Ich leiste ihnen zwei Wochen im Juli oder August Gesellschaft.«
»Du warst eine sehr gute Schwimmerin: Ich werde nie vergessen, wie du durch das Wasser geglitten bist – du hast ausgesehen wie eine Libelle, und dein Vater und ich mussten immer lachen. Du warst schnell wie eine Fledermaus, die der Hölle entflieht.«
»Ich hatte Angst vor den Katzenfischen, deshalb bin ich so schnell geschwommen – vor den Katzenfischen und den Hechten.«
»Ach was, ich habe nie einen Hecht in dem See gesehen, du etwa?«
»Nicht beim Schwimmen, aber Dad hat einmal einen gefangen, daher wusste ich, dass es welche gab.«
»Er hat wirklich einen Hecht gefangen? Verdammt, ich habe nie etwas anderes als Barsche erwischt, wenn ich bei euch war.«
»Dad hat den Hecht mit nach Hause gebracht, das einzig Gute war nur, dass wir ihn nicht essen mussten, weil Dad meinte, er schmeckt nach Schlamm. Aber die Barsche mussten wir immer essen. Mum und ich konnten schon keine Barsche mehr sehen.«
»Gibt es noch Flusskrebse in dem Bach?«
»Klar, genauso viele wie früher.« Sie lächelte. »Wenn ich an Flusskrebse denke, fällt mir immer Bobby ein. Erinnerst du dich an meinen Cousin Bobby?«
»O ja, ich erinnere mich an ihn. Komisch, dass du ihn erwähnst. Ich habe ihn gestern zufällig gesehen. Junge, hat der sich verändert! Ich hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt – er sieht dem schmächtigen Jungen von damals gar nicht mehr ähnlich.«
»Ja, er hat sich ziemlich gemacht. Und ihm gehen die Haare aus, ist dir das auch aufgefallen? Damals hat Bobby Krebse gefangen und mich gejagt, wenn er einen hatte. In einem Sommer fand er ein Ringelnatternnest unter einem Felsen, und er fing Frösche, um die Schlangen damit zu füttern. Er warf die armen Frösche in die Luft, sodass sie auf die Erde fielen, dann schaute er zu, wie die Schlangen auf sie zukrochen und sie hinunterwürgten. Es war widerlich.«
»Sally, musst du mir solche Sachen beim Essen erzählen?«
»Hast du solche Dinge nicht gemacht, als du ein Junge warst? Ich dachte, alle würden so was tun.«
»Ich bestimmt nicht. Du kennst offensichtlich die falschen Jungs.«
»Scheint so. Meine beiden Cousins waren so. Ich ziehe sie noch heute damit auf. Sie waren fürchterliche Rabauken – Bobby und Charlie. Sie waren aus demselben Holz geschnitzt, und jetzt sind sie so anständig und seriös, dass man kaum auf die Idee kommt, dass sie überhaupt einmal jung waren.«
Carson hatte mit einem Mal das Gefühl, er würde einem Kind zuhören. Es erschien ihm, als wäre Sally in ihrer Mädchenzeit festgefroren und als würde dieses Pariser Erlebnis sie daran hindern, erwachsen zu werden. Es war kaum zu glauben, dass sie schon sechsundzwanzig war.
Bei diesem Essen veränderte sich Carsons Einstellung zu Sally. Er spürte, dass er es sich zum Ziel gesetzt hatte, sie zu einer Erwachsenen zu machen. Er wollte sie von ihren Albträumen befreien und Anteil daran haben, wenn dieses Kind zur Frau wurde. Sie war hübsch, keine Frage, und es war Carson schon immer schwergefallen, einer hübschen Frau zu widerstehen. Nach dem Essen brachte er sie zurück zum Westmount Square und begleitete sie zu ihrem Auto. »Du bist ein verdammt schönes Mädchen«, sagte er und küsste sie auf die Wange. »Ich habe den heutigen Abend sehr genossen. Ich möchte wieder mit dir ausgehen, wenn du Lust dazu hast.«
»Das wäre sehr schön«, erwiderte Sally. »Es war lustig. Und ich bin dir dankbar, Carson, du warst sehr nett zu mir.«
»Geht es dir gut genug, um allein heimzukommen, oder soll ich dir mit meinem Wagen nachfahren?«
»Nein, es ist alles in Ordnung, vielen Dank.«
»Gut. Versuch, heute Nacht nicht zu träumen. Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn du dich fürchtest, das weißt du. Auch mitten in der Nacht.«
»Ich hoffe, das ist nicht nötig, aber es ist lieb von dir.« Sie warf ihm einen Handkuss zu und winkte aus dem Autofenster, als sie losfuhr.
12
Carson fiel es schwer, sich Sally aus dem Kopf zu schlagen. Ihm war natürlich klar, dass er ihr Todesängste einjagen würde, wenn er sich nicht zurückhielt, deshalb zwang er sich zu warten, bis sie sich bei ihm meldete. Eine ganze Woche verging, ohne dass er etwas von ihr hörte. Er war richtiggehend gereizt wegen ihres Schweigens, aber dann rief sie ihn doch an.
»Ich habe Angst«, sagte sie. »Darf ich zu dir kommen?«
»Ich würde mich sehr freuen, dich zu sehen«, erwiderte Carson, ohne seine Überraschung preiszugeben – es war schon halb elf Uhr abends, und er hatte die Hoffnung, an diesem Tag noch von ihr zu hören, längst aufgegeben. »Soll ich dich abholen?«
»Nein, danke. Mein Auto steht vor der Tür. Ich bin in zwanzig Minuten bei dir, wenn es dir recht ist.«
»Natürlich, bis bald.«
Carson brauchte eine Minute, bis er die Tür öffnete, als Sally ankam. Gleichzeitig klingelte das Telefon, und er lief los, um den Hörer abzunehmen. Sally folgte ihm ins Wohnzimmer und blieb unsicher stehen, während ihr Patenonkel Fragen ins Telefon bellte. Nach einiger Zeit verlangte er, mit jemand anderem verbunden zu werden. Sally ahnte, dass das Telefonat länger dauern würde – sie bediente sich selbst mit etwas zu trinken und machte es sich auf dem Sofa bequem. Noch nie zuvor hatte sie Carson so aufgeregt erlebt, und aus dem,
was er sagte, schloss sie, dass es irgendwo in Montreal eine große Explosion gegeben hatte.
Als er schließlich auflegte, drehte er sich zu ihr um und sagte entschuldigend: »In einem Nachtclub auf der Union Avenue ist ein schlimmes Feuer ausgebrochen – es scheint, als hätte jemand eine Bombe gelegt. Einige Hundert Leute sind noch dort eingesperrt. Sie springen aus den Fenstern und stürzen von der Feuertreppe. Offenbar ist es das reinste Chaos. Ich fürchte, ich muss sofort in die Redaktion. Möchtest du hierbleiben? Du kannst dich im Gästezimmer hinlegen, wenn du müde bist.«
»Darf ich mitkommen?«
»Du bist besser dran, wenn du hierbleibst. Hier bist du in Sicherheit, und so wie ich die Sache sehe, könnte ich die ganze Nacht zu tun haben.«
»Bitte, Carson. Ich verspreche dir, dass ich dir nicht im Weg bin. Ich setze mich in eine Ecke und sage kein Wort. Ich will nicht allein sein.«
Carson war drauf und dran, ihr die Bitte rundweg abzuschlagen, aber sie hängte sich an seinen Arm und flehte ihn so lange an, bis er schließlich doch nachgab.
»Also gut, aber das eine sage ich dir, niemand wird Zeit haben, sich um dich zu kümmern, und morgen bist du bestimmt todmüde. Wahrscheinlich bin ich mehrere Stunden beschäftigt.«
»Das macht mir alles nichts aus. Bitte, nimm mich mit und lass mich jetzt nicht allein.«
»Wie du willst«, meinte er. »Sag nachher nur nicht, ich hätte dich nicht gewarnt. Jetzt müssen wir aber los – ich habe eine Menge Arbeit zu erledigen.«
Sally saß stundenlang auf einem harten Stuhl in der Ecke und sah zu, wie TelexGeräte Massen von Papier ausspuckten und die Journalisten eine Zigarette nach der anderen rauchten und Instantkaffee aus Pappbechern tranken. Die Telefone auf den Schreibtischen klingelten unaufhörlich. Leute rannten von einem Telex zum nächsten, grapschten nach den Papieren, rissen sie ab und liefen zum nächsten Telefon oder einer Schreibmaschine – alle sahen aus, als wäre die Welt eingestürzt.
»Du liebe Scheiße!«, rief jemand. »Es gab ein Gedränge auf der Feuertreppe. Es waren so viele Menschen, dass das Geländer einstürzte. Die Leute sind heruntergefallen wie die Fliegen.«
»Fünfzig Krankenwagen sind, laut Polizeisprecher, am Ort des Geschehens«, schrie ein Mann laut quer durch den Raum. »Er sagt, dass drei- oder vierhundert Menschen in dem Gebäude waren, und bis jetzt konnten sie erst ungefähr die Hälfte herausbekommen.«
Kurze Zeit später verkündete ein anderer: »Die Polizei meint, der Besitzer des Nachtclubs sei erpresst worden und nicht darauf eingegangen – möglich, dass deshalb die Bombe gelegt worden ist.«
»Ich habe etwas ganz anderes gehört«, widersprach ein Mann. »Ein paar der
Kids, die sie herausgeholt haben, sagten, dass am frühen Abend drei Kerle rausgeschmissen wurden und mit Molotow-Cocktails zurückkamen.«
Ein Mann fiel Sally auf, weil er vollkommen unbeteiligt wirkte. Er hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und seine Brille auf die Stirn geschoben. Eine unangezündete Zigarette hing in seinem Mundwinkel, und er lümmelte mit halb geschlossenen Augen auf seinem Stuhl. Nur ab und zu erwachte er zum Leben, dann beugte er sich zur Seite und hämmerte ein paar Worte in die Schreibmaschine. Sally vermutete, dass seine Arbeit etwas Besonderes war, denn gelegentlich spähten ihm die anderen Journalisten über die Schulter und lasen fasziniert, was er zu Papier gebracht hatte. Dann nickten sie verständig und gingen wieder an die Schreibtische, zündeten sich frische Zigaretten an und bearbeiteten ihre eigenen Schreibmaschinen.
Carsons Arbeitsplatz schien sich in einem anderen Raum zu befinden, aber er kam in regelmäßigen Abständen herein und besprach sich mit dem einen oder anderen Kollegen. Jedes Mal, wenn er an dem lässigen Typen mit den hochgelegten Füßen vorbeikam, legte er ihm kurz die Hand auf die Schulter.
Ein Mann, der bis dahin unermüdlich aus dem Zimmer und wieder herein gehastet war – wahrscheinlich, um Zettel zu verteilen oder Neuigkeiten weiterzugeben –, drückte Sally einen Becher Kaffee in die Hand und sagte: »Hier, das ist für Sie – ich habe leider keine Zeit, ihn selbst zu trinken.« Abgesehen von ihm, schien kein Mensch Notiz von Sally zu nehmen. Etwa um halb zwei Uhr morgens kam Carson zu ihr. »Tut mir leid, dass es so hektisch zugeht, Sally. Aber ich habe dich gewarnt … Es könnte noch Stunden dauern. Soll ich dir ein Taxi rufen, möchtest du nach Hause?«
»Nein!«, wehrte Sally so heftig ab, dass Carson erschrak.
»Ach ja.« Mit einem Mal fiel es ihm wieder ein. »Das hatte ich ganz vergessen über dem Chaos.«
»Sind schon alle Menschen befreit?«, wollte Sally wissen.
»Das weiß niemand, aber ich bezweifle, dass alle draußen sind. Sie bringen immer noch Verwundete in die verschiedenen Krankenhä. Bis jetzt sind dreißig Opfer tot und mehr als fünfzig Verwundete geborgen worden. Es herrscht ein heilloses Durcheinander. Das grauenhafte Ereignis hat Trudeaus Ankündigung von den allgemeinen Wahlen vollkommen aus den Nachrichten verdrängt.«
Carson wirkte müde und erschöpft, als er zu einem Mitarbeiter ging und mit ihm redete. Sally schloss die Augen, lehnte den Kopf gegen die Wand und döste immer wieder für ein paar Minuten ein. Sie nahm das ständige Klappern der Schreibmaschinen und das Klingeln der Telefone wahr, und in ihren Träumen wurden diese Geräusche zum Rattern und Pfeifen eines Zuges. Sie lief über die Dächer der Waggons und versuchte etwas zu entkommen, was sie verfolgte. Sie sprang gerade von einem Waggon zum anderen, als sie sah, dass sie auf einen Tunnel zufuhren. Sally wusste, dass sie vom Dach gefegt werden würde, wenn sie aufrecht stehen blieb, und warf sich gerade noch rechtzeitig, ehe sie in die Finsternis eintauchten, auf den Bauch. Sie registrierte sofort, dass das Ding, vor dem sie flüchtete, ganz nah war, in diesem Tunnel irgendwo über ihr. Sie klammerte sich verzweifelt an das Dach und mühte sich ab, vorwärts zu robben, aber plötzlich tauchte eine körperlose Hand aus der Dunkelheit auf und krallte sich an ihre Schulter. Sie zuckte zu Tode erschrocken zusammen und stieß einen Schrei aus – als sie die Augen aufriss, sah sie Carson vor sich. »Sally«, sagte er und rüttelte sie sanft an der Schulter. »Wach auf. Ich bringe dich heim.«
»Willst du wieder mit zu mir?«, erkundigte er sich, als sie im Wagen saßen. »Dir war unheimlich zumute, als du kamst. Du kannst im Gästezimmer schlafen, wenn du dich in meiner Wohnung sicherer fühlst als in deiner.«
»Ich sollte wohl lieber nach Hause fahren.«
»Ich bin zu müde, um lange darüber zu diskutieren, Sally, und ich habe auch nicht mehr die Energie, über deine Ängste zu reden. Wie gesagt, du kannst bei mir bleiben, wenn du willst. Falls es dir lieber ist, dass ich bei dir auf dem Sofa schlafe, habe ich auch nichts dagegen. Im Augenblick ist es mir vollkommen egal, wo ich schlafe – Hauptsache ist, ich kann mich schnell hinlegen.«
»Wenn du mich zum Westmount Square bringst, steige ich in mein eigenes Auto und mache mich auf den Heimweg.«
»Gut, das ist mir auch recht.«
Sallys Wagen stand fast vor Carsons Haustür. Als er sie aussteigen ließ, sagte sie: »Danke, dass du mich nicht weggeschickt hast. Tut mir leid, wenn ich dir auf die Nerven gegangen bin.«
»War halb so schlimm«, erwiderte Carson. »Schade ist nur, dass ich keine Zeit hatte, mich mit dir zu unterhalten. Ich rufe dich an, sobald sich die Dinge ein wenig beruhigt haben, dann kannst du mir erzählen, was dir solche Angst macht.«
13
Sally hatte wieder einen Albtraum. Sie versuchte im Schlaf zu schreien, aber kein Ton drang aus ihrer Kehle. Als sie am ganzen Leibe zitternd aufwachte, merkte sie, dass sie leise, wimmernde Laute von sich gab. Sie schaute auf ihre Uhr – es war sechs, und sie hatte genau drei Stunden geschlafen.
Sie beschloss, lieber gleich unter die Dusche zu gehen und sich anzuziehen, statt noch einmal den Schlaf zu suchen und das Risiko einzugehen, wieder von schlimmen Träumen geplagt zu werden. Während sie sich Kaffee und Toast machte, hörte sie die Nachrichten im Radio. Es wurde kaum von etwas anderem berichtet als von der Explosion und dem Großbrand. Das führte Sallys Gedanken unweigerlich zu Carson. Ob er wohl auch schon wach war?
In dem blassen Licht des Morgens sah sie die Ereignisse der vergangenen Nacht mit ganz anderen Augen, und sie schämte sich entsetzlich. Weshalb hatte sie sich mit einem Mal so sehr vor dem Alleinsein gefürchtet? Warum musste sie ihn mit diesem Unsinn überhaupt belästigen? Wie konnte sie ihn nur anflehen, sie zum Radio Canada International mitzunehmen, wenn so viel Arbeit auf ihn einstürmte und sie selbst nur im Wege war?
Dass sie sich endlich jemandem geöffnet und über ihr Trauma gesprochen hatte, übte auf Sally eine ungeheure Wirkung aus – es war, als wäre eine Tür aufgerissen worden, die bis jetzt fest verriegelt gewesen war. In ihrem Gehirn war eine Filmrolle angekurbelt worden, und sie erinnerte sich plötzlich an mehr und mehr Einzelheiten, seit sie Carson all die Dinge anvertraut hatte, die sie noch wusste. Am liebsten hätte sie Tag und Nacht mit ihm über all das diskutiert. Sie verspürte einen überwältigenden Drang, immer wieder darüber zu reden … aber nur mit ihm, mit niemandem sonst. Die schlichte Tatsache, dass sie endlich Erfolg gehabt und die Schleusen geöffnet hatte, machte Carson, obwohl er das
wahrscheinlich gar nicht beabsichtigt hatte, zu einem unverzichtbaren Teil des Heilungsprozesses. An diesem Morgen fiel es ihr wie Schuppen von den Augen: Sie war abhängig von Carson geworden. Ein klassischer Fall – obwohl es ihr widerstrebte, musste sie zugeben, dass sie dabei war, sich in jeder Hinsicht in ihren psychischen Beistand zu verlieben.
Als Carson am Morgen die Augen aufschlug, fühlte er sich mies, wenn er an Sally und die Vorfälle vom gestrigen Abend dachte, aber er war während des Tages viel zu beschäftigt, um sie anzurufen. Er war wütend, weil er den ganzen Samstag im Büro verbringen musste, aber nach der Katastrophe blieb ihm keine andere Wahl. Er und seine Mitarbeiter mussten nicht nur recherchieren, wie genau das Feuer zustande gekommen war, bei dem siebenunddreißig Menschen ums Leben gekommen und weitere vierundfünfzig zum Teil schwer verwundet worden waren, da war auch noch der Aufruf zu allgemeinen Wahlen, der von der entsetzlichen Tragödie in den Schatten gestellt worden war. Trudeau war kurz nach sechs Uhr, einige Stunden vor Ausbruch des Feuers, vollkommen unerwartet vor die Öffentlichkeit getreten und hatte im Fernsehen eine lange Rede gehalten, der Carson in seiner Berichterstattung weit mehr Beachtung schenken musste, als er es bis jetzt getan hatte. Ihm fiel die Aufgabe zu, die Ansprache zu analysieren und der Bevölkerung die wichtigen Punkte noch einmal zu verdeutlichen.
Das Eröffnungsspiel der Eishockey-Saison – traditionsgemäß ein Match zwischen Kanada und der Sowjetunion, das acht Spiele umfasste – fand auch an diesem Abend statt, und Trudeau sollte an der Zeremonie teilnehmen, ein paar Worte sprechen und den Puck zum Spiel freigeben.
Carson freute sich schon seit Tagen auf dieses historische Ereignis und war fest entschlossen, rechtzeitig zu Hause zu sein, um sich das Spektakel im Fernsehen anzuschauen. Er raste nach vielen Stunden im Büro zu seiner Wohnung, schnappte sich etwas zu essen aus dem Kühlschrank und schaltete den Fernseher ein, gerade als Trudeau den Puck in der Mitte der Eisfläche fallen ließ. Keine Frage, Trudeau hatte es geschafft, sich vor einem riesigen Fernsehpublikum, das
er mit politischen Aktionen niemals erreichen würde, in Szene zu setzen, dachte Carson. Das anschließende Spiel hielt ihn so in Atem, dass er Sally völlig vergaß.
Als das letzte Drittel vorbei war, schoss es ihm durch den Kopf, dass er eigentlich anrufen müsste, da er jedoch in der Nacht zuvor so wenig Schlaf bekommen hatte, war er jetzt viel zu müde, als dass er sich mit ihr über ihre Probleme hätte unterhalten können. Er würde sich morgen bei ihr melden, sagte er sich selbst. Sie musste bis dahin warten.
Um vier Uhr morgens wurde er vom Klingeln des Telefons geweckt. Er streckte die Hand aus und tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Als er Licht gemacht hatte, sah er erst auf die Uhr, bevor er den Hörer abnahm. Ihm war es nie geheuer, wenn mitten in der Nacht ein Anruf kam – das konnte nur bedeuten, dass in der Redaktion etwas los war.
Nachdem er sich gemeldet hatte, brauchte er einige Zeit, bis er Sallys Stimme erkannte.
»Da ist ein Mann auf der Feuertreppe«, flüsterte sie in hellstem Entsetzen. »Ich höre ihn ganz genau. Was soll ich nur tun?«
»Ist die Feuertreppe an der Rückseite des Gebäudes?«, fragte Carson, als er sich gefasst hatte.
»Ja.«
»Wo steht dein Auto?«
»Vor der Haustür.«
»Schnapp dir deinen Mantel, verlass die Wohnung und setz dich in deinen Wagen – er kann nicht schneller die Feuertreppe hinunterlaufen und um das ganze Gebäude herumrennen, als du auf die Straße kommst. Komm her. Ich rufe inzwischen die Polizei und fahre sofort los. Wenn dein Auto nicht mehr vor dem Haus steht, komme ich zurück. Wenn doch, stürme ich deine Wohnung. Jetzt aber los, und keine Panik. Ich bin gleich da.«
Carson alarmierte die Polizei, dann zog er einen Mantel über den Pyjama, nahm seinen Schlüssel und rannte aus dem Haus. Er ignorierte jede Tempobegrenzung, fuhr, so schnell er konnte, zum Boulevard Saint-Joseph und war froh, dass um diese Nachtzeit keine anderen Autos unterwegs waren. Er raste mit solchem Tempo durch die menschenleeren Straßen, dass die Insassen eines Streifenwagens auf ihn aufmerksam wurden und sich mit heulenden Sirenen und Blaulicht an seine Fersen hefteten und ihn verfolgten, bis er vor Sallys Haustür hielt. Carson konnte seinen Zorn nur schlecht verhehlen, als er ihnen seinen Presseausweis zeigte und sie kurz über Sallys Anruf informierte. Er rannte vor den Polizisten die Treppe hinauf.
Als sie vor Sallys Wohnung ankamen, fanden sie zwei andere Polizisten vor, die einen etwa vierzigjährigen Frankokanadier in Jeans verhörten.
»Sie ist weg«, sagte einer der Polizisten, als er sah, wie Carson auf Sallys Klingelknopf drückte. »Sie hat das Haus verlassen, als wir ankamen.«
Der Mann in Jeans war, wie sich herausstellte, ein Mieter, der ein Stockwerk über Sally wohnte. Er hatte seinen Schlüssel vergessen und war um vier Uhr morgens vor verschlossener Tür gestanden, deshalb hatte er vorgehabt, über die Feuerleiter in seine Etage zu klettern und das Fenster seiner Küche einzuschlagen. Es dauerte eine Viertelstunde, bis die Polizisten seinen Ausweis kontrolliert hatten und sowohl seine als auch die Erklärungen für Carsons Handlungsweise als ausreichend erachteten. Sie packten ihre Notizblöcke ein und erklärten Carson detailliert, was ihn erwartete, wenn er je wieder mit derart überhöhter Geschwindigkeit durch die Stadt fuhr, dann machten sie sich auf den Weg. Der Mann in Jeans konnte ins Bett gehen, und Carson durfte wieder nach Hause fahren.
Carson machte sich ernsthaft Sorgen. Er hoffte, dass Sally so schlau gewesen war, direkt vor seinem Haus zu parken, damit er sie ohne Mühe finden konnte, und im Auto sitzen zu bleiben, bis er auftauchte. Aber sie war in ihrer Panik imstande, stundenlang ziellos durch die Straßen zu irren, statt an Ort und Stelle zu bleiben. Es war verrückt, dass ein Mensch in ihrer psychischen Verfassung allein wohnte, und vollkommener Wahnsinn, dass sie sich ausgerechnet diesen Teil der Stadt ausgesucht hatte.
Sie war nirgendwo zu sehen, als Carson zum Westmount Square kam. Er wartete einige Zeit in seinem Wagen, weil er vermutete, dass sie irgendwann wieder vorbeikommen würde – vergebens. Nach einer Viertelstunde stieg er aus und ging hinauf zu seiner Wohnung, um nachzusehen, ob sie vor der Tür auf ihn wartete. Er fand keine Spur von ihr, aber er hörte schon auf dem Flur sein Telefon klingeln. Er schloss die Tür auf und lief ins Wohnzimmer, um den Hörer abzunehmen.
Es war Brock Hamilton. »Sally ist hier bei uns«, sagte er. »Wir versuchen schon eine ganze Weile, dich zu erreichen und dir Bescheid zu sagen. Soviel ich weiß, hat sie dich vorhin angerufen. Warum sie sich nicht bei uns gemeldet hat, weiß Gott allein. Tut mir leid, dass sie dich aus dem Bett geklingelt hat. Sie möchte mit dir sprechen und sich selbst entschuldigen. Armes Kind, sie ist völlig
durcheinander. Aber ist mit dir alles in Ordnung? Hast du den Burschen gefunden? Wahrscheinlich war er längst über alle Berge, als die Polizei kam, stimmt’s?«
»Nein. Er war noch da. Es war der Mieter, der über ihr wohnt. Er hatte seine Schlüssel nicht dabei und wollte in seine eigene Wohnung einbrechen.«
»Lieber Himmel, Carson, und deswegen hat man dich zu nachtschlafender Zeit aus dem Bett geholt! Mann, das tut mir wirklich leid, und Sally wird am Boden zerstört sein, wenn sie davon hört.«
»Brock, das spielt doch alles gar keine Rolle, solange sie nur in Sicherheit ist … und es hätte ja tatsächlich gefährlich sein können. Sie wusste ja nicht, wer vor ihren Fenstern herumgegeistert ist.«
»Ich bin dir jedenfalls sehr dankbar, Carson. Wir alle sind dir von Herzen dankbar. Trotzdem würde ich dich bitten, uns das nächste Mal anzurufen, wenn etwas dergleichen vorkommen sollte. Ich sehe nicht ein, wieso du mitten in der Nacht durch die halbe Stadt kutschieren musst.«
Sally wollte ihre Eltern offenbar nicht wissen lassen, dass sie ihm alles anvertraut hatte, deshalb versuchte Carson, den Vorfall mit einem Scherz abzutun und Brock damit abzulenken. »Du kennst mich ja, Brock – ich fühle mich immer geschmeichelt, wenn mich hübsche Mädchen nachts anrufen. Dennoch halte ich es für keine gute Sache, dass sie in diesem Stadtviertel wohnt, alter Junge«, fügte er ernst hinzu. »Ich möchte irgendwann einmal mit ihr darüber reden, wenn du nichts dagegen hast. Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um sie zu einem Umzug nach Westmount zu bewegen, falls es dir recht ist.«
»Klar ist mir das recht! Wenn du Erfolg damit hast, schlagen Louise und ich drei Kreuze. Vielleicht bekommt Louise dann nicht mehr so viele weiße Haare. Sie behauptet nämlich, das würde nur an den vielen Sorgen um Sally und an meiner Launenhaftigkeit liegen. Sally möchte dich jetzt sprechen. auf, dass sie dich nicht zu lange aufhält, du solltest schnell wieder ins Bett.«
»Carson?« Sallys Stimme klang zittrig. »Bist du okay?«
»Natürlich, es war gar nichts. Der Bursche, der über dir wohnt, hat sich selbst ausgesperrt.«
»Du meinst Monsieur Prud’homme?«
»Genau, das ist der Name, den er angegeben hat – Pierre-Marie Prud’homme.«
»Mein Gott. Carson, es tut mir so leid. Wie dumm von mir! Weshalb hat er nicht gesagt, wer er ist? Er hätte es mir doch zurufen können …«
»Er nahm an, dass du tief und fest schläfst.«
»Ich hätte ihn fragen sollen, stimmt’s? Ich hätte mit der Taschenlampe auf die Feuertreppe leuchten und nachsehen müssen, wer es ist. Aber ich war so erschrocken, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte.«
»Sei nicht albern, Sally. Es hätte genauso gut wirklich ein Halunke sein können. Es war ganz richtig, dass du mich angerufen hast. Aber du solltest jetzt noch ein wenig schlafen, wir reden morgen weiter. Ich rufe dich in deinem Büro an, sobald ich weiß, was morgen in der Redaktion auf mich zukommt.«
14
Sally musste am folgenden Tag mit einem besonders schlimmen Fall fertigwerden: eine ältere Witwe, die regelmäßig von ihrem trunksüchtigen Sohn verprügelt wurde.
Sally wurde zum ersten Mal mit einer Geschichte dieser Art konfrontiert und war entsetzt, als sie entdeckte, wie sehr diese Frau ihren Sohn trotz der vielen Jahre des Leids und der Misshandlung liebte.
»Sie dürfen nicht zulassen, dass er weiterhin bei Ihnen wohnt«, erklärte Sally. »Wenn Sie ihn nicht dazu bringen können, die Wohnung zu verlassen, helfen wir Ihnen. Sie haben keinen Grund, sich zu ängstigen. Das Gesetz ist auf Ihrer Seite, nach allem, was Sie durchgemacht haben. Wir können ihn zwingen auszuziehen.«
»Oh, so was würde ich niemals fertigbringen«, erwiderte die Frau. »Er weiß ja nicht, wo er sonst hin soll. Er hat keine Arbeit, verstehen Sie? Er hat kein Geld und nichts zum Leben.«
»Vielleicht würde er sich mehr Mühe geben, einen Job zu suchen, wenn Sie ihm kein Heim mehr bieten und alles bezahlen würden, was er braucht. Mir scheint nach allem, was Sie mir erzählt haben, dass er noch gar nicht richtig versucht hat, eine Arbeit zu finden.«
»Aber wer würde dann für ihn sorgen? Wer kocht für ihn und wäscht und bügelt seine Sachen?«
»Ihr Sohn ist immerhin fünfundvierzig Jahre alt – meinen Sie nicht, es wird höchste Zeit, dass er diese Dinge selbst erledigt?«
»Er wüsste nicht, wie er das anfangen sollte«, entgegnete die Frau traurig. »Ich habe das alles immer für ihn gemacht, das müssen Sie verstehen.«
»Na ja, vielleicht haben Sie ihm damit keinen Gefallen getan. Wieso sollten Sie, in Ihrem Alter, zur Arbeit gehen und ihn unterstützen? Er wird ganz schnell lernen, wie er allein zurechtkommt, wenn Sie ihm nicht mehr jede Kleinigkeit abnehmen. Außerdem sollten Sie ihm kein Geld mehr geben, solange er nichts anderes damit macht, als sich Alkohol zu beschaffen.«
»Aber das ist doch das einzige Vergnügen, das er überhaupt noch hat. Es gibt nicht viel, was ihm das Leben lebenswert macht. Ich meine, ein erwachsener Mann ohne Familie und ohne Arbeit … für so jemanden gibt es nicht viel anderes zu tun, oder?«
»Wenn er nicht trinken würde, wäre er vielleicht nicht so gewalttätig.«
»Er will mir nicht wehtun. Es ist nur … Er hat Depressionen, wissen Sie, und ich denke, er lässt das gelegentlich an mir aus, weil ich die einzige Person in seiner Nähe bin. Aber er meint es nicht so«, fügte sie bestimmt hinzu. »Ich will nicht, dass Sie einen falschen Eindruck von ihm bekommen. Hinterher tut es ihm immer schrecklich leid, wenn er so was getan hat – er ist dann immer am Boden zerstört. Er liebt mich, müssen Sie wissen. Er liebt mich genauso sehr wie ich ihn.«
Es ist hoffnungslos, dachte Sally trübsinnig und fragte sich, ob die Männer immer die Frauen verletzten und schlugen, die sie liebten, und ob diese Frauen erwarteten, misshandelt zu werden, oder es sogar wollten. Je länger sie in diesem Büro arbeitete, desto mehr Zweifel kamen ihr, ob Liebe und Gewalt nicht zwei Aspekte derselben Sache waren.
Sie wünschte, Carson würde sich melden. Sie wollte ihn fragen, ob er je brutal zu einer Frau gewesen war. Sie konnte sich zwar nicht vorstellen, dass er einer Fliege etwas zuleide tat, aber genauso wenig konnte sie sich vorstellen, dass er zu Huren ging – wie er ihr einmal so charmant erklärt hatte – und dass er all die anderen Dinge tat, von denen er ihr erzählt hatte. Sie war niedergeschlagen und fürchtete sich – sie brauchte jemanden, der ihre Ängste beschwichtigte. Sie musste wissen, dass es wenigstens einen Mann auf dieser großen, weiten Welt gab, der sich nicht so grauenvoll und brutal verhielt.
Carson hatte so viel zu tun, dass er erst am späten Nachmittag daran dachte, Sally anzurufen. Sally glaubte schon, dass er sein Versprechen, mit ihr zu telefonieren, vergessen hatte, und ihr fiel ein Stein vom Herzen, als er sich schließlich doch noch meldete.
»Ich bin froh, dass du anrufst«, sagte sie. »Ich wollte dich etwas fragen, was einen Fall, mit dem ich heute hier zu tun hatte, betrifft. Vielleicht kannst du mir einen Rat geben, der mir weiterhilft.«
»Heb dir das für heute Abend auf«, erwiderte ihr Patenonkel. »Ich lade dich zum Essen ein, wenn du Zeit und Lust dazu hast.«
Sally freute sich über das Angebot, versuchte jedoch, ihm das nicht allzu deutlich zu zeigen. Sie sehnte sich mehr danach, mit ihm zusammen zu sein, als sie es sich und Carson einzugestehen wagte.
»Höchstwahrscheinlich komme ich hier nicht vor halb neun oder neun Uhr weg«, sagte Carson. »Ich fahre zu dir und hole dich ab, sobald ich in der Redaktion fertig bin. Bist du einverstanden?«
»Prima«, meinte Sally. »Dann habe ich wenigstens einmal Gelegenheit, dir meine Wohnung zu zeigen. Du wirst staunen über das Haus. Überall sind Bogen und Säulen und Stuckarbeiten aus Gips – Mädchenköpfe.«
»Wirklich?«
»Ja, es ist fantastisch, aber lass dich überraschen. Hier in der Gegend sind alle Hä großartig, besonders die Innenausstattung.«
»Du machst mich richtig neugierig – ich kann es kaum erwarten, mir das anzuschauen. Aber jetzt muss ich mich wieder an die Arbeit machen, fürchte ich. Ich versuche, spätestens um neun bei dir zu sein.«
»Es tut mir entsetzlich leid wegen letzter Nacht«, sagte Sally, sobald Carson über ihre Schwelle trat. »Ich wollte nicht am Telefon darüber reden, weil im Büro so viele Leute zuhören können, aber mir war den ganzen Tag über schrecklich zumute. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und war wütend auf mich selbst. Ich weiß wirklich nicht, wie ich so dumm sein konnte.«
»Zerbrich dir deswegen nicht den Kopf«, meinte Carson. »Ich war ohnehin nicht in der Stimmung, mich mitten in der Nacht mit Einbrechern oder anderem Gesindel herumzuschlagen, deswegen kann ich mich nicht beklagen, dass es
falscher Alarm war.«
»Die Polizei hat mich heute Vormittag im Büro angerufen. Sie waren nicht gerade begeistert über den Vorfall. Haben sie dich wenigstens anständig behandelt?«
»Nicht besonders«, versetzte Carson ärgerlich. »Trotz allem kapiere ich nicht, wieso, zum Teufel, sie sich so aufregen. Um Himmels willen, es ist ihr Job, sich um solche Sachen zu kümmern!«
»Möchtest du etwas trinken?«, erkundigte sich Sally in der Hoffnung, ihn ein wenig besänftigen zu können. »Ich habe Rye im Haus, und es ist noch ein bisschen Wodka da, wenn dir das lieber ist.«
»Nein danke, lass uns von hier verschwinden. Wir trinken irgendwo anders was. Warum wohnst du ausgerechnet hier, Sally?« Seine Stimme klang immer noch gereizt, und er hatte allen Grund, wütend zu sein, dachte Sally. Er musste müde sein und die Nase von ihr und ihren Spinnereien voll haben. Er sah sie verzweifelt an. »Was, um alles in der Welt, hat dich auf die Idee gebracht, dir in diesem Teil von Montreal eine Wohnung zu nehmen? Wenn du erwartest, dass ich nachts nach dem Rechten bei dir sehe, musst du in die Nähe von Westmount ziehen. Warum kehrst du nicht in die Zivilisation zurück? Was hast du hier in diesem schrecklichen Viertel überhaupt verloren?«
»Carson, wie kannst du nur so etwas sagen? Diese Straße ist wunderschön, und die Umgebung ist äußerst interessant … Hast du je Hä wie dieses in einem anderen Teil von Montreal gesehen? Sieh dir nur die Decken an, so etwas findest du in keiner anderen Wohnung. Und die Säulen mit den Mädchenköpfen da oben. Schau dir den Kamin, die Türgriffe und diese wundervollen Fußböden an!«
»Okay, okay. Es ist ein schönes Haus …«
»Bemerkenswert, nicht nur schön.«
»Meinetwegen auch bemerkenswert, aber das heißt noch lange nicht, dass du hier sicher bist. Du fühlst dich des Öfteren bedroht, also warum wohnst du dann in einer solchen Gegend?«
»Ich muss hier wohnen. Ich bin hergezogen, weil ich mich den Franzosen auf ihrem eigenen Territorium stellen wollte. Du müsstest das eigentlich verstehen können.«
»Na ja, wenigstens klingt das einigermaßen plausibel, aber ich bin trotzdem der Meinung, dass du dir eine andere Bleibe suchen solltest.« Er zog sein Jackett aus und warf es über die Stuhllehne. »Ich habe meine Meinung geändert, darf ich dich doch um einen Drink bitten?«
»Natürlich, was soll ich dir bringen? Rye oder Wodka? Ich fürchte, etwas anderes kann ich dir nicht anbieten.«
»Rye wäre prima«, erwiderte Carson und warf sich in einen Sessel. »Hör zu, Sally. Nach letzter Nacht müsstest du eigentlich einsehen, dass es sehr viel besser für dich wäre, wenn du in die Nähe deiner Eltern ziehen würdest. Es ist Wahnsinn, hier zu wohnen – ein Mädchen wie du darf nicht ganz allein in einer solchen Gegend leben.«
»Ich kann nicht weg«, beharrte Sally, als sie ihm das gefüllte Glas reichte. »Es ist so ähnlich, als würde man gleich wieder auf ein Pferd aufsteigen, nachdem man abgeworfen worden war. Man muss sich zwingen, es zu tun, sonst ist man nie mehr im Leben dazu imstande.«
»Aber du hast dir doch längst bewiesen, dass du es kannst, Sally. Mehr kannst du dir selbst nicht abverlangen – du hast den Mut dazu aufgebracht.«
»Nicht wirklich.«
»Was soll das heißen?«
»Ich habe immer noch grauenvolle Angst.«
»Aber das ist doch nicht der springende Punkt, und die Angst verlierst du sicher auch nicht, wenn du hierbleibst.«
»O doch.«
»Bestimmt nicht. Ich will dir mal was sagen: Wenn die Piloten im Krieg Bruchlandungen gemacht und sie überlebt haben, wurde ihnen befohlen, sich sofort in eine andere Maschine zu setzen und zu starten, weil man glaubte, dass sie dann nicht die Nerven verlieren. Manchmal hat das sogar funktioniert, aber eben nicht immer. Manche der Jungs hatten solche Angst, dass sie aufgestiegen sind und sich selbst umgebracht haben. Einige waren so durcheinander und
aufgeregt, dass sie eine ganze Schwadron ins Verderben gebracht haben. Du hast auch die Nerven verloren, und die Kur, die du dir selbst verordnet hast, hilft dir kein bisschen. Du siehst das bestimmt selbst ein. Ich bin der Meinung, wir sollten etwas anderes probieren.«
»Was zum Beispiel?«
»Du solltest dir wieder in einer zivilisierten Gegend eine Wohnung suchen.«
»Carson, ich bin ehrlich schockiert. Ich dachte, dass wenigstens du nicht so engstirnig bist. Am französischen Teil von Montreal ist rein gar nichts unzivilisiert. Und ich bin hier im Grunde nicht wirklich in Gefahr. Ich bilde mir das alles nur ein – meine Gedanken erschrecken mich, mehr ist es nicht.«
»Gut, aber es liegen Welten zwischen den Franzosen und den Engländern, und du spürst das vielleicht mehr als die meisten anderen Menschen, sonst hättest du dir gar nicht erst die Mühe gemacht hierherzuziehen. Aus dem gleichen Grund hast du dir auch diesen französischen Freund ausgesucht, habe ich recht?«
»Ja, zum Teil.«
»Nur zum Teil? Was waren die anderen Gründe? Warst du in ihn verliebt?«
»Nein.«
»Was hat dich dann dazu bewogen?«
Sally wandte sich ab, ohne eine Antwort zu geben, und schenkte sich einen Drink ein. Carson sah ihr zu, wie sie zu einem Stuhl ging und sich setzte. Noch immer richtete sie den Blick nicht auf ihn.
»War er dein erster Freund?«, hakte er nach.
Sally nickte wortlos.
»Wo hast du ihn kennengelernt?«
»Ich bin ihm in einem Restaurant begegnet, das heißt, dort habe ich ihn gesehen, und ein paar Tage später ist er mir auf der Straße über den Weg gelaufen. Er fragte mich, ob ich eine Tasse Kaffee mit ihm trinken würde.«
»Und du hast Ja gesagt?«
»So ungefähr … irgendwie bin ich mitgegangen … Ich wusste wohl selbst nicht genau, was ich tat.«
»Du meinst, du hast ihn von der Straße aufgelesen, oder er hat dich aufgelesen? Einfach so? Willst du das damit sagen?«
»Ja, so ungefähr war es wohl.«
»Jesus, Sally, du musst den Verstand verloren haben! Nach allem, was dir in Paris iert ist, hast du dich einfach so mitnehmen lassen? Was hast du dir nur dabei gedacht? Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass so etwas gefährlich ist und übel ausgehen kann?«
»Doch, ich glaube schon … aber ich musste es tun. Gerade wegen Paris. Mir blieb gar nichts anderes übrig, als mitzugehen, weil ich dadurch die Vergangenheit auslöschen wollte, kannst du das nicht verstehen?«
»Schön, aber du hast offensichtlich keinen Erfolg mit dieser Maßnahme gehabt, und du bist ein teuflisches Risiko eingegangen. Dir muss doch klar gewesen sein, dass dies die schlechteste Möglichkeit ist, das schlimme Erlebnis zu überwinden.«
»Ich weiß nicht …« Sally bedachte ihn mit einem verzagten Blick. »Ich kann dir das alles unmöglich erklären … Bitte, hör auf, mir all diese Fragen zu stellen. Ich möchte nicht mehr darüber reden, wenn es dir recht ist.«
Carson entschied, dass er mehr erreichen konnte, wenn er hart blieb. »Es ist mir keineswegs recht, und ich werde dir, verdammt noch mal, jede Frage stellen, die mir auf der Seele liegt. Du kannst von mir nicht ernsthaft Hilfe erwarten, wenn ich keine Ahnung habe, was in dir vorgeht und wie du über die Dinge denkst.«
Er beobachtete, wie sie in sich zusammensank, und empfand plötzlich grenzenloses Mitleid. Sie sah so zerbrechlich aus. »Du wolltest geliebt werden. War das der Grund? Oder wolltest du nur herausfinden, was es mit dem Sex auf
sich hat?«
»Ich weiß es wirklich nicht«, flüsterte sie kaum hörbar und rutschte nervös auf dem Stuhl hin und her.
»Hast du es herausgefunden, Sally? Bist du sicher, dass du mir neulich die Wahrheit erzählt hast?« Sally schwieg beharrlich, deshalb fuhr er fort: »Sieh mal, ich habe schon versucht, dir klarzumachen, dass du mich mit nichts schockieren kannst. Du glaubst doch nicht, dass ich empört wäre, wenn sich herausstellen würde, dass du mit einem Jungen geschlafen hast, oder?«
»Aber ich habe es nicht getan!«, brach es so heftig aus ihr heraus, dass sich ihre Stimme überschlug. »Ich war nicht mit ihm im Bett – das habe ich doch schon gesagt –, wenigstens nicht so, wie du denkst. Ich habe überhaupt noch nie mit jemandem geschlafen. Das ist ja das, was mir zu schaffen macht. Mit mir stimmt etwas nicht. Ich kann es nicht tun – ich habe zu große Angst davor.«
Carson merkte, dass sie den Tränen nahe war. Er stand auf und ging zu ihr, dann nahm er ihr das Glas aus der Hand und zog sie auf die Füße. »Sieh mich an«, forderte er sie auf. »Mit dir stimmt alles – nichts ist falsch an dir, Sally. Du hast etwas Grauenvolles erlebt, und das hat selbstverständlich Ängste in dir ausgelöst. Jeder, dem so etwas oder Ähnliches iert, hat Angst, das ist doch nichts Ungewöhnliches.« Er legte behutsam den Arm um sie.
»Er hat behauptet, dass ich frigide bin. Er sagte, ich sei eine Verrückte.«
»Aber du hast ihm nie erzählt, was du in Paris erlebt hast, oder?«
»Nein. Ich habe mit gar niemandem darüber gesprochen – nur mit dir.«
»Na, dann kannst du auch nicht erwarten, dass er versteht, was mit dir los ist. Denk doch mal logisch, Sally. Wenn du ihm nichts gesagt hast, woher sollte er dann wissen, wie er mit dir umgehen soll?«
»Er dachte, ich bin lesbisch«, jammerte sie. »Er hat mich die ganze Zeit beschimpft und behauptet, ich wäre eine Lesbe.«
»Du kannst ihm das nicht ernsthaft zum Vorwurf machen. Betrachte das alles doch mal aus seinem Blickwinkel. Er musste einen Grund dafür finden, dass du ihn nicht hast tun lassen, was er wollte, sonst hätte er sich eingestehen müssen, dass du ihm eine Abfuhr erteilt hast.« Sally schauderte, aber sie sagte nichts. »Warst du lange mit ihm zusammen?«
»Ungefähr sechs Monate.«
»Na, da hast du’s. Sechs Monate sind eine teuflisch lange Zeit, wenn man nur Händchen halten oder noch weniger darf und dann auch noch bei jedem Versuch ein Nein zur Antwort bekommt.«
Sie schwiegen beide. Carson konnte Sallys Gesicht nicht sehen, da sie den Kopf an seine Schulter gelehnt hatte. »Hat er dich bedrängt, oder wollte er dich zu etwas zwingen?«, fragte er nach einer Weile.
»Nein, außer du meinst mit ›zwingen‹ seine endlosen Versuche, mich zu überreden. Er hat nicht lockergelassen und ständig auf mich eingeredet.«
»Hat er dich verlassen, oder hast du ihn zum Teufel geschickt?«
»Er ist gegangen. Er hat mir all diese scheußlichen Beleidigungen an den Kopf geworfen und ist türschlagend aus der Wohnung gestürmt. Danach habe ich ihn nie wieder gesehen.«
»Das ist wahrscheinlich ganz gut so … Sag mal, warst du aufgeregt oder traurig, als er weg war? Ich meine damit nicht, dass du dich über das, was er gesagt hat, geärgert hast, sondern ob es dir was ausgemacht hat, dass er nicht mehr bei dir war.«
»In gewisser Weise ja, aber eigentlich war ich nicht seinetwegen traurig. Wenn ich ehrlich bin, war ich eher wütend, weil ich es nicht fertiggebracht habe – ich meine, ich hatte keinen Erfolg. Ich fühlte mich als Versager. Aber vermisst habe ich ihn nie richtig. Es war nur schwer, weil ich plötzlich keinen Freund mehr hatte. Ich glaube, ich wollte einen Liebhaber haben, aber mit der Idee, dass ich mit ihm ins Bett gehen soll, wollte ich mich nicht auseinandersetzen. Es ist wirklich schwierig, das zu erklären.«
»Ich würde sagen, du hast das ganz gut erklärt. Du möchtest geliebt werden und wissen, wie es ist, wenn man Liebe macht. Andererseits hat dir die ganze Sache Angst eingejagt. Du hast dich vor dem körperlichen Akt gefürchtet – was unter diesen Umständen überhaupt nicht verwunderlich ist. Mir kommt das ganz normal vor.«
»Aber es ist nicht normal. Es ist verrückt! Ich bin falsch gepolt, mit mir stimmt etwas nicht.«
»Mit dir stimmt alles. Du hast nur Schwierigkeiten, weil du etwas durchgemacht hast, woran du selbst keinerlei Schuld trägst. Es war ein grässliches Erlebnis, das nie hätte ieren dürfen, und wir müssen zusehen, dass du irgendwie darüber hinwegkommst.«
»Ich fühle mich so allein«, gestand Sally und fing an zu weinen. »Du kannst es dir sicherlich nicht vorstellen, aber ich komme mir vor wie ein Außenseiter, eine Ausgestoßene.« Carson drückte sie ein wenig fester an sich. »Ich bin gebrandmarkt«, schluchzte Sally. »Dieser Mann hat mir jede Chance genommen, die ich hatte. Jean-Pierre hatte ganz recht, ich bin anders als alle anderen.«
»Sei nicht albern. Das einzig Ungewöhnliche an dir ist, dass du sechsundzwanzig bist und noch nie mit einem Mann geschlafen hast. Du hältst dich für nicht normal, weil die Menschen in den letzten Jahren so freizügig und leichtlebig geworden sind. Die meisten in deinem Alter haben schon ein paar sexuelle Abenteuer hinter sich. An sich stimmt alles mit dir – das Problem besteht einzig und allein darin, wie sich die Dinge entwickelt haben. Wenn du in einem anderen Zeitalter auf die Welt gekommen wärst, würde man nicht das Geringste komisch an dir finden. Als deine Großmutter jung war, hat es bestimmt viele sechsundzwanzigjährige Jungfrauen gegeben – du musst die Dinge bloß in die richtige Perspektive rücken. Die Frage ist nur, wie du dich verhalten willst und was du unternimmst.«
»Es gibt nichts, was ich unternehmen könnte. Es ist hoffnungslos. Ich könnte genauso gut tot sein.«
»Guter Gott! Wie kannst du nur so was Schreckliches sagen? Du hast doch dein
ganzes Leben noch vor dir. Wir müssen nur ein paar steile Klippen überwinden, dann ist alles in bester Ordnung.«
»Ach ja? Und wie soll ich diese Klippen überwinden? Kannst du mir das auch verraten?« Sally schob ihn ärgerlich von sich und stapfte durch das Zimmer. Sie blieb mit dem Rücken zu Carson stehen und tat so, als würde sie aus dem Fenster schauen, aber sie sah nur ihr bebendes Spiegelbild und bemühte sich, die brennenden Tränen hinunterzuschlucken.
Carson sah, wie sie sich an den Fensterrahmen lehnte – eine gequälte, verzweifelte Gestalt. Beinahe unerträgliches Mitgefühl stieg in ihm auf, und sein Zorn auf den Mann, der ihr all das angetan und diesen Kummer verursacht hatte, wuchs immer mehr.
Plötzlich, als er sie schweigend beobachtete, verspürte er einen starken Drang, sie zu beschützen und vor weiterem Schaden zu bewahren. Dieses zarte Persönchen, das ihm den Rücken zugekehrt hatte, wirkte so fragil und verletzbar wie ein Schmetterling mit kaputten Flügeln. Er tat etwas, was ihn selbst vor nur ein paar Minuten noch in höchstes Erstaunen versetzt hätte – er ging zu ihr und sagte: »Sally, warum ziehst du nicht zu mir? Ich verspreche dir, dass ich dir niemals wehtue. Ich werde dich nicht anrühren, wenn du es nicht willst.«
Sie rührte sich nicht vom Fleck und sagte auch nichts. Es schien fast, als würde sie den Atem anhalten.
»Du kannst das Gästezimmer haben, wenn du willst. Ich werde dich nicht belästigen und bestimmt nicht stören. Du kannst kommen und gehen, wie es dir beliebt. Ein solches Arrangement hätte den Vorteil, dass ich immer da wäre, sobald du mich brauchst.«
Er schwieg. Den Mut, sie zu berühren, brachte er nicht auf, und er war auch nicht in der Lage, mehr zu sagen. Sally seufzte unvermittelt und hob den Kopf, ansonsten bewegte sich keiner von ihnen. Sally starrte weiter auf die Straße, und Carson wartete auf ihre Antwort. Schließlich drehte sie sich vom Fenster weg und sah ihn unsicher an – offenbar wusste sie selbst nicht, was sie jetzt tun sollte. Ein seltsames Leuchten, fast ein verzücktes Glitzern, schimmerte in ihren Augen, dennoch zögerte sie.
Carson lächelte, um sie zu beruhigen, und ihm fiel ein Stein vom Herzen, als sie sein Lächeln erwiderte. »Könntest du dir vorstellen, mich zu heiraten, Carson?« Diese Frage überraschte ihn. »Ich würde sehr gern mit dir zusammenleben, aber ich denke, es wäre einfacher für mich, wenn wir verheiratet wären.«
»Um ganz ehrlich zu sein, daran habe ich nicht gedacht.« Carson war bestürzt über diesen Vorschlag, aber er wollte sich seine Chancen nicht verderben, indem er ihr das schonungslos ins Gesicht sagte. »Lass uns zuerst versuchen, ob wir überhaupt miteinander auskommen«, empfahl er. »Man kann ja nie wissen, vielleicht verabscheust du mich schon nach kürzester Zeit. Wenn es funktioniert und du glücklich bist, können wir immer noch im Laufe der Zeit über eine Heirat nachdenken.«
»Okay«, erwiderte sie zweifelnd, »ich bin aber nicht sicher, ob das gut geht. Irgendwie würde ich mir nicht so komisch vorkommen, wenn wir ein Ehepaar wären.«
»Na, wir werden sehen. Wir können uns später entscheiden, ob wir heiraten wollen – so was lässt sich ganz schnell arrangieren. Es ist besser, die Gemeinsamkeit erst auszuprobieren, als nach der Hochzeit festzustellen, dass alles ein Irrtum war.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht … Kann ich schon heute Nacht zu dir kommen?«
Carson war erstaunt, wie schnell sie seinen Vorschlag akzeptierte. »Klar«, sagte er. »Pack ein paar Sachen zusammen, die du für die Nacht brauchst, den Rest können wir morgen abholen. Ich würde jetzt gern zum Essen gehen, bist du bereit?«
Während des Essens war Sally aufgeregt wie jedes junge Mädchen, das einen Heiratsantrag angenommen hatte. Carson hatte keine Ahnung, was er von alldem halten sollte. Aus ihrer Reaktion und aus dem, was sie gesagt hatte, konnte er keine Rückschlüsse darauf ziehen, ob sie die Angelegenheit als simples Arrangement betrachtete oder ob sie auch eine körperliche Beziehung in Betracht zog. Man hätte den Eindruck haben können, dass sie auf mehr als nur eine rein platonische Freundschaft hoffte, aber Carson war bewusst, dass Sally wahrscheinlich selbst nicht genau wusste, was sie eigentlich wollte, und all ihre Bemerkungen ließen mehr als nur eine Deutung zu.
Das Merkwürdige war, dass sich Carson selbst auch unschlüssig war – ihm war schleierhaft, was er von einer derartigen Verbindung erwarten oder erhoffen durfte. Er hatte impulsiv und ohne lange zu überlegen gehandelt, weil ihn das Mitleid mit Sally überwältigt hatte. Nur an einem bestand kein Zweifel – er empfand mehr und mehr Zuneigung zu seinem Patenkind. Unbestritten war jedoch, dass er schon des Öfteren daran gedacht hatte, mit Sally ins Bett zu gehen. Der Gedanke reizte ihn, das musste er ehrlich zugeben. Wenn sie nicht sein Patenkind und etwas älter wäre und wenn sie nicht dieses entsetzliche Erlebnis gehabt hätte, dann hätte er sicherlich schon längst versucht, sie zu verführen. Doch unter den gegebenen Umständen versagte er es sich, auch nur an diese Möglichkeit zu denken. Obwohl ihn häufig ein flüchtiges Verlangen nach ihr heimsuchte, hatte er es bis jetzt immer geschafft, sich zurückzuhalten. Er redete sich zumindest ein, dass er diese Art Gefühle erfolgreich unterdrücken konnte. In Wirklichkeit musste er sich große Mühe geben, dieses Verlangen zu
ignorieren.
Während des Abends dachte er eingehender über seine Situation nach und kam zu dem Schluss, dass ihn ihre Jugend unter anderen Umständen keineswegs davon abhalten könnte, ihr Avancen zu machen. Im Gegenteil – er fand junge Frauen viel attraktiver als Frauen seines Alters, und er hatte in der Vergangenheit nie gezögert, eine Affäre mit einem jungen Mädchen anzufangen, wenn sich ihm die Gelegenheit geboten hatte. Wieso erschien ihm dann ausgerechnet Sally wie eine Unberührbare? Bestimmt lag das nicht an der bloßen Tatsache, dass sie so unsicher und verängstigt war. Er ließ sich vermutlich auch nicht sonderlich davon beeindrucken, dass sie sein Patenkind und so verletzlich war und dass er sich ihren Eltern gegenüber verantworten müsste, falls er ihr irgendwie Schaden zufügen oder ihr wehtun würde. Nein, es war mehr als das, obwohl all diese Dinge erheblich ins Gewicht fielen. Vielleicht zögerte er, weil sie ihm wie ein Kind erschien … ja, damit könnte es etwas zu tun haben. Dass sie noch Jungfrau war, spielte keine große Rolle, davon war Carson überzeugt, auch wenn er sich nie wie manche anderen Männer darum gerissen hatte, ein Mädchen zu deflorieren, wäre Sally nicht die erste Unschuld in seinem Bett – der Gedanke daran stieß ihn weder ab, noch machte er ihn an. Um ehrlich zu sein, er verstand nicht einmal, was das ganze Theater um die Jungfräulichkeit sollte. Er fand, dass das ein Zustand war, den jeder Mensch so rasch wie möglich abschütteln sollte. Auf alle Fälle war man glücklicher dran ohne Jungfräulichkeit.
Was machte ihm dann an Sally so sehr zu schaffen? Er konnte den Finger nicht auf den entscheidenden Punkt legen. Wirkte sie durch ihr unschuldiges Verhalten und die Zutraulichkeit ihm gegenüber so verwundbar, dass er sie kaum zu berühren wagte? Reizte ihn die Tatsache, dass er sie als Kind betrachtete, das im Grunde gar keine Gedanken an Sex zuließ? Oder, überlegte Carson besonders selbstkritisch, hatte er möglicherweise den Ehrgeiz, dort zu siegen, wo alle anderen bis jetzt versagt haben?
Er war nicht fähig oder willens, seine eigenen Fragen zu beantworten, aber er war ganz sicher, dass derjenige, dem sie sich einmal übergeben wollte, sie
besitzen würde, wie nur wenige Männer eine Frau besaßen.
»Was sollen wir meinen Eltern sagen?«, fragte Sally, als sie nach dem Essen zu seiner Wohnung fuhren.
»Wir sagen ihnen die Wahrheit. Was willst du ihnen sonst erzählen?«
»Glaubst du nicht, dass das Ganze ein Schock für sie ist?«
»Ich kann mir nicht vorstellen, was sie schockieren sollte. Lieber Himmel, Sally, wir sind beide erwachsen. Du bist keine achtzehn mehr. Außerdem haben sie sich nicht einmal über deinen französischen Freund aufgeregt, oder haben sie damals irgendetwas gesagt?«
»Nein, aber das war ja auch etwas anderes.«
»Natürlich war es etwas anderes, aber sie waren bestimmt nicht begeistert von dieser Beziehung. Um ehrlich zu sein, ich glaube nicht, dass sie mit ihm einverstanden waren, nach allem, was ich so von ihnen gehört habe, aber sie haben kein Theater gemacht, warum sollten sie dann jetzt Einwände erheben?«
»Weil es um dich geht. Ich meine, du bist mein Patenonkel, und, na ja, du bist eben viel älter als ich.«
Carson lachte. »Vielleicht denken sie wirklich, dass ich ein wenig zu alt für dich
bin, und sie hätten sogar recht damit.«
Er warf ihr einen Blick zu und hoffte, an ihrem Gesichtsausdruck zu erkennen, ob sie über die Möglichkeit sprachen, dass er ihr Liebhaber werden könnte, oder nur über ihr Vorhaben, mit ihm eine Wohnung zu teilen. Er konnte ihre Miene nicht deuten, deshalb setzte er hinzu: »Wenigstens kennen sie mich und wissen, wer ich bin und dass ich mich um dich kümmere. Offen gestanden, ich könnte mir vorstellen, dass das sogar eine Erleichterung für sie ist.«
»Kannst du mit ihnen reden? Bitte, mach du es. Ich glaube nicht, dass ich den Mut dazu habe.«
»Selbstverständlich, wenn dir das lieber ist. Aber vielleicht wäre es besser, wenn wir zusammen mit ihnen sprechen würden. Nein? Na gut, dann schaue ich morgen Abend auf dem Nachhauseweg von der Arbeit für einen Drink bei ihnen vorbei.«
Er sah sie wieder an. Sie knabberte nervös an einem Finger.
»Es gibt gar nichts, wovor du Angst haben müsstest«, beschwichtigte Carson sie. »Sie haben sicher nichts dagegen, du wirst sehen. Ich könnte mir vorstellen, dass sie sich sogar über deinen Entschluss freuen.«
In seiner Wohnung brachte Carson das Thema noch einmal zur Sprache, weil er herausfinden wollte, was genau in Sallys Kopf vorging. »Es wäre besser, wenn wir uns absprechen würden, was exakt ich deinen Eltern sagen soll. Was meinst du, soll ich ihnen sagen, dass du in mein Gästezimmer ziehst oder dass du richtig und ernsthaft mit mir zusammenleben willst?«
»Ich weiß nicht.«
»Wir sollten ihnen die Wahrheit sagen und nichts verschweigen, denke ich, aber mir ist selbst nicht ganz klar, was du von mir erwartest. Ich habe dir gesagt, dass du das Gästezimmer übernehmen kannst und dass ich dich niemals belästigen würde. Wenn du dich aber dazu entschließen solltest, auch mein Bett mit mir zu teilen – heute Nacht oder sonst irgendwann –, würdest du mich sehr glücklich machen. Ich habe jedoch nicht vor, dich zu einem solchen Schritt zu überreden, wenn du ihn nicht wirklich machen willst.«
»Ich würde gern im Gästezimmer schlafen – wenigstens am Anfang … Vielleicht ändert sich das später, sobald ich mich daran gewöhnt habe, hier zu leben …«
»Schön.« Carson verbarg geschickt seine Enttäuschung. »Dann bringen wir deine Sachen hin. Ich denke, es wird Zeit, schlafen zu gehen. Du weißt ja, wo das Badezimmer ist. Sag mir Bescheid, wenn du fertig bist. Übrigens, um wie viel Uhr möchtest du geweckt werden?«
»Ich stehe um halb acht auf, aber ich habe einen Wecker dabei, du brauchst dich nicht um mich zu kümmern, vielen Dank.«
»Sicher?«
»Ganz sicher.«
»Gut. Ich suche nur noch die Ersatzschlüssel, dann kannst du kommen und gehen, ohne dass du dich nach mir richten musst.«
Sobald er ihr die Schlüssel gebracht hatte, ging er in sein eigenes Zimmer. Ehe er die Tür zumachte, rief er Sally noch zu: »Ich bin wahrscheinlich schon weg, wenn du morgen aufwachst. Du kommst doch allein zurecht, oder? Nimm dir alles aus der Küche, was du zum Frühstück haben möchtest. Und erwarte mich am Abend nicht allzu früh zurück. Du weißt ja, dass ich noch bei deinen Eltern vorbeischauen will. Ich wünsche dir eine gute Nacht, schlaf schön.«
»Du auch, Carson. Und … es tut mir wirklich leid wegen letzter Nacht.«
Als sie ihre Türen schlossen, waren sich beide bewusst, dass sie am Anfang einer ernsthaften, wenn auch ungewöhnlichen Beziehung standen.
15
Sallys Eltern reagierten genau so, wie Carson es erwartet hatte. Brock war hocherfreut, Louise hingegen zeigte sich überrascht und war gleichzeitig unangenehm berührt. Carson stellte gleich von Anfang an unmissverständlich klar, dass er lediglich mit Sally die Wohnung teilen wollte und keineswegs sein Bett.
»Sie hat ein Zimmer für sich allein und führt ihr eigenes Leben«, erklärte er.
»Ein merkwürdiges Arrangement, wie mir scheint«, murmelte Brock, »aber wenn ihr beide damit glücklich seid, kann ich ja wohl nichts dagegen haben.«
»Hör mal«, warf Louise ein, »da möchte ich auch ein Wörtchen mitreden. Was bringt dich auf den Gedanken, dass ich damit einverstanden bin?«
»Um Himmels willen«, schimpfte ihr Mann. »Sally ist weiß Gott alt genug, um ihre eigenen Entscheidungen treffen zu können.«
»Ich weiß selbst, dass euch die ganze Sache seltsam vorkommen muss«, bemerkte Carson in der Hoffnung, dass Louise keine Szene machen würde, »aber Sally fühlt sich eindeutig in ihrer eigenen Wohnung und in diesem Viertel nicht mehr sicher, und außerdem sollte sie wirklich nicht allein leben. Diese Konstellation ist vielleicht nicht ideal, und möglicherweise ist sie ja auch nicht von Dauer, aber ich halte es noch immer für besser, sie wohnt bei mir als mutterseelenallein in einem französischen Stadtteil.«
Louise schnaubte missbilligend, sagte aber nichts dazu. Erst als sie die Gelegenheit bekam, mit Carson allein zu sein, machte sie deutlich, was sie von alldem hielt. Brock hatte darauf bestanden, dass Carson zum Abendessen blieb, und seine Tochter angerufen, um zu fragen, ob sie Lust hatte, ihnen Gesellschaft zu leisten.
»Ich fahre gleich los und hol dich ab«, schlug er Sally vor, als sie zustimmte. »Ich bin in ein paar Minuten da.« Er drehte sich zu seiner Frau um und sagte: »Carson kann dir ja helfen, den Tisch zu decken oder so. Es ist schon ziemlich spät, und ich habe Hunger. Ich möchte gleich essen, wenn ich mit Sally zurückkomme.«
Sofort, nachdem Brock die Tür hinter sich zugemacht hatte, ging Louise zum Angriff über. »Du solltest dich schämen, Carson. Du weißt, dass ich dich mag, aber das, was du jetzt vorhast, ist Wahnsinn. Kannst du eigentlich nie die Finger von den Mädchen lassen? Wirst du überhaupt irgendwann mal erwachsen?«
»Louise, ich schwöre dir …«
»Ich kenne dich, Carson. Je jünger, desto besser … Oh, komm, mir brauchst du nichts vorzumachen, du kannst mich nicht hinters Licht führen. Sally ist meine Tochter, wenn ich dich daran erinnern darf, und du wirst sie in Ruhe lassen. Ich meine es ernst. Wenn du sie auch nur ein einziges Mal anrührst …«
»Großer Gott, Louise, du glaubst doch nicht im Ernst … Ich versuche nur, ihr zu helfen. Ich biete ihr lediglich ein Dach über dem Kopf und Sicherheit – sie braucht eine Bleibe in einer anständigen Gegend, ein Zuhause, in dem sie nicht mehr Angst haben muss.«
»Ich warne dich, Carson. Lass die Finger von meiner Tochter!«
»Bitte, hör mir doch einmal zu. Ich habe nicht vor, sie anzurühren …« Louise versuchte, ihn zu unterbrechen, aber er wischte ihre Einwände mit einer ungeduldigen Geste beiseite. »Ich weiß, ich weiß, aber dies hier ist etwas ganz anderes. Klar, sie wäre eine leichte Beute, und wenn sie nicht eure Tochter wäre, würde ich vielleicht daran denken – ich bin kein Heiliger, das weißt du –, doch ich würde nicht im Traum daran denken, Sally in irgendeiner Weise wehzutun. Ich habe sie bis jetzt noch nicht angerührt und werde es auch nicht tun, das verspreche ich. Ich habe ihr noch nicht einmal einen Kuss gegeben.«
Das beruhigte Louise kein bisschen, aber was hätte sie schon unternehmen können, um Unheil von Sally abzuwenden? Nachdem Carson und Sally gegangen waren, erklärte sie ihrem Mann, dass es seine Pflicht sei, diesem Spuk sofort ein Ende zu machen.
»Wenn es um Sally geht, bist du verdammt besitzergreifend«, erwiderte Brock ungehalten. »Du solltest froh sein, dass es Carson ist und nicht jemand, den wir nicht kennen!«
»Er ist zu alt für sie, Brock. Das habe ich dir schon einmal erklärt. Außerdem ist er ein berüchtigter Schürzenjäger und Herzensbrecher. Daran hat sich in den letzten Jahren nichts geändert. Sally ist die Leidtragende, und das alles wird in einer Tragödie enden.«
»Carson wird ihr nicht wehtun, er möchte sich nur um sie kümmern und ein wenig auf sie aufen. Sie braucht jemanden wie ihn – einen älteren Mann, bei dem sie sich sicher fühlt. Komm schon, Liebes, gib ihm eine Chance. Du willst
doch auch nicht, dass sie allein lebt und jedes Mal Todesängste aussteht, wenn sie jemanden auf der Treppe vor ihrer Wohnung husten hört.«
Da sie weder bei Carson noch bei Brock etwas erreicht hatte, entschloss sich Louise, mit ihrer Tochter bei einem Mittagessen zu reden, ehe sie sich geschlagen gab.
»Ich wohne nur mit ihm zusammen in einer Wohnung, Mum. Ich habe mein eigenes Zimmer, und er lässt mich vollkommen in Ruhe. Außerdem mag ich ihn. Es ist lustig, mit ihm zusammen zu sein, und er ist sehr nett zu mir. Selbst wenn ich eine Affäre mit ihm hätte, wüsste ich nicht, was du dagegen haben könntest.«
»Es wäre ungehörig. Er ist viel zu alt für dich – er könnte dein Vater sein.«
»Ja und? Daran ist doch nichts Schlimmes, oder? Ich fühle mich sicherer mit älteren Männern.«
»Er ist ein Frauenheld, Liebes. Du kannst dir nicht vorstellen, wie oft er Gail betrogen hat … Einen unenderen Mann könntest du dir gar nicht aussuchen. So jemand ist Gift für dich. Glaub mir, ich weiß genau, wie er ist.«
»Ich kann wirklich nicht verstehen, weshalb du so ein Aufhebens um all das machst – ich habe schließlich keine Affäre mit ihm. Außerdem bin ich alt genug, um mir selbst eine Meinung zu bilden und Entscheidungen, die mich betreffen, zu fällen.«
Louise musste zugeben, dass sie ihre Tochter noch nie glücklicher und ausgeglichener erlebt hatte. Sie schien ein Selbstvertrauen gewonnen zu haben, das ihr bis jetzt gefehlt hatte. Dieses neue Lebensgefühl drückte sich sogar in ihren Gesichtszügen aus – ihre Schönheit hatte eine neue Dimension, und Louise ahnte, dass sich ihre Tochter einbildete, in Carson verliebt zu sein.
Zuerst war Sally ziemlich unsicher und nervös. Sie schlich in der Wohnung herum wie eine Katze, die sich in einem neuen Zuhause nicht zurechtfindet. Carson hatte des Öfteren den Eindruck, dass sie kurz davor war, wegzulaufen.
»Möchtest du nicht noch ein paar von deinen Sachen herbringen?«, fragte er sie eines Abends. »Möglicherweise fühlst du dich wohler, wenn deine eigenen Bilder an der Wand hängen und du deine Bücher hier hast.«
»Vielleicht«, entgegnete sie wenig überzeugt. »Hättest du etwas dagegen, wenn ich mein Zimmer etwas anders einrichte?«
»Natürlich nicht. Du kannst damit machen, was du willst. Möchtest du es renovieren lassen? Ich würde die Rechnung dafür übernehmen, wenn du den Handwerkern sagst, was geändert werden soll.«
»Nein, ich finde das Zimmer sehr hübsch so. Ich würde nur gern die Möbel umstellen, und mir gefallen diese Jagdszenen nicht, das ist eigentlich alles.«
»Ich finde die Dinger auch nicht schön. Wir sollten sie so schnell wie möglich loswerden. Hast du Bilder, die du stattdessen aufhängen kannst?«
»Ja, ein paar Landschaftsgemälde, die ich letztes Jahr auf einem Flohmarkt gekauft habe, und ein Aquarell von einem Trödelladen in der Rue Saint-Denis. Die Bilder sind nicht besonders wertvoll, aber ganz hübsch, zumindest finde ich sie schön. Außerdem besitze ich noch einen Fox, den ich sehr gern mag. Du hast ihn noch nicht gesehen. Er hängt in meinem Schlafzimmer – in meinem alten Schlafzimmer, meine ich. Es ist ein ausgesprochen gutes Bild, und ich denke, es könnte dir auch gefallen. Dad hat es mir zum Studienabschluss geschenkt, und ich bin daran gewöhnt.«
»Fein. Wir könnten gleich morgen Abend zum Boulevard Saint-Joseph fahren und alles zusammenpacken und mitnehmen, was du sonst noch hier haben möchtest. Hast du irgendwelche Möbel, die wir abholen lassen sollen? Meinetwegen kannst du alles herbringen lassen. Ich hänge nicht besonders an den Dingen, die hier herumstehen. Von mir aus können wir sie rausschmeißen und die Zimmer ganz neu einrichten, wenn dir danach zumute ist.«
»Den kleinen Schreibtisch, der in meinem alten Wohnzimmer steht, würde ich gern hier haben, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Ganz und gar nicht, bring her, was immer du brauchst. Das ist mein Ernst. Von mir aus kannst du die ganze Wohnung auf den Kopf stellen. Ich hatte nicht viel Zeit, mich um die Einrichtung zu kümmern, seit ich eingezogen bin. Außerdem bin ich nicht unbedingt geschickt, was solche Dinge betrifft, deshalb wäre ich froh, wenn du die Sache in die Hand nehmen und organisieren würdest.«
Er ermutigte sie, alles zu verändern, weil er wollte, dass sie sich wohlfühlte. Sally entdeckte, dass es ihr großen Spaß machte, die Wohnung nach ihrem Geschmack zu dekorieren, und sie hatte etwas, womit sie die Wochenenden und Abende verbringen konnte, an denen Carson Termine hatte und sie nicht mitnehmen konnte oder arbeiten musste. Es kam ziemlich oft vor, dass er spät nach Hause kam.
Allmählich entwickelten sie in ihrem Zusammenleben eine gewisse Routine. Sie wechselten sich beim Kochen ab, obwohl Carson – der weitaus bessere Koch – dazu neigte, die Küche mit Beschlag zu belegen, wenn er zu Hause war. Sally tätigte alle Einkäufe, und Carson war froh, dass sie ihm diese Last abnahm. Das Einzige, was ihn beunruhigte, war, dass sie immer noch auf die Märkte im französischen Teil der Stadt ging und dort Gemüse und Obst kaufte.
Carson bezahlte alles und bestand darauf, Sally ein großzügiges Haushaltsgeld zu überlassen. Am Anfang war Sally unwohl, weil sie auf seine Kosten lebte. Sie bat ihn immer wieder, auch einige Rechnungen bezahlen zu dürfen, aber davon wollte er partout nichts wissen.
»Gütiger Himmel«, rief er, wann immer sie dieses Thema anschnitt, »du kannst mir glauben, dass es mich nicht über Gebühr belastet, für den Lebensunterhalt aufzukommen. Ich sage dir Bescheid, wenn es mir zu viel wird, das verspreche ich dir. Bis dahin solltest du dein Geld sparen oder für dich ausgeben. Kauf dir hübsche Klamotten oder etwas anderes, was dir Freude macht. Ich an deiner Stelle würde das ausnützen.«
Genau das tat sie auch. In den nächsten Wochen kaufte sie sich viele Kleider, Bücher, Schallplatten und Stücke, von denen sie glaubte, dass sie gut in ihr neues Heim en würden.
Erst ein paar Monate später kam Carson auf ein Thema zu sprechen, das er bis dahin vermieden hatte. »Solltest du die Wohnung auf dem Boulevard SaintJoseph nicht kündigen? Du benutzt sie nicht mehr und warst in der letzten Zeit kein einziges Mal dort. Es ist Unsinn, die Miete weiter zu bezahlen.«
»Daran habe ich auch schon gedacht, aber ich glaube, ich möchte sie noch nicht kündigen. Das Wissen, dass ich wieder dorthin zurückgehen kann, wenn ich will, beruhigt mich irgendwie.«
»Aber du hältst dich doch nie dort auf! Wäre es nicht viel schöner, wenn du das Geld zu deiner persönlichen Verfügung hättest?«
»Und was soll ich tun, wenn du es leid bist, mit mir zusammen zu wohnen? Dann brauche ich die Wohnung. Ich hätte sonst keine Bleibe.«
»Du kannst für immer hier wohnen, es gefällt mir, dich um mich zu haben. Ich genieße es richtig, du nicht?«
»Doch.«
»Dann kündige die Wohnung, Kleines. Du brauchst sie nicht mehr.«
Nachdem immer mehr Zeit verging und Sally sich noch bei Carson wohlfühlte, musste sich auch Louise mit der Situation abfinden. Sie vermutete, dass Carson mit ihrer Tochter schlief, aber sie merkte selbst, dass Sally glücklicher war als je zuvor, was immer sich auch zwischen den beiden abspielte.
»Hab ich’s dir nicht gleich gesagt?«, sagte ihr Mann. »Das war das Beste, was ihr ieren konnte. Ich habe sie nicht mehr so entspannt erlebt, seit sie ein Kind war.« Im Klartext hieß das: »seit Paris«, aber in letzter Zeit hatten sich Brock und Louise stillschweigend geeinigt, das unselige Ereignis nicht mehr zu
erwähnen.
»Sie ist glücklich mit ihm. Das stimmt, aber ich mache mir trotzdem Sorgen deswegen. Wenn er es ernst mit ihr meint, sollte er sie heiraten und aufhören, seine Spielchen mit ihr zu treiben.«
»Was soll die Eile?«, fragte Brock. »Zur gegebenen Zeit werden sie sich schon noch dazu entschließen. Lass die beiden nur machen.«
16
Carson und Sally schliefen einige Monate in getrennten Zimmern. Carson unternahm keinen Versuch, den Status quo zu ändern, obwohl es ihm mit jedem Tag schwerer fiel, Sally mit Gleichmut zu begegnen. Er verbrachte immer weniger Zeit zu Hause und schlich erst spät am Abend in die Wohnung, um Sally und dem unlösbaren Problem, soweit es möglich war, aus dem Weg zu gehen. Nur morgens konnte er eine Begegnung mit Sally nicht vermeiden, da sie beide etwa zur selben Zeit zur Arbeit mussten. Es verwirrte ihn mehr, sie im Nachthemd durch die Wohnung huschen zu sehen, als er sich selbst eingestehen wollte.
In den ersten Wochen ihres Zusammenlebens hatten sie viel Zeit miteinander verbracht, aber da die Lage für Carson immer unerträglicher wurde, stellte er sicher, dass sie sich so selten wie nur möglich sahen. Er kam erst nachts nach Hause und sorgte dafür, dass sie auch an den Wochenenden getrennte Wege gingen. Ihnen beiden war unbehaglich zumute, wenn gemeinsame Aktivitäten bevorstanden, und sie hatten Angst, dass man ihre Beziehung missverstehen würde, falls sie ständig zusammen gesehen wurden. Sally wollte ihren Patenonkel auf keinen Fall in eine missliche Lage oder in Verruf bringen, und Carson ermahnte sich ständig, dass Sally ihr eigenes Leben führen musste und er sich nicht zu sehr einmischen durfte. Er bot ihr ein Heim und hatte von Anfang an gewusst, dass sie nichts mehr erwartete als einen sicheren Hafen, in dem ihr keine Gefahr drohte. Dass ihn das jetzt vor Probleme stellte, hatte er sich allein zuzuschreiben, doch diese Einsicht verbesserte seine Lage um keinen Deut. Von Woche zu Woche fiel es ihm schwerer, ihre körperlichen Reize zu übersehen, und das enge Zusammenleben Tür an Tür steigerte sein Verlangen nur noch mehr.
Seine große Chance kam völlig unerwartet, nachdem er wochenlang erfolglos gehofft hatte, dass sich die Dinge auf wundersame Weise ändern würden. Er hatte schon einige Stunden geschlafen, als er eines Nachts von Sallys Schreien
aufgeschreckt wurde. Er sprang auf, rannte in ihr Zimmer und riss die Tür auf. »Was, um alles in der Welt, ist iert?«, fragte er, als er das Licht anknipste.
Sally kauerte mit angezogenen Knien in ihrem Bett und keuchte, dabei zitterte sie am ganzen Körper und war schweißgebadet.
»Er wollte mich erwürgen«, krächzte sie entsetzt. »Er hat die Hände um meinen Hals gelegt und zugedrückt. Er kniete auf meinen Armen, würgte mich und war … Ich bekam keine Luft mehr, ich konnte nur noch röcheln. Er wollte mich umbringen … Er …« Sie versuchte, noch etwas zu sagen, aber die Tränen erstickten die Worte.
Carson ging zum Bett und nahm sie in die Arme. »Es war ein böser Traum, Kleines. Nichts davon ist in Wirklichkeit geschehen. Es war nur ein Traum.« Er wiegte sie in den Armen und lehnte den Kopf an ihren. »Er ist dreitausend Meilen weit weg, Sally. Du musst ihn und die ganze Sache vergessen. Ich habe dir schon einmal gesagt, dass er längst im Gefängnis schmort, wenn er überhaupt noch am Leben ist. Sie haben ihn ganz sicher schon vor Jahren gefasst.«
»Vielleicht ist er schon wieder aus dem Gefängnis entlassen worden, wenn sie ihn tatsächlich jemals eingesperrt haben.«
»Falls das zutrifft, hat er sicher etwas anderes zu tun, als nach dir zu suchen. Inzwischen hat er dich wahrscheinlich vergessen. So etwas wird nie wieder ieren, ich gebe dir mein Wort.«
»Ich kann es nicht ertragen … ich halte das nicht mehr aus …«, schluchzte Sally an Carsons Brust.
»Alles ist gut, Kleines«, wiederholte Carson mehrmals.
»Es ist vorbei. Niemand will dir etwas antun. Es war nur ein böser Traum.« Ihm fiel nichts mehr ein, was er zu ihrer Beruhigung sagen könnte. Als sie endlich aufhörte zu weinen, schlug er vor: »Ich hole dir einen Brandy, der wird dir guttun. Wie wär’s, wenn du unter die Dusche gehen würdest, bis ich wieder hier bin? Nach einer Dusche und einem guten Schluck geht es dir sicher viel besser.«
Während sie im Bad war, traf Carson eine Entscheidung. Er war überzeugt, dass es nur eine einzige Methode gab, die bösen Geister aus ihrem Bewusstsein zu vertreiben – er musste einen direkten Angriff starten. Jemand muss dieses Mädchen vögeln, dachte er grimmig, das ist die einzige Lösung, und wenn es ohnehin jemand tun muss, dann kann ich das genauso gut selbst übernehmen.
»Sally«, begann er, als sie aus dem Badezimmer kam. Sie hatte ein frisches Nachthemd an und sah aus wie ein Engel. »Komm und setz dich zu mir. Ich möchte mit dir reden.« Er reichte ihr den Brandy und wartete, bis sie auf dem Sofa Platz genommen hatte. »Trink einen Schluck, das wird dir helfen, wieder ruhiger zu werden.«
Er setzte sich neben sie und ließ sie erst einmal in Ruhe ihren Brandy austrinken, dann entzog er ihr sanft das Glas und stellte es auf den Tisch. Während er ihre beiden Hände in die seinen nahm, sah er ihr unverwandt in die Augen. »Möglicherweise wird dir nicht gefallen, was ich dir sagen möchte, aber irgendjemand muss es einmal tun – da sonst niemand verfügbar ist, werde ich wohl oder übel dieser Jemand sein müssen.«
Sally rutschte unbehaglich hin und her, aber Carson hielt ihre Hände immer noch
fest und sah sie an. »Ich meine ernsthaft, du solltest deine Ansicht über eine Psychoanalyse noch mal gründlich überdenken …« Sally wollte ihm ins Wort fallen, aber er ließ keine Einwände zu. »Unterbrich mich nicht! Wie gesagt, du solltest dir genau überlegen, ob du nicht doch die Hilfe eines Fachmanns in Anspruch nehmen willst – ich halte selbst nicht gerade viel von den endlosen Sitzungen bei einem Seelenklempner, aber in deinem Fall kann meiner ehrlichen Meinung nach nur jemand, der sich wirklich auskennt, Erfolg haben …« Sally entriss ihm vehement ihre Hände.
»Keine Panik«, besänftigte Carson sie. »Beruhige dich und hör mir zu. Du weißt genau, dass ich dir das nicht raten würde, wenn ich nicht überzeugt wäre, dass es gut für dich wäre. Wir alle wissen, dass eine Menge Quacksalber ihr Unwesen treiben, aber es gibt auch ein paar gute Psychologen. Vorausgesetzt, wir finden den richtigen für dich, könnte dir wirklich geholfen werden.«
Sally versuchte aufzustehen, doch Carson hielt sie zurück.
»Ich würde mich gern umhören, um herauszufinden, wer für Fälle dieser Art die beste Psychotherapeutin ist – ja, natürlich, es müsste eine Frau sein –, und ich würde auch die Rechnungen bezahlen, selbst wenn es Jahre dauern sollte, bis du …« Beinahe hätte er gesagt: »wieder normal bist«, aber er besann sich gerade noch rechtzeitig. »Bis du diese Albträume losgeworden bist.«
»Ich habe es schon einmal mit einer Psycho versucht«, wandte Sally ein.
»Ich weiß. Dein Vater hat mir davon erzählt, aber nach einem gescheiterten Versuch, darf man nicht gleich die Flinte ins Korn werfen. Du musst dich nicht sofort entscheiden, Sally. Lass dir ein paar Tage Zeit und denk über meinen Vorschlag nach.«
»Ich habe schon sehr oft über diese Möglichkeit nachgedacht.«
»Das kann ich mir vorstellen, aber ich möchte trotzdem, dass du dir noch einmal Gedanken darüber machst und jedes Für und Wider abwägst.«
»Meinetwegen, aber ich kann dir gleich sagen, dass es nicht funktioniert.«
»Wir werden sehen. Lass uns in ein paar Tagen noch einmal darüber reden, einverstanden?«
»Ja.«
»Braves Mädchen.« Er strich ihr über den Kopf, dann nahm er wieder ihre Hände. »Und jetzt komme ich zu einem weiteren Punkt«, sagte er und holte tief Luft. Er wusste nicht, wie er anfangen sollte, aber er musste das Thema zur Sprache bringen. Er drückte leicht ihre Hände.
»Du wirst niemals ganz frei sein, solange du deine Angst vor dem Sex nicht überwindest.« Carson spürte, wie sie erstarrte. »In deinem Unterbewusstsein ist Sex untrennbar mit Gewalt und sogar mit dem Tod verbunden. Deshalb fürchtest du dich so sehr davor.« Sally versuchte wieder, ihre Hände aus den seinen zu lösen, aber Carson hielt sie fest. »Ich habe nicht vor, über dich herzufallen, du brauchst keine Angst zu haben. Ich möchte nur, dass du mir zuhörst, bis ich fertig bin und alles gesagt habe.«
»Ich will nichts davon hören, ich habe keine Lust, über so was zu reden.«
»Aber ich möchte, und ich werde es auch tun, also bleibt dir nichts anderes übrig, als mich anzuhören. Du musst endlich erfahren, was es mit dem Sex wirklich auf sich hat – ich spreche nicht über Gräueltaten oder brutale Misshandlung, sondern über echte, zärtliche Liebe. Wenn du willst, zeige ich dir … Hör auf, mir auszuweichen – ich zwinge dich zu nichts, das habe ich dir immer wieder versprochen. Ich würde dich nie zu etwas drängen, ich möchte dir nur klarmachen, dass es wichtig für dich ist und dass du es brauchst.«
»Woher willst du wissen, was wichtig für mich ist und was ich brauche?«, fauchte Sally.
»Das ist doch offensichtlich, Sally. Es ist so offensichtlich, dass wir kein Wort darüber verlieren müssen. Du weißt es selbst sehr genau, sonst hättest du dich nie mit diesem frankokanadischen Jungen abgegeben … Du brauchst es gar nicht abzustreiten. Du hast es mehr oder weniger selbst eingestanden. Du musst doch gewusst haben, wohin eine solche Beziehung führt. Aus welchem Grund bist du denn damals mit ihm Kaffee trinken gegangen?«
»Ich wollte einen Freund haben, einfach nur einen Freund.«
»Ach, komm, sei ehrlich. Du wolltest mit jemandem ins Bett gehen – mit irgendjemandem. Zumindest wolltest du es mit ihm, das kannst du nicht leugnen. Du hattest vor, mit jemandem zu schlafen und herauszufinden, wie es ist, habe ich recht?«
Sally verweigerte ihm die Antwort, aber Carson wollte sie dazu bringen, es
zuzugeben. »Das wolltest du, stimmt’s? Kein Mensch kann dir daraus einen Vorwurf machen – das ist die natürlichste Sache der Welt. Warum fällt es dir so schwer, dir und mir das einzugestehen? Was findest du so schrecklich daran?«
Er ließ ihre Hände los, legte stattdessen den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. »Kleines, du hast ein Problem, und du kennst es. Warum lässt du nicht zu, dass dir jemand hilft? Hier bin ich, ein einigermaßen respektabler Bursche, der dich wirklich mag und dir nur helfen will. Du weißt, dass ich dir nicht wehtue. Ich habe dich sehr, sehr gern und will zusammen mit dir dein Problem lösen. Ich würde dich gern richtig lieben, dir zeigen, wie schön es sein kann. Was ist daran so schlimm? Warum willst du es nicht wenigstens versuchen?«
»Wie kannst du so sicher sein, dass du mir nicht wehtust? Vielleicht bist du genauso wie alle anderen? Alle Männer sind gleich, soviel weiß ich.«
»Lieber Himmel, kennst du mich denn kein bisschen, Sally? Wenn du willst, kannst du ein großes Messer mit ins Schlafzimmer nehmen. Würdest du dich dann sicherer fühlen? Ich bin bereit, mein Schicksal in deine Hände zu legen. Du kannst mir die Eingeweide durchbohren, wenn dir nicht gefällt, was ich tue.«
Sally lachte, und Carson lockerte seinen Griff. »Na, wenigstens hast du dir deinen Humor bewahrt«, bemerkte er. »Kannst du dir vorstellen, wie frustrierend es für mich ist, mit dir zusammenzuleben und dich nie anrühren zu dürfen? Was meinst du, möchtest du, dass wir es versuchen?«
»Vielleicht«, erwiderte Sally nachdenklich, »wenn du mich erst noch einen Brandy trinken lässt – und wenn ich wirklich das Messer mitnehmen darf.«
Dieser erste Versuch war kein Erfolg. Sally war wie gelähmt vor Angst, und Carson entmutigte das bereitliegende Messer. Dennoch erwies er sich wieder einmal als ausdauernder, geduldiger Mann und ließ nicht locker. Er schenkte Sally all die Zärtlichkeit, derer er fähig war, bis schließlich eines Nachts das Messer aus seinem Blickfeld verschwand und mit Sallys Erlaubnis unter dem Bett landete.
Aber auch dann noch blieb der Liebesakt unvollendet und beschränkt auf Zärtlichkeiten, Küsse und Liebesbeteuerungen. Carson dachte jeden Abend, dass dieses Unterfangen die komplizierteste und langwierigste Verführung war, die er, die überhaupt je ein Mann in Angriff genommen hatte.
Da es eine große Herausforderung darstellte, wurde es eine Art Spiel für ihn, ein Spiel, das er unter allen Umständen gewinnen wollte. Die am Ende seiner Bemühungen stehende Erfüllung war ein so verlockendes Ziel, dass er sogar in der Lage war, sein aufflackerndes Verlangen zu bezähmen.
Trotz allem war er sich bewusst, dass dieses Spiel auch entsetzlich schiefgehen konnte – eine einzige falsche Bewegung, und alles wäre vorbei. Sally war nicht der Typ, der jemandem eine zweite Chance gab. Carson war so sehr darauf bedacht, ihr keine Angst zu machen, dass er sich zwang, eine ive Rolle zu spielen. Er dachte, dass sie ihre Furcht, überwältigt und missbraucht zu werden, eher verlieren würde, wenn sie das Gefühl hatte, der dominierende Partner zu sein. Dabei machte er eine völlig neue Erfahrung – es war, als würde er von einem schönen, unschuldigen Kind umworben, mit richtigem Sex hatte diese Variante weniger zu tun. Bisweilen fühlte er sich in diesen Augenblicken herrlich entspannt, an anderen Tagen hielt er es für eine unerträgliche Grausamkeit, ihren vollendeten Körper so nah zu spüren, ohne das tun zu können, was ihm schon seit Monaten nicht mehr aus dem Kopf ging. Er vermutete, dass sie nicht die leiseste Ahnung hatte, wie provokativ sie war oder wie nahe sie ihn an den Abgrund des Wahnsinns trieb.
Sally war fasziniert und neugierig zugleich, aber sie blieb dennoch wachsam und stellte ihn unbewusst auf die Probe, um sicherzugehen, ob sie ihm auch wirklich trauen konnte. Ebenso unbewusst beglich sie eine alte Rechnung – sie vergalt die ausgestandenen Qualen mit Folter und zahlte dem männlichen Geschlecht das heim, was es ihrer Meinung nach den Frauen antat.
Natürlich konnte sich Carson in seiner Not Erleichterung verschaffen, aber davon wusste Sally nichts. Wenn ihn die Verzweiflung übermannte, konnte er zu einigen Frauen in Montreal gehen, die ihm nur allzu gern den Trost spendeten, den er sich wünschte. Schon bald lebte er nach einem äußerst befriedigenden Konzept – an den meisten Abenden kam er körperlich entspannt nach einem Besuch bei einer Geliebten heim und war so in der Lage, das seltsame Spiel seines Patenkindes heil zu überstehen. Sally wunderte sich nie, dass er immer häufiger spät nach Hause kam, und sie stellte keine Fragen, weil sie glaubte, dass er in der Redaktion viel zu tun hatte. Aber wie in allen anderen Städten der Welt blieben auch in Montreal die Aktivitäten Einzelner nicht verborgen – in der Gesellschaft wurde getuschelt und geklatscht. Die augenscheinlich überall präsente Vorliebe, sich in die Angelegenheiten anderer zu mischen, treibt in Nordamerika besonders wilde Blüten, wenn der Winter ins Land gezogen ist. Egal, wie verstohlen sich die Pärchen mitten in der Nacht in ihre Liebesnester schleichen, der Schnee, der ihre Schritte dämpft, hält ihre Spuren fest und friert sie unauslöschlich und für alle sichtbar ein. Noch schlimmer sind diejenigen dran, die sich im Schutze der Nacht heimlich auf den Weg machen, wenn der nördliche Himmel sternenklar ist – der glitzernde Schnee, der Mond und die unzähligen schimmernden Sterne beleuchten die Welt wie eine Flutlichtanlage. In dieser weißen, funkelnden Welt fallen die Liebhaber, die durch die Straßen huschen, auf wie dunkle Statuen im Scheinwerferlicht.
Es war unvermeidbar, dass Carson Mackenzies Schäferstündchen registriert wurden. Er wurde des Öfteren beobachtet, wie er spätabends über den Redpath Place stapfte. Natürlich kannte jeder die Lady, die er beglückte – sie war eins der wohlhabendsten und angesehensten Mitglieder der höheren Gesellschaft. Kein Mensch konnte etwas gegen diese Verbindung vorbringen, die beiden ten ausgezeichnet zusammen, dennoch wetzten die Leute ihre Zungen, und die Neuigkeiten über das heimliche Paar verbreiteten sich wie Lauffeuer in der
ganzen Stadt.
Es dauerte nicht lange, bis alle Welt herausfand, wen sich Carson sonst noch als Geliebte hielt. Die Einzelheiten über sein unstetes, lustiges Leben wurden zum beliebtesten Thema bei allen Cocktailpartys in ganz Westmount.
Brock Hamilton tat sein Bestes, um all die Gerüchte von seiner Frau fernzuhalten, aber sie erfuhr doch alles, wie er es befürchtet hatte.
»Habe ich’s dir nicht von Anfang an gesagt?«, fragte Louise ihren Mann. »Das geht wirklich zu weit, ich hätte gute Lust, Carson wegen dieser Sache umzubringen.«
Sie rief Carson in der Redaktion an und bestand darauf, sich zum Mittagessen mit ihm zu treffen. Carson merkte sofort, dass ihr etwas Kummer bereitete, und bestellte zwei große Martinis, ehe er ihr die Gelegenheit gab, ihrem Ärger Luft zu machen. Den heftigen Ausbruch und die Beschimpfungen, die sich Louise schon vorher zurechtgelegt haben musste, hatte er allerdings nicht erwartet. Er wäre beinahe an seinem Martini erstickt, als sie ihre Tirade vom Stapel ließ. »Du bist ein Bastard, Carson. Du beschwatzt Sally, mit dir zusammenzuleben, obwohl du genau weißt, welche Probleme sie hat – du wusstest doch genau, dass sie nie herumgespielt hat und dass sie verletzbarer als andere ist –, und trotzdem treibst du dich herum und vögelst mit den Frauen von halb Westmount. Wage bloß nicht, das abzustreiten. Ich weiß genau Bescheid. Jeder in der Stadt weiß alles. Du hast eine Affäre mit Martha. Und mit Kathy, nach allem, was ich gehört habe. Und mit Audrey. Du hast meine Tochter nach Strich und Faden betrogen und zum Gespött gemacht. Ich kann das nicht fassen! Was hast du nicht alles versprochen, und jetzt … Das muss sofort aufhören, Carson. Du hast versprochen, dass du Sally nicht anrührst und dass du ihr niemals wehtun willst, und dann drehst du dich auf dem Absatz um und steigst in Marthas Bett. Du kannst nicht treu sein, selbst wenn du es versuchen würdest, nicht Sally und sonst auch niemandem. Es gibt offenbar keine Frau in dieser Stadt, bei der du es
nicht irgendwann probiert hast. Warum musstest du auch noch Sally haben? Wieso konntest du sie nicht einfach in Ruhe lassen?«
»He, halt mal eine Minute die Luft an, ja?«, unterbrach Carson ihren Wortschwall. »Du ziehst eindeutig die falschen Schlüsse. Deinem kleinen Mädchen … ehrlich, ich habe Sally nichts getan.« Er sah Louises Gesichtsausdruck und wählte die folgenden Worte mit Bedacht. »Ich schwöre zu Gott, Louise, ich habe sie nicht angerührt. Soweit ich weiß, ist sie immer noch Jungfrau.«
»Und du erwartest allen Ernstes von mir, dass ich dir das glaube?«
»Du kannst glauben, was du willst – aber ich sage die Wahrheit.«
»Sie liebt dich, Carson, und das weißt du genau. Man braucht sie ja nur anzusehen, es steht ihr ins Gesicht geschrieben. Willst du mir erzählen, dass du seit Monaten mit einem jungen, attraktiven Mädchen, das sich Hals über Kopf in dich verliebt hat, Tür an Tür lebst und sie nicht angefasst hast? Mach mir doch nichts vor, Carson!«
»Na ja …« Carson war nicht sicher, wie viel er preisgeben sollte. »Ich habe sie angefasst, das ist wahr, aber mehr ist nicht iert.«
»Ich kann darauf wetten, dass du sie angefasst hast. Selbst wenn du es gewollt hättest, könntest du die Finger nicht von ihr lassen. Ich kenne dich und weiß noch genau, was Gail durchgemacht hat … Was glaubst du, wie es Sally geht, wenn sie herausfindet, wo du dich überall herumtreibst? Hast du überhaupt Zeit gehabt, darüber nachzudenken, was du ihr damit antust?«
»Um Himmels willen, Louise, hör auf damit. Ja, ich habe sie angerührt – ich habe sie geküsst und sie umarmt, aber das ist alles, ich schwöre es. Ich habe nie … Sie will es nicht … Zur Hölle, du weißt genau, wovon ich spreche, Louise. Versuche mal, dich in meine Lage zu versetzen – ich teile meine Wohnung mit einem bezaubernden, jungen Mädchen. Sie ist süß, hübsch und liebenswert und läuft im Nachthemd oder nur in ein Handtuch gewickelt vor meinen Augen herum. Sie legt sich sogar zu mir ins Bett, aber sie will nicht wirklich mit mir schlafen. Ich habe nicht vor, sie zu etwas zu zwingen oder mir rücksichtslos zu holen, was ich haben möchte. Was, zum Teufel, soll ich deiner Meinung nach tun? Leben wie ein verdammter Mönch?«
»Ist das wirklich wahr?«
»Sicher. Das Mädchen braucht professionelle Hilfe – sie muss zu einem Psychoanalytiker. Ich habe mir alle Mühe gegeben, sie dazu zu überreden, und ihr gesagt, dass ich dafür aufkomme, aber schon allein der Gedanke daran entsetzt sie. Sie ist richtig blockiert. Ich würde ihr gern helfen, aber ich weiß nicht, wie. Vielleicht bist du klüger, du könntest zumindest mal mit ihr reden.«
»Das tue ich bestimmt«, versetzte Louise, »da kannst du verdammt sicher sein. Und wenn ich herausfinde, dass du mich belogen hast, Carson, dann gnade dir Gott – du wirst den Rest deines Lebens dafür bezahlen und kannst nie mehr einen Fuß nach Westmount setzen, das verspreche ich dir. Ich werde dich ruinieren. Ich …«
»Hör schon auf, ich habe sehr gut verstanden, was du meinst. Zufällig habe ich nicht gelogen, also kannst du dich beruhigen. Und –« diese Bemerkung konnte er sich doch nicht verkneifen –, »wenn du deine Tochter dazu bringen könntest, mir ihren wunderschönen Körper zu schenken, würdest du mir einen großen Gefallen tun.«
»Carson! Das ist alles, was dich beschäftigt!«
Carson lachte. »Du hast recht. Es wird schon zur Besessenheit …« Als er ihr Gesicht sah, wusste er, dass er zu weit gegangen war. »Beruhige dich, um Gottes willen. Das sollte ein Scherz sein.«
Natürlich war es kein Scherz. Blödsinnigerweise hatte er es irgendwie geschafft, sich in ein verrücktes Kind zu verlieben, das ihn langsam, aber sicher in den Wahnsinn trieb.
Louise war wild entschlossen, der Sache auf den Grund zu gehen. Sie hatte sich nicht vorgenommen, Sally von Carsons Eskapaden zu erzählen – ihr rutschte eine Andeutung aus Versehen heraus. Na, immerhin war das alles Sallys Schuld, weil sie so zickig war. Was bildete sie sich eigentlich ein? Wieso saß sie auf einem so hohen Ross? Dazu hatte das verdrehte Kind wirklich keinen Grund.
Trotzdem fühlte sich Louise elend. Sallys Gesicht … nein, an ihr Gesicht wollte sie nicht denken. Jemand musste es Sally sagen, sie musste erfahren, was für ein Mensch Carson war, und wenn es stimmte, dass sie nicht seine Geliebte war, was sollte es ihr dann ausmachen? Vielleicht bewahrte es sie davor, sich noch mehr mit ihm einzulassen. Möglicherweise war die unbedachte Äußerung das Beste, was Louise für ihre Tochter hatte tun können. Auf keinen Fall wollte sie, dass sich Sally mit einem Kerl abgab, der sich mit allen möglichen anderen Frauen amüsierte. Und sie wollte auch nicht, dass sie eine Affäre mit ihm hatte – von allem Anfang an war sie dagegen gewesen.
Carson täuschte sich nicht oft in seinen Mitmenschen, aber Louise hatte er vollkommen falsch eingeschätzt. Ihm wäre nie in den Sinn gekommen, dass sie
Sally von seinen amourösen Abenteuern erzählen würde. Er hätte nicht geglaubt, dass sie zu so etwas fähig war, und deshalb war er gänzlich unvorbereitet auf das Drama, das ihn an diesem Abend in seiner Wohnung erwartete.
»Du warst bei Audrey Beaumont, habe ich recht?«, fragte Sally, sobald er zur Tür hereinkam. Sie hockte mit einem Glas in der Hand auf dem Fußboden im Wohnzimmer, und ihr Gesicht war weiß wie die Wand.
»Was?«
»Kommst du deshalb immer so spät? Triffst du dich jeden Abend mit ihr?«
»Sally, was soll das?«
»Ich weiß über sie Bescheid, du brauchst dich also nicht zu verstellen. Ich weiß auch von Martha Mitchell und Kathy Henderson. Wie schaffst du es nur, mit allen gleichzeitig zurechtzukommen? Siehst du sie tagsüber oder nach der Arbeit?«
Carson ging auf sie zu und sah sie an. »Wer hat dir das alles erzählt?«
»Mum.«
»Deine Mutter?«
»Ja, meine Mutter, und ich bin froh, dass sie es getan hat. Wieso hast du mir das alles verschwiegen?«
»Ich wollte dir nicht wehtun.«
»Na, ich kann nicht sagen, dass es dir gelungen ist, mich nicht zu verletzen«, sagte sie, dann bekräftigte sie im Flüsterton: »Du hast es getan, du hast es getan.« Carson zog sie auf die Füße und versuchte, sie in die Arme zu nehmen. »Rühr mich nicht an!«, schrie sie und schubste ihn von sich.
»Sally«, protestierte er und ignorierte zum ersten Mal ihre Wünsche – er hielt sie fest. »Ich will dir alles erklären.«
Sie schnaubte spöttisch. »Da gibt es nichts zu erklären, die Sache ist offensichtlich.«
»O doch, dazu kann ich dir einiges sagen«, widersprach Carson. »Ich denke, wir müssen eine ganze Menge klarstellen.«
Er zerrte Sally zum Sofa, setzte sich und zog sie auf seinen Schoß. Sie wehrte sich nach Kräften, aber er ließ sie nicht entwischen.
Er wartete, bis sie ihre fruchtlosen Befreiungsversuche aufgab, dann sagte er: »Du hast nicht die leiseste Ahnung, was es für mich heißt, mit dir zusammen in einer Wohnung zu leben, ohne richtig mit dir schlafen zu dürfen? Du weißt, was
ich für dich empfinde, aber wahrscheinlich ist dir nicht klar, welche körperlichen Qualen ich ausstehen muss. Es ist die reinste Folter, dich in meinem Bett zu haben und nicht das mit dir tun zu können, was Mann und Frau normalerweise im Bett tun. Ich möchte dich richtig lieben – du musst doch spüren, wie sehr ich mich danach sehne, aber du lässt mich nicht an dich heran. Das macht mich verrückt. Du kommst jede Nacht in mein Zimmer und tust alles, was nur möglich ist, um mich zu erregen, aber ich darf nicht mit dir schlafen. Kannst du dir vorstellen, wie ich mich dabei fühle? Hast du eine Ahnung, was ich durchmache?«
Sally schwieg nachdenklich, und Carson fuhr fort: »Ich habe so viel Geduld aufgebracht, wie ich konnte, und bin monatelang durch die Hölle gegangen. Ich liebe dich, verdammt noch mal, und ich habe in meinem ganzen Leben noch nie jemanden so sehr begehrt wie dich. Was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Du weißt, dass ich dich nie drängen oder etwas tun würde, was du nicht willst. Ich habe dir mein Wort gegeben – und ich werde es nicht brechen. Aber ich bin eben nicht aus Stein, Sally. Wenn du vernünftig über alles nachdenkst, begreifst du, was geschehen ist.«
Sally schämte sich. »Das habe ich nicht gewusst, ich habe es einfach nicht gemerkt«, murmelte sie.
»Oh, du hast es ganz sicher gemerkt, du bist gar nicht so unschuldig und naiv, wie du dich geben willst. Kann ja sein, dass du es dir und anderen nicht gern eingestehst, und ich weiß auch nicht, ob es dir richtig bewusst wird, aber ich sage dir, im Grunde deines Herzens weißt du verdammt genau, was du tust. Du bestrafst mich für die Untaten dieses Burschen aus Paris – und ich kann dir das nicht einmal übel nehmen, wirklich nicht. Du hast jedes Recht, es den Männern heimzuzahlen. Du glaubst doch nicht, dass ich das alles mitgemacht und auf mich genommen hätte, wenn ich nicht davon überzeugt wäre, oder?«
»Das war nicht meine Absicht.«
»Mach dir nichts vor, Sally. Du hast es sehr wohl beabsichtigt. Du wolltest herausfinden, ob ich mein Wort auch tatsächlich und unter allen Umständen halte. Das ist doch der wahre Grund, nicht?« Sally nickte. »Ja, das habe ich mir schon gedacht«, fuhr Carson fort. »Du wolltest ergründen, ob du mir trauen kannst oder ob ich mich plötzlich in ein Ungeheuer verwandle. Gut, das ist nur allzu verständlich, aber wie lange willst du dieses Spiel noch fortsetzen? Lieber Gott, welchen Beweis brauchst du denn noch? Wir sind jetzt sechs Monate zusammen – wie viel Zeit muss noch vergehen, bis du von meiner Aufrichtigkeit überzeugt bist?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte sie kläglich.
»Gütiger Himmel«, brüllte Carson. »Und du erwartest von mir, dass ich mir keine Geliebte suche? Du hast vielleicht Nerven, Sally. Mein Gott, begreifst du denn nicht, dass das kein Mann aushalten kann?«
»Sei mir nicht böse«, wimmerte Sally. »Bitte schrei mich nicht so an.«
»Ich bin dir nicht böse, ich bin lediglich wütend auf mich selbst. Verstehst du das nicht? Ich will dich. Ich bin verrückt nach dir. Du treibst mich in den Wahnsinn. Eines kann ich dir sagen: Ob es dir gefällt oder nicht, ich werde mit jeder Frau vögeln, die ich erwische und die sich nicht ziert, bis du mir erlaubst, dich richtig zu lieben – vorausgesetzt natürlich, du gibst je deine Zustimmung dazu. Andernfalls … würde ich wahrscheinlich endgültig den Verstand verlieren.« Eigentlich wollte er sagen: »Andernfalls würde ich dich wahrscheinlich über kurz oder lang erwürgen«, aber er besann sich gerade noch rechtzeitig eines Besseren.«
Sally sagte eine ganze Weile kein Wort. Sie saß wie eine schlaffe Stoffpuppe auf seinem Schoß und ließ niedergeschlagen den Kopf hängen. Plötzlich erwachte sie wieder zum Leben und sah ihn an. »Wenn ich es zulasse, dass du mit mir schläfst, würdest du dann nicht mehr zu diesen anderen Frauen gehen?«
»Ja, aber wenn du mit einem solchen Angebot nur ein einmaliges Erlebnis meinst, kann ich diese Zusage nicht einhalten. Ich meine, eine Nacht mit dir wäre großartig und etwas ganz Wunderbares, du darfst das nicht missverstehen, doch das würde mich nicht – übrigens auch keinen anderen Mann – für den Rest meines Lebens zufriedenstellen.« Er lachte in der Hoffnung, ihr damit wenigstens ein kleines Lächeln entlocken zu können.
Sie lächelte nicht.
»Also schön. Du darfst mit mir schlafen«, erwiderte sie resigniert.
Ob sie das wirklich ernst meinte oder nicht, hätte Carson nicht sagen können.
»Du scheinst nicht gerade begeistert von dieser Idee zu sein«, meinte er.
»Ich habe keine Ahnung, wie es ist, bis ich es versucht habe, oder? Ich möchte, dass du es jetzt sofort tust.«
»Jetzt gleich?«
»Ja.«
»Bist du sicher?«
»Ja.«
»Menschenskind, ich bin wirklich ein richtiger Glückspilz.«
Er bemühte sich um einen fröhlichen Tonfall, scheiterte jedoch kläglich.
Sally war nervöser denn je.
»Vergiss nicht, dass das Messer unter dem Bett liegt«, versuchte er, sie aufzuheitern. »Du kannst mich jederzeit durchbohren und zerstückeln, wenn du nicht mit mir zufrieden bist. Es ist ein sehr scharfes Messer, musst du wissen.« Er sah ihr ins Gesicht – es war vollkommen ausdruckslos. »Komm schon, Kleines«, flüsterte er und küsste sie sanft auf die Stirn, »kannst du mir nicht wenigstens ein winzig kleines Lächeln schenken, bevor wir ins Bett gehen?«
17
Endlich hatte Carson sein Ziel erreicht, aber es war bei Weitem kein so triumphaler Sieg, wie er es sich vorher ausgemalt hatte. Es schien, als wäre Sally der Meinung, dass sie ihre Rollen komplett vertauschen müssten. Sie blieb vollkommen teilnahmslos, und obwohl sie bis jetzt immer die aktive Partnerin gewesen war, ließ sie jetzt alles ohne Regung über sich ergehen. Zuerst war Carson nachsichtig und bemühte sich, ihr Verhalten zu akzeptieren, aber nach einiger Zeit betrachtete er es als neue Herausforderung. Manchmal machte er sich auch gar keine Gedanken wegen Sallys Teilnahmslosigkeit und fand es hin und wieder sogar aufregend, mit einer schlaffen Puppe Liebe zu machen. Aber dieses erregende Gefühl flaute rasch ab – Carson verlor den Mut und war ratlos. Sally schien keineswegs unglücklich zu sein, und offenbar hatte sie auch keine Angst vor ihm. Er versuchte sich selbst mit dem Gedanken zu trösten, dass sie zehn oder elf Jahre gebraucht hatte, um zu diesem Punkt zu kommen, an dem sie jetzt stand – er konnte kaum erwarten, dass sie sozusagen über Nacht zu einer leidenschaftlichen Geliebten wurde. Sie braucht Zeit, redete er sich ein, alles wird besser, wenn ich ihr genügend Zeit lasse, ihr Selbstbewusstsein zu stärken.
Dennoch verließ ihn nach ein paar Monaten die Zuversicht, und er konnte sich kaum mehr vorstellen, dass sich je etwas ändern würde.
»Gefällt es dir denn kein bisschen?«, fragte er Sally eines Nachts.
»Es ist nicht schlecht.«
»›Nicht schlecht‹? Bedeutet es dir nicht ein bisschen mehr? Empfindest du gar nichts dabei?«
»Es ist wirklich nicht schlecht«, wiederholte sie, »es ist ganz okay.«
»Du fürchtest dich immer noch, stimmt’s?«
»Nein.«
»Überhaupt nicht mehr?«
»Ich glaube nicht.«
»Das klingt aber nicht gerade überzeugend.«
»Mit jedem anderen hätte ich wahrscheinlich entsetzliche Angst, aber vor dir fürchte ich mich nicht.«
»Na, das ist wenigstens etwas.«
Er betrachtete die neben ihm liegende Gestalt und wurde plötzlich wütend. Sally hatte den Kopf zur Seite gedreht, sodass er nur ihr Profil sehen konnte. Ihre Augen waren geschlossen, als versuchte sie zu vergessen, wo sie sich befand, und ihre Arme lagen wie häufig bei solchen Gelegenheiten schlaff auf der Bettdecke. Oft hatte er den Eindruck, dass während des Liebesspiels ihre Glieder vollkommen losgelöst von ihrem Körper waren.
»Es sollte eigentlich Spaß machen, Sally«, erklärte Carson ärgerlich. »Dir sollte es Spaß machen.«
Sie drehte sich zu ihm um und sah ihn an. »Ja, ich weiß«, sagte sie, »es tut mir leid. Ich denke, das liegt daran, dass wir nicht verheiratet sind. Kannst du dich daran erinnern, dass ich dir einmal gesagt habe, es würde nicht funktionieren, wenn wir nicht verheiratet sind? Ich kann dir nicht genau erklären, warum, aber ich fühle mich irgendwie benutzt.«
»Du denkst, ich benutze dich?«, Carson war erstaunt und wütend zugleich über diesen Vorwurf.
»Ich weiß, dass du das ganz anders siehst, aber mir kommt es eben so vor. Ich kann keinen Unterschied zwischen mir und diesen anderen Frauen, die du hattest, erkennen. Ich glaube, ich bin mir deiner nicht sicher. Ich habe Angst, dass du eines Tages gehst und mich allein lässt. Ich könnte ohne dich nicht mehr leben, und es ist mir wichtig, dass du es wirklich ernst meinst. Ich muss wissen, dass unsere Beziehung etwas Dauerhaftes ist.«
»Und du meinst, dass du dich sicherer fühlen würdest, wenn wir verheiratet wären?«
»Aber natürlich!«
»Warum, um alles in der Welt, hast du mir das nicht schon vorher gesagt?«
»Ich dachte, du wüsstest das.«
Carson schwieg eine Weile. Sally schloss wieder die Augen, aber er spürte, dass sie gespannt auf seine Antwort wartete.
»Also gut, wenn du es so willst«, sagte er nach kurzem Nachdenken. »Wir sollten meinen Kindern sagen, was wir vorhaben – wir müssen zu ihnen fahren. Mit deinen Eltern reden wir danach. Ich schätze, sie sind glücklich über unseren Entschluss.« Er hegte zwar seine Zweifel, was Louise betraf, aber er hatte nicht vor, Sally mit seinen Bedenken zu behelligen.
»Was ist mit deinen Freunden?«
»Die freuen sich wahnsinnig, darauf kannst du deinen letzten Dollar verwetten. Alle Welt wird begeistert sein, wenn wir vor den Traualtar treten.«
Er behielt recht. Alle freuten sich mit ihnen. Es war eine äußerst ende Verbindung von zwei wohlhabenden, angesehenen Familien. Darüber, dass Sally etwas zu jung für Carson war, sprachen die Leute nicht mehr, daran hatten sie sich schon im Laufe der Zeit gewöhnt, seit sie wussten, dass die beiden ein Paar waren.
Carsons Freunde waren besonders zufrieden, weil sie längst bemerkt hatten, wie gern er Sally hatte. Wenn sie sich über die Hochzeit unterhielten, stellten sie immer wieder fest, wie glücklich er sein musste, weil er seit Monaten nicht mehr in fremden Betten herumgestreunt war – und das wollte bei Carson Mackenzie
schon etwas heißen, das war allen klar. Er hatte ihnen leidgetan, als Gail gestorben war. Eine Zeit lang hatte er sich sehr einsam gefühlt, und auch wenn seine Kinder schon erwachsen und aus dem Haus waren, mussten sie froh sein, dass ihr Vater noch einmal sein Glück gefunden hatte.
Auch für Sally war es wichtig zu wissen, zu wem sie gehörte, in diesem Punkt war man sich genauso einig. Nach all den Sorgen, die sie Brock und Louise mit diesem französischen Freund und ihrem Umzug in das französische Viertel bereitet hatte, war eine Heirat mit Carson das Beste, was ihr ieren konnte. Es war höchste Zeit, dass Sally Hamilton unter die Haube kam, daran konnte kein Zweifel bestehen. Für beide war es ein großes Glück, dass sie sich gefunden und geeinigt hatten.
Sogar Louise strahlte – sie hatte sich schon so lange gewünscht, dass Sally eine verheiratete Frau war, und ihr war ebenso wie allen anderen aus Westmount aufgefallen, dass Carson sich nicht mehr in fremden Betten herumtrieb. Möglicherweise hatte ihn Sally von seiner Unrast geheilt, denn er hatte sich wirklich verändert, das konnte Louise nicht abstreiten.
Sie ahnte, dass sich schließlich doch alles zum Guten wenden würde, wenn die beiden erst verheiratet waren und Carson keinen Grund mehr hatte, sich anderweitig umzusehen. Eine Erkenntnis traf Louise wie ein Keulenschlag: Sie hatte sich anfänglich nur deshalb so vehement gegen die Verbindung von Carson und Sally gewehrt, weil sie selbst einmal in Carson verliebt gewesen war – aber das war alles vorbei und vergessen.
Während der folgenden Monate musste sich Carson mit Louises Entschlossenheit, die Hochzeit ihrer Tochter zu einem denkwürdigen Ereignis zu machen, abfinden. Er war keineswegs begeistert – er wollte keine große Hochzeit –, aber er musste einsehen, dass Louise alles bereits bis ins Detail geplant und in Angriff genommen hatte. Außerdem schien sich Sally, soweit er es beurteilen konnte, auf das Fest zu freuen. Er vermutete, dass ihr ein
spektakuläres Ereignis mehr Sicherheit und inneren Frieden bescheren würde als eine schlichte Trauung, und das konnte ihm nur recht sein. Wahrscheinlich brauchte sie diese öffentliche Zurschaustellung eines ganz privaten Entschlusses, sagte er sich. Wie konnte er etwas dagegen haben, wenn es sie glücklich machte? Er war verrückt nach dem Mädchen und wollte, dass sie ihren Spaß hatte.
An ihrem Verhältnis änderte sich nicht viel, die Dinge zwischen ihm und Sally blieben so kompliziert und unbefriedigend, wie sie vorher gewesen waren, aber Carson tröstete sich mit dem Gedanken, dass nach der Hochzeit alles anders werden würde. Obwohl er es selbst nicht ganz verstand, glaubte er Sally, wenn sie beteuerte, dass sie nach der Trauung selbstsicherer, liebevoller und zugänglicher sein könnte.
18
Die Mackenzies waren ein beliebtes, bei allen Einladungen gern gesehenes Paar, und in vielerlei Hinsicht konnte man ihre Ehe als Erfolg betrachten. Sally und Carson waren füreinander bestimmt. Sally war selbstbewusster geworden, seit sie eine verheiratete Frau war, und alle stimmten darin überein, dass sie Carson jung hielt. Carson hatte nicht die Absicht, eine zweite Familie zu gründen – Sally war froh darüber und verzichtete ohne Reue auf eine Mutterschaft.
Carson wollte, dass sie ihren Job aufgab, aber Sally fühlte sich moralisch verpflichtet, den misshandelten Frauen auch weiterhin mit Rat und Tat zur Seite zu stehen.
»Du brauchst nicht zu arbeiten«, sagte Carson immer wieder zu ihr. »Ich verdiene genug Geld, um uns beiden ein angenehmes Leben zu bieten, und außerdem habe ich das Vermögen der Familie geerbt.«
»Darum geht es doch gar nicht«, erwiderte sie. »Jemand muss diesen bedauernswerten Frauen helfen, und wenn Menschen wie ich es nicht tun, wer dann? Noch dazu würde ich mich entsetzlich langweilen, wenn ich nicht mehr arbeiten würde.«
»Aber du reibst dich dabei auf. Diese Art Arbeit deprimiert dich, und das ist wirklich kein Wunder. Du siehst nur die schlimmste Seite des Lebens. Glaubst du nicht, dass es Zeit für dich wird, ein bisschen mehr Spaß zu haben?«
»Du redest schon wie Mum und Dad. Du willst gar nicht wissen, was sich da
draußen alles abspielt, stimmt’s? Du glaubst offenbar, dass in einem Land, das sich nicht im Kriegszustand befindet, alle so ein behagliches und sicheres Leben führen wie du. Aber da täuschst du dich gewaltig, Carson. Die Welt ist voll von brutalen Menschen, die anderen die schrecklichsten Dinge antun. Sie ist voll von Verrückten und Wahnsinnigen, und hauptsächlich Frauen werden verprügelt und misshandelt.«
Carson brauchte vier Jahre, bis er sie so weit gebracht hatte, sich wenigstens an zwei Nachmittagen in der Woche mit etwas anderem zu beschäftigen, und auch diesen kleinen Erfolg erzielte er nur, weil er ihr Interesse für Kunst entdeckt hatte.
»Du bist wirklich gut, Sally, du hast ein Auge für neue Talente. Warum befasst du dich nicht mehr mit Kunst und Kunstgeschichte, lernst etwas und nutzt es dann beruflich? Du könntest dich in einem Kunstkurs einschreiben oder noch einmal auf die Uni gehen und Kunstgeschichte studieren.«
Der Gedanke erschien Sally verlockend. »Ich werde darüber nachdenken«, versprach sie.
Schließlich erklärte sie sich bereit, an zwei Nachmittagen in der Woche für einen ihrer Freunde, einen Kunsthändler, zu arbeiten, aber den Rest ihrer Zeit widmete sie nach wie vor den misshandelten Frauen.
Durch die Heirat mit Carson war Sally gezwungen, sich einem Lebensstil anzuen, der ihr im Grunde gar nicht zusagte und mit dem sie sich nur ihrem Mann zuliebe einverstanden erklärte. Sie amüsierten sich die meiste Zeit, wurden an den richtigen Orten gesehen, und ihre Namen erschienen regelmäßig in der Gesellschaftskolumne der Gazette.
Obwohl sie ein weniger geselliges Dasein bevorzugt hätte, hielt sich Sally für eine glückliche Frau, und Carson war der Meinung, dass sie mit ihrem Leben zufrieden war. Er hatte sich inzwischen damit abgefunden, dass sie im Bett niemals echtes Vergnügen empfinden konnte. Sie war nicht völlig frigide, mutmaßte er, aber es war nicht zu übersehen, dass der Sex ihr nicht so viel bedeutete wie den meisten anderen Menschen. Trotzdem tat sie ihr Bestes, daran bestand kein Zweifel. Er konnte sich nicht beklagen. Sie war sehr hübsch, liebenswert und amüsant, sie te in seine gesellschaftlichen Kreise, und es war für jedermann offensichtlich, dass sie ihn genauso liebte wie er sie.
In seiner Verzweiflung schlief Carson gelegentlich mit anderen Frauen, aber er ging bei seinen kleinen Affären sehr viel umsichtiger vor als in der Vergangenheit. Er stellte sicher, dass die Dinge, die er auf Reisen trieb, nie nach Montreal dringen konnten.
Er und Sally hatten zu einem modus vivendi gefunden, den beide akzeptieren konnten und mit dem sie beinahe zehn Jahre glücklich lebten. Carson stand kurz vor der Pensionierung, als Sally endlich und gänzlich unerwartet begriff, welche Macht der Sex hatte.
Die Scott-Williams gaben eine große Party. Jeder, der Rang und Namen hatte, war eingeladen. Wie immer schaffte es Sally nicht, rechtzeitig fertig zu werden. Niemand rechnete mehr damit, dass die Mackenzies pünktlich waren – das gelang ihnen nie –, deshalb schenkte sich Carson erst einmal einen Drink ein, setzte sich ins Wohnzimmer und sah fern, während seine Frau noch eine weitere Stunde damit zubrachte, verschiedene Kleider anzuprobieren und an ihrer Frisur herumzufummeln. »Komm endlich, Kleines, beeil dich«, schrie Carson schließlich.
»Schon gut«, rief sie zurück. »Ich bin fertig, lass uns gehen.«
Sie schwiegen während der Fahrt, und Carson dachte einmal mehr darüber nach, wie schön Sally war. Noch Jahre später sollte er sich daran erinnern, welches Kleid sie an diesem Abend getragen hatte.
Ein Mädchen öffnete die Tür und nahm ihnen die Mäntel ab. Im oberen Stockwerk standen die Leute in Grüppchen zusammen oder schlenderten von einem zum anderen. Eine ausgelassene Lachsalve schlug Carson und Sally entgegen, als sie dem Mädchen die Treppe hinauf folgten und in einen Raum kamen, in dem sich ihre angeheiterten Freunde drängten. Sally sah sie gar nicht – sie sah nur ein einziges Gesicht.
Ein Atoll. Ein Eisberg. Eine arktische Eisscholle. Der ganze Raum drehte sich um sie, als sie in den Strudel ihrer Vergangenheit gerissen wurde. Carson merkte, wie sie schwankte, und streckte den Arm aus, um sie zu stützen. Ihm stockte der Atem, als er den Ausdruck in ihren Augen sah.
»Was ist los mit dir?«, fragte er, aber sie antwortete nicht. Sie klammerte sich an seinen Arm, und der Schweiß trat auf ihre Stirn. »Was ist los?«, wiederholte er, aber offensichtlich hörte sie ihn gar nicht.
Seine Augen sind blau, dachte sie. Wie konnte ich das nur vergessen? Und er hat immer noch dichtes, gut geschnittenes helles Haar.
Ein Abgrund, eine riesengroße Erdspalte, tat sich vor ihr auf, und sie stand hypnotisiert wie ein Tier da, das nachts von Autoscheinwerfern erfasst worden war.
Sie starrten sich lange an, und keiner rührte sich. Aber Sally hatte das fehlende Teil gefunden. Es war, als würde plötzlich ein lange nicht genutztes Stück ihrer selbst zum Leben erwachen und sich zu einem bedrohlichen Wall auftürmen, der sie mit Angst und Schrecken erstickte.
Carson hielt noch immer ihren Arm, als die Gastgeber auf sie zukamen und sie begrüßten. »Gütiger Gott. Sally, du hast ja eiskalte Hände«, rief Jamie ScottWilliams. »Ich hole dir etwas zu trinken, dann möchte ich alles über die Seyraud-Ausstellung hören, die du organisierst und zusammenstellst. Ist es wahr, dass die Bilder alle auf seiner Europareise entstanden sind?«
Die Worte drangen nicht in Sallys Bewusstsein, sie starrte gebannt über Jamies Schulter. »Wer ist das?«, flüsterte sie leise. »Wer ist dieser Mann?«
Jamie drehte sich um und überblickte die versammelte Gesellschaft. »Du meinst Philippe Marignac?«, fragte er. »Seid ihr ihm noch nie begegnet? Ich dachte, alle Welt kennt ihn. Du hast dich doch schon mit ihm bekannt gemacht, Carson, nicht wahr?«
»Nein, aber ich habe viel von ihm gehört. Ist das nicht der Bursche, von dem uns Sue Macintosh neulich erzählt hat – der neue Dozent an der Universität von Montreal?«
»Ganz recht. Er ist mit Sue befreundet. Wenn ihr ihn noch nicht kennt, stelle ich ihn euch gleich vor.«
»Komm, Kleines«, sagte Carson und nahm wieder Sallys Arm. Jamie ging ihnen voran und bahnte sich einen Weg durch die Gästeschar.
Seine Augen flackerten nicht einmal, als er Sally auf sich zukommen sah. »Guten Abend«, sagte er schlicht in englischer Sprache und streckte die Hand aus. Sally ignorierte die Geste und vergrub ihre Hände tief in den Rocktaschen, während sie sich abwandte und Carson mit dem Fremden allein ließ.
Sie entfernte sich langsam und mit unbeholfenen Schritten, als wäre sie durch eine schwere Kette mit ihm verbunden. Ihr war, als würde sie kaum vorwärtskommen, weil er sie an dieser Kette zurückhielt. Wie in ihren schlimmsten Albträumen versuchte sie zu fliehen, merkte aber, dass sie unfähig war, sich zu bewegen. Sie wusste, dass sie weg musste – weg von ihm –, aber ihre Glieder waren bleischwer. Sie schleppte sich durch den Raum und hatte dabei das Gefühl, dass sich ein Anker in ihr Herz gebohrt hatte.
Sie nickte benommen ein paar Freunden zu, die versuchten, mit ihr ins Gespräch zu kommen – zu mehr war sie nicht imstande. Wie in einer Wüste erschien ihr mit einem Mal jedes menschliche Wesen wie eine Illusion, ein bloßes Hitzeflimmern am Horizont, eine Fata Morgana über dem Sand. Immer und immer wieder sagte sie sich, dass es nicht wahr sein konnte. Dieser Mann konnte nicht der Folterknecht aus Paris sein. Aber er war es – diesmal wurde ihr Albtraum zur Wirklichkeit.
Ist es möglich, die Tageszeit zu erahnen, zu spüren, wie spät es ist? Begreifen wir je, wie unsere Herzen schlagen? Können wir unsere eigenen Seelen durch den Dunst der Illusionen und Alltäglichkeiten erkennen? Sind wir Sklaven eines Schicksals, das wir auch mit größter Anstrengung nicht verändern können? Existiert überhaupt so etwas wie freier Wille? Sind wir nicht nur Marionetten, die sinnlosen Idealen anhängen und sich in Wirklichkeit nur einen Weg aus dem Labyrinth der Gedanken und Empfindungen suchen?
An diesem Abend kam der Franzose Sally zweimal näher. Das erste Mal floh sie
in die Küche, weil sie annahm, dass sie hier kein Mensch finden würde. Aber Carson, der sie mit wachsender Aufmerksamkeit beobachtete, sah, dass sie den Raum verließ, und folgte ihr. Er nahm sie in die Arme, als er in die Küche kam. »Was, um alles in der Welt, ist iert?«, fragte er besorgt. »Du zitterst am ganzen Körper. Fühlst du dich nicht gut?«
»Er ist es«, sagte Sally mit tonloser, ungewöhnlich tiefer Stimme. »Ich weiß, dass er es ist.«
»Wer?«
»Dieser Mann. Der Franzose. Der Mann, der … der … mich in Paris entführt hat.«
»Du meinst Philippe Marignac?«, erkundigte sich Carson ungläubig.
»Er ist es, Carson. Ich bin ganz sicher, dass er dieser Mann ist.«
»Herzchen, sei nicht albern. Er ist es bestimmt nicht, wie sollte das möglich sein?«
»Es ist einfach so. Ich habe ihn wiedererkannt. Wirklich, ich bin überzeugt davon, dass er es ist.«
»Liebes, du irrst dich bestimmt. Du hast doch gesagt, dass du dich nicht mehr an
sein Gesicht erinnern kannst.«
»Aber jetzt weiß ich wieder, wie er ausgesehen hat«, krächzte Sally – Carson hatte sie noch nie so erlebt. »Ich bin sicher.«
»Du täuschst dich hundertprozentig, Kleines, aber es hat gar keinen Sinn, dass wir uns hier darüber unterhalten. Möchtest du, dass ich dich nach Hause bringe?«
»Nein«, antwortete Sally fest entschlossen. »Was hätte das für einen Zweck? Er hat mich gefunden. Ich wusste die ganze Zeit, dass er mich irgendwann finden würde.«
»Liebes, ich versichere dir, dass das alles ein Irrtum ist. Vielleicht ist er nur genauso groß und hat dieselbe Haarfarbe – oder vielleicht hast du dich davon täuschen lassen, dass er Franzose ist. Bestimmt liegt es nur daran.« Carson hätte in diesem Moment nach jedem Strohhalm gegriffen. »Ich wette, du bist nur auf diese Idee gekommen, weil er ein echter Franzose aus Frankreich ist.« Als er ihren Gesichtsausdruck sah, hatte er das Gefühl, diese Bemerkung präzisieren zu müssen. »Gedankenassoziation nennt man so was«, murmelte er lahm. »Das ist etwas ganz Natürliches – es kommt oft vor.«
»Es ist sinnlos, Carson. Ich muss doch wissen, ob er es ist. Du hast ja keine Ahnung!«
»Also dann komm und sprich mit ihm – das heißt, wenn du bestimmt nicht nach Hause willst. Nein? Gut, lass uns zu ihm gehen. Ich bleibe bei dir. Ich verspreche dir, dass ich nicht von deiner Seite weiche.« Er drückte ihr einen Kuss auf die
Stirn. »Du wirst sehen, dass er es gar nicht sein kann.«
Sally nahm Philippe Marignac gründlich in die Mangel, und Carson trat verlegen von einem Bein aufs andere, während er zuhörte, wie sie eine Frage nach der anderen abschoss. Sie wollte haargenau wissen, was er in seinem bisherigen Leben getan und wo er sich wann aufgehalten hatte. Zu Carsons Erleichterung schien sich der Franzose nicht viel dabei zu denken. Er gab bereitwillig Auskunft, und seine Antworten hätten Sally eigentlich beruhigen müssen – zumindest war Carson dieser Meinung.
Philippe Marignac war in Martinique, wo sein Vater einen Posten beim Militär hatte, aufgewachsen. Er und seine Familie hatten sich nur selten in Frankreich aufgehalten, und wenn sie doch einmal dort waren, dann nie in Paris. Sie hatten keine Verwandten in der Hauptstadt, die sie hätten besuchen können. Philippes Großeltern lebten am Mittelmeer, und dort verbrachten die Marignacs auch ihre Ferien, wenn sie nach Europa fuhren.
Er hatte die Universität in Paris besucht, das stimmte, aber das war im Jahre 1957 gewesen. 1962 war er längst Student in Harvard gewesen. Er war nie wieder nach Frankreich zurückgekehrt, weil seine Großeltern inzwischen verstorben waren. Da seine Eltern noch in Martinique wohnten, verbrachte er seinen Urlaub dort. Zu Frankreich hätte er nie eine besondere Beziehung entwickelt, erklärte Philippe, und seit dem Tod seiner Großeltern gäbe es keinen Grund für ihn, sein Heimatland zu besuchen.
»Warum haben Sie dann in Paris studiert?«, wollte Sally wissen.
»Ich bin nur in französische Schulen gegangen«, stellte er klar, »deshalb erschien es mir nur natürlich, mein Studium in einer französischen Universität zu beginnen.« Er sah sie die ganze Zeit unverwandt an, und Sally fiel ein seltsames
Glitzern in seinen Augen auf.
Carson hatte noch nie zuvor erlebt, dass seine Frau ein so aggressives, bohrendes Verhör veranstaltete, und er fragte sich, ob sie sich auch so verhielt, wenn sie bei ihrer Arbeit mit Männern verhandelte, die ihren Frauen etwas angetan hatten. Nach einer peinlichen halben Stunde war Carson klar, dass er einen Fehler gemacht hatte – er hätte Sally nach Hause bringen müssen. »Es wird Zeit für uns, Sally«, warf er ein und fügte zu dem Franzosen gewandt hinzu: »Tut mir leid, dass ich die Unterhaltung unterbrechen muss, aber wir müssen wirklich aufbrechen.«
Als sie sich von ihren Gastgebern verabschiedeten, gesellte sich einer von Carsons Cousins zu ihnen. »Hast du etwas dagegen, wenn ich dir Carson kurz entführe?«, fragte er Sally. »Ich würde gern etwas mit ihm besprechen, es dauert nur eine Minute. Jamie sagt, dass du morgen nach Ottawa fährst, stimmt das, Carson?«
»Ja, aber ich komme am Abend zurück.«
»Gut, aber ich muss noch etwas Vertrauliches mit dir besprechen, bevor du fährst.«
Er und Carson gingen hinaus und über den Flur ins gegenüberliegende Arbeitszimmer. Sally beobachtete, wie sie die Tür hinter sich schlossen, und gleich darauf nahm sie wahr, dass sich Philippe Marignac näherte. Sie wirbelte herum und stürmte aus dem Raum, dabei verlor sie in ihrer Hast ihre Abendtasche. Als sie sich bückte, um sie aufzuheben, sah sie seine Füße näher kommen. Sie wollte rennen, nur weg von hier, aber es war zu spät. Als sie sich mit der Tasche in der Hand aufrichtete, stand er schon neben ihr.
»Warum laufen Sie vor mir weg?«, fragte er. »Ich würde gern mit Ihnen reden.«
Sie stand reglos vor ihm, umklammerte verzweifelt ihre Tasche und war nicht fähig, den Blick von ihm zu wenden. Seine Augen waren blau, wiederholte sie in Gedanken. Sie musste insgeheim immer gewusst haben, dass sie blau waren – klar, intelligent, vernünftig –, und sie begegneten so intensiv ihrem Blick, dass sie nicht wegsehen konnte. Sie fühlte, dass er sie erkannte, und es gab keinen Ort, an dem sie sich vor ihm verstecken konnte.
Sie war wie versteinert, als er sie forschend musterte, und sie spürte, dass er bis in die Tiefen ihrer Vergangenheit vordrang.
»Sie haben mir eine Menge Fragen gestellt«, murmelte er. »Jetzt hätte ich gern, dass Sie mir etwas von sich erzählen.«
Sie starrte ihn wie gelähmt an. Seine Gegenwart umhüllte sie und schloss sie mit ihren Ängsten ein. Sie suchte verzweifelt nach etwas, was sie ihm sagen, womit sie ihn abspeisen konnte. Sie war sich bewusst, dass sie ihm irgendetwas anbieten musste, damit er wieder ging.
Wie hoch verschuldete Menschen, die auf der Suche nach etwas Wertvollem, das sie verkaufen können, ihr ganzes Haus auf den Kopf stellen, kramte Sally in ihrem Gedächtnis nach irgendetwas, was ihn zufriedenstellte, nach einem Schatz, mit dem sie ihn bestechen und zum Schweigen bringen konnte. Aber ihr war von vornherein klar, dass all ihre Bemühungen umsonst waren. Sie hatte ihm nichts zu bieten, und ihre Suche erwies sich als verhängnisvoll, denn in den dämmrigen Winkeln ihres Lebens stöberte sie nur den unberechenbaren, nagenden Schmerz auf.
»Sie sagen ja gar nichts«, meinte Philippe. »Gibt es so viel zu erzählen, dass Sie nicht wissen, wo Sie anfangen sollen? Aber ich sehe, dass Ihr Mann zurückkommt. Vielleicht haben wir bei unserem nächsten Zusammentreffen Gelegenheit, uns eingehender zu unterhalten.« Er neigte den Kopf und verbeugte sich leicht, wie wohlerzogene Franzosen es zu tun pflegten. Die Berührung seiner Finger widerte sie an, aber schon durchpulste ein zerstörerisches Gift ihre Adern.
Hoffnung keimt in jenen, die in Angst leben, nie oder nur ganz kurz auf. Die einzige Möglichkeit, Angst und Furcht wirksam zu bekämpfen, ist, die Ursache zu entschärfen. Sally hatte gehofft, dass sie sich durch die Ehe befreien könnte, aber in ihrem tiefsten Inneren war sie sich immer im Klaren gewesen, dass Carson trotz seiner endlosen Bemühungen und seiner rührenden Fürsorge völlig machtlos gegen die finstere Seite in ihrem Leben war. Sie liebte ihren Mann von Herzen, dennoch bewirkte seine ständige Sorge um sie, nachdem erst alles gesagt und getan war, nicht viel – er konnte nicht mehr tun, als die Blutung ihres gebrochenen Herzens zu stillen.
Sally verabscheute sich selbst, aber genau wie die Leute, die von grusligen Geschichten magisch angezogen werden und fasziniert einen grauenvollen Unfall oder eine tödlich giftige Schlange beobachten, ließ sich Sally in dem Strudel ihrer Ängste treiben – sie sehnte sich danach, mitgerissen zu werden. Es war fast, als wäre sie vor langer Zeit in Paris ihrem eigenen Tod begegnet und als fände ihr Geist keine Ruhe, bis der Mörder zurückkam.
Während all der Jahre hatte sie ihre Seele erforscht, nach Erlösung gesucht und sie nie gefunden. Nur eines hatte sie mit all dieser Grübelei erreicht: Sie war keiner echten, reinen Liebe mehr fähig. In gewissem Sinne hatte die amoralische Seite ihrer Liebe, die ständig auf der Suche war, die ursprünglichen Merkmale ihrer Seele ausgelöscht. Sie hatte sich unaufhörlich um Heilung bemüht und es dabei unbewusst Carson überlassen, sie zu retten. Aber die Hoffnung auf Hilfe zerschlug sich – schon vor langer Zeit war sie von Erschöpfung übermannt
worden, und ihre Moral hatte darunter gelitten.
»Ich hoffe, du fühlst dich besser«, sagte Carson, als sie im Wagen saßen. »Du hast dem armen Kerl ganz schön zugesetzt. Was er wohl dabei gedacht hat, als du ihm Löcher in den Bauch gefragt hast?«
»Er ist es, Carson. Ob du es mir glaubst oder nicht – ich weiß, dass er es ist.«
»Kleines, ich bitte dich, hör auf damit. Er war zu der fraglichen Zeit nicht einmal in Paris. Alles war in den letzten Jahren gut, ich flehe dich an, fang nicht wieder mit dieser schrecklichen Geschichte an!«
Sally schwieg. Was hatte es für einen Zweck, Carson alles zu erklären? Es war ohnehin zu spät, sie wusste, dass sie unaufhaltsam auf ihr Verderben zuging.
19
Am folgenden Vormittag schellte das Telefon. Sally wusste schon, bevor sie den Hörer abnahm, dass nur er es sein konnte.
»Ich möchte Sie sehen«, sagte er ohne jeden Akzent. »Ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen.«
»Nein«, keuchte sie. »Das will ich nicht. Carson …«
»Ihr Mann ist in Ottawa, das habe ich überprüft. Er kommt erst spät am Abend zurück.«
»Er ist nicht gefahren«, log sie. »Carson ist hiergeblieben.«
»Was sollen diese Lügen?«, fragte er. »Ich habe gerade mit Ottawa telefoniert, um sicherzugehen. Er ist seit zwei Stunden dort. Wie gesagt, ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen.« Er hängte auf, und die Leitung war unterbrochen.
Woher wusste er überhaupt, wo sich Carson aufhielt? Von wem hatte er erfahren, wo sie wohnten? Wie war er an ihre Telefonnummer gekommen? Sie stand nicht einmal im Telefonbuch! Wahrscheinlich ist es nicht schwer, sie zu erfahren, dachte Sally. Er konnte gestern Abend irgendjemanden danach gefragt haben, und man hat ihm bestimmt bereitwillig Auskunft gegeben.
Sally ging unruhig in der Wohnung auf und ab. Ihr war klar, dass sie sofort weg musste. Sie wollte auch weglaufen, aber irgendwie konnte sie sich nicht dazu entschließen. Ihr Leben war ihr bisher wie ein Syllogismus ohne Prämisse erschienen, und jetzt glaubte sie, das fehlende Stück entdeckt zu haben. Sie musste herausfinden, ob er der Mann war, der ihr nicht aus dem Kopf ging. Im Grunde war sie sich sicher, aber eben doch nicht ganz, und sie würde keine Ruhe finden, bis sie es hundertprozentig wusste.
Sie zögerte kaum eine Sekunde, ehe sie ihm die Tür aufmachte. Als sie zur Seite trat, um ihn hereinzulassen, seufzte sie leise.
»Sie wollten mich auch sehen, sonst wären Sie nicht hiergeblieben«, stellte er fest, als er in den Flur trat und die Tür schloss. Er zog den Mantel aus und warf ihn über einen Stuhl, dann hob er Sally sanft hoch und nahm sie in die Arme.
Sie wehrte sich nicht und gab keinen Laut von sich, als er sie in ihr Zimmer trug.
Ganz langsam und vorsichtig schälte er sie aus ihren Kleidern. »Sei nicht so scheinheilig«, murmelte er, als sie wenig überzeugend protestierte. »Seit du mich zum ersten Mal gesehen hast, konntest du an nichts anderes mehr denken, das weißt du ganz genau.«
»Du irrst dich, das ist ein Missverständnis. Daran war etwas ganz anderes schuld. Es war …«
»Ich verstehe schon«, unterbrach er sie. »Du brauchst mich, und ich werde
herausfinden, warum, sobald wir im Bett sind.«
Die verschiedenen Nuancen von Schwäche sind ebenso schwer zu unterscheiden wie das Meer vom Himmel, wenn der Horizont vom Dunst verwischt wird. Auch wenn es ihr nie richtig bewusst geworden war, hatte Sally ihren Peiniger immer gesucht – nicht so sehr, weil sie sich an ihm rächen wollte, sondern viel mehr, weil sie immer gewusst hatte, dass sie zu ihm gehörte. Einerseits hatte sie immer Todesängste ausgestanden, wenn sie daran dachte, dass er sie einmal ausfindig machen und erneut attackieren würde, und sie hatte sich selbst vorgemacht, sie würde ihn bei der ersten Begegnung umbringen und so doch noch ihre Rache haben. Aber tief in ihrem Unterbewusstsein war seine Gewalttätigkeit ein Synonym für Leidenschaft geworden, sodass sie immer geglaubt hatte, sie könnte ihre eigene Leidenschaft nur mit ihm voll und ganz ausleben. In einer dieser seltsamen Verzerrungen, die sich aus bewusster Unterdrückung von Erinnerungen und unbewusster Verdrängung sexuellen Verlangens entwickeln, hatte sich Sally vorgestellt, er wäre früher einmal ihr Liebhaber gewesen und sie selbst sei seine ergebene Konkubine, die auf seine Rückkehr wartete. Nach all den Jahren des Wartens und der Illusion stand er jetzt vor ihr, und sie ergab sich diesem Fremden mit Gesten der Unterwerfung und aufopferungsvollen Schreien.
Hatte sie während der vergangenen Jahre tatsächlich geglaubt, er wäre ihr einziger, ihr wirklicher Liebhaber? Musste sie noch einmal ihre schlimmsten Albträume erleben, um ihre Ängste zu überwinden? Oder zog sie die Sache, die sie am meisten abstieß, gleichzeitig unwiderstehlich an? Sie selbst war überzeugt, dass sie nichts weiter wollte als seine völlige Selbstaufgabe.
Und sie brauchte einen Beweis, das sagte sie sich ständig. Der bloße Verdacht genügte ihr nicht Sie wusste, dass es irgendetwas geben musste, an dem sie ihn zweifelsfrei wiedererkennen konnte, und sie brauchte diesen unumstößlichen Beweis.
Er hatte sie in seinen Klauen – er besaß sie, und sie gehörte zu ihm. Das war
vom ersten Moment ihrer Begegnung an klar gewesen, und in ihrer Vorstellung war er nur gekommen, um seine Ansprüche auf sie geltend zu machen, wie sie es sich immer ausgemalt hatte. Der Adler hatte sich auf sie gestürzt, als sie vollkommen wehrlos gewesen war, und seine Krallen in ihr Herz gebohrt – oder er hatte zumindest, wie sie dachte, die Schutzhülle ihrer Erinnerungen aufgerissen.
Er drängte sie gegen die Wand, nahm sie auf dem Boden und im Bett. Die Heftigkeit, mit der er sie liebte, te zu ihren Vorstellungen von Gewalt und Leidenschaft. Er biss, küsste und liebkoste sie und machte ihren Körper zu seinem Eigentum. Er erforschte alle Winkel und jedes Geheimnis mit seinem Mund, den Händen und der Zunge. Er wiegte sie in den Armen und trug sie von einem Raum in den anderen. Er stellte sie an die Wand und hielt sie mit seiner Umarmung gefangen, dann drehte er sie plötzlich um, sodass sie ihn nicht mehr ansehen konnte. Er nahm sie stehend, liegend, kniend – er wusste genau, wonach sie sich sehnte.
Erst später, als alles vorbei war und sie erschöpft und schweißgebadet neben ihm lag, erwachte sie aus der Benommenheit ihrer Leidenschaft und dachte wieder daran, wer er war.
Sie war vollkommen verstört, weil sie glaubte, sein Gesicht zu erkennen. Trotzdem war seine Stimme ganz anders als die, die sie während der vielen Jahre im Ohr gehabt hatte. Er hatte natürlich noch nie etwas auf Französisch gesagt, aber dennoch … Er hatte nichts Sanftes, Einschmeichelndes gesagt und weder Koseworte benutzt noch ihr etwas von Liebe zugeflüstert. Und er hatte nicht auf ihren Armen gekniet, sie nicht in den Bauch getreten oder mit seinem Gürtel ausgepeitscht. Auch das Spiel mit der Flasche hatte er nicht wiederholt … Bei all seiner Heftigkeit und Brutalität hatte er sie nicht im Mindesten verletzt. Das verwirrte sie. Vielleicht war es doch möglich, dass sie sich täuschte.
Er drehte sich zu ihr und ertappte sie dabei, wie sie ihn eingehend musterte. Er
revanchierte sich, indem er sie seinerseits so aufmerksam betrachtete, dass er mühelos ihre Empfindungen erraten konnte.
»Ich habe den Schlüssel zu deiner Sexualität gefunden, das ist alles«, stellte er ruhig fest. »Jetzt möchte ich nur noch erfahren, warum das der Schlüssel ist. Komm, wir wollen uns anziehen und von hier verschwinden. Ich möchte irgendwo anders mit dir reden.«
Sie machten das Bett und räumten ordentlich auf. Sally wollte keine Spuren hinterlassen. Er nahm sie mit in seine Wohnung und versuchte, ihre dunkle Seite zu ergründen. Sie unterhielten sich stundenlang, aber das Gespräch führte zu nichts. Sally war nicht bereit, irgendetwas preiszugeben. Jetzt war sie nicht mehr so sicher, ob er ihr Peiniger war, aber ganz überzeugt, dass er es nicht war, konnte sie auch nicht sein. Entweder wusste er alles – was sie beinahe vermutete –, oder er musste einfach raten. Die Tatsache, dass sie ihm sexuell auf Gedeih und Verderb ausgeliefert war, hatte ihre Angst, dass er der Psychopath aus ihrer Vergangenheit sein könnte, um keinen Deut vermindert. Sie erwähnte ihren Aufenthalt in Paris mit keinem Wort und erzählte ihm so gut wie nichts aus ihrem Leben. Wenn er der Mensch war, den sie gesucht hatte, dann lag es an ihm, sich zu erkennen zu geben. Sie erwartete von ihm, dass er all ihre Fragen ohne Umschweife beantwortete, sah aber keinen Grund dafür, ihm Antworten zu geben.
Philippe Marignac war verwirrt und neugierig. Während des Liebesspiels war Sally im höchsten Maße fordernd, aber auch empfindsam gewesen – sie hatte mit außergewöhnlich heftiger Leidenschaft auf ihn reagiert, und gleichzeitig war sie von dem geradezu orientalischen Wunsch beseelt gewesen, ihm zu gefallen. Er hatte den Verdacht, dass sie früher einmal sehr verletzt worden war, aber wie er es auch anstellte, er konnte ihr kein Geständnis in dieser Richtung entlocken. Er war der Meinung, dass sie nur deshalb so beharrlich schwieg, weil sie erwartete, ja beinahe darum flehte, wieder schlimm verletzt zu werden.
Er stellte ihr endlose Fragen, achtete auf ihre Reaktionen und wartete geduldig auf Antworten – aber nichts, was sie sagte, machte ihn klüger. Er benutzte die ganze Kraft seiner Intelligenz, um herauszufinden, welche Wunden man ihr geschlagen hatte. Wie ein Diagnostiker, der nach Erklärungen sucht, wollte er, dass sie ihm sagte, wo und wann es wehtat.
Wenn man daran glaubt, dass der Charakter entscheidend von Erfahrungen beeinflusst wird, dann müsste man auch daran glauben, dass die Persönlichkeit von der Umgebung und dem Klima beeinflusst wird. Sally war das Kind von kalten Winden und gefrorenen Flüssen, doch auch von lauen Seen und sengender Sonne. Ähnlich wie das Klima in den verschiedenen Jahreszeiten konnte ihre Stimmung von klirrendem Frost zu brennender Hitze umschlagen, und manchmal war sie wie die Stadt, in der sie wohnte, vollkommen im Eis erstarrt.
Im Augenblick war sie in Aufruhr wie der St. Lawrence im Frühling. Sie spürte, wie ihre Verteidigungswälle zerbröckelten, und dennoch stemmte sie sich – ähnlich einem Ozeanliner, der sich seinen Weg durchs Eis zum offenen Meer bahnt – gegen ihr Schicksal, als wäre das ihre einzige Fluchtmöglichkeit.
Der Franzose ahnte, dass höchste Gefahren in ihr schlummerten, fand aber keine Erklärung für diese Vermutung. Äußerlich erschien sie schwach, doch er war überzeugt, dass sie, wenn es nötig wurde, erstaunliche Kräfte entwickeln konnte – eine pervertierte Kraft, wie er meinte, denn er erkannte zweifelsfrei, dass irgendetwas nicht mit ihr stimmte. Aus ihren wenigen Äußerungen und den bruchstückhaften Gefühlsregungen schloss er, dass sie von Betrug, Verrat und Tabus geprägt war. Sie kam ihm vor wie ein Soldat, der den Nachwirkungen einer wüsten Schlacht und dem Gestank von verwesendem Fleisch entflieht. Er wollte die Gründe für ihre Einstellung erfahren und herausfinden, warum sie ihm immer wieder auswich und sich ihm im gleichen Atemzug mit Haut und Haaren auslieferte.
Als er im Gespräch nicht weiterkam, ging er wieder dazu über, ihren Körper zu
erforschen. Irgendwo da musste die Antwort verborgen sein, aber er hatte keine Ahnung, wie er sie unter all der Begierde und Sehnsucht finden sollte.
Schlanke, weiße Schenkel, ein runder Po, eine schimmernde Schulter, verwirrtes Haar – wurde das alles als Sühneopfer dargeboten – und wenn, wofür tat sie Buße? –, oder waren sie Zeichen der Lasterhaftigkeit, die sich mit Schönheit tarnt wie die reine und unwiderstehliche Stimme der Sirene, die die Seeleute in den Tod lockt?
Was oder wer immer diese Frau war, er musste sie haben. Er hatte seit Jahren nach diesem zarten Wesen gesucht. Jetzt, da er endlich die Frau seiner Träume gefunden hatte, würde er sie um keinen Preis mehr hergeben. Er wollte sie ganz für sich allein.
Dieses gegenseitige Erforschen, das auf beiden Seiten von verzweifeltem Verlangen und der Vorahnung, dass eine Gefahr in dem anderen lauerte, begleitet wurde, war eine ungeheuer starke Triebfeder, aber während Philippe hoffte, das Glück zu finden, sehnte sich Sally nur nach einem Aufschub. In ihrer eingeschränkten Welt hatte sie längst die Fähigkeit verloren, die Wahrheit von Trugbildern zu unterscheiden – Myrte, Schierling oder Nektar, für sie war alles dasselbe. Sie wollte nichts weiter, als den Schlüssel zu sich selbst finden, und sie war überzeugt, dass dieser Mann ihn in den Händen hielt.
Seine zärtlichen Fingerspitzen jagten Schockwellen der Lust durch ihren Körper, das spürte er. Und es schürte seine Besessenheit nur noch mehr. Er musste dieses Wesen für sich ganz allein haben. Die Gewalt ihrer Empfindungen entriss sie beide der Realität, bis sie sich nicht mehr fragten, wer oder was der andere war. Sally hätte eine Hafenhure sein können, Philippe wäre das vollkommen gleichgültig gewesen, und selbst wenn er ein grauenvoller Verführer wäre, der sie in den Tod locken wollte, hätte ihm Sally nicht widerstehen können – mit tausend Freuden wäre sie mit ihm und für ihn gestorben. Über dem verzweifelten Drang, eins zu werden und mit dem Geliebten zu verschmelzen,
hängt stets das Damoklesschwert der Trostlosigkeit und des Verlustes, und für Sally war jeder Augenblick der Ekstase verdorben durch die Vorahnung, dass sie sich entsetzlich einsam fühlen würde, wenn sie von ihm getrennt war. Sie klammerten sich aneinander, als müssten sie das nahende Ende verzögern, und immer wieder begann die Suche nach völliger Verschmelzung von Neuem.
»Ich muss nach Hause«, sagte Sally schließlich. »Carson kommt bald zurück.«
»Spielt das eine Rolle?«
»O ja. Er darf nichts von uns erfahren. Ich will ihm nicht wehtun, das könnte ich nicht ertragen.«
»Rufst du mich später noch einmal an?«
»Das kann ich nicht. Du weißt doch, dass es unmöglich ist.«
»Du kannst, wenn du willst, und du wirst es auch tun. Egal, wie spät es ist, du kannst mich während der ganzen Nacht anrufen.«
20
Philippe behielt recht. Sally musste seine Stimme noch einmal hören. Der Drang, mit ihm zu reden, war so groß, dass sie nicht bis zum nächsten Tag warten konnte. Um ein Uhr nachts, während Carson tief und fest schlief, zog sie sich leise an, dann schlich sie aus der Wohnung und hinunter auf die Straße. Zum ersten Mal ging sie nachts ohne Angst ins Freie. Jetzt, da sie sich ihrer allerschlimmsten Furcht gestellt hatte, fühlte sie sich frei. Endlich wusste sie, wo die Gefahr lauerte, und musste nicht auf Schritt und Tritt etwas Entsetzliches befürchten. Das Ergebnis dieser Sicherheit bestand darin, dass ihre Ängste, die sie seit zwanzig Jahren ständig begleitet hatten, von ihr abgefallen waren wie ein welkes Blatt von einem Baum. Es kam ihr so vor, als wäre der feindliche Agent, der sie seit zwanzig Jahren beschattet hatte, plötzlich abberufen worden, weil sich ab sofort der Spionagechef höchstpersönlich um sie kümmern wollte.
Die Stadt schlief friedlich, und die Wolkenkratzer standen Wache. Sally ging zu einer Telefonzelle und hörte kein anderes Geräusch als ihre eigenen Schritte. Es kam ihr gar nicht in den Sinn, sich darüber Sorgen zu machen, was Carson wohl denken mochte, wenn er aufwachte und sie nicht in der Wohnung vorfand.
Immer hatte sie sich in der Atwater Avenue und in der Saint Catherine Street gefürchtet, besonders bei Nacht, aber heute schritt sie selbstsicher aus und konnte an nichts anderes denken als an Philippe.
Er war noch wach und wartete ungeduldig auf ihren Anruf. »Wo bist du?«, fragte er.
»In einer Telefonzelle. Ich konnte nicht von der Wohnung aus anrufen.«
»Komm her«, forderte er sie auf. »Ich brauche dich.«
»Sei nicht albern, Philippe. Ich kann nicht. Es ist mitten in der Nacht. Als ich weggegangen bin, schlief Carson, aber er könnte inzwischen wach geworden sein und nach mir suchen.«
»Wir vergeuden nur unsere Zeit, wenn wir lange am Telefon darüber diskutieren. Steig in dein Auto und komm her.«
Sie war nie besonders standfest gewesen, aber in diesem Augenblick schwand auch der letzte Rest an Entschlossenheit. Sie stapfte zum Westmount Square zurück, setzte sich in ihr Auto und fuhr durch die schweigende Stadt, ohne auch nur einen Gedanken an ihren Mann zu verschwenden – sie wurde mit aller Macht in die Arme ihres Geliebten getrieben.
Sally kam um vier Uhr morgens zurück und fand Carson noch immer schlafend vor. Sie zog sich leise im Badezimmer aus, schlüpfte in ihr Nachthemd und kroch vorsichtig ins Bett an die Seite ihres Mannes. Er brummte etwas und drehte sich um, aber er wachte nicht auf. Er hatte keine Ahnung, dass Sally in dieser Nacht den Anfang für eine ganze Reihe ähnlicher Nächte gesetzt hatte, weil er ihre Abwesenheit nicht bemerkt hatte. Sally und Philippe allerdings wussten es sehr genau. Innerhalb von Stunden hatten sie sich in ein zweiköpfiges Ungeheuer verwandelt, zu dem Liebende manchmal werden konnten – ein Monster, das so heiße Flammen der Leidenschaft spuckte, dass kein Normalsterblicher es wagen konnte, sie auseinanderzureißen.
Noch war niemandem aufgefallen, dass sich Sallys Leben geändert hatte. Trotz der erheblichen Risiken, die sie auf sich nahm, blieb ihr Mann ahnungslos – ihm
fielen weder ihre heimlichen Aktivitäten auf noch ihr vollkommen neuer Gemütszustand. Sie kam ihren ehelichen und gesellschaftlichen Pflichten nach wie immer, obwohl sie sich bewusst war, dass sie nicht mehr dazugehörte. Sie bewegte sich in einer vollkommen anderen Welt. Als sie Carson näher kennengelernt hatte, war sie sicher, den heiligen Georg gefunden zu haben, der ihren Drachen töten würde, aber er hatte sich als machtloser Ritter erwiesen.
Kein Tag verging ohne eine heimliche Zusammenkunft mit Philippe. Wenn sie sich nicht tagsüber treffen konnten, schlich sich Sally nachts aus dem Haus.
Der wichtigste Aspekt dieser Besessenheit lag darin, dass Sally mit einem Schlag all ihre Ängste losgeworden war. Auch wenn Carson blind für alles andere blieb, dann müsste er wenigstens das erkennen, dachte Sally. Carson hatte es bemerkt – es hätte ihm auch kaum entgehen können –, doch ihn beschäftigte mehr die Wirkung als die Ursache. In letzter Zeit schien seine Frau ohne ersichtlichen Grund ständig in Eile zu sein, und sie hatte viel vor, wobei seine Anwesenheit nicht unbedingt gefragt war. Endlich war sie selbstständig geworden, dachte er erleichtert.
Sally bewegte in letzter Zeit nur eine einzige Angst, nämlich die, dass sie Philippe über einen längeren Zeitraum nicht sehen konnte. Sie fürchtete nicht, ihn »zu verlieren« – das war ganz und gar unmöglich –, aber sie glaubte, nicht mehr existieren zu können, wenn sie nicht wenigstens ein paar Stunden am Tag seine physische Präsenz spürte. All ihre früheren Ängste hatten sich zu dieser einen verdichtet.
Sie kam jeder seiner Aufforderungen nach und traf ihn zu den Zeiten und an den Orten, die er vorschlug. Sie ging allein in Lokale, um dort auf ihn zu warten – und es waren immer Restaurants oder Bars in den entlegensten Winkeln der Stadt.
Nach etwa zwei Wochen kamen sie darauf, dass die französischen Stadtviertel die sicherste Lösung für sie war. Philippe mietete ein Apartment in der Rue Beaudry, das er nur mit Sally gemeinsam benutzte. Seine Wohnung in der Peel Street behielt er, das war seine einzige Adresse, die in Montreal bekannt war, aber er verbrachte genau wie Sally eine Menge Zeit damit, in der Stadt herumzukurven, um zu dem verstohlenen Liebesnest zu kommen.
Hin und wieder wartete Sally, bis Carson abends eingeschlafen war und leise schnarchte, dann kroch sie aus dem Bett, schlüpfte in ihre Kleider und machte sich auf den Weg zu dem anderen, weit gefahrvolleren Bett. Die Mittagspausen, die frühen Abende, die Samstagnachmittage oder ein paar Nachtstunden – sie verbrachten jeden Moment, den sie sich frei machen konnten, in der Rue Beaudry.
Sallys Welt war dieses Apartment, mehr brauchte sie nicht. Philippe richtete es mit den französischen Möbeln ein, die ihm seine Eltern per Schiffsfracht nach Montreal geschickt hatten und die seither bei einer Spedition eingelagert gewesen waren, weil seine eigentliche Wohnung nicht groß genug für all die Sachen war. Überall hingen Spiegel mit vergoldeten Rahmen, und schwere Vorhänge umrahmten die Fenster – ein solcher Stil war für Nordamerika ausgesprochen ungewöhnlich, aber Sally gefiel er. Hier fühlte sie sich zu Hause, obwohl nichts dem glich, was sie kannte. Sie kam sich vor, als wäre sie in die französische Provinz gekommen und würde mit einem Mal entdecken, dass dies ihre eigentliche Heimat war. Hinter den Brokatvorhängen und Tapisserien bewegte sie sich elegant wie ein Leopard und war vollkommen verwandelt. Sie tauchte voll und ganz ein in die verzauberte Welt der Leidenschaften, die sie mit Frankreich gleichsetzte, und huschte nackt zwischen den Messingleuchtern, den Kristallschalen und Fayencefiguren hin und her.
Philippe war verrückt nach ihr. Er fand ihre selbstzerstörerische Verschwiegenheit, ihre unerklärliche masochistische Neigung, ihre geschmeidige Schönheit und ihr verträumtes Gesicht ungeheuer verführerisch. Er wollte ihr Geheimnis ergründen und wissen, was unter der Botticelli-Haarflut vor sich
ging.
»Du bist wie das Mädchen mit dem Einhorn oder eine Dame aus der Renaissance – wie Botticellis Frühling«, flüsterte er ihr ins Ohr.
Sie sah lächelnd zu ihm auf und stützte ihren zarten Ellbogen auf ihr Knie. Ihre Lippen waren geteilt, als wollte sie etwas sagen, und die Augen wirkten traumverloren. Philippe wartete gespannt, aber dann senkte sie die Lider und seufzte leise. Sie verschwieg ihm wieder einmal, was ihr durch den Kopf ging.
Diese viel zu kurzen Einblicke auf das, was sie ihm erzählen könnte, ihre kindliche Hingabe und der sofortige Rückzug in sich selbst, die rätselhafte und manchmal tragische Art, wie sie seufzte – das alles war unerträglich für ihn. Er hätte alles getan, um hinter ihre Fassade zu sehen und sie genau kennenzulernen, auch wenn es sie beide das Leben gekostet hätte.
Ihm war klar, dass es keinen Zweck hatte, sie anzuflehen, aber manchmal wäre er liebend gern auf Knien zu ihr gekrochen, nur um mehr zu erfahren – er wollte sich erniedrigen, bitten, seinen Kopf in ihrem Schoß vergraben. Er wollte ihre Hände auf seiner Stirn fühlen und spüren, wie ihre Fingerspitzen über seinen Rücken glitten.
Als ihn eines Nachmittags die Verzweiflung übermannte, drückte er sein Gesicht in ihre Lockenmähne. Er hätte sie am liebsten gezwungen, ihm ihre Geheimnisse zu offenbaren, und gefühlt, wie sich alles Belastende in seinen Armen auflöste. Es gelang ihm jedoch nicht, ihr Schweigen zu brechen, und er bekam dieses Etwas, was ihn so verstörte, nicht zu fassen. Er hätte weinen können, als er zusah, wie sie sich anzog – er wusste, dass sie bald weggehen und ihre Geheimnisse mit sich nehmen würde –, er war auch an diesem Tag keinen Schritt weitergekommen.
»Was ist nur los mit dir?«, fragte er, als sie gehen wollte. »Es gibt etwas, worüber du nicht mit mir sprechen willst. Aber ich möchte es wissen – ich muss es wissen.« Er zog sie quer durch den Raum und drückte sie in einen Sessel. »Komm, erzähl mir davon«, sagte er, baute sich vor ihr auf und legte eine Hand auf ihre Schulter, sodass sie nicht aufstehen konnte. Er wartete. Sie hielt den Blick gesenkt, aber Philippe sah, dass sie mit sich kämpfte.
»Es gibt nichts zu erzählen«, sagte sie schließlich. »Ich bin eben einfach so, wie ich bin.«
»O doch, es gibt etwas«, beharrte er. »Wie bist du? Was soll das heißen? Sag mir, was du damit zum Ausdruck bringen wolltest.«
Ihre Hände flatterten wie Tauben während der Paarungszeit auf ihrem Schoß. »Ich möchte, dass du mir wehtust«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht, warum, aber ich mag es, wenn man mir Schmerz zufügt.«
»Das habe ich schon gemerkt«, erwiderte Philippe. »Aber wieso gefällt dir das? Warum sollte ich dir wehtun? Ich liebe dich, und ich habe nicht die Absicht, dir Schmerzen zu bereiten.« Er überlegte einen Moment, dann fragte er: »Tut Carson dir weh?«
»Nein, aber Carson liebe ich auch nicht so – vielleicht ist das der Grund.« Sie sah mit einem gequälten Blick zu ihm auf. »Bist du ganz sicher, dass du im Jahr 1962 nicht in Paris warst?«
»Ich war in Harvard, das habe ich schon einmal klargestellt. Was hat das mit alldem zu tun?«
»Nichts«, antwortete sie ausweichend. »Ich wollte es nur wissen.«
Philippe bemerkte, dass ihre Augen trüb wurden wie sonst nur beim Liebesakt. Plötzlich wurde er zornig. »Warum, zum Teufel, fängst du immer wieder von Paris an? Was ist daran für dich so interessant? Warst du jemals dort oder in Frankreich? Was bedeutet dir Paris?«
»Ich möchte wahnsinnig gern einmal hinfahren«, schwindelte sie ihn an. »Irgendwann möchte ich mir Paris anschauen, das ist alles.« Sie bemühte sich um einen beiläufigen Ton, aber Philippe hörte deutlich die Unsicherheit aus ihrer Stimme heraus.
»Warum willst du dann wissen, ob ich 1962 dort war? Was ist an diesem Jahr so Besonderes?«
Sally schlug die Augen nieder, ohne ein weiteres Wort zu sagen.
Genau hier muss die Antwort zu finden sein, dachte er, als er sah, wie sie an ihrem Rock zupfte. »Ich habe dich etwas gefragt«, sagte er. »Ich will wissen, welche Bedeutung das Jahr 1962 für dich hat.«
»Gar keine.«
Er legte einen Finger unter ihr Kinn und zwang sie, ihn anzusehen.
»Gar keine«, wiederholte sie. »Es ist einfach eine Jahreszahl – ich weiß nicht, warum mir ausgerechnet dieses Jahr eingefallen ist.«
»Du verschweigst mir etwas. Ich muss wissen, was das ist, oder ich werde noch verrückt.«
»Es ist nichts«, versetzte sie gereizt. »Lass mich in Ruhe, ich muss jetzt gehen. Carson will heute früh zu Hause sein, und er wird sich sicher schon fragen, wo ich abgeblieben bin.«
»Zur Hölle mit Carson! Du gehst hier nicht weg, bis du mir erzählt hast, was das alles soll.«
»Ich weiß gar nicht, worüber du sprichst. Du bildest dir etwas ein. Es gibt wirklich nichts, was ich dir erzählen könnte.«
»Du lügst«, stellte er fest – er sah, wie nervös sie war, und wusste, dass sie etwas vor ihm verbarg. »Ich merke doch, dass du lügst. Und wenn ich dich eine ganze Woche hier festhalten muss, ich werde dich dazu bringen, mir endlich die Wahrheit zu sagen.«
Sie stieß seine Hände weg und stand mit zittrigen Beinen auf.
»Ich muss jetzt gehen«, sagte sie noch einmal und näherte sich der Tür.
»O nein, du bleibst hier!« Er schnappte sich ihren Arm und hielt sie zurück.
»Lass mich los! Ich habe die Nase gründlich voll von deinen Fragen. Du langweilst mich, und ich möchte jetzt sofort nach Hause.«
Das traf ihn bis ins Mark. »Vielleicht findest du mich weniger langweilig, wenn ich tue, was du willst«, bemerkte er. »Wir wollen doch mal sehen, wie sehr du es magst, wenn man dir wirklich wehtut. Ich werde die Wahrheit aus dir herausprügeln, wenn das die einzige Möglichkeit ist, dich zum Reden zu bringen.«
Er packte ihren Arm fester und zerrte sie zurück zu dem Sessel.
»Bitte nicht!«, flehte sie, als er sich hinsetzte und sie übers Knie legte.
»Dann sag mir, warum du wissen wolltest, ob ich 1962 in Paris war.«
»Das kann ich nicht. Da gibt es nichts zu sagen!«
Er hielt sie mit einer Hand fest und zog mit der anderen seinen Gürtel aus den Schlaufen. Dann schob er ihren Rock nach oben und schlug zu. Sally zuckte zusammen, gab aber keinen Laut von sich.
»Sag es mir – was ist mit Paris und dem Jahr 1962?«, herrschte er sie an und wartete einen Moment, ehe er wieder den Gürtel auf ihre Schenkel sausen ließ.
Er verprügelte sie mit all der Wut, die sich seit Wochen in ihm angestaut hatte. »Wirst du jetzt den Mund aufmachen?«, brüllte er. »Verdammt! Sag es mir. Ich werde dich schlagen, bis ich die Wahrheit kenne.«
Sie wimmerte leise, und Philippe hielt mitten in der Bewegung inne.
»Hast du etwas gesagt?«, erkundigte er sich.
Sie schwieg beharrlich, und wieder klatschte der Gürtel auf nacktes Fleisch.
»Bitte …«, hauchte sie.
Philippe legte den Gürtel weg. »Bitte was?«, fragte er. »Bitte hör auf.«
»Wenn du das willst, musst du mir eine Antwort auf meine Frage geben.«
»Ich kann nicht!«
Er schnappte sich wieder den Gürtel und schlug erneut zu.
»Ich liebe dich«, stöhnte Sally.
»Ja?« Er holte noch einmal aus. »Und … hast du mir sonst noch etwas zu sagen?«
»Ich brauche dich. Ich liebe dich. Ich kann nicht mehr ohne dich leben.«
»Paris«, erinnerte er sie. »Du wolltest mir etwas über Paris erzählen.«
»Ich kenne Paris überhaupt nicht«, keuchte sie. »Ich weiß wirklich nicht, warum ich es je erwähnt habe.« Schließlich schleppte er sie wütend zum Bett und liebte sie mit einer Brutalität, die er selbst nie für möglich gehalten hätte.
Sally lag noch immer dort, wo er sie hatte fallen lassen. Einen Moment lang musterte er ihr Gesicht und verstand plötzlich, warum ein Mann zum Mörder wurde. »Ich liebe dich«, flüsterte sie kaum hörbar, als er seine Finger durch ihr Haar gleiten ließ.
»Dann sag mir die Wahrheit.«
»Die Wahrheit ist, dass ich dich liebe«, beharrte sie. »Mehr kann ich dir nicht sagen.«
»Du lügst mich an.« Seine Hände schlossen sich bedrohlich um ihren Hals. Sally brachte keinen Ton mehr heraus, als er fester zudrückte, und er sah, wie sich ihr Gesichtsausdruck änderte.
Ihre Blicke begegneten sich, und im nächsten Moment lockerte sich sein Griff. Sally warf den Kopf zurück, und Philippe fiel erneut mit all dem Zorn, den ihr Schweigen in ihm auslöste, über sie her. Es trieb ihn in den Wahnsinn, dass sie etwas vor ihm geheim hielt und dass es etwas gab, was er nicht besitzen konnte.
Als die Sonne tiefer sank und der Lärm auf den Straßen allmählich nachließ, loteten sie aus, wie viele Foltern der andere ertragen konnte, und dabei wurden sie wieder zu dem zweiköpfigen Ungeheuer, das in quälender Liebe zuckte und sich wand.
Sally schluchzte haltlos, aber ohne jede Trauer in den Armen ihres Geliebten, als er ihr jede erotische Pein antat, die er ersinnen konnte, nur um sie zum Reden zu bringen. Aber trotz seiner Eindringlichkeit, der Verzauberung und der wechselnden Stimmungen dieses Nachmittags blieb Philippe unbefriedigt, weil die Türen, die er hatte aufreißen wollen, immer noch fest verriegelt waren. Hinter den Vorhängen wurde das Licht blasser, als er besiegt und wütend seinen fleischlichen Gelüsten mit brutalen Stößen und Bissen Erfüllung verschaffte.
21
Sally, deren Körper mit Striemen und Spuren von Liebesbissen übersät war, schleppte sich in der Dämmerung nach Hause. Sie täuschte Unwohlsein vor und legte sich im Gästezimmer ins Bett, noch ehe Carson aus der Redaktion heimkam. Das war die einzige Möglichkeit, ihre Verletzungen vor ihm zu verstecken, und außerdem war sie so erschöpft, dass sie tief und fest schlief, als er die Wohnung betrat.
Carson war sehr besorgt, steckte ihr ein Fieberthermometer in den Mund, erklärte, dass sie Untertemperatur habe, und bot ihr an, einen Tee zu kochen. Sally nahm dankbar an. Sie behauptete zu frieren und nutzte die Gelegenheit, ihr Bettjäckchen über das Nachthemd zu ziehen, während Carson in der Küche war. Als er mit einem Tablett zurückkam, saß sie aufrecht und hatte jedes Stückchen Haut außer ihrem Gesicht und den Händen bedeckt.
»Möchtest du hier schlafen?«, erkundigte sich Carson milde, während er das Tablett vorsichtig vor sie auf die Bettdecke stellte.
»Ich denke, das wäre besser. Wahrscheinlich bekomme ich eine Grippe, und du steckst dich nur an, wenn wir im selben Zimmer schlafen.«
Er war gerührt von ihrer Rücksichtnahme und drückte ihr einen Kuss auf die Stirn, dann zog er sich ins Wohnzimmer zurück und schenkte sich einen Drink ein. In regelmäßigen Abständen schaute er an diesem Abend ins Gästezimmer, um Sally zu fragen, ob sie etwas brauchte, und um sich selbst zu vergewissern, dass sie in Ordnung war. Sally ärgerte diese übertriebene Fürsorge, nicht weil sie sich schuldig fühlte – sie hatte überhaupt kein schlechtes Gewissen –, sondern
weil sie in Ruhe gelassen werden und schlafen wollte.
In der Zwischenzeit war Philippe in seine Wohnung in der Peel Street zurückgekehrt. Er hatte sich vorgenommen, das zu erledigen, was er an diesem Nachmittag versäumt hatte, aber statt sich an die Arbeit zu machen, dachte er unaufhörlich über die vergangenen Stunden nach. Er war hellstens entsetzt, weil es ihm ebenso viel Spaß gemacht hatte, Sally wehzutun, wie es ihr Spaß zu machen schien, Schmerz zu empfinden.
Es war ihm unmöglich, sich zu konzentrieren. Statt sich mit den Papieren zu befassen, die auf seinem Schreibtisch lagen, sah er ihren sanft geschwungenen Rücken, der im Nachmittagslicht schimmerte wie Elfenbein, und die Striemen auf ihren blassen Schenkeln vor sich.
Er zwang sich, seine Aufmerksamkeit auf die Verlagskataloge zu richten, die erst kürzlich angekommen waren, und versuchte, die Bücher auszuwählen, die er für seine Studenten bestellen und die er für seine eigene Arbeit brauchen würde, aber die Werbetexte in den Broschüren schienen nur verfasst worden zu sein, um ihn zu quälen. Schwülstige oder misslungene Formulierungen, die ihn unter anderen Umständen auf die Palme gebracht hätten, sprangen ihm ins Auge, und er glaubte, dass sie nur dazu dienten, ihn an sein eigenes Elend zu erinnern. »Kraftvolle und empfindsame Charaktere«, »eine ganz neue Auslegung alltäglicher Gefühle«, »verheerende Ereignisse«, las er und bei alldem sah er nur Sallys wunderschönen Körper vor sich, ihre geteilten Lippen, über die die ersehnten Worte nicht drangen, ihre ungestümen Bewegungen, die seine Lust weckten, er hörte ihre Seufzer und das schmerzerfüllte Wimmern …
Er war nicht fähig, diese peinigende Freude zu verdrängen oder zu vergessen, die ihn erfüllt hatte, als er im halbdunklen Zimmer über sie hergefallen war und ihr die schlimmsten Dinge angetan hatte. Die seltsame Heiterkeit, die er sich selbst nicht erklären konnte, wirkte nach. Er spürte noch immer die Erregung und wusste, dass er diese Erfahrung nicht mehr loswurde und das einmal
Begonnene immer aufs Neue wiederholen würde. Er hatte sich so kraftvoll und mächtig gefühlt, als Sally in seinen Armen um Gnade gefleht und ihn im nächsten Moment gebeten hatte weiterzumachen, als sie geweint hatte und immer nachgiebiger geworden war, bis sie zerbrechlich, nackt und erschöpft auf den zerwühlten Laken gelegen hatte.
Eine Stunde verging, ohne dass Philippe irgendetwas vollbrachte – er war nicht einmal in der Lage, die Sätze, die er las, zu begreifen. Er versuchte, sich über die Auswirkungen der Französischen Revolution in der Karibik zu informieren, und hoffte, auf diese Weise das Grauen und die Scham zu zerstreuen, die ihn zu überwältigen drohten, seit er diese neue brutale Seite an sich entdeckt hatte. Aber dann sah er wieder vor sich, wie der Ledergürtel auf ihre blasse, seidenweiche Haut traf. Philippe fuhr nervös mit der Hand über die Schreibtischplatte und fragte sich, wo das alles enden sollte. Sie hatten sich auf ein äußerst gefährliches Spiel eingelassen, und Sally war diejenige gewesen, die ihn dazu verführt hatte.
Warum? Und weshalb stellte sie ständig Fragen über Paris? Was hatte sie mit Paris zu tun, und was war im Jahr 1962 iert? Bestimmt brachte sie nicht unbegründet immer wieder die Sprache darauf. Sie musste dort gewesen sein, obwohl sie es abgestritten hatte – aber wenn sie in Paris gewesen war, dann wusste sicher jemand davon. Er würde alle fragen, mit denen sie bekannt war. Ab sofort würde er auf jede Party in Westmount gehen und Mitglied der englischen Gesellschaft werden, um bei den Gesprächen mehr über Sallys Vergangenheit zu erfahren. Wenn es sein musste, würde er auch ihre Eltern fragen oder sogar Carson. Er war wild entschlossen, der Wahrheit auf den Grund zu gehen und endlich ihr Geheimnis zu lüften.
Sein Blick wanderte zum Teppich, zu den Bücherregalen und wieder zurück zum Schreibtisch. Er spielte mit dem Gedanken, sie anzurufen, entschied sich aber dann doch dagegen. Carson war sicher zu Hause. Philippe ging zum Fenster – es hatte zu regnen angefangen. Pfützen glitzerten im Licht der Straßenlaternen, die Reifen der vorbeifahrenden Autos spritzten kleine Fontänen auf die Bürgersteige
und die anten, die die Mantelkrägen hochgeschlagen hatten und Regenschirme über ihre Köpfe hielten.
Philippe konnte nicht arbeiten, es hatte gar keinen Zweck, dass er sich unter Druck setzte. Viel sinnvoller wäre, er würde etwas essen und anschließend ins Bett gehen. Aber etwas konnte er doch tun, entschied er mit frisch erwachter Energie. Er kramte sein Adressbuch hervor und rief die Leute an, die Sally kannten. Irgendwie musste es ihm gelingen, sich mit ihrer Familie anzufreunden und in ihren gesellschaftlichen Kreisen anerkannt zu werden.
Von diesem Abend an zeigte Philippe großes Interesse an den englischen Bewohnern dieser merkwürdigen, geteilten Stadt. Der »Franzose aus Frankreich« wurde in Westmount ebenso sehr geschätzt, wie die Frankokanadier abgelehnt wurden, deshalb brauchte sich Philippe nicht besonders anzustrengen, um in den Kreisen aufgenommen zu werden, auf die es ihm ankam. Die sogenannte feine Gesellschaft hatte es sich zum Ziel gesetzt, diesen exotischen Außenseiter zu kultivieren, und deshalb wurde er zu allen möglichen Anlässen eingeladen. Der wohlerzogene, gut aussehende und vermutlich ungebundene Mann war eine Bereicherung für jede Dinnerparty. Mütter fassten ihn für ihre Töchter ins Auge, und verheiratete Frauen suchten einen Flirt mit ihm und ließen ihren romantischen Fantasien freien Lauf.
Philippe machte die Runde bei allen angesehenen Familien und wartete geduldig, bis er sein Vorhaben ausführen konnte. Zufällig erwähnte eines Abends seine Tischnachbarin Sallys Namen im Zusammenhang mit einem Bildhauer, den sie bekannt machen wollte. Philippe sah seine Gesprächspartnerin so gelangweilt, wie es ihm möglich war, an und fragte beiläufig: »Diese Sally Mackenzie – hat sie nicht einige Zeit in Paris verbracht, als sie jünger war?«
»Ach ja?«, fragte die Frau zurück. »Ich kann mich nicht erinnern, dass sie je in Paris war.«
Philippe versuchte es noch ein paarmal bei den verschiedensten Leuten, aber immer ohne Erfolg, bis er endlich bei einer Cocktailparty engen Freunden der Hamiltons vorgestellt wurde. Ohne große Mühe lenkte Philippe die Unterhaltung auf Sallys Eltern, und nachdem er sich einen ausführlichen Bericht über Brocks allgemein gerühmte Gastfreundschaft, Louises Organisationstalent und ihren Umzug von der Pine Avenue nach Rosemount Crescent angehört hatte, ergriff er die Gelegenheit, während sich sein Gegenüber eine Zigarre anzündete, und sagte: »Die Tochter der Hamiltons hat mit mir über Paris gesprochen. Es war seltsam – sie scheint irgendwie besessen von dieser Stadt zu sein.«
»Ich habe mich mit ihr noch nie über Paris unterhalten. Nein, darüber hat sie mir gegenüber nie ein Wort verloren«, erwiderte Donald Henderson. »Ich glaube, es ging ihr nicht sehr gut dort, und irgendwie war dieses Thema für Louise und Brock ein Tabu.«
Philippe spitzte die Ohren, obwohl er unbeteiligt tat und sich intensiv mit einem imaginären Staubkörnchen auf seinem Jackett beschäftigte. »Ich wusste gar nicht, dass sie dort war«, sagte er.
»Ach, das ist schon viele Jahre her, und sie ist auch nicht lange geblieben – sie war nur ein paar Tage in Paris, dann musste sie ins Krankenhaus. Sobald es ihr gut genug ging, kam sie nach Hause, also kann sie nicht sehr viel von der Stadt gesehen haben. Sie muss sehr enttäuscht gewesen sein, weil sie sich so sehr gewünscht hatte, einmal in Paris ihre Ferien zu verbringen. Ich kann mich noch erinnern, dass sie vorher eine ziemliche Auseinandersetzung mit ihren Eltern hatte, weil sie sie eigentlich in eine Sommerschule in der Nähe von Lausanne schicken wollten.«
»Was für ein Pech! War sie sehr krank?«
»Mir ist dunkel im Gedächtnis geblieben, dass Louise damals etwas von Nasenbluten erzählt hat … sie hat behauptet, dass Sally beinahe gestorben wäre. Aber mehr hat man nicht darüber erfahren. Wie gesagt, Sally hat mir gegenüber überhaupt nie ein Wort darüber verloren, und ich bin gar nicht sicher, ob das alles tatsächlich iert ist.«
Philippe wechselte das Thema, um keinen Verdacht zu erregen, nahm sich aber vor, die Informationen unauffällig zu überprüfen, ehe er Sally damit konfrontierte und ihr ihre Lügen vorhielt. Zu seinem großen Ärger musste er weitere zwei Wochen warten, bis sich eine ende Gelegenheit bot. Während der ganzen Zeit traf er sich täglich mit Sally in dem kleinen Apartment. Er war versucht, die Sache sofort mit ihr auszudiskutieren, aber er beherrschte sich, weil er erst ganz sichergehen wollte, dass das, was er erfahren hatte, auch wirklich stimmte. Das Warten frustierte ihn, und er wurde immer wütender auf Sally, weil sie ihm die Wahrheit vorenthielt. Aus diesem Grunde behandelte er sie rauer und brutaler, als er es normalerweise getan hätte. Philippe unterhielt sich mit den Hamiltons, wann immer er ihnen begegnete, aber immer waren andere Leute dabei. Es wäre unklug gewesen, das Thema, das ihm auf der Seele brannte, im Beisein anderer anzuschneiden. Er überlegte, ob er die Hamiltons in ein Restaurant zum Abendessen einladen könnte, doch dazu kannte er sie noch nicht gut genug. Philippe zermarterte sich das Gehirn – vielleicht gab es irgendeine juristische Angelegenheit, die Brock für ihn regeln konnte, aber ihm fiel nichts Geeignetes ein. Zu guter Letzt kam ihm dann doch der Zufall zu Hilfe. Er hörte, wie Brock sich lauthals über einige neue Regeln, die im University Club eingeführt worden waren, beschwerte, und plötzlich kam ihm eine Idee.
Sie befanden sich auf einer Ausstellungseröffnung, und Sally und Carson waren gerade eingetroffen.
»Da Sie gerade von Clubs sprechen«, sagte Philippe zu Brock, »ich hätte da eine Bitte an Sie – würden Sie mir einen Tennisclub empfehlen, in den ich eintreten könnte?«
»Natürlich«, meinte Brock. »Wie gut spielen Sie?«
»Leidlich. Ich habe früher viel gespielt, aber seit ich hier bin, war ich kein einziges Mal auf dem Platz. Es fehlt mir, und ein bisschen Bewegung würde mir sicher nicht schaden.«
»Vielleicht gelingt es uns ja, Sie in den Hillside Club zu bringen. Ich weiß nicht, ob sie Gäste aus dem Ausland aufnehmen, aber ich erkundige mich. Wie wär’s, wenn wir uns für nächste Woche zu einem Spiel verabreden würden? Dann hätten Sie eine Chance, sich im Club umzusehen, und wenn es Ihnen dort gefällt, werden wir sehen, wie wir Sie einschleusen können.«
Sie machten einen Termin aus, und Philippe musste sich mit seinen Fragen noch eine weitere Woche gedulden.
Sie spielten ungefähr gleich gut, und das Match war großartig. Philippe gewann, aber nur weil er jünger, beweglicher und deshalb auch schneller auf den Beinen als Brock war.
»Ein tolles Spiel«, rief Brock aus, als sie zu den Umkleideräumen gingen. »Junge, jetzt brauche ich aber eine Dusche und einen Drink. In dieser Jahreszeit ist es eigentlich zu heiß, um Tennis zu spielen. Ich fordere im September eine Revanche von Ihnen. Ich denke, bis dahin lass ich’s lieber ganz sein, sonst trifft mich noch der Schlag in dieser Hitze.« Er warf sich ein Handtuch über die Schulter und marschierte auf eine der Duschkabinen zu. Vor der Tür drehte er sich noch einmal um und rief: »Kommen Sie in die Bar, wenn Sie fertig sind. Wir treffen uns dort.«
»Carson Mackenzie ist ein guter Freund von Ihnen, wie ich gehört habe«, begann Philippe vorsichtig, als sie sich mit ihren Drinks an einem der kleinen Tische niedergelassen hatten.
»Selbstverständlich, wir sind seit unserer Kindheit befreundet.«
»Ein hochinteressanter Mann«, sagte Philippe. »Er ist sicher sehr gut in seinem Job beim Nachrichtensender. Er weiß viel mehr über ausländische Politik und das, was in der Welt vor sich geht, als jeder andere, den ich hier kennengelernt habe.«
»Ja, das kann man wohl sagen. Er war dreiundzwanzig Jahre im Ausland und hat viel von der Welt gesehen. Ich hatte ein bisschen Angst, dass er sich langweilen würde, als er nach Montreal zurückkam, aber er hatte keinerlei Schwierigkeiten, sich hier zurechtzufinden. Man könnte meinen, dass er sich nie woanders aufgehalten hat.«
»Er spricht ausgezeichnet Französisch – beinahe akzentfrei. Neulich habe ich gehört, wie er einen französischen Politiker interviewte, er hat geredet wie ein waschechter Franzose.«
»Er war oft in Paris, während er in London Korrespondent war. Er hatte sogar eine Wohnung dort, offenbar war er ganz vernarrt in die Stadt und hat so viel Zeit wie möglich dort verbracht.«
»War er damals schon mit Ihrer Tochter verheiratet? Sie hat sich doch nie in
Paris aufgehalten, oder?«
»Nur für ein paar Wochen, als sie ein Teenager war – damals hat seine erste Frau noch gelebt. Sally kannte ihn nur als Patenonkel, so richtig haben sie sich erst Jahre später kennengelernt.«
»Ich wusste gar nicht, dass Ihre Tochter Paris einen Besuch abgestattet hat.«
»Na ja, lange war sie nicht dort, und sie hat praktisch die ganze Zeit in der Klinik gelegen, das arme Kind.«
»War sie krank? Was hat ihr gefehlt?«
»Das haben wir nie wirklich herausgefunden.« Brock stellte das Glas auf den Tisch und lehnte sich zurück.
»Es war doch hoffentlich nichts Ernstes.« Philippe ließ nicht locker und versuchte verzweifelt, Brock zum Reden zu bringen.
»Sie hatte Nasenbluten – ein schlimmes Nasenbluten.« Brock lachte unfroh und nahm wieder sein Glas in die Hand. »Lächerlich«, brummte er. »Nasenbluten klingt wie eine Bagatelle, nicht wahr? Aber ob Sie’s glauben oder nicht, sie war dem Tode verdammt nahe.«
»Wie schrecklich! Ich hätte nie geglaubt, dass man an Nasenbluten sterben kann.
Sie müssen sich entsetzliche Sorgen um sie gemacht haben.«
»Es war furchtbar, das kann ich Ihnen sagen.« Brock trank einen großen Schluck von seinem Martini. »Es war das Schlimmste, was ich je durchgemacht habe. Sie lag schon eine Woche im Krankenhaus, als wir endlich erfahren haben, was geschehen ist. Wir waren auf Reisen und wollten durch die Staaten fahren, und wie aus heiterem Himmel erreichte uns die Nachricht, dass unsere Tochter auf der anderen Seite des Globus im Sterben liegt.«
»Warum hat man Ihnen nicht früher Bescheid gesagt? In welcher Klinik lag sie?«
»In einer schrecklichen Bruchbude – sie hieß Bichat. So was haben Sie noch nie erlebt. Sie haben sich damit entschuldigt, dass Sally bewusstlos war, als man sie fand, und einige Tage nicht zu sich kam, deshalb konnten sie sie nicht nach ihrem Namen oder dem Wohnort fragen, aber diese verdammten französischen Ärzte haben’s wahrscheinlich nicht mal richtig probiert. Die kanadische Botschaft hat uns schließlich ausfindig gemacht.«
»Sie muss viel Blut verloren haben, wenn sie nicht bei Bewusstsein war. Eine grauenvolle Geschichte! Wie alt war sie damals?«
»Sechzehn. Sie war erst sechzehn. Aber da war noch etwas anderes, das sage ich Ihnen. Wir dachten, dass sie nicht mehr am Leben ist, wenn wir in Paris ankommen, aber sie war nicht tot. Wir kamen in ihr Zimmer, sie sah uns an, aber sie hat uns nicht erkannt. Das hat uns den Rest gegeben. Sie hätten sie sehen sollen: Sie lag reglos in diesem grauenvollen Krankenhauszimmer, war weiß wie die Wand und hatte scheußliche Schläuche in beiden Armen. Und sie hat uns, verdammt noch mal, nicht erkannt! Louise hat das nie ganz verwunden. Können Sie sich vorstellen, wie es ist, wenn die eigene Tochter nicht mehr weiß, wer Sie
sind? Damals dachte ich, alles ist aus, ja wirklich, ich dachte, das war’s.« Brock starrte auf sein leeres Glas, dann sah er Philippe an und rief: »He, Sie brauchen noch einen Drink, Ihr Glas ist leer.« Er bestellte beim Barmann noch zwei Martinis.
Philippe war entschlossen, die Unterhaltung nicht abreißen zu lassen, und ihm war klar, dass Brock nur gesprächiger werden würde, wenn er noch etwas trank. Er wartete, bis die vollen Gläser vor ihnen standen, dann fragte er: »Hatte Ihre Tochter schon vorher öfter Nasenbluten?«
»Nicht ein einziges Mal – wenigstens weiß ich nichts davon. Um ehrlich zu sein, ich glaube, jemand hat sie brutal zusammengeschlagen.«
»Zusammengeschlagen?«
»Ja, irgendein Kerl hat sie verprügelt, da bin ich ganz sicher. Die Leute im Krankenhaus dachten das auch, obwohl Sally es immer abgestritten hat.«
»Aber das hätte sie Ihnen doch bestimmt erzählt, oder nicht?«
»Sie hat kein Wort gesagt. Der Doktor meinte, sie hätte eine partielle Amnesie gehabt, aber er war genau wie ich der Meinung, dass man sie geschlagen hat.«
»Aber man kann doch nicht vergessen, dass man auf die Nase geschlagen wurde.«
»Es war mehr als nur ein Hieb auf die Nase, keine Frage. O Junge, es war ganz sicher mehr. Das Kind hatte überall blaue Flecke und Schnittwunden, sogar Würgemale am Hals … Dieser Kerl muss sie ganz schön rangenommen haben. Sie hatte innere Blutungen …« Brock hielt plötzlich inne. »Also wirklich«, fuhr er ärgerlich fort, »wer stirbt schon an Nasenbluten – hat man so was Blödes schon mal gehört?«
»Mein Gott!« Philippe sah Sally vor sich, wie sie einen anderen Mann aufforderte, die Dinge mit ihr zu tun, zu denen sie ihn ermutigte. Ihm wurde übel, aber nicht nur weil er schockiert war. Er empfand Abscheu vor dem, was ihr zugestoßen war, und davor, dass sie Gefallen daran gefunden hatte. Er ekelte sich vor sich selbst, weil er sich auf ihr böses Spiel eingelassen hatte und, was noch schlimmer war, weil er von Mal zu Mal gewalttätiger wurde und ihr eines Tages etwas Ähnliches wie dieser Kerl in Paris antun könnte. Was war nur in ihn gefahren? Wie hatte sie das fertiggebracht? Was hatte sie diesem anderen Mann angetan, dass er so ausgerastet war? War er auch so verrückt nach ihr gewesen, so bezaubert und wahnsinnig, dass er sich in Gewalt geflüchtet hatte? Sally hatte oft behauptet, Carson wäre der einzige Mann – außer Philippe –, mit dem sie je geschlafen hatte. Sie war ihm so unschuldig, so unerfahren erschienen, dass er nie an ihr gezweifelt hatte. Idiotisch, wie er sich hatte hinters Licht führen lassen. Was für eine glänzende Schauspielerin sie doch war! Sie musste ein großes Talent für Betrug und Täuschung haben. Philippe war nahe daran, sich zu übergeben, als er daran dachte, dass sie all das, was für ihn so neu war, mit einem anderen getan hatte.
»Ich hätte Ihnen das gar nicht erzählen dürfen«, unterbrach Brock seine Gedanken. »So gut wie niemand weiß etwas davon. Ich habe selbst keine Ahnung, wie ich ausgerechnet jetzt darauf komme. Ab und zu muss ich mir das alles wohl mal von der Seele reden. Sally spricht nicht darüber – sie hat es nie getan. Louise tut so, als wäre es wirklich nur Nasenbluten gewesen. Die meiste Zeit komme ich mit dieser Version einigermaßen zurecht, aber es fällt mir sehr schwer … Ich wünschte, ich hätte den Bastard gefunden und mir vorknöpfen können, nur ist mir das nie gelungen.«
»Sie hätten zur Polizei gehen sollen.«
»Ich war dort, das können Sie mir glauben. Ich habe Tage auf den Revieren in Paris verbracht, aber die Polizei konnte überhaupt nichts unternehmen. Sie hatten keinen einzigen Beweis, keine Aussage, und es gab niemanden, der eine Anzeige erstattet hatte … Sally hat immer geleugnet, dass ihr so was zugestoßen ist. Der Doktor sagte, sie würde dieses Erlebnis vollkommen verdrängen und aus ihrem Gedächtnis verbannen.« Natürlich hat sie es abgestritten, dachte Philippe. Sie konnte es ja auch schlecht zugeben, wenn sie das Ganze bewusst provoziert hat. Die Tatsache, dass sie nie über die Misshandlung gesprochen hatte, war für Philippe ein eindeutiger Beweis, dass sie selbst diesen Mann zu Gewalttaten und Brutalität angestachelt hatte. Jede andere, jede unschuldige Frau, der so etwas zustieß, würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um den gemeinen Angreifer so schnell wie möglich dingfest zu machen.
»Carson weiß sicher davon, nehme ich an.« Philippe hatte Schwierigkeiten, seine Gedanken zu ordnen.
»Er weiß es, weil ich es ihm erzählt habe. Damals, als es ierte, habe ich mit ihm darüber gesprochen und dann noch einmal, bevor er Sally geheiratet hat – aber soweit ich weiß, hat Sally ihm gegenüber nie etwas erwähnt.«
Philippe fiel nichts Vernünftiges mehr ein, was er zu alldem sagen konnte. Sie tranken ihre Martinis schweigend aus. Als sie aufstanden, um zu gehen, legte Brock Philippe die Hand auf die Schulter. »Behalten Sie das für sich, ja?«, sagte er und wechselte abrupt das Thema. »Wenn es kühler ist, spielen wir wieder ein Match. In der Zwischenzeit werde ich sehen, was ich tun kann, um Sie in den Club zu kriegen. Ich melde mich in ein oder zwei Tagen bei Ihnen.«
Philippe nickte. »Danke, ich würde gern eintreten – der Club ist genau das, was
ich gesucht habe. Und vielen Dank für das Spiel, es hat mir großen Spaß gemacht. Wir müssen das wirklich wiederholen.« Er machte eine Pause. Am liebsten wäre er sofort davongelaufen, wollte aber nicht unhöflich erscheinen. »Ja, und für die Drinks möchte ich mich auch bedanken«, fügte er unbeholfen hinzu.
»Nicht der Rede wert. Sie müssen einmal zu uns zum Abendessen kommen.«
Sie trennten sich und machten sich auf dem Parkplatz auf die Suche nach ihren Autos.
22
Auf der Heimfahrt kochte Philippe vor Zorn. Was für eine Hure! Eine Lügnerin! Sie war so überzeugend in ihrer Rolle als zaghaftes Kind, dass kein Mensch an ihrer Redlichkeit zweifelte.
Wenn sie es schon mit einem getan hatte und es nicht zugab, mit wie vielen anderen Männern hatte sie dann noch geschlafen, gespielt und diese gefährlichen Abenteuer genossen? »Putain de merde!«, brüllte er wütend. Wenn sie schon mit sechzehn angefangen hatte, musste sie inzwischen eine ganze Legion von Männern ins Verderben gestürzt haben.
Philippe wurde so sehr von Eifersucht zerfressen, dass er kaum noch den Wagen lenken konnte. Die Verzweiflung und Wut drohten ihn zu ersticken. Er riss das Steuer herum, trat heftig auf die Bremse und blieb am Straßenrand stehen. Eine Weile saß er da und schlug mit dem Kopf aufs Lenkrad. Er hatte gute Lust, sie umzubringen, so weit hatte sie ihn gebracht – er wäre imstande, einen Mord zu begehen. Er biss die Zähne zusammen, fuhr wieder an und raste mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Stadt.
Als er zu Hause war, warf er sich auf sein Bett und versuchte, seine Gedanken zu sammeln. Er sollte sich mit Sally in etwa vier Stunden in dem Apartment treffen. Er musste sie wissen lassen, dass er die Verabredung nicht einhalten würde – er konnte für nichts garantieren, wenn er ihr in diesem Zustand gegenübertrat. Obwohl er sich mit aller Macht danach sehnte, ihr ihre Lügen ins Gesicht zu schleudern, war er vernünftig genug, um selbst zu merken, dass er warten musste, bis er sich beruhigt hatte. Auf keinen Fall würden die wenigen Stunden, die sie beide erübrigen konnten, für sein Vorhaben ausreichen … Er wollte mit ihr wegfahren, irgendwohin, wo niemand sie stören und er sie so lange, wie es ihm beliebte, ganz für sich haben konnte. Diesmal würde er sie zum Reden
bringen, und wenn er sie eine ganze Woche einsperren und foltern musste.
Er blieb auf dem Bett liegen und starrte blicklos an die Decke. Der Putz war mit Rissen übersät, sie sahen aus wie die Linien auf seiner Handfläche. Seltsam, dachte Philippe, dass ich das nie zuvor bemerkt habe. Schließlich stand er doch auf und ging in die Küche, um sich etwas zu essen zu holen. Immer wieder sagte er sich, dass er die Ruhe bewahren musste, aber einem Telefongespräch mit ihr konnte er nicht aus dem Weg gehen – er war gezwungen, die Verabredung abzusagen, doch irgendwie musste er sich dazu bringen, dabei nicht die Nerven zu verlieren. Er wollte ihr nicht schon jetzt einen Hinweis darauf geben, dass er alles über ihre Vergangenheit wusste.
Während er sich ein Sandwich machte, dachte er über seine Lage nach. Dieses Mal würde er auf Biegen und Brechen alles aus ihr herauskitzeln, was es zu berichten gab, nur musste er sicherstellen, dass sie ein paar Tage für sich hatten.
Philippe kochte sich einen Kaffee und brachte ihn ins Wohnzimmer, aber schon nach einem Schluck wollte er ihn nicht mehr und stellte die Tasse ab. Er lehnte sich in seinem Sessel zurück und starrte das Telefon an – höchstwahrscheinlich war Carson zu Hause. Pech, aber er musste es riskieren – zur Hölle mit Carson. Philippe nahm den Hörer ab und wählte Sallys Nummer. Zum Glück meldete sie sich selbst.
»Ich kann heute Abend nicht«, sagte er als Antwort auf ihr »Hallo«.
»Hallo?«, wiederholte sie nervös.
»Ist Carson in der Nähe?«, fragte Philippe.
»Ich glaube, Sie haben die falsche Nummer gewählt«, sagte Sally kühl und legte auf.
Carson war offenbar im selben Raum, dachte Philippe, aber sie würde zurückrufen, wenn auch nicht sofort. In der Zwischenzeit konnte er sich betrinken, obwohl er glaubte, dass kein Alkohol der Welt die Höllenqualen, die er durchlitt, lindern konnte. Er wünschte sich verzweifelt, es gäbe eine Möglichkeit, die Vorstellung von der sechzehnjährigen Sally, die sadomasochistische Spiele mit einem anderen Mann trieb, auszulöschen.
Er trank eine halbe Flasche Scotch, aber statt einen Rausch zu bekommen, wurde er immer nüchterner. Wie hatte sie jemanden finden können, der all diese Dinge mit ihr tat, wenn sie nur ein paar Tage in Paris gewesen war? Es konnte nicht das erste Mal gewesen sein, dass sie eine solche Erfahrung gemacht hatte – kein vollkommen unschuldiges Mädchen würde sich in einer unbekannten Stadt, in der eine ganz andere Sprache gesprochen wurde, auf so etwas einlassen. Um Himmels willen, ein sechzehnjähriges Kind! In welchem Alter hatte sie mit diesen Spielchen angefangen, und wie viele Männer hatte sie während all der Jahre in ihren Fängen gehabt?
Als Teenager musste sie schön und zauberhaft gewesen sein. Ein zartes Mädchen mit einem ganz besonderen Flair. Wie gut war ihr Französisch?, fragte er sich. Wie hatte sie dem Mann erklärt, was sie wollte? Philippe nahm sich vor, sie dazu zu bringen, das nächste Mal im Bett nur französisch zu sprechen – falls es überhaupt ein nächstes Mal geben sollte. Er wollte hören, was sie sagte und wie sie es sagte. Er würde zu dem anderen Mann oder den anderen Männern werden – und die Kerle gleichzeitig aus ihrem Gedächtnis tilgen, damit nur noch er bis in alle Ewigkeiten Platz in ihren Erinnerungen hatte. Es war unerträglich. Warum hatte er sie nicht kennengelernt, als sie sechzehn gewesen war, statt sich mit einer treulosen Frau einzulassen, die ihn jahrelang an der Nase herumgeführt und dann doch einen anderen geheiratet hatte?
Er dachte an die Zeit, die er damit vergeudet hatte, diesen Schlag zu überwinden, an seine endlose Suche nach einer völligen Unschuld, die zu ihm und nur zu ihm gehörte. Gab es denn auf der ganzen Welt keine Frau, die monogam veranlagt war? Waren sie alle Lügnerinnen, Betrügerinnen und nymphomanische Schlampen?
Philippe schob sein Glas weg und trank gleich aus der Flasche, aber es hätte genauso gut Wasser sein können, so wenig Trost bot ihm der Whisky. Wie viel musste man trinken, um das Bewusstsein ganz auszuschalten? Am liebsten hätte er alles, was er wusste, weggewischt. Er suchte Vergessen und wollte sich total und sinnlos betrinken.
Er riss den Telefonhörer an sein Ohr, noch ehe das erste Läuten verklungen war.
»Philippe?«, fragte Sally ängstlich.
»Ja.«
»Carson war da, als du angerufen hast.«
»Das dachte ich mir. Wo bist du?«
»In einer Telefonzelle gegenüber vom Forum. Warum kannst du nicht kommen?«
»Weil ich es nicht mehr aushalte, ständig auf die Uhr zu schielen und mitten in der Nacht durch die Stadt zu kurven. Ich möchte dich nicht mehr nur für ein paar Stunden sehen. Ich will, dass du ein paar Tage mit mir wegfährst – irgendwohin, wo keine Leute sind und wir nicht an die Zeit denken müssen.«
»Aber ich kann unmöglich weg, das weißt du ganz genau.«
»Warum nicht? Die meisten anderen Frauen in dieser Stadt scheinen so was hinzukriegen. Sie fahren alle in den Sommermonaten aufs Land. Wieso kannst du das nicht?«
»Ich habe keine Kinder, und deshalb fehlt mir ein Vorwand. Außerdem habe ich das nie getan, und wenn ich jetzt damit anfange, errege ich nur Verdacht.«
»Ihr habt doch ein Haus in Knowlton, oder? Können wir nicht nach Knowlton fahren?«
»Die Ortsansässigen kennen Carson und mich, es würde unweigerlich alles herauskommen.«
»Was ist mit dem Landhaus deiner Eltern? Könntest du dich nicht für ein paar Tage dorthin zurückziehen? Du kannst sagen, dass dir die Hitze zusetzt und dass du ein wenig Erholung brauchst.«
»Meine Mutter hält sich seit letzter Woche dort auf. Noch dazu gibt es in der
Nachbarschaft viele Sommerhä von Leuten aus Westmount.«
»Also gut, dann sag mir bitte, wo keine Bekannten von dir hinfahren. An den Ottawa River? Auf die Prince-Edward-Insel? Was ist mit Gaspé? Es muss doch einen Ort geben, an dem wir ganz für uns sein können.«
»Ich weiß nicht – sie treiben sich eigentlich überall herum. Es gibt nicht viele Engländer in der Umgebung von Oka, dafür aber in Como, und das ist ziemlich nah. Gaspé ist noch schlimmer – viele unserer Freunde verbringen dort den Sommer. Besser wäre Ontario oder New England, obwohl wir auch dort Pech haben und Bekannte treffen könnten.«
»Was ist mit den französischen Ortschaften?«
»In dieser Provinz sind alle Orte französisch – ich denke, weiter nördlich wären wir einigermaßen sicher. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sich Leute, die ich kenne, in Chicoutimi aufhalten.«
»Wo ist das?«
»Im Norden. Etwa zweihundert Kilometer nördlich von Quebec. Es ist eine Stadt, kein Dorf, daher würde man dort nicht so sehr auffallen. Ich selbst war noch nie dort, aber man hat mir erzählt, dass sich ein Besuch in dieser Stadt nicht unbedingt lohnt. Wahrscheinlich ist sie ziemlich heruntergekommen.«
»Na, großartig. So kommen wir auch nicht weiter. Ich werde mich selbst ein
bisschen umhören – aber du musst mir versprechen, dass du mitfährst, wenn ich etwas gefunden habe, wo wir ein paar Tage bleiben können.«
»Kommst du heute in unser Apartment, wenn ich Ja sage?«
»Nein. Wir sehen uns erst wieder, wenn wir zusammen wegfahren.«
»Philippe!«, jammerte Sally. »Das halte ich nicht aus – bis dahin können Wochen vergehen …«
»Bestimmt nicht, das verspreche ich dir.« Seine Stimme klang drohend.
»Warum können wir uns vorher nicht treffen?«
»Weil ich es so entschieden habe.«
»Wieso?«
»Das erkläre ich dir alles, sobald wir unterwegs sind.«
»Und wenn ich nicht warten kann?«
»Dir wird nicht viel anderes übrig bleiben. Ich habe nicht vor, mich auch nur in die Nähe der Rue Beaudry zu wagen – zumindest nicht, bis wir wieder zurück sind.«
»Und wenn ich einfach zu dir in die Peel Street komme, was dann?«
»Das würde ich dir nicht raten.« Sally war überrascht über seinen Tonfall. »Provoziere mich nicht, Sally«, warnte er sie. »Lass dir nicht einfallen, hier aufzukreuzen. Ich bin imstande, dich umzubringen, wenn du das tust.«
Sally erstarrte und bekam kaum noch Luft. Es war bereits stockdunkel draußen, und mit einem Mal umhüllte sie die Finsternis und bedrängte sie. Der kalte Schweiß brach ihr aus allen Poren, und sie bildete sich ein, in Paris zu sein, in einem Zimmer unter dem Dach, in diesem Bett, in dem sie sich so verzweifelt gewehrt hatte. Sie schloss die Augen und fühlte den Fenstergriff, an den sie sich mit ganzer Kraft geklammert hatte … Sie erschrak heftig, als ihr bewusst wurde, dass es der Telefonhörer war, den sie in den Händen hielt. Sie schwieg und lauschte auf Philippes Atem am anderen Ende der Leitung. Sie hatte es von Anfang an gewusst. Sie hatte recht gehabt, er war es.
»Ich wiederhole es noch einmal: Versuch nicht einmal, hierherzukommen«, sagte er nach einer Weile. »Ich rufe dich in ein oder zwei Tagen an, wenn ich weiß, wo wir hinfahren können.«
Was sollte sie tun? Die Polizei anrufen? Oder Carson alles erzählen? Niemand würde ihr ein Wort glauben, und sie hatte keinen Beweis, dass sie bedroht wurde und in Lebensgefahr war.
Sie schluckte schwer. Er hatte vor, sie umzubringen. Er war der Mann aus Paris. Er musste es sein.
Es gibt nur eine Möglichkeit, es ganz sicher festzustellen, dachte sie.
»Sag etwas auf Französisch«, flüsterte sie leise. »Ich möchte hören, wie du etwas in französischer Sprache zu mir sagst.«
Plötzlich tat der Scotch seine Wirkung. Das ist es!, schoss es Philippe durch den benebelten Kopf. Die Nüchternheit war von einer Sekunde zur anderen verflogen. Natürlich, daran hätte er schon früher denken sollen! Die ganze Zeit hatte sie sich selbst vorgemacht, dass er der andere Mann war. Sie liebte gar nicht ihn, Philippe Marignac, sondern immer noch diesen anderen. Philippe stöhnte gequält, in diesem Augenblick empfand er nur noch grenzenlosen Hass – Hass auf Sally und auf sich selbst.
»Sag einen französischen Satz«, forderte sie hartnäckig. »Ich will, dass du französisch mit mir sprichst.«
»Salope!«, brüllte er wütend. »Laisse-moi tranquille. Fous-moi la paix!«
Sally war wie gelähmt und starrte auf die Straße, dann hängte sie, langsam und ohne noch ein Wort zu sagen, den Hörer in die Gabel.
In ihrer Panik rannte sie wie von allen Höllenhunden gehetzt zum Westmount Square. In der Nacht lauerten wieder überall Gefahren, der Himmel wirkte
bedrohlich, und der Mond grinste sie höhnisch an – eine dünne, scharfe Sichel, die bereit zu sein schien, ihr das Herz aus dem Leib zu schneiden. Sally war sicher, Blicke in ihrem Rücken zu spüren. Sie sah sich um. Da war niemand. Keine Menschenseele befand sich auf der Straße. Sie hätte ihm nicht verraten dürfen, wo sie war. Vielleicht wollte er sie abfangen, bevor sie ihre Wohnung erreichte. Konnte er das zeitlich schaffen? Selbst wenn er sofort zu seinem Auto gelaufen war, kam er doch sicher nicht schnell genug hierher, um sie noch vor der Haustür zu erwischen, oder? Aber das letzte Mal hatte er es auch geschafft – gerade als sie gedacht hatte, ihn endgültig abgehängt zu haben, war er da gewesen und hatte sie in das Auto gezerrt. Auch jetzt war er hinter ihr her, und sie konnte ihm nicht entkommen.
Sollte sie auf der Saint Catherine bleiben? Sie könnte am Maisonneuve entlanggehen, aber dort war es noch dunkler, und auf dem Klostergelände gab es eine Menge Verstecke für ihn. Sie wünschte, sie wäre mutig genug, die Unterführung zwischen der Alexis Nihon und dem Westmount Square zu benutzen, aber das war ihr bis jetzt noch nicht einmal bei Tag gelungen. Wenn ihr dieser Ort nicht solche Angst eingejagt hätte, wäre sie dort in eine Telefonzelle gegangen, um ihn anzurufen. Sie ahnte Gefahr und drückte sich flach gegen eine Mauer. Eine Katze huschte aus dem Schatten – sonst rührte sich nichts. Sally sah dem Tier nach, bis es außer Sichtweite war, dann folgte sie seinem Beispiel und schlich von Eingang zu Eingang. Dabei versuchte sie, möglichst im Dunkeln zu bleiben. Sie konnte ihr Haus schon sehen, als sie ein Motorengeräusch hörte. Sie blieb stehen und hielt den Atem an. Das Auto kam näher. Sie musste es riskieren und laufen, so schnell sie konnte.
Die letzten Meter kamen ihr wie Meilen vor. Als sie sich gegen die nächste Tür warf, um sich zu verstecken, wurde das Brummen des Motors leiser – der Wagen war an ihr vorbeigefahren. Sally atmete erleichtert auf, aber sie wusste, dass er umkehren und zurückkommen würde. Der Portier in ihrem Haus saß nicht an seinem Pult. War er nur kurz weggegangen? Oder krank? Oder hatte man ihn vielleicht ermordet?, überlegte sie in ihrer Todesangst. Angenommen, Philippe war vor ihr hier gewesen und der Portier hatte ihn nicht ins Haus gelassen … Philippe hätte ihn getötet, ganz sicher. Vielleicht lauerte er ihr jetzt irgendwo auf. Er wusste, dass sie nie mit dem Aufzug fuhr, also konnte er auf der Treppe auf
sie warten. Sie musste diesmal den Lift nehmen, eine andere Möglichkeit gab es nicht für sie – es war sicherer, und sie kam schneller in den vierten Stock als zu Fuß. Sobald sich der Aufzug in Bewegung setzte, merkte sie, dass sie einen Fehler begangen hatte. Zu dieser Nachtzeit war kein Mensch mehr in diesem Haus wach. Sie hätte das Gebäude nie betreten dürfen, und es war Wahnsinn, mit dem Lift zu fahren. Philippe konnte ihn in jeder Etage anhalten. Dann wären sie ganz allein auf dem Flur. Sie saß in der Falle – er würde sie ermorden und von hier verschwinden, ohne gesehen zu werden. Sie presste ihren Finger auf den Knopf mit der 4, weil sie sich einbildete, den Lift so am Stehenbleiben hindern zu können. Ihr Herz hämmerte wild, als sie sah, wie eine Ziffer nach der anderen über der Tür aufleuchtete – zwei, drei, vier. Sie hatte es geschafft. Als der Fahrstuhl mit einem Ruck zum Stehen kam und die Tür aufging, fiel ihr ein Stein vom Herzen, und sie atmete befreit auf.
Ihre Erleichterung währte nicht lange. Eine Hand umklammerte ihren Arm und zerrte sie aus dem Lift. Sally schrie wie am Spieß.
»Zum Teufel, wo bist du gewesen?«, fragte Carson.
Sie schwankte und sank ohnmächtig zusammen.
»Großer Gott«, murmelte Carson, als er sie hochhob und in die Wohnung trug.
23
»Was, in Gottes Namen, hast du da draußen getrieben?«, wollte Carson wissen, als sie zu sich gekommen war. »Es ist zwei Uhr morgens. Zum Teufel, wo bist du gewesen?«
Sally schlang die Arme um seinen Hals und klammerte sich an ihn, bis sie in der Lage war, ihm eine Antwort zu geben. »Ich brauchte frische Luft«, sagte sie. »Hier drin ist es entsetzlich stickig. Ich konnte nicht einschlafen. Es ist so heiß.«
»In einer Wohnung mit Klimaanlage? Hör auf mit diesem Unsinn, hier drin ist es viel kühler als draußen.« Er funkelte sie böse an, aber sie sagte nichts. »Seit wann bist du so tapfer, mitten in der Nacht ohne Begleitung aus dem Haus zu gehen?«, setzte er sein Verhör fort. »Und seit wann benützt du den Lift, wenn du allein bist? … Du warst gar nicht allein, stimmt’s?« Carson hatte so lange nichts von ihren nächtlichen Eskapaden bemerkt, dass Sally gar nicht mehr mit einer solchen Konfrontation gerechnet hatte. Sie war vollkommen unvorbereitet und hatte keine Ausreden parat. Sie sah ihn hilflos an und brach in Tränen aus.
Carson blieb ungerührt. »Ich warte auf eine Erklärung«, sagte er. »Du warst länger als eine halbe Stunde weg, und ich möchte wissen, warum.«
»Ich bin zur Atwater und zurück gegangen. Ich konnte nicht schlafen, das habe ich doch schon gesagt. Ich habe hier im Zimmer keine Luft mehr bekommen, ich musste raus.«
»Ich möchte die Wahrheit wissen, Sally. Das ist doch nicht das erste Mal.
Gestern Nacht warst du drei Stunden weg.« Bei jeder anderen Frau wäre Carson überzeugt gewesen, dass sie eine Affäre hatte, aber bei Sally war das ziemlich unwahrscheinlich. Er hatte keine Ahnung, was er von alldem halten sollte.
Sally fragte sich, was Carson tun würde, wenn sie ihm tatsächlich die Wahrheit erzählte. Sie war so froh, dass Philippe ihr nicht vor der Aufzugtür aufgelauert hatte, dass sie versucht war, sich alles von der Seele zu reden. Und wenn er sie aus der Wohnung warf, was dann? Oder wenn er ihr nicht glaubte, dass Philippe sie umbringen wollte? Carson könnte so wütend werden, dass er sie verließ und nie mehr zurückkam. Das durfte sie nicht riskieren – sie wusste, dass Philippe sie sofort umbringen würde, wenn Carson sie allein ließ.
»Lieber Himmel«, schrie Carson. »Ich will nicht die ganze Nacht hier mit dir herumsitzen. Sag mir die Wahrheit, und dann würde ich, wenn du erlaubst, gern wieder ins Bett gehen und ein paar Stunden schlafen.«
»Ich habe ihn aufgespürt«, platzte Sally heraus. »Ich muss ihn unschädlich machen, bevor er mich erwischt.«
»Wen hast du aufgespürt?« Carson glaubte einen Augenblick, dass er sich verhört hatte.
»Den Vergewaltiger – du weißt schon. Den Kerl, der mich damals in Paris verschleppt hat. Den Franzosen, Philippe Marignac.«
»Guter Gott, Sally, wovon sprichst du überhaupt?«
»Er will mich töten. Carson, ich habe entsetzliche Angst.«
Ihr Mann sah sie erstaunt an. Die ganze Zeit, in der er angenommen hatte, dass sie viel besser zurechtkam und an Selbstsicherheit gewann, war sie offenbar auf einen Nervenzusammenbruch zugesteuert.
Sie tat ihm unendlich leid, und er nahm ihre Hände in die seinen. Plötzlich wurde ihm alles klar. Er hatte ihr zu viel aufgebürdet und sie zu oft sich selbst überlassen, und jetzt brach sie zusammen. Was sollte er, um Himmels willen, tun? Er hatte keine Ahnung, was man in einem solchen Fall unternehmen musste.
»Ich denke«, sagte er schließlich, »dass du in ärztliche Behandlung gehörst.«
»Du glaubst mir nicht, oder? Das habe ich befürchtet, deshalb wollte ich dir ja nichts davon sagen.«
»Liebes, kein Mensch will dich umbringen. Dir geht es im Moment nicht gut, das ist alles. Du brauchst unbedingt Ruhe und Abstand. Vielleicht solltest du wegfahren und einmal richtig ausspannen.«
»Du willst mich doch nicht wegschicken! Er wird mich finden und ermorden!«
»Sei nicht albern, Sally. Niemand hat vor, dich zu ermorden. Was sollen wir nur mit dir machen? Das Beste wäre wahrscheinlich, du würdest den Sommer zusammen mit deiner Mutter in den Laurentians verbringen. Ich rufe gleich am
Morgen Dr. Humphries an – mal sehen, was er vorschlägt. Er wird dich sehen wollen, denke ich. Ich bringe dich zu ihm und bleibe bei dir, wenn du willst. Danach müssen wir unbedingt mit deinen Eltern sprechen. Aber jetzt sollten wir versuchen, noch ein bisschen zu schlafen.«
Im Nachhinein war Sally froh, dass Carson die ganze Sache so hingenommen hatte. Je mehr Ärzte und besorgte Verwandte um sie herumschwirrten, desto weniger kam Philippe an sie heran, um sein Vorhaben auszuführen.
»Schleich dich nie mehr nachts aus dem Haus«, sagte Carson noch, als sie im Bett lagen.
»Mich bringen keine zehn Pferde mehr da hinaus«, erwiderte sie mit einer Inbrunst, die Carson beruhigte. Er legte den Arm um sie, hauchte noch einen Kuss auf ihre Wange und schlief beinahe sofort ein.
Sally lauschte neidvoll auf seine gleichmäßigen Atemzüge und wünschte, sie könnte ihm ihre Lage so erklären, dass er auch wirklich alles verstand. Sie fühlte sich wie ein zum Tode durch den Strang Verurteilter. Was tat ein Todeskandidat, um die Vollstreckung hinauszuzögern? Beteuerte er seine Unschuld? Versuchte er den Henker zu überzeugen, dass die falsche Person vor ihm stand und alles nur ein verheerender Irrtum war? Bei Philippe würde so etwas nichts bewirken, dessen war sie sicher. Er kannte sie genauso gut wie sie ihn. Sie musste ihm zuvorkommen und ihn töten, nur dann hatte sie selbst eine Überlebenschance. Hatte sie sich nicht bloß deshalb mit ihm eingelassen? Sie hatte nach einem Beweis gesucht, und jetzt, da sie diesen Beweis hatte, musste sie handeln, ehe es für sie zu spät war.
Je mehr sie darüber nachdachte, umso klarer wurde ihr, dass sie nicht fähig war, jemanden kaltblütig zu ermorden. Sie konnte es einfach nicht tun, und sie hätte
sowieso nicht die geringste Ahnung, wie sie so etwas in Angriff nehmen sollte. Sie hatte sich all die Jahre etwas vorgemacht. Sie konnte ihn nicht töten – es sei denn, er würde versuchen, sie umzubringen, aber selbst dann wüsste sie nicht, wie sie es anstellen sollte. Eine Schusswaffe kam nicht infrage, sie wusste nicht einmal, wie man so ein Ding in der Hand hielt oder richtig lud. Gift war nicht gut, man konnte schlecht jemanden vergiften, der gerade versucht, einen zu erwürgen. Soweit sie es beurteilen konnte, hatte sie keine Chance, aber dennoch würde sie von jetzt an immer ein Messer bei sich haben.
Sie überlegte, warum er sie nicht schon längst ermordet hatte. Wieso hatte er sich erst die Mühe gemacht, sie für sich zu gewinnen und verliebt zu machen? Sie hätte sich auch fragen können, wie ihm das gelungen war, aber sie hatte schon immer daran geglaubt, dass ihr Leben vorherbestimmt war, und sie fügte sich mit der Mentalität eines Opfers in ihr, wie sie meinte, unaufhaltsames Schicksal.
Als sie die Ereignisse der letzten Monate und die Begegnungen mit Philippe Revue ieren ließ, glaubte sie, ein eindeutiges Verhaltensmuster zu erkennen. Plötzlich war ihr klar, wie sein psychopathisches Gehirn arbeitete.
Zu Anfang hatte er es sorgfältig vermieden, sie zu verletzen, obwohl er oft ziemlich grob gewesen war. Als sich ihre Beziehung dann weiterentwickelte, wurde er immer gewalttätiger, und seit einiger Zeit konnte man die Szenen, die sich ergaben, beileibe nicht mehr als Spiel ansehen. Trotzdem redete er mit ihr, als würde er sie wirklich lieben. Heute am Telefon hatte seine Stimme zum ersten Mal hasserfüllt und angewidert geklungen. Selten drückte sich seine Brutalität in Worten aus, und wenn doch, dann hatte sie nie den Verdacht, dass er sich gegen sie stellte – im Gegenteil, er sprach immer sanft auf sie ein, wie er es in Paris vor vielen Jahren auch getan hatte, bevor er zum Schluss ausgerastet war. Ihr kam in den Sinn, dass er sie vor dem letzten Schlag gefügig machen wollte. Ganz sicher war das in Paris so gewesen. Vielleicht brauchte er das Gefühl, dass sie in ihn verliebt war, um zu kaschieren, dass er ihr Gewalt antat. Er sah sich nicht gern als Vergewaltiger, das war’s. Offenbar meinte er, kläglich
versagt zu haben, deshalb hatte er die Beherrschung verloren und wollte Schluss mit ihr machen.
Alles war so offensichtlich, dass sie sich wunderte, es nicht schon viel früher durchschaut zu haben. Es war eine ganz simple Wiederholung der früheren Vorkommnisse. Aus irgendeinem Grund war es ihm wichtig, glauben zu können, dass sie ihn liebte. Er musste mit ihr spielen wie die Katze mit einer Maus, und er konnte sie erst töten, wenn er genug von ihr hatte. Dieser Zeitpunkt war nun gekommen, und er hatte genau dieselben Worte benutzt wie damals in Paris. Er hatte sie als salope beschimpft und geschrien: Fous-mois la paix.
So hatte er seinerzeit auch geredet, als er sie loswerden wollte. Und jetzt, wollte er sie jetzt auch nicht mehr sehen? Hatte er beschlossen, sie gehen zu lassen? Aber warum? Hatte sie ihn irgendwie provoziert? Oder glaubte er, dass sie ihn nicht mehr liebte? Möglicherweise widerstrebte es ihm, zum Mörder zu werden, auch wenn es ihn dazu drängte. Vielleicht versuchte er, der Gefahr aus dem Weg zu gehen.
Die Gedanken schwirrten durch Sallys Kopf, während sie einen Ausweg suchte, doch sie kam immer wieder zu demselben Punkt: Wenn er nur jemanden töten konnte, der ihn liebte, musste sie ihn davon überzeugen, dass sie kein bisschen Zuneigung mehr für ihn empfand. Sie würde ihm klarmachen, dass sie ihn nie geliebt hatte, dann verlor er sicher das Interesse an ihr wie das letzte Mal und wollte sie nie wieder sehen. Genau, sie musste ihm sagen, dass sie niemals Liebe für ihn empfunden und ihm alles nur vorgespielt hatte und dass sie in Wirklichkeit einen anderen Mann liebte. Danach konnte sie in die Laurentians fahren und bei ihrer Mutter bleiben, bis sich seine Wut abgekühlt hatte.
Aber was, wenn er ihr nachfuhr? Würde ihn ihre Mutter von einem Mord abhalten können? Ob ihn wohl eine mögliche Augenzeugin abschrecken konnte?
Das letzte Mal hatte er sie auch entkommen lassen, und es gab keinen Grund anzunehmen, dass er sich jetzt anders verhalten würde. Wenn er sie satthatte, würde er sie ziehen lassen – vielleicht verlor er die Beherrschung und brüllte Beleidigungen auf Französisch durchs Telefon, und das wäre dann das Ende der Affäre, oder nicht? Ganz überzeugt davon war sie nicht.
Ihre Mutter würde ihn sicherlich rausschmeißen. Louise könnte nie zulassen, dass ihr jemand wehtat, und sie war zäh und stark genug, um mit Philippe fertigzuwerden.
Sally sehnte sich danach, ihrer Mutter die ganze Geschichte anzuvertrauen. Sie wusste, dass Louise alles in Ordnung bringen würde, und konnte sich selbst gar nicht mehr erklären, warum sie ihr nicht schon längst ihr Herz ausgeschüttet hatte.
Um sieben Uhr morgens schlief Sally endlich ein. Carson wachte auf, als sie eindöste, und betrachtete sie eine ganze Weile. Je länger sie schläft, umso besser, dachte er. Das bot ihm die Gelegenheit, mit Dr. Humphries zu telefonieren, ohne dass sie mithörte. Er bemühte sich, sie nicht zu stören, als er aufstand und seine Kleider aus dem Schrank holte, dann wollte er auf Zehenspitzen in die Küche gehen, um sich Frühstück und einen starken Kaffee zu machen und die Radionachrichten zu hören.
Sally bekam vage mit, dass er im Zimmer herumschlich, und öffnete kurz die Augen.
»Schlaf weiter, Kleines«, sagte Carson. »Du brauchst noch nicht aufzustehen. Ich bleibe hier in der Wohnung, das verspreche ich dir – ich nehme mir heute frei.«
Er küsste sie auf die Stirn, dann ging er hinaus und schloss die Tür hinter sich.
Sally sank erneut in Schlaf. Sie träumte, dass sie ein kleines Mädchen war und die Hügel in der Provence durchstreifte. Wo sie auch hinschaute, überall sah sie nur rote Erde, Felsen und Gestrüpp. Sie wanderte ganz allein durch die Landschaft. Kein lebendiges Wesen, nicht einmal ein Tier, war in der Nähe.
Der Mistral erhob sich, wirbelte Staub auf und fegte in seinem uralten Rhythmus, der Mensch und Bestie in den Wahnsinn treiben konnte, über das Land. Plötzlich hörte sie das Schluchzen ihrer Mutter, jemand rief ihren Namen, und das Echo hallte von den Bergen wider. Das Schluchzen wurde lauter und glich sich dem Rhythmus des Windes an. Es war der heulende Wind, und dieser Wind rief ihren Namen. Sally rannte, um mit ihrer Mutter Schritt zu halten, mit ihrer Mutter, die zum Wind geworden war.
Überall waren Schlangen und Skorpione, und Sally musste über sie hinwegspringen. Dann sah sie ihre Mutter vor sich: Wasser lief über ihr Gesicht, und das Gesicht verwandelte sich zu Stein.
Sally hatte Durst in ihrem Traum. Sie wollte zu ihrer Mutter laufen und ihre Tränen trinken, aber ihr Vater stand zwischen ihnen im Olivenhain und schrie, dass sie wegbleiben solle. Er kam ihr riesengroß vor, und es gab keine Möglichkeit, an ihm vorbeizukommen. Er lief auf sie zu, und sie wusste, dass er sie schlagen würde, wenn sie nicht wegrannte.
Im nächsten Augenblick stolperte und kroch sie durch das Gestrüpp, weil sie die vielen Mimosenbäume, die weit unter ihr am Fuß des Abhangs blühten, erreichen wollte. Sie wusste, dass ihre Mutter dort war, versteckt zwischen den
Mimosen, und auf sie wartete, aber sie konnte nicht zu ihr, da ihr ein seltsamer Mann den Weg verstellte. Er machte ein Picknick und hatte alle möglichen Sachen auf dem Pfad ausgebreitet. Offenbar wollte er, dass sie sich zu ihm gesellte, sein Blick schreckte Sally jedoch ab. Sie wich zurück und huschte hinter die Büsche, um nicht gesehen zu werden, während sie das Weite suchte.
Sie rannte und rannte. Der Wind tobte, und plötzlich tauchte wie aus dem Nichts ihr Vater wieder auf. Er war noch größer geworden – ein Riese. »Zum Teufel, wo bist du gewesen?«, donnerte er …
Sally erschrak und wachte auf. Diese Worte hatte sie schon einmal genau so gehört. Es schien fast so, als würden sie ihr ganzes Leben lang in ihren Ohren widerhallen.
Sie setzte sich auf und sah sich um. Plötzlich erinnerte sie sich ganz klar an diesen Tag in ihrer Kindheit …
Sie machte Ferien mit ihren Eltern. Sie hatten über Ostern ein kleines Bauernhaus in der Provence gemietet. Selbst zu dieser frühen Jahreszeit schien die Sonne schon ziemlich kräftig, und besonders an diesem Vormittag war es warm wie im Sommer. Aber dann kam der Wind auf – ein kalter, trockener Wind. Sein regelmäßiges, wildes Peitschen versetzte Sally in Erregung. Sie wollte so schnell sein wie er und mit den wirbelnden Staubwolken tanzen. Nur ihre Eltern konnten den Mistral nicht leiden, er war ihnen zu heftig.
Immer wenn der Mistral aufkam, verschlimmerte sich die Laune ihres Vaters ohne ersichtlichen Grund, Louise bekam ihre Migräne und lag stöhnend im Bett. Sally meinte, sie würde ihren Eltern einen Gefallen tun, wenn sie sich von ihnen fernhielt. Da man ihr immer wieder eingeschärft hatte, nicht allein zu den Felsen zu gehen, beschloss sie, am Hang hinter dem Haus zu spielen.
Eine Weile strolchte sie im Unterholz umher und versuchte, eine Eidechse zu fangen, aber dann erinnerte sie sich daran, dass ihr Vater sie vor den Schlangen und Skorpionen gewarnt hatte. Erschrocken lief sie auf den Weg zurück und hielt dabei den Blick aufmerksam auf den Boden gerichtet. Schon bald vergaß sie jedoch die Schlangen und Skorpione und spielte mit ihrem Schatten – er war viel kleiner als sonst, obwohl sie sich wünschte, er wäre ganz groß, und er war direkt vor ihr – auch das erschien ihr ganz falsch. Eigentlich sollte jeder Mensch seinen Schatten hinter sich herziehen. Sie versuchte, ihn zu überspringen, rannte ganz schnell, weil sie meinte, er käme nicht mit, und sprang abrupt zur Seite, um ihn zu zwingen, sich von ihren Füßen zu lösen. Nichts funktionierte, was sie auch probierte. Sie drehte ihm geringschätzig den Rücken zu und erwartete, dass auch er sich winden und wieder vor ihr sein würde. Doch zu ihrer grenzenlosen Freude blieb er, wo er war, und sie dachte, sie hätte ihn ausgetrickst.
Sie stapfte in kleinen Kreisen herum und hoffte, er würde ihr nicht so dicht auf den Fersen bleiben, doch selbst wenn sie ganz langsam und vorsichtig ging, konnte sie ihn nicht überlisten. Wenn sie zum Berg schaute, war er immer vor ihr. Sally wurde wütend und nahm sich vor, so schnell wegzurennen, dass er nicht mehr mitkam.
Sie holte tief Luft und lief, so schnell sie konnte. Sie flatterte herum wie ein Schmetterling, flitzte von einer Seite des Weges zur anderen in ihrer Entschlossenheit, den ärgerlichen Begleiter loszuwerden, aber ihr Schatten war ebenso entschlossen, bei ihr zu bleiben. Zornig unternahm Sally noch einen letzten Versuch, über ihn zu hüpfen, und als das wieder nichts bewirkte, gab sie das Spiel gelangweilt auf.
Sie war außer Atem und durstig und suchte nach einem windgeschützten Plätzchen, wo sie sich hinsetzen und ein bisschen ausruhen konnte. Ein Stückchen weiter oben am Hang entdeckte sie drei Olivenbäume. Mit ungutem Gefühl wegen der Kriechtiere verließ sie noch einmal den Pfad, behielt aber die Stellen, auf die sie ihre Füße setzte, genau im Auge, als sie sich zielstrebig einen
Weg durch die Sträucher bahnte.
Als sie näher kam, meinte sie, das Plätschern von Wasser zu hören. Dann sah sie es – verheißungsvoll wie eine Oase in der Wüste: Ein Wasserstrahl sprudelte aus einem dünnen Rohr, das aus dem Felsen in unmittelbarer Nähe der Olivenbäume ragte. Direkt darunter war der Felsen roh zu einer Art Bassin behauen, in das das Wasser floss.
Sally lief los, umrundete die Bäume, ohne ihnen einen Blick zu gönnen. Als sie die Quelle erreichte, streckte sie die Hände aus und ließ das Wasser darüber rinnen. Es war kalt. Sally benetzte ihr Gesicht, dann trank sie ein paar Schlucke. Sie war immer noch erhitzt von den Anstrengungen und suchte Abkühlung, indem sie den Kopf unter den dünnen Strahl hielt. Das kalte Wasser tropfte auf ihr Haar, floss über die Wangen und von dort in das kleine Becken. Als sie sich genügend erfrischt hatte, stand sie auf und schüttelte das Wasser aus ihrem Haar.
Plötzlich hörte sie ein Geräusch, drehte sich um und sah einen Mann, der sich aus dem Schatten der Bäume löste und in ihre Richtung kam. Vielleicht ist dies hier ein privates Grundstück, und die Quelle gehört ihm, schoss es ihr durch den Kopf. Sie bekam Angst und fürchtete, dass er wütend werden würde, weil sie sich ohne Erlaubnis hier aufhielt.
Der Mann sagte kein Wort, hatte jedoch offensichtlich auch nicht vor, sie zu verjagen. Er näherte sich ihr ohne Eile und machte auch nicht den Eindruck, aufgeregt oder ärgerlich zu sein. Er trug eine blaue Hose, eine schäbige Jacke, schwere Schnürschuhe und einen verbeulten Filzhut. Über seiner Schulter hing ein Bündel, das, wie Sally vermutete, unter anderem seinen Proviant für diesen Tag enthielt. Sie sah eine Weinflasche und ein langes Baguette. Er kam bis auf ein paar Meter heran, und Sally lächelte ihn unsicher an und murmelte: »Bonjour.«
Er grinste idiotisch zurück. Ihm fehlten zwei Zähne, und seine kleinen Augen standen auffallend eng zusammen. Sally mochte ihn nicht, er sah schmutzig aus, und die Stoppeln auf seinem Kinn fand sie abscheulich. Sie wollte nicht, dass er ihr noch näher kam, daher trat sie ein paar Schritte vom Felsen weg und wich langsam zurück.
Der Kerl ließ sein Bündel fallen, und während er weiterging, lächelte er blöde und kratzte sich am Ohr. Zu Sallys Überraschung zog er plötzlich seine Hose herunter und ließ vor ihren Augen seinen schlaffen Penis hin und her baumeln. Dabei sagte er etwas, was sie nicht verstand.
Sally hatte genug und wollte weder erfahren, was das alles sollte, noch mehr sehen. Sie sprintete durch das dornige Dickicht auf den Weg zurück. Dort riskierte sie einen Blick über die Schulter und sah, dass er seine Hose wieder anhatte und die Verfolgung aufnahm, aber eilig schien er es nicht zu haben. Ihr war klar, dass ein Erwachsener schneller laufen konnte als sie, wenn es darauf ankam, und sie sah keinen anderen Ausweg, als sich in die Büsche zu schlagen und gebückt von einer Deckung zur anderen zu rennen. In einer von Maquis bewachsenen Landschaft verschwand ein fünfjähriges Kind schnell außer Sichtweite, aber Sally war noch zu klein, um das zu begreifen. Sie lief weit, bis sie sich in Sicherheit wähnte. Selbst dann noch blieb sie etwa eine Stunde in einem Versteck, lauschte auf die Geräusche und spähte in alle Richtungen, um sich zu vergewissern, dass er sie nicht entdeckt hatte.
Schließlich kroch sie, noch immer verschreckt, durch die Büsche zu dem Bauernhaus. Sie wagte nicht, sich auf den Wegen zu zeigen, und nutzte jeden Strauch als Tarnung, während sie bergab ging.
Ihre Eltern hatten sich seit Stunden entsetzliche Sorgen gemacht, weil sie schon so lange weg war. Louise blieb im Haus für den Fall, dass Sally zurückkam, während sich Brock auf die Suche nach ihr machte. Sally hörte schon von Weitem, dass ihre Mutter, die vor der Haustür stand, aufgeregt ihren Namen rief.
Sie rannte noch schneller und warf sich in Louises Arme. In diesem Moment nahm sie den überwältigenden Duft der Mimosen wahr, die in der Umgebung des Hauses wuchsen. Louise standen die Tränen in den Augen, als sie Sally hochhob, ganz fest umarmte und flüsterte: »Gott sei Dank! Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht, wir dachten schon, du hättest dich verirrt und würdest nicht mehr nach Hause finden.«
»Tut mir leid, Mum, das wollte ich nicht. Ich hatte auch Angst«, erwiderte Sally und drückte Louises Hand. Sie wollte ihrer Mutter von dem grusligen Mann erzählen, aber sein Benehmen, das sie als »ungezogen« ansah, hatte sie so sehr in Verlegenheit gebracht, dass es ihr schwerfiel, darüber zu sprechen. Wie viele Kinder, die sich in einer ähnlichen Lage befinden, ahnte sie, dass die Geschichte ein schlechtes Licht auf sie werfen und man ihr Vorwürfe machen würde für etwas so Ekliges. Ihr war vage bewusst, dass ihre Mutter enttäuscht von ihr wäre und sich aufregen würde. Außerdem war das Vokabular eines so kleinen Kindes beschränkt, besonders wenn es galt, Empfindungen auszudrücken. Ihr fiel nicht ein, mit welchen Worten sie das Erlebnis beschreiben sollte.
Sie zwang sich, an etwas anderes zu denken, und fragte: »Was ist das für ein Geruch, Mum? Es riecht ganz toll.«
»Das sind die Mimosen. Siehst du die vielen kleinen, gelben Blüten an den Bäumen da drüben? Die duften so sehr, dass man es im ganzen Haus riechen kann. Sie blühen hier überall. Ich finde den Anblick mit dem Meer im Hintergrund so hübsch. Ich hoffe, dass du dich daran auch noch erinnerst, wenn du älter bist. Es ist eine wundervolle Aussicht.«
Sally hielt die Hand ihrer Mutter fest und betrachtete das Meer, auf dem sich zwei Segelboote in den ungewöhnlich stürmischen Wellen zu behaupten versuchten. Im Vordergrund bogen sich die Mimosenbäume im Wind, dahinter fiel das Land steil zur felsigen Küste ab. Dort unten machten Sally und ihre Eltern oft Picknick, obwohl das Wasser noch viel zu kalt zum Schwimmen war.
Am schmalen Strand gab es Krabben, kleine Tintenfische und viele andere interessante Sachen – auch Seeigel. Sally, die gern in den Wasserpfützen zwischen den Felsen planschte, hatte rasch gelernt, genau aufzuen, dass sie nicht in die schwarzen Stacheln trat.
Sie beobachtete, wie der Wind durch die Mimosenbäume fegte, die sich anmutig verbeugten. Es schien fast, als würden sie ihr mit ihren bleichen Ästen und kleinen Blüten zuwinken, um sie zu Hause willkommen zu heißen.
Ihr fiel wieder ein, dass ihre Mutter Migräne gehabt hatte, und sie fragte: »Hast du kein Kopfweh mehr, Mum?« Aber bevor Louise antworten konnte, hörten sie hinter sich einen lauten Schrei. Sie drehten sich um und sahen, dass Brock wütend den Abhang herunterstürmte. Sally erkannte auf den ersten Blick, dass er immer noch schlecht gelaunt war. Sie klammerte sich ängstlich an ihre Mutter – die legte den Arm um sie und raunte: »Hab keine Angst, Schätzchen. Er ist nicht richtig böse auf dich. Er hat sich nur so schreckliche Sorgen gemacht.«
»Zum Teufel, wo bist du gewesen?«, brüllte Brock, als er näher kam …
Das alles stand Sally jetzt wieder ganz klar vor Augen. Damals musste sie fünfeinhalb gewesen sein. Seltsam, dass sie den Tag bis heute vollkommen vergessen hatte. Vielleicht hatte Carson, als er sie um zwei Uhr nachts mit denselben Worten wie damals ihr Vater begrüßt hatte, die Erinnerung wachgerufen.
Sie wusste wieder, wie Brock sie damals angeschrien und immer wieder gefragt hatte, wo sie sich so lange herumgetrieben hatte. Sie unternahm einen Versuch, ihm von dem Mann zu erzählen und zu erklären, dass sie sich nicht früher nach Hause getraut hatte. Heute wusste sie, dass sie dieses Individuum nur unzureichend beschrieben hatte, aber sie war immer noch der Meinung, dass ihr
Vater sich hätte bemühen sollen, sie zu verstehen.
Sie hatte erzählt, dass ein »komischer Mann bei den Oliven war, der seine Hose heruntergezogen hatte und darunter ganz nackt war«.
Diese Information machte ihren Vater nur noch wütender. »Ich kann nicht das Mindeste komisch finden an einem Mann, der seine Hose herunterlässt, wenn ein kleines Mädchen vor ihm steht!«, schrie er. »Es hätte wer weiß was ieren können. Verdammt, Sally, wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du nicht mit fremden Männern sprechen sollst? Kannst du denn nicht auf das hören, was man dir sagt? Ich werde dafür sorgen, dass du, solange du lebst, nie wieder allein aus dem Haus gehst. Ich werde es in dich hineinprügeln, sodass du das nie mehr vergisst.«
Das tat er auch. Er verdrosch sie mit der Haarbürste. Ironischerweise hatte sie den Exhibitionisten, die Prügel und all das sofort vergessen und nie wieder daran gedacht – bis heute. Aber jetzt besann sie sich auch wieder, wie sehr sie Brocks Reaktion verwirrt und gekränkt hatte. Er hatte ihren Stolz verletzt, ihr körperlichen Schmerz zugefügt und gleichzeitig die Saat für ein tief sitzendes Schuldgefühl gesetzt. Noch heute schämte sie sich, wenn sie an diesen Zwischenfall dachte.
Den Rest der Ferien war sie damals ihrem Vater so weit wie möglich aus dem Weg gegangen. Sie suchte sich ein Versteck in »ihrem Mimosenwald«, und wann immer ihr Vater schlecht gelaunt war, zog sie sich in ihre geheime Zauberwelt zurück.
Der betörende Duft umhüllte sie und bot ihr Frieden und Sicherheit.
Sally erzählte ihrer Mutter von ihrem Versteck, aber erst nachdem Louise ihr heiliges Ehrenwort gegeben hatte, niemandem etwas zu verraten, auch nicht Brock. Louise bewahrte das Geheimnis ihrer Tochter, und sie kamen stillschweigend überein, dass sie einen Warnpfiff ausstieß, sobald Brock wissen wollte, wo Sally war. Sally wusste, dass sie sofort nach Hause laufen musste, wenn sie den Pfiff hörte – sie wollte auf keinen Fall noch einmal einen Krach heraufbeschwören. Ein- oder zweimal, besuchte ihre Mutter sie im »Zauberwald«, während Brock im Ort war, um die Post zu holen. Dann spielten sie zusammen, bis Brock zurückkam.
Sally hatte sich sicher gefühlt in ihrem Mimosen-Versteck, und sie wünschte, sie hätte noch immer diesen Zufluchtsort.
24
Sally stand auf und streifte ihren Morgenrock über, dann sah sie auf die Uhr. Liebe Güte, drei Uhr! Sie hatte ganze acht Stunden geschlafen.
Carson erhob sich aus dem Sessel und sah sie besorgt an, als sie ins Wohnzimmer kam. »Das hat dir sicher gutgetan«, sagte er. »Fühlst du dich besser, nachdem du dich richtig ausgeschlafen hast?«
»Ja, aber ich habe etwas Scheußliches geträumt – von einem Erlebnis aus meiner Kindheit. Ein widerlicher alter Exhibitionist hat mich verfolgt – das ist wirklich iert, ich hatte es nur vollkommen vergessen.«
»Wann war das?«
»Beim ersten Mal, als mich Mum und Dad mit nach Südfrankreich nahmen. Ich muss ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein. Ich war an einer Quelle und trank Wasser, und dieser verkommene Typ tauchte hinter mir auf, zog die Hose herunter und wedelte mit seinem Ding herum. Ich war zu Tode erschrocken, rannte weg und versteckte mich stundenlang in den Büschen. Heute erscheint das ziemlich lächerlich, aber damals hatte ich wirklich Angst.«
»Hat er sonst noch was getan?«
»Er sagte etwas auf Französisch, was ich nicht verstanden habe.«
»Hat er dich angefasst?«
»Nein, aber er war nur ein paar Meter von mir weg, und wenn ich stehen geblieben wäre, hätte er es ganz bestimmt getan.«
»Hast du deinen Eltern davon erzählt?«
»Ja, und Dad wurde fuchsteufelswild. Er war richtig böse auf mich und hat mir den Hintern versohlt. Danach habe ich ihn regelrecht gehasst und mich eine ganze Zeit vor ihm gefürchtet.«
Sie schwieg einen Moment, für Carson war es jedoch offensichtlich, dass sie noch etwas auf dem Herzen hatte. Sie hielt den Kopf zur Seite geneigt, als würde sie auf Geräusche lauschen, die nur sie hören konnte, und ihre Augen wirkten erstaunt und nachdenklich zugleich. Schließlich seufzte sie und hob den Kopf. »Merkwürdig«, sagte sie, als würde sie ein Selbstgespräch führen, »ich dachte immer, dass ich bei Philippes Attacke in Paris zum ersten Mal in meinem Leben den Penis eines erwachsenen Mannes gesehen hätte, aber das stimmt gar nicht – damals habe ich auch einen gesehen, wenn es auch vermutlich nicht ganz dasselbe war.«
Carson fiel nichts ein, was er dazu hätte sagen können. »Wie wär’s mit etwas zu essen?«, schlug er vor. »Es ist Viertel nach drei, du bist sicher am Verhungern. Ich mache dir was, während du dich anziehst.«
Carson zögerte es so lange wie möglich hinaus, Sally von den Verabredungen zu
berichten, die er in der Zwischenzeit getroffen hatte. Sie würde sich wahrscheinlich ziemlich aufregen, und deshalb beschloss er, erst nach dem Essen und dem Abwasch die Sprache darauf zu bringen.
»Möchtest du einen Kaffee?«, fragte Sally, nachdem die Küche aufgeräumt war.
»Gern, wenn du ihn machst – aber lass ihn uns im Wohnzimmer trinken. Ruf mich, wenn er fertig ist, dann helfe ich dir, die Sachen rüberzutragen.«
Er wartete, bis sie beide saßen und ein paar Schlucke getrunken hatten, ehe er einen Vorstoß wagte. »Ich habe mit Dr. Humphries gesprochen«, verkündete er schließlich leichthin. »Er erwartet uns beide um sechs Uhr in seiner Praxis, er will dich gründlich untersuchen. Dann werden wir sehen, was wir unternehmen können.«
»Was hast du ihm gesagt?«, wollte Sally wissen.
»Nur, dass du in letzter Zeit nicht besonders gut schläfst und dass du denkst, jemand würde … Um ehrlich zu sein, ich habe ihm ein wenig von den Ereignissen in Paris erzählt und ihm gesagt, dass du überzeugt bist, dem Kerl in Montreal begegnet zu sein.« Als er ihre Miene sah, fügte er hinzu: »Ich musste ihm alles erzählen. Wie soll er dir denn helfen, wenn er nichts weiß?«
»Er kann mir nicht helfen. Du hättest die Polizei anrufen sollen, nicht Dr. Humphries«, fauchte Sally und sprang auf.
»Komm, Kleines, trink deinen Kaffee aus. Wir haben noch über eine Stunde Zeit, du brauchst dich wirklich nicht aufzuregen und jetzt schon die Pferde scheu zu machen.«
Sie setzte sich wieder. »Wozu, um alles in der Welt, soll eine gründliche Untersuchung gut sein? Philippe muss in ärztliche Behandlung, nicht ich.«
»Möglich, aber wir wollen doch ganz sichergehen, dass mit dir alles in Ordnung ist. Humphries ist ein kluger, vernünftiger Mann, es schadet bestimmt nichts, wenn er sich einmal eingehender mit dir beschäftigt.«
»Und dann?«
»Einer seiner Freunde möchte versuchen, dir zu helfen. Ich habe mich schon mit ihm in Verbindung gesetzt, er ist, wie mir scheint, genau das, was wir suchen.«
»Was soll das heißen ›genau das, was wir suchen‹? Ich wette, ich brauche ihn nicht. Wer ist dieser Wunderdoktor überhaupt?«
»Ein Psychologe, der sich hauptsächlich mit Vergewaltigungsopfern und krankheitsbedingten Kriminellen befasst. Wenn du es fertigbringst, ihm deine Geschichte ganz genau zu schildern, kann er zweifelsohne ein bisschen Licht in die Angelegenheit bringen, dir das Verhalten diese Mannes erklären und dir helfen.«
»Das löst wohl kaum mein eigentliches Problem, meinst du nicht?«
»Was willst du damit sagen?«
»Na ja, wenn er vorhat, endlose Sitzungen mit mir zu veranstalten, und nichts anderes tut als reden, werde ich umgebracht, bevor er, wie du so schön sagst, Licht in die Angelegenheit gebracht hat.«
»Liebe Güte! Ich habe dir schon ein paarmal gesagt, dass kein Mensch dich umbringen will. Du musst dir diese fixe Idee aus dem Kopf schlagen. Wenn du diesem Doktor eine Chance gibst, kann er bis zu den Wurzeln deiner Ängste vordringen. Dann wird dir selbst klar, dass du dir diese Bedrohung schlicht und einfach einbildest.«
»Mein Gott!«, rief Sally ungehalten. »Du glaubst mir immer noch nicht, oder? Du verlangst von mir, dass ich tatenlos herumsitze und darauf warte, ermordet zu werden, während irgendein Professor mir einredet, dass ich eine viel zu blühende Fantasie habe. Ich habe es satt, dass du mir vorhältst, ich würde mir das alles nur einbilden. Da draußen läuft ein Kerl herum, der mich töten will, aber dir ist das völlig gleichgültig.«
Carson verlor allmählich die Geduld. »Ich habe es auch satt«, brüllte er. »Ich bin es leid, mich ständig mit deinen verrückten Ideen herumschlagen zu müssen. Glaubst du vielleicht, es ist einfach für mich, mit dir zu leben, wenn du dich so aufführst? Ich tue wirklich mein Bestes, bringe dir Verständnis entgegen und versuche dir zu helfen, deine Ängste zu überwinden. Und du? Dir fällt nichts anderes ein, als mich anzuschreien und mir Vorwürfe zu machen. Ich weiß wirklich nicht, ob ich das noch lange aushalte. Das solltest du bedenken, Sally. Ich meine es bitterernst, irgendwann einmal ist bei jedem die Geduld am Ende, und ich denke, meine Grenzen sind erreicht.«
»Wenn du wirklich wollen würdest, dass ich mich nicht mehr fürchte, solltest du zu Philippe Marignac gehen und ihn unschädlich machen. Ich wette, du würdest ihn umbringen, wenn er hinter dir her wäre.«
»Warum, um Himmels willen, geht es bei dir immer nur um Gewalt? In deiner Vorstellung muss jeder jeden umbringen und ermorden. Was, zum Teufel, ist nur los mit dir? Manchmal frage ich mich wirklich, warum ich dich überhaupt geheiratet habe.«
»Genau das frage ich mich auch, das kannst du mir glauben. Du bist so hilfreich wie ein Loch im Kopf.«
Carson zuckte gereizt mit den Schultern, dann wandte er sich ab und marschierte zur Tür. »Sag den Termin bei Dr. Humphries ab, wenn du nicht hingehen willst«, sagte er scharf. »Ich gehe. Noch mehr dieser Auftritte kann ich nicht ertragen. Erwarte mich nicht zum Abendessen zurück. Ich brauche ein bisschen Abwechslung und einen unbelasteten Abend.«
»Carson!«, kreischte Sally. Sie sprang auf und lief ihm nach. »Lass mich nicht allein. Du kannst mich nicht im Stich lassen. Er kommt her und bringt mich um, wenn du jetzt weggehst.« Sie stürzte sich auf ihn und hängte sich an seine Arme.
»Lieber Gott, Sally, wie kann dich jemand umbringen, wenn du hier in der Wohnung bleibst. Du brauchst nur die Tür nicht aufzumachen, dann kommt auch niemand herein.«
»Er kann das Schloss aufbrechen oder so was. Ich weiß ganz genau, dass ihm etwas einfällt, wie er in die Wohnung eindringen kann.«
»Das ist doch lächerlich. Außerdem sitzt der Portier unten in der Halle und t auf.«
»Was soll der schon ausrichten? Philippe braucht nur zu sagen, dass er uns besuchen will, dann lässt er ihn ohne Weiteres ins Haus.«
»Das wird er nicht tun. Du weißt genau, dass der Portier immer bei uns anruft und die Besucher ankündigt.«
»Ach ja? Der Kerl kann ja auch einen falschen Namen angeben, oder etwa nicht? Er könnte so tun, als wäre er einer unserer Freunde.«
»Gut, in diesem Fall solltest du einfach gar niemandem die Tür aufmachen. Sag dem Portier, dass du nicht gestört werden willst und keinen Besuch empfängst, wer auch immer nach dir fragen sollte.«
Sally zerrte an seinem Ärmel und flehte: »Bitte geh nicht weg. Carson, ich bitte dich! Du hast ja keine Ahnung. Was, wenn er den Portier zuerst umbringt – was könnte ich dann noch tun?«
»Großer Gott!« Carson versuchte, sich aus ihrem Griff zu befreien. »Jetzt reiß dich zusammen und denk vernünftig. Man würde bemerken, wenn er dem Portier ans Leder geht, und außerdem hat er keinen Schlüssel für diese Wohnung. Du bist in Sicherheit!«
»Er könnte eine Kopie von meinem Schlüssel gemacht haben.« In ihrer Panik achtete Sally nicht mehr auf das, was sie von sich gab.
Carson starrte sie an. »Von deinem Schlüssel?«, hakte er einen Moment später nach. »Wie hätte er das bewerkstelligen sollen? Und vor allen Dingen wann?«
Sally schwieg längere Zeit, ehe sie antwortete. »Na ja«, murmelte sie matt, »er hätte einen Wachsabdruck machen können, oder was auch immer – ich weiß auch nicht.«
»Dazu müsste er erst einmal an deinen Schlüssel kommen, meinst du nicht?« Er musterte intensiv ihr Gesicht.
»Ja.« Sie bemühte sich um einen gleichmütigen Ton. »Er konnte ihn ganz leicht aus meiner Tasche nehmen, wenn wir alle zusammen waren – zum Beispiel bei der Eröffnung der Pivot-Ausstellung vor ein paar Wochen oder als wir mit Douglas und Anne letzte Woche essen waren.«
»In der Galerie hattest du deine Tasche die ganze Zeit bei dir. Du hättest sie nirgendwo ablegen können, selbst wenn du gewollt hättest, und was das Essen mit Douglas und Anne betrifft – du kannst doch nicht vergessen haben, was für einen Aufstand du gemacht hast, als du dachtest, du hättest deinen Schlüsselbund verloren. Du hattest ihn in deinem Büro liegen lassen, wenn du dich erinnerst – zumindest hast du das behauptet, als du ihn am nächsten Tag wieder hattest.«
Carsons Stimme klang kalt, aber Sally registrierte das kaum. Ein entsetzlicher Gedanke machte ihr zu schaffen. Natürlich erinnerte sie sich an den Abend, sie
erinnerte sich nur zu gut. Sie war außer sich und hatte allen das Dinner verdorben, weil sie überall herumgekramt hatte, bis ihr einfiel, dass sie die Schlüssel im Apartment in der Rue Beaudry liegen gelassen hatte. Sie hatte sie bei sich gehabt, als sie sich am Nachmittag mit Philippe getroffen hatte, und sie bei der Suche nach einem Stift aus der Tasche genommen.
Sie hatte sich nicht geirrt. Philippe gab sie ihr in der nächsten Nacht zurück. Er hatte die Schlüssel vierundzwanzig Stunden in seinem Besitz und Zeit genug gehabt, einen Nachschlüssel machen zu lassen.
Carson hatte den eisigen Blick immer noch nicht von ihr gewendet. Was sie sagte, machte für ihn keinerlei Sinn, und ihr Gesichtsausdruck erschreckte ihn – genauso hatte sie heute Nacht ausgesehen, als sie aus dem Aufzug geschwankt und ohnmächtig zusammengesunken war. Es war so unsinnig. Wieso machte sie sich bei Nacht und Nebel auf die Suche nach Philippe, wenn sie solche Angst vor ihm hatte? In den letzten sechs Monaten hatte Carson die Gelegenheit gehabt, die Psyche seiner Frau ein wenig besser zu begreifen.
»Du hattest eine Affäre mit ihm, stimmt’s? Du warst Philippe Marignacs Geliebte.«
Dieser Vorwurf traf Sally vollkommen unvorbereitet. »Nein, das war ich nicht«, widersprach sie nervös. »Ganz bestimmt nicht, wie kommst du nur auf so eine Idee?« Ihre krächzende Stimme verriet sie.
»Du bist nachts aus der Wohnung geschlichen und zu ihm gefahren … Natürlich. Und die vielen Telefonate, bei denen der Anrufer, ohne etwas zu sagen, eingehängt hat … Und wie oft hast du gesagt, jemand hätte sich verwählt? Ich hätte es viel früher merken müssen.«
»Ich habe keine Ahnung, wovon du redest!«, schrie Sally, aber Carson hörte ihr gar nicht zu.
Er murmelte weiter vor sich hin: »Die ganzen Abende, an denen du noch arbeiten musstest, aber du warst nie im Büro … Du hast gar keine misshandelten Frauen besucht, oder? Du warst bei ihm.«
»Du hast den Verstand verloren«, kreischte Sally. »Du bist vollkommen verrückt geworden!«
»Gehst du deshalb seit Neuestem wieder im französischen Viertel einkaufen? Hast du ihn dort getroffen?«
»Selbstverständlich nicht. Du bist wahnsinnig! Du bist derjenige, der zum Psychiater sollte, nicht ich.«
Carson wusste alles, er konnte es nur nicht beweisen. Sie würde es bis in alle Ewigkeit abstreiten, dessen war er sicher. Aber er wusste es mit absoluter Gewissheit. Sie maßen sich einen Moment mit ihren Blicken. Mit einem Mal wurde Carson alles zu viel. Dieser kleinen, zarten Frau, die er geheiratet hatte, war es schließlich gelungen, ihn in die Knie zu zwingen. Es war alles kaputt, was immer es auch gewesen sein mochte. Das Band der Zärtlichkeit und Zuneigung war zerrissen. All das Mitgefühl für sie hatte sich mit einem Schlag in nichts aufgelöst. Er wollte nur noch weg. Er brauchte frische Luft zum Atmen und wollte ein ganz normales, unkompliziertes Leben führen.
»Nun, meine Liebe«, sagte er nach einer Weile, »ich habe mein Bestes versucht, um dir zu helfen. Ich fürchte, jetzt kann ich nichts mehr für dich tun.« Er seufzte und trat zurück. »Du kannst weiterhin hier wohnen, wenn du willst. Ich suche mir etwas anderes. Ich finde, du solltest unbedingt mit deinen Eltern sprechen, sie helfen dir sicher … Ich würde sie an deiner Stelle anrufen … Wie auch immer, ich muss jedenfalls hier raus.« Er drehte sich um und ging mit unsicheren Schritten zur Tür.
Sally bemühte sich wieder, ihn am Gehen zu hindern, sie weinte und flehte, aber er ließ sich nicht mehr erweichen.
»Tut mir leid, Sally«, sagte er, »aber ich kann wirklich nichts mehr für dich tun. Ich empfinde nicht einmal mehr etwas für dich.«
Er ging ohne ein Wort des Abschieds und schloss die Tür hinter sich.
Er würde nie wieder zurückkommen, das wusste Sally, und jetzt stand Philippe nichts mehr im Wege – er würde sie erwischen. Sie verriegelte die Tür von innen, dann lief sie in die Küche und nahm ein großes Messer aus der Schublade. Nach kurzem Zögern holte sie noch ein zweites heraus. Eins für jede Hand, dachte sie und nahm sie mit ins Wohnzimmer. Als Nächstes genehmigte sie sich einen Drink. Sie legte die Messer in Reichweite, goss sich einen Brandy mit Soda ein und setzte sich auf das Sofa. Was sollte sie jetzt tun? Hier drin hielt sie es nicht mehr aus, aber wie konnte sie die Wohnung ungesehen verlassen? Sie musste damit rechnen, dass Philippe im Treppenhaus oder auf der Straße herumlungerte. Am besten wäre, sie würde ihn wissen lassen, dass sie ihn gar nicht liebte, dann ließ sein Interesse an ihr nach … Wenn das vollbracht war, konnte sie zu ihrer Mutter in die Laurentians fahren. Dorthin würde er ihr nicht folgen. Sie musste ihn anrufen und prüfen, ob er zu Hause war – wenn er sich meldete, musste sie ihm sagen, dass sie rein gar nichts für ihn empfand, und dann hatte sie Zeit, das Haus zu verlassen und loszufahren. Falls er den Hörer nicht abnahm, war klar, dass er auf der Lauer lag und dass sie unter keinen
Umständen die Wohnungstür öffnen und weggehen durfte.
Sie sah noch einmal nach, ob die Tür auch wirklich verriegelt war, und warf einen Blick auf die Messer, ehe sie mit zitternden Fingern Philippes Nummer wählte. Sie schnappte erschrocken nach Luft, als er sich meldete – sie hätte jeden Eid geschworen, dass er vor ihrem Haus stand. Sie atmete tief durch und nahm all ihren Mut zusammen. Mir bleibt keine andere Wahl, dachte sie, ich muss ihm sagen, dass ich ihn nicht liebe – das ist der einzige Ausweg.
Philippe hatte lange geschlafen, und als er aufwachte, fühlte er sich elend. Er war immer noch wütend, und sein erster Gedanke galt Sally und der Tatsache, dass sie bei dem nächtlichen Telefonat einfach den Hörer aufgelegt hatte. Sie hatte ihn gebeten, etwas auf Französisch zu sagen, weil sie sich vormachte, dass er dieser andere wäre. Danach hatte sie ohne ein weiteres Wort aufgelegt.
Er dachte immer und immer wieder darüber nach. Was für ein Spielchen trieb sie mit ihm? Er musste dringend mit ihr reden, er wollte begreifen, was das alles sollte. Er wählte am Vormittag mehrmals ihre Nummer, aber jedes Mal war Carson am Telefon. Warum war er nicht in der Redaktion? Was, zum Teufel, ging eigentlich vor? Als Carson zum dritten Mal den Hörer abnahm, war Philippe nahe dran, die Beherrschung zu verlieren. Sally musste ihn um Entschuldigung bitten, weil sie aufgelegt hatte. Er wollte von ihr hören, dass nichts von dem, was Brock ihm anvertraut hatte, der Wahrheit entsprach – dass es reine Erfindung war, dass es keinen anderen Mann gab und nie einen gegeben hatte, dass er, Philippe, der Einzige war, den sie je geliebt hatte. Unzählige Male spielte er im Geist das Gespräch durch. Sie musste ihm sagen, dass sie nie in Paris gewesen war, dass ihr Vater immer Geschichten erfand, wenn er Alkohol trank, und dass Brock der Erste wäre, der zugeben würde, alle nur erdichtet zu haben.
Solange Carson zu Hause war, konnte er nicht mit Sally sprechen, deshalb beschloss Philippe, die Zeit zu nutzen und nach einem Ort zu suchen, an den sie
beide fahren konnten. Er rief einen französischen Kollegen an, der ein Cottage in einer abgelegenen Gegend besaß, und schlug ihm ein gemeinsames Mittagessen vor.
»Ich werde noch verrückt in dieser Stadt«, beklagte sich Philippe, als er mit Jean-Marc im Restaurant saß. »Weißt du, ich habe erst einen einzigen Tag nicht in Montreal verbracht, seit ich in Kanada angekommen bin. Und selbst dann war ich nur in den östlichen Gebieten – ich habe noch nie die Laurentians gesehen. Seit beinahe neun Monaten sitze ich in dieser Stadt fest. Ich verliere noch den Verstand, wenn ich nicht bald rauskomme und allein sein kann. Fällt dir etwas ein, wo ich ein paar Tage ganz für mich bin?«
Jean-Marc reagierte genauso, wie Philippe gehofft hatte. »Du kannst es dir in meinem Cottage gemütlich machen, wenn du willst, aber du musst dich schnell entscheiden, weil ich selbst in zwei Wochen hinfahren will. Für mehr als eine Person ist es zu klein, das wirst du selbst feststellen. Ein Junggeselle wie ich kann kein Ferienhaus brauchen, bei dem die Hausarbeit überhandnimmt. Im Grunde fahre ich nur zum Fischen und Segeln hin und nehme nie jemanden mit.«
Sie sprachen bei einem Kaffee alles ganz genau durch, und als sie das Restaurant verließen, war die Sache perfekt. Jean-Marc beschrieb Philippe den Weg und nahm ihn mit in seine Wohnung, um ihm den Schlüssel zu geben.
Philippe war begeistert. Nach der Beschreibung seines Freundes war das Cottage ideal für das, was er vorhatte. Es befand sich in einem entlegenen Teil von Quebec an einem See, und das umliegende Land gehörte Jean-Marc. Der nächste Ort, ein winziges Dörfchen, lag fünfzehn Kilometer entfernt, daher war es äußerst unwahrscheinlich, dass sie einem menschlichen Wesen, geschweige denn einem Bekannten aus Montreal begegnen würden.
Philippe ging nach Hause und versuchte erneut, Sally zu erreichen. Er wollte sie dazu bringen, sofort ein paar Sachen zusammenzupacken und mit ihm wegzufahren. Wieder meldete sich Carson, und Philippe kochte vor Wut. Trotzdem war er überzeugt, dass sich Sally später, sobald sich eine Gelegenheit dazu bot, bei ihm melden würde, wenn auch nur, um sich für ihr Verhalten in der letzten Nacht zu entschuldigen.
Er holte eine Straßenkarte, um sich die Route zu dem Cottage anzusehen und sich so die Zeit zu vertreiben, bis endlich sein Telefon läutete.
Er musste sich bis fünf Uhr gedulden. Beim ersten Klingeln riss er den Hörer an sich – er erwartete Reue und Zerknirschung, deshalb versetzte ihm ihre kleine Ansprache einen richtigen Schock.
»Philippe?« Ihre Stimme klang schrill und angespannt. »Ich muss dir etwas sagen … das hätte ich eigentlich schon viel früher tun sollen.«
»Du solltest erst einmal um Verzeihung dafür bitten, dass du gestern einfach aufgelegt hast. Verdammt, warum war Carson heute nicht in seiner Redaktion? Ich habe den ganzen Tag versucht, dich zu erreichen.«
Er war gefährlich, das wusste Sally. Sein schneidender Unterton entging ihr keineswegs, und der Mut verließ sie. Aber sie musste sich zwingen – ihr Leben hing davon ab.
»Ich liebe dich nicht«, sprudelte es aus ihr heraus. »Ich habe dich nie geliebt. Ich habe nur so getan, weil ich einen anderen vergessen wollte.«
Dieser Eröffnung folgte ein bedrohliches Schweigen. »Wo bist du?«, fragte Philippe schließlich mit unnatürlich sanfter Stimme. Sally wollte, dass er sie anschrie und ihr Beleidigungen an den Kopf warf wie damals in Paris, dann hätte sie hoffen können, mit heiler Haut davonzukommen. Aber seine gefährliche Ruhe trieb sie vollends in die Verzweiflung.
»Ich bin in Dads Büro«, log sie, ohne lange zu überlegen. Sie musste ihn auf eine falsche Spur locken.
»Das ist am Place Ville-Marie, oder? Gut, nenn mir die genaue Adresse … schön, ich komme sofort und hole dich ab … Weil ich mit dir reden will … Nein, so was kann man nicht am Telefon besprechen. Ich bin in einer Viertelstunde da. Wenn du nicht willst, dass dein Vater uns zusammen sieht, warte am Eingang vom McGill-College auf mich.«
Gut, dachte Sally, als sie auflegte. Während Philippe in die falsche Richtung fuhr, konnte sie zu ihrem Wagen rennen und die Stadt verlassen. Es war unwahrscheinlich, dass er sie verfolgte – er hatte keine Ahnung, wo das Landhaus ihrer Eltern war, und außerdem hatte sie ihm erzählt, dass Louise die Ferien dort verbrachte.
Sie verschwendete keine Zeit. Wenn sie noch lange hier herumtrödeln würde, wäre sie eine leichte Beute für ihn. Sie schnappte sich ihre Schultertasche und steckte die beiden Messer hinein. Gleich darauf besann sie sich eines Besseren und nahm sie wieder heraus. Sie würde sie in der Hand halten, bis sie im Auto saß. Sie hielt die Messer ganz fest, während sie die Schlüssel für das Auto und das Haus ihrer Eltern holte. In den Laurentians befanden sich ein paar alte Kleider von ihr, damit musste sie auskommen – fürs Packen hatte sie keine Zeit mehr. Sie zog vorsichtig die Wohnungstür auf und spähte hinaus. Niemand war zu sehen – Sally lief los und stürmte die Treppe hinunter.
Als sie den Treppenabsatz erreichte, hörte sie, wie sich der Aufzug in Bewegung setzte. Er kam aus dem Parterre … Sally rannte weiter, und der Lift fuhr an ihr vorbei und hielt in einem der oberen Stockwerke. Sie erstarrte zu Eis – er blieb in ihrer Etage stehen. Aber so schnell konnte Philippe nicht zum Westmount Square kommen – sie hatte ja noch vor wenigen Minuten mit ihm telefoniert –, trotzdem war ihr der Schreck in die Glieder gefahren. Auf keinen Fall wollte sie ganz allein in die Garage hinuntergehen. Dort war vermutlich kein Mensch, und wenn Philippe sie dort aufspürte, konnte er sie umbringen, ohne Aufsehen zu erregen.
Vielleicht sollte sie den Portier bitten, sie zu begleiten, möglicherweise begegnete sie auch in der Halle jemandem, den sie kannte und fragen konnte. Sie konnte ja so tun, als würde das Türschloss klemmen, und behaupten, dass sie es nicht allein aufbrachte.
Als sie zum Haupteingang kam, war sie außer Atem, und ihr Herz raste.
Der Portier sah sie gleichgültig an. »Guten Abend, Mrs. Mackenzie«, sagte er, und genau in diesem Moment kam der Lift wieder herunter.
»Guten Abend«, erwiderte Sally und wirbelte nervös herum, als die Aufzugtüren aufglitten. Instinktiv umklammerte sie die Messergriffe fester und streckte sie dem Neuankömmling entgegen.
Es war einer ihrer Nachbarn. Er schleppte einen riesigen Koffer und ging auf die Portiersloge zu.
»Hi«, grüßte er lässig, und Sally ließ die Messer so unauffällig wie möglich in ihrer Tasche verschwinden. Er hatte sie bestimmt gesehen, und sie musste sich eine plausible Erklärung dafür einfallen lassen. Während sie noch überlegte, stellte der Nachbar den Koffer neben sie und stöhnte: »Mann, ist das Ding schwer. Es wiegt mindestens eine Tonne. Sie haben nicht zufällig Abigail gesehen? Sie wollte zum Getränkemarkt, um unseren Vorrat für die Bar aufzufüllen … Hoffentlich beeilt sie sich, ich möchte den Wagen beladen. Sobald sie wieder auftaucht, fahren wir los zu unserem Cottage. Und was ist mit Ihnen? Sie und Carson entfliehen doch sicher auch der Hitze, oder?«
»Carson meint, er würde noch mindestens vierzehn Tage in der Redaktion gebraucht, aber ich mache mich schon mal auf den Weg zu meiner Mutter in die Laurentians und bleibe dort, bis er weg kann.«
»Da haben Sie ganz recht. Es ist zu heiß für die Stadt. Ihr Mann arbeitet zu viel, richten Sie ihm das von mir aus.« Er deutete auf die Messer, die aus Sallys Tasche ragten, und lachte. »Offenbar haben Sie vor, ein gemästetes Kalb zu schlachten.«
»So könnte man es auch nennen.« Mittlerweile war Sally eine glaubhafte Ausrede eingefallen. »Ich bin sozusagen auf dem Sprung in die Laurentians, und meine Mutter hat heute Abend ein Barbecue, zu dem sie eine ganze Menge Freunde eingeladen hat. Sie hat die verrückte Idee, Enten zu grillen. Sie will sie in zwei Hälften teilen und auf den Holzkohlengrill legen – nur hat sie nicht genügend scharfe Messer, dass alle mithelfen können …«
»Klingt für mich nach harter Arbeit – es ist schon schlimm genug, eine gare Ente zu zerteilen. Sie brauchen eine Geflügelschere, mit Messern werden sie vermutlich nicht zurechtkommen. Trotzdem, ich bin sicher, dass es eine tolle Party wird.«
»Ich hoffe es.«
»Na, dann viel Spaß. Wir müssen uns mal zusammensetzen, wenn im Herbst alle wieder da sind.«
»Brechen Sie jetzt gleich auf, Mrs. Mackenzie?«, erkundigte sich der Portier, der es für einen wesentlichen Teil seines Jobs hielt, die Gespräche der Hausbewohner aufmerksam zu verfolgen.
»Ja. Oh, tut mir leid, ich hätte Ihnen das sagen sollen. Es kam alles so plötzlich – mein Mann bleibt aber noch eine Weile hier.« Sie wusste, dass Carson nicht mehr in dieses Haus kommen würde, wenn er es irgendwie vermeiden konnte, doch sie hatte nicht vor, den Portier über ihre ehelichen Konflikte aufzuklären.
»Ich wünsche Ihnen jedenfalls schöne Ferien«, erwiderte der Portier mit tadelndem Unterton.
»Danke, die habe ich bestimmt.« Sally wurde allmählich nervös, weil sie so viel Zeit verlor. Inzwischen ist Philippe sicher schon auf dem Weg hierher, vielleicht steht er sogar schon da draußen, dachte sie verzweifelt, oder er ist direkt in die Garage gefahren, weil er mich dort aben will.
»Könnten Sie mir einen Riesengefallen tun, Pete?«, fragte sie ihren Nachbarn und lächelte ihn gewinnend an. »Ich weiß auch nicht, aber ich bringe das Türschloss an meinem Auto nicht auf. Der Schlüssel scheint verbogen zu sein, oder so. Ich bin hier, weil ich jemanden um Hilfe bitten wollte. Könnten Sie vielleicht kurz mit mir in die Garage kommen? Sicherlich sind Sie geschickter als ich und können die Tür aufschließen.«
»Klar, kein Problem«, sagte Pete. »Mal sehen, was ich tun kann.«
Ihr fiel ein Stein vom Herzen, weil er an ihrer Seite blieb, bis sie neben dem Auto standen. Diese Tiefgarage war ihr immer schon ein Gräuel gewesen, und gerade an diesem Abend hätte sie es nie fertiggebracht, ganz allein hier unten herumzulaufen.
Von Philippe war keine Spur zu sehen, und ihrem Nachbarn schien es nicht das Geringste auszumachen, ein Türschloss zu öffnen, das kein bisschen klemmte. »Wahrscheinlich haben Sie den Schlüssel falsch herum reingesteckt«, sagte er gutmütig. »Ihr Frauen seid doch alle gleich, wenn es um technische Dinge geht. Ich weiß gar nicht, wie ihr in dieser Welt überleben könnt. Na, egal, ich wünsche Ihnen schöne Ferien … wir sehen uns, wenn Sie zurück sind.«
»Gern, und nochmals vielen Dank. Das war wirklich dumm von mir, tut mir leid.« Sally winkte ihm nach, als er sich umdrehte und ging, dann prüfte sie, ob die Fenster auch fest zu waren, legte die Messer auf den Beifahrersitz und fuhr in die Sommernacht.
Carson stand unter Schock, als er die Wohnung verließ, und fuhr völlig benommen zur nächstgelegenen Bar. Er bestellte sich einen doppelten Scotch und nippte niedergeschlagen daran, während er versuchte, genügend Energie zu sammeln, um Louise anzurufen. Er musste ihr Bescheid sagen und sie bitten, ihre Tochter abzuholen – trotz seiner Wut und der Enttäuschung machte er sich Gedanken darüber, dass Sally nicht in der Verfassung war, allein zu bleiben. Seiner Meinung nach gehörte sie unter psychiatrische Aufsicht und in ein Sanatorium, aber es wäre nicht gerade klug, Louise so etwas vorzuschlagen. Verdammt, dachte er wütend, wenn Sallys Leben ruiniert war, dann hatte sie sich das ganz allein zuzuschreiben.
Dennoch war ihm unbehaglich zumute, und als sein Whiskyglas leer war, hatte sich das ungute Gefühl in schlechtes Gewissen verwandelt. Er wollte nichts lieber, als all das so schnell wie möglich hinter sich lassen, aber zuerst musste er die Verantwortung für Sally jemand anderem übertragen. Er zog sein Adressbuch hervor und schlug die Nummer der Hamiltons in den Laurentians nach, kippte noch einen zweiten doppelten Scotch hinunter und ging zum Telefon, das auf der Theke stand. Er musste lügen und Louise erzählen, dass er nicht in der Stadt wäre und von auswärts anrief, sonst würde sie darauf bestehen, dass er augenblicklich in die Wohnung zurückging. Das brachte er auf keinen Fall fertig. Obwohl er sich Sorgen um sie machte, wollte er Sally nie wieder sehen. Er kam nicht mehr klar mit ihr, noch dazu brauchte er gerade jetzt Trost, und den fand er nur in den Armen einer anderen Frau.
»Louise«, sagte Carson, als sie sich meldete.
»Hallo, Carson. Wie geht’s?«, wollte Louise wissen. »Ich wette, Montreal war heute ein Glutofen. Hier war es sengend heiß, aber jetzt hat es sich bewölkt, und es ist entsetzlich schwül. Ich fürchte, es wird wieder ein scheußliches Gewitter geben.«
»Ja, es ist heiß wie in der Hölle. Hör mir zu, Louise, ich rufe aus einem ganz bestimmten Grund an. Ich wollte dich um einen großen Gefallen bitten, leider bedeutet das, dass du dich auf den Weg nach Montreal machen müsstest. Ich möchte, dass du Sally abholst, sie mit in die Laurentians nimmst und eine Weile bei dir behältst. Sie braucht jemanden, der sich um sie kümmert und mit dem sie reden kann.«
»Was ist iert? Sie ist doch nicht krank, oder?«
»Nicht so, wie du denkst«, erwiderte Carson. »Die ganze Sache ist zu kompliziert für ein Telefongespräch. Ich bin auf Geschäftsreise und muss die Nacht außerhalb verbringen, aber ich denke, Sally sollte nicht allein bleiben.«
»Warum? Was ist mit ihr?«
»Sie ist in einer ziemlich schlechten psychischen Verfassung – um ehrlich zu sein, sie dreht völlig durch, wenn du mich fragst. Sie hat die fixe Idee, dass sie jemand umbringen will …«
»Ist das dein Ernst?« Louise vermutete, dass diese letzte Bemerkung einer von Carsons schlechten Scherzen war.
»Mein bitterer Ernst«, versicherte Carson. »Ich möchte mit dir und Brock darüber reden, sobald es geht, aber ich halte es wirklich für besser, wenn sich Sally erst einmal richtig mit dir ausspricht.«
»Ist mit euch beiden alles in Ordnung?«, erkundigte sich Louise argwöhnisch.
»Wir hatten heute Abend eine Auseinandersetzung, das ist wahr, aber das ist nicht das Problem. Ich wünschte, es wäre so einfach.« Er seufzte. »Ich kann ihr nicht mehr helfen, Louise, ich bin mit meinem Latein am Ende. Sie ist ein nervliches Wrack, und ich ertrage das Zusammenleben mit ihr nicht mehr.«
»Was genau willst du mir eigentlich sagen, Carson?« Louise wurde wütend und fing an zu schreien.
Carson holte tief Luft – er wusste selbst nicht, wie viel er ihr erzählen sollte. »Ich denke, sie hat einen Nervenzusammenbruch – es ist etwas Ernstes, Louise. Meiner Meinung nach gehört sie in ein Sanatorium und sollte nicht frei herumlaufen.«
»Du spinnst! Sally ist nicht der Typ für einen Zusammenbruch, und schon gar nicht gehört sie in ein Sanatorium. Was ist zwischen euch vorgefallen? Hast du dich wieder einmal in fremden Betten herumgetrieben?«
»Louise, bitte hör mir zu. Es ist viel schlimmer als das. Sie sagt, dass ein Mann sie in Paris attackiert hat – du weißt schon, damals, als sie Nasenbluten hatte –, und sie ist überzeugt, dass Philippe Marignac dieser Kerl ist. Sie bleibt eisern dabei, dass er der Mann ist, der sie vor vielen Jahren entführt, misshandelt und verprügelt hat.«
»In meinem ganzen Leben habe ich nie einen solchen Unsinn gehört! Sie hat doch immer gesagt, dass ihr niemand etwas angetan hat. Sie hatte nur ein schlimmes Nasenbluten. Du weißt doch selbst ganz genau, was sie über ihren Parisaufenthalt erzählt hat.«
»Sie wurde angegriffen, Louise, daran besteht kein Zweifel. Schon vor Jahren hat sie mir genau geschildert, was vorgefallen ist. Welchen Quatsch sie sich auch sonst oft zusammenreimt, diese Geschichte hat sie sich bestimmt nicht ausgedacht.«
»Willst du damit sagen, dass sie mich und ihren Vater all die Jahre angelogen hat?«
»Es war keine Lüge im landläufigen Sinn. Sie konnte nicht darüber reden, weil sie selbst nicht damit fertigwurde. Sie hatte Angst vor Brocks Reaktion, wenn du meine Meinung hören willst, deshalb hat sie sich eingeredet, dass das alles gar nicht iert ist.«
»Was soll das heißen, ›Angst vor Brocks Reaktion‹? Warum sollte sie Angst vor ihrem Vater haben?«
»Sie hat mir von einem Erlebnis aus ihrer Kindheit erzählt. Ihr habt Ferien in Südfrankreich gemacht, als sie ungefähr fünf Jahre alt war. Damals hat offenbar ein Einheimischer vor ihr die Hose heruntergelassen und sie damit zu Tode erschreckt. Als sie Brock davon erzählte, wurde er zum Berserker und hat sie übers Knie gelegt. Danach fürchtete sie sich vor ihm.«
Louise schwieg.
»Ist das tatsächlich iert, Louise? Kannst du dich daran erinnern?«
»Ja. Brock war damals verrückt vor Sorge um sie, weißt du. Ich glaube nicht, dass er sich bewusst war … Aber ich sehe nicht ein, was das mit der heutigen Situation zu tun haben soll.«
»Ich habe in den letzten Jahren eine Menge Literatur über das Thema gelesen, wie du dir sicher vorstellen kannst. Eigentlich hatte ich mir vorgenommen, Sally dazu zu bringen, zu einem Psychiater zu gehen, aber als mir das nicht gelang, wollte ich wenigstens versuchen, mir ein bisschen Wissen anzueignen, um ihr zu
helfen. Alle Wissenschaftler scheinen davon auszugehen, dass eine sexuelle Attacke besonders schlimme Auswirkungen auf ein Kind oder eine Heranwachsende hat – das traf auf Sally zu. Ich habe aber auch gelesen, dass eine ungute Reaktion der Eltern das Kind weitaus mehr schädigt als die Belästigung an sich. Kinder haben offenbar mehr Angst vor der Reaktion der Eltern als vor allem anderen. Wenn ein Elternteil – besonders der Vater – dem Kind Vorwürfe macht und ihm zu verstehen gibt, dass es selbst diesen Vorfall heraufbeschworen haben könnte, ruft das Schuldgefühle und Ängste hervor. Sally hat mir erst heute Nachmittag von dem Vorkommnis mit dem Exhibitionisten erzählt, also sind das alles reine Vermutungen von mir, aber mir scheint, dass das die Erklärung dafür ist, dass sie immer geleugnet hat, in Paris belästigt worden zu sein.« Carson seufzte. »Jedenfalls«, fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »ob das nun der Grund für ihr Verhalten ist oder nicht, eines ist sicher: Ich werde nicht mehr mit ihr fertig. Ich bin am Ende, Louise, und ich muss dich bitten, die Sache zu übernehmen. Ich halte es einfach nicht mehr aus.«
»Wieso, um Gottes willen? Du kannst sie doch jetzt nicht im Stich lassen!«
»Louise, du weißt ja nicht, was ich durchgemacht habe. Eines sage ich dir, Sallys Zustand wird von Minute zu Minute schlimmer. Im Moment bin ich nicht in der Lage, mich mit ihr auseinanderzusetzen.«
»Wenn sie dir schon von ihren Erlebnissen in Paris erzählt hat, Carson, warum, zum Teufel, hast du dann nicht mit mir und Brock darüber gesprochen? Wir sind ihre Eltern, um Himmels willen! Wie konntest du es wagen, uns das zu verschweigen?«
»Ich durfte nicht darüber reden, ich hatte ihr mein Wort gegeben, niemandem etwas davon zu sagen. Sie hätte mir nicht mehr vertraut, wenn ich dieses Versprechen gebrochen hätte. Aber es ist zwecklos, das jetzt zu erörtern. Das wirkliche Problem ist, dass sie von der Idee besessen ist, Philippe Marignac wäre ihr Peiniger von Paris und würde noch einmal versuchen, ihr Gewalt anzutun.«
Carson war versucht, Louise zu verraten, dass ihre geliebte Tochter eine Affäre mit dem Franzosen hatte. Wenn das nicht Beweis genug für ihren Wahnsinn war! Sie ging mit dem Mann ins Bett, von dem sie annahm, er wollte sie umbringen … Carson konnte jedoch nicht beweisen, dass sie tatsächlich mit Marignac geschlafen hatte, und Sally würde es ganz sicher abstreiten.
»Sally glaubt, dass er sie ermorden will«, wiederholte er. »Sie ist keinem vernünftigen Argument mehr zugänglich. Wie gesagt, sie braucht dringend professionelle Hilfe.«
»Und wenn ihre Vermutung zutrifft? Hast du darüber schon mal nachgedacht? Vielleicht hat sie gar keinen Nervenzusammenbruch. Du scheinst sicher zu sein, dass ihr in Paris wirklich etwas zugestoßen ist, aber woher willst du so genau wissen, dass es nicht Philippe Marignac war, der ihr Gewalt angetan hat?«
»Liebe Güte, Louise, fang du nicht auch noch damit an! Er kann es nicht gewesen sein – abgesehen von allem anderen war er zur fraglichen Zeit gar nicht in Paris, sondern in Harvard. Das habe ich natürlich überprüft. Ich habe überhaupt alles, was er gesagt hat, überprüft. Er ist in Martinique aufgewachsen, seine Großeltern lebten in Südfrankreich. Er war drei Jahre in Paris, weil er dort in den Fünfzigerjahren studiert hat – weder vorher noch nachher ist er auch nur in die Nähe dieser Stadt gekommen. Er findet Paris schrecklich.«
»Es ist im Juli iert, Carson – in den Sommerferien. Er hat doch sicher nicht die Ferien in Harvard verbracht, oder? Hast du auch herausgefunden, was er in den Sommerferien 1962 gemacht hat?«
Carson stöhnte. »Ja. Ich habe dir doch gesagt, dass ich alles recherchiert habe. Er
war im Sommer 1962 in Martinique bei seinen Eltern.«
»Woher weißt du das? Wer hat dir das erzählt?«
»Er hat all seine Ferien dort verbracht. Ich habe mit verschiedenen Leuten gesprochen, die zusammen mit ihm in Harvard waren und ihn kannten. Sie sagen alle dasselbe.«
»Er konnte von Martinique aus nach Paris geflogen sein, oder nicht? Kannst du hieb- und stichfest beweisen, dass er nicht dort war?«
»Verdammt, Louise, ich kann doch nicht seine Eltern anrufen und sie danach fragen – ich kenne diese Leute nicht. Sei doch vernünftig. Du verlangst doch nicht im Ernst von mir, dass ich sie ausquetsche, was ihr Sohn in den Sommerferien vor einundzwanzig Jahren gemacht hat?«
»Also weißt du gar nichts.«
»Großer Gott, wir verschwenden nur wertvolle Zeit, wenn wir noch länger darüber streiten. Sally ist allein und steht Todesängste aus. Sie ist imstande, etwas Verrücktes zu tun. Neben vielen anderen Dingen hat sie die Gewohnheit angenommen, mitten in der Nacht in Montreal herumzuwandern.«
»Was soll das heißen?«
»Genau das, was ich gesagt habe. Sie zieht sich an und verlässt nachts die Wohnung, um nach Philippe Ausschau zu halten. Weiß der Himmel, warum sie das tut.«
»Du willst mir doch nicht wirklich weismachen, dass Sally im Dunkeln durch die Straßen läuft, oder?«
»Doch.«
»Ganz allein?«
»Ja.«
»Ich bitte dich, Carson. Sally ist ihr ganzes Leben lang nicht bei Dunkelheit allein aus dem Haus gegangen.«
»Gestern und vorgestern hat sie es getan.«
»Du machst Witze. Das nehme ich dir nicht ab.«
»Ich versichere dir, es ist die Wahrheit. Gestern war sie eine halbe Stunde weg und in der Nacht davor drei Stunden, das weiß ich ganz sicher. Beim ersten Mal habe ich so getan, als würde ich schlafen, als sie zurückkam. Ich vermutete, dass sie eine Affäre hat, und wollte herausfinden, ob sie sich wieder davonschleicht. Gestern habe ich dann vor der Wohnungstür auf sie gewartet. Sie fuhr mit dem
Aufzug – du weißt, dass sie früher keine zehn Pferde in einen Lift gebracht hätten – und schrie, als die Türen aufgingen. Dann verlor sie das Bewusstsein.«
»Carson!«, kreischte Louise. »Du hättest sie zurückhalten müssen! Wie konntest du zulassen, dass sie ohne Begleitung die Wohnung verlässt?«
»Ich habe es nicht zugelassen – wenigstens nicht absichtlich. Sie hat gewartet, bis ich eingeschlafen war. Es war reiner Zufall, dass ich in diesen beiden Nächten aufgewacht bin und gemerkt habe, dass sie nicht da war.«
»Und du hast sie heute allein zu Hause gelassen? Du musst den Verstand verloren haben.«
»Tut mir leid, Louise, aber ich habe einen Job zu erledigen. Und – wie gesagt – ich kann nicht mehr. Wirklich. Du kannst mir glauben, dass mir nicht wohl dabei ist. Deshalb habe ich dich ja angerufen. Bitte fahr zu ihr und bring sie in die Laurentians, sonst finde ich keine Ruhe.«
»Von wo aus rufst du an?«
»Ich bin auf dem Weg nach Sherbrooke«, log Carson. »Ich soll bei einem Dinner eine Rede halten. Wie’s aussieht, komme ich zu spät.«
»Warum hast du mich nicht angerufen, bevor du weggefahren bist?«
»Ich habe dir doch schon erzählt, dass wir Streit hatten. Ich war so wütend, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Louise, ich flehe dich an, fahr zu ihr und sieh zu, dass du sie aus Montreal wegbringst. Du kannst mir hinterher immer noch die Leviten lesen, aber sorg dafür, dass sie in Sicherheit ist.«
»Du bekommst etwas zu hören, wenn ich dich das nächste Mal sehe, darauf kannst du dich verlassen.«
»Gut, meinetwegen, aber jetzt solltest du keine Zeit mehr verlieren. Du solltest Brock Bescheid sagen, vielleicht kann er sich um sie kümmern, bis du ankommst. Ich melde mich später bei euch, damit ich erfahre, ob alles in Ordnung ist.«
Carson fühlte sich ausgelaugt. Er beendete das Gespräch mit Louise und wählte die Nummer einer Frau, der er von Zeit zu Zeit einen Besuch abstattete. Sie lebte im Osten von Montreal, und er hatte zufällig erfahren, dass ihr Mann ein paar Tage verreist war.
Nachdem er seine Arrangements getroffen hatte, bestellte er sich noch einen letzten Drink, dann machte er sich auf den Weg nach Osten.
Die schrecklichsten Szenen und fürchterlichsten Bilder wirbelten durch Louises Kopf: Ihre sechzehnjährige Tochter lag aschfahl im Krankenhaus. Ihr einziges Kind war von einem Verrückten gequält worden – aber wo? In einer heruntergekommenen, finsteren Gasse in Montmartre? In einem schäbigen Hotel? Auf einem menschenleeren Parkplatz? Was war Sally zugestoßen? Louise musste alles erfahren – wie konnte es überhaupt dazu kommen, und wer war dieser Wahnsinnige? Sie hatte Visionen von einem verkommenen Subjekt, das ihrer Tochter Obszönitäten ins Ohr flüsterte und seine Hände um ihren mädchenhaften Hals legte – ein Marquis de Sade, ein Graf Dracula, ein Vicomte
de Valmont in moderner Kleidung. Ein durchtriebener Verführer mit dem Charme eines Teufels und dem Gemüt eines Henkers. Oder ein betrunkener, nach Knoblauch und Gitanes stinkender Stadtstreicher in dreckigen Klamotten – vielleicht eine jüngere Version von Philippe Marignac. Sein gutes Aussehen und die geschliffenen Manieren konnten sehr gut einen verdorbenen Charakter kaschieren. Sie würde diesen Kerl umbringen – wer immer Sally das auch angetan hatte, er durfte nicht ungeschoren davonkommen. Sie musste ihn finden und ein für alle Mal unschädlich machen. Lieber Gott, warum hatte sie das alles nicht schon viel früher erfahren?
Gleich nach dem Telefonat mit Carson versuchte sie, Sally zu erreichen. Sie lauschte auf das Klingeln – Sally nahm den Hörer nicht ab. Sie war nicht mehr in der Wohnung. Nach dem zwanzigsten Klingeln gab Louise auf und rief ihren Mann an.
»Ist Sally bei dir?«, fragte sie Brock, als man sie endlich durchgestellt hatte.
»Nein«, antwortete Brock gereizt. »Warum, zum Teufel, sollte sie hier sein? Was ist nur in euch alle gefahren? Philippe Marignac ist gerade in mein Büro marschiert. Er ist auch auf der Suche nach Sally.«
»O mein Gott«, keuchte Louise. »Sorg dafür, dass er Sally auf keinen Fall begegnet. Hör mir zu …« Sie berichtete Brock von ihrem Gespräch mit Carson. »Ich habe versucht, sie anzurufen«, fügte sie hinzu, »sie ist nicht zu Hause. Du musst sie suchen. Ich fahre sofort los. Finde Sally, wir treffen uns dann bei uns zu Hause.«
»Wo soll ich mit der Suche anfangen? Verdammt, sie könnte überall sein.«
»Ruf ihre Freunde an. Vielleicht weiß jemand, wo sie sein könnte. Brock, es ist wirklich ernst, sie braucht unsere Hilfe.«
»Okay, ich tue, was ich kann, aber sieh zu, dass du so schnell wie möglich herkommst.«
25
Philippe war außer sich vor Wut, als er zum Place Ville-Marie raste. In seinem ganzen Leben war er noch nie so zornig gewesen. Er hatte gehofft, mit Sally in aller Ruhe an einem abgeschiedenen Ort reden und sich für dieses Gespräch ein paar Tage Zeit nehmen zu können. Aber ihr Anruf hatte plötzlich alles auf den Kopf gestellt und die Dinge vorangetrieben. Er stürmte zum Haupteingang des McGill College, dann in das Gebäude, nur um festzustellen, dass Sally nicht da war. Sie spielt Verstecken mit mir, dachte er wütend, sie versucht alles, um nicht mit mir sprechen zu müssen. »Wenn sie auch nur einen Moment lang glaubt, sie könnte dieser Unterhaltung aus dem Weg gehen, indem sie sich im Büro ihres Vaters verschanzt, wird sie bald merken, dass sie sich getäuscht hat«, brummte er grimmig vor sich hin, als der Aufzug im Parterre hielt und er ihn betrat.
Am Empfang von McEwan und Hamilton war nichts von Sally zu sehen, und Philippe machte dem Mädchen hinter dem Pult klar, dass er unverzüglich mit Brock Hamilton sprechen müsse. Brock war erstaunt, als man ihm Philippe Marignacs Besuch ankündigte, aber er bat die Sekretärin, ihn in sein Büro zu führen.
»Hi, welch hübsche Überraschung. Was führt Sie zu mir?«, erkundigte sich Brock jovial, als Philippe hereinkam.
»Ihre Tochter hat mich vor etwa zwanzig Minuten angerufen und gebeten, sie hier zu treffen«, schwindelte Philippe. »Es klang dringend, deshalb bin ich sofort hergekommen.«
»Sie hat Sie hierher gebeten?«, fragte Brock ungläubig nach. »Und ein Irrtum ist
ausgeschlossen?«
»Absolut.«
»Hat sie Ihnen einen Grund genannt?«
»Nein.«
»Ich bin sicher, Sie haben sie missverstanden, ich erwarte Sally nicht.«
Philippe funkelte Brock wütend an. »Sie sagte, dass sie von Ihrem Büro aus anrufen würde«, erklärte er in einem Ton, der deutlich machte, dass Brock wissen musste, wo sie sich aufhielt.
»Was? Äußerst merkwürdig – kann es nicht sein, dass sie von Carsons Büro aus telefoniert hat? Das würde eher einen Sinn ergeben. Ich schätze …«
Brock wurde vom Summen des Haustelefons unterbrochen.
»Ja«, bellte er in den Hörer. »Gut, stellen Sie sie durch … Louise? Ja … was? Nein. Warum, zum Teufel, sollte sie hier sein? Was ist nur in euch alle gefahren? Philippe Marignac ist gerade in mein Büro marschiert. Er ist auch auf der Suche nach Sally.«
Philippe hörte mit Interesse zu und versuchte zu erahnen, was Louise am anderen Ende der Leitung sagte. »Okay, ich tue, was ich kann. Aber sieh zu, dass du so schnell wie möglich herkommst.«
Brock legte auf und wandte sich wieder Philippe zu. »Ich habe keine Ahnung, was hier eigentlich los ist«, knurrte er. »Louise ist aufgeregt, weil Sally zu Hause nicht ans Telefon geht. Sie denkt, dass sie …« Brock brach mitten im Satz ab – eigentlich wollte er Philippe warnen, für den Fall dass Sally plötzlich auftauchte, aber dann hielt er es doch nicht für richtig, dem Franzosen alles zu sagen, was Louise ihm gerade berichtet hatte. Er verdächtigte Philippe nicht einen Moment lang, finstere Absichten mit seiner Tochter zu haben, aber er fürchtete, ihn zutiefst zu beleidigen, wenn er ihm weitergab, was Sally über ihn behauptete. Vielleicht würde der Franzose sie wegen übler Nachrede verklagen … Jeder, der als Vergewaltiger und potenzieller Mörder bezichtigt wurde, würde sofort Anklage gegen den Verleumder erheben, dachte Brock. »Louise meint, dass Sally einen Nervenzusammenbruch hat«, endete Brock matt.
»Wie kommt sie darauf?«
»Carson hat sie offenbar gerade angerufen, um ihr zu sagen, dass Sally durchdreht und dringend Hilfe braucht.«
»Dann ist sie also bei Carson«, murmelte Philippe nachdenklich.
»Nein, deshalb hat er ja Louise Bescheid gesagt. Er hat irgendwas davon gesagt, dass er heute Abend in Sherbrooke bei einem Essen eine Rede halten muss und sich Sorgen macht, weil Sally ganz allein ist.«
Philippe sagte nichts dazu, fand die Information, dass sich Carson nicht in der Stadt aufhielt, jedoch hochinteressant.
»Ich versuche lieber noch mal, sie zu erreichen«, meinte Brock, nahm den Hörer ab und wählte. Er ließ es lange klingeln, dann zuckte er ärgerlich mit den Schultern und legte auf.
Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Großer Gott, so was hat mir gerade noch gefehlt«, explodierte er unvermittelt. »Ich wette, das ganze Theater ist nichts weiter als ein Sturm im Wasserglas. Wahrscheinlich ist mit Sally alles in schönster Ordnung, trotzdem erkundige ich mich lieber mal beim Portier in ihrem Haus …« Er summte seine Sekretärin an. »Verbinden Sie mich mit dem Burschen, der im Haus meiner Tochter in der Halle sitzt«, sagte er, und einen Augenblick später, als sie ihn zurückrief: »Gut, ich möchte mit ihm sprechen – stellen Sie bitte durch.«
Philippes Gesicht blieb ausdruckslos, doch er war bis zum Äußersten gespannt.
»Hier spricht Mrs. Mackenzies Vater … Mrs. Carson Mackenzie, ja. Das ist richtig. Sie ist nicht zu Hause, aber ich habe eine dringende Nachricht für sie. Würden Sie ihr, wenn sie nach Hause kommt, bitte ausrichten … Was? … Sind Sie sicher? … Und sie hat nicht gesagt, dass sie nach Knowlton fährt? Sie haben dort ein Haus, wissen Sie … Wirklich? Zu ihrer Mutter? Wann war das? Und sie hat tatsächlich von den Laurentians gesprochen? Gut, vielen Dank für Ihre Hilfe …«
Brock legte den Hörer auf die Gabel und hob ratlos die Hände. »Verdammt noch mal«, brüllte er. »Ich hätte wissen müssen, dass sie so was Verrücktes tut – das t zu ihr. Warum, zur Hölle, kommt sie nicht auf die Idee, jemandem Bescheid zu sagen, bevor sie sich kopflos auf den Weg macht? Ich hätte Louise
sagen sollen, dass sie sich nicht von der Stelle rühren darf – ich bete zu Gott, dass sie noch nicht losgefahren ist.«
Er wandte sich an Philippe. »Tut mir leid, aber ich muss sofort versuchen, Louise zu erwischen. Ich muss sie unbedingt vorwarnen, dass Sally auf dem Weg zu ihr ist. Ich stehe in einer Minute ganz zu Ihrer Verfügung, ich muss Sie wirklich um Verzeihung bitten, weil es hier so chaotisch zugeht.« Er wählte, horchte eine ganze Weile, dann gab er es auf. »Verflucht und zugenäht!«, brummte er schließlich. »Sie ist schon weg.«
Er rief seine Sekretärin herein. »Suchen Sie die Nummer der Tankstelle in Valdes-Lacs heraus und stellen Sie eine Verbindung her«, ordnete Brock an. »Sie finden alles in meinem Adressbuch unter ›Dufour‹ – so heißt der Besitzer. Ich bitte Sie, machen Sie schnell!«
Val-des-Lacs, dachte Philippe, das liegt in Richtung des Mount Tremblant, wenn mich nicht alles täuscht. Er hatte eine Karte von Quebec im Auto, also dürfte es nicht allzu schwierig sein, sich zurechtzufinden. Er stand auf, um sich von Brock zu verabschieden, doch gerade in diesem Augenblick kam die Telefonverbindung mit dieser Garage in Val-des-Lacs zustande.
»Monsieur Dufour? Hallo, hier ist Brock Hamilton«, schrie Brock aufgeregt und wedelte mit der Hand, um Philippe vom Gehen abzuhalten und um noch ein wenig mehr Geduld zu bitten.
Philippe nahm wieder Platz.
»Ich muss Sie um einen Gefallen bitten, Monsieur Dufour«, fuhr Brock fort.
»Bitte halten Sie meine Frau auf – es ist dringend. Sie hat mich vor ungefähr einer Viertelstunde von unserem Haus aus angerufen, um mir zu sagen, dass sie nach Montreal kommt. Sie müsste jede Minute bei Ihnen vorbeifahren … Was? Oh, verdammt. Ja … ich wollte Sie gerade bitten, sie zurückzuhalten … Nein, vermutlich können wir da nichts machen … Ich denke schon … Trotzdem vielen Dank für Ihr Angebot. Tut mir leid, dass ich Sie damit belästigt habe … Der Ersatzreifen? Ach ja, das hatte ich ganz vergessen. Ja, ich komme an diesem Wochenende vorbei und hole ihn ab. Gut, also dann bis Samstag. Danke – auf Wiedersehen.«
Brock beendete das Gespräch und sah Philippe an. »Louise ist schon an der Tankstelle vorbeigefahren. Herrgott noch mal, ich habe sie vert.« Er starrte auf das Telefon und murmelte: »Na ja, Sally hat wenigstens einen Hausschlüssel, sie kommt also rein. Dann wird’s schon nicht so schlimm werden, sie kann es sich dort auch ohne meine Frau gemütlich machen.«
»Kann ich vielleicht irgendwie helfen?«, erkundigte sich Philippe höflich, dabei fragte er sich im Stillen, wie lange man wohl bis Val-des-Lacs brauchen würde.
»Ich glaube nicht, danke. Tut mir leid, dass Sally sie herbemüht hat. Ich kann mir ehrlich nicht vorstellen, was sie sich dabei gedacht hat.«
Philippe hingegen konnte es sich sehr gut vorstellen. Sie war ein Feigling und hatte ihn nur hierher gelockt, um einer Aussprache aus dem Weg zu gehen. Die Tatsache, dass sie ihn an der Nase herumgeführt hatte, brachte das Fass zum Überlaufen. Wie konnte sie es wagen, ihn so zu behandeln? Sie täuschte sich gewaltig, wenn sie glaubte, dass er sich mit so miesen Tricks abspeisen ließ … Wenn er schon wütend gewesen war, als er diesen Raum betreten hatte, jetzt war er erst richtig in Rage.
»Ich denke, ich gehe jetzt besser, wenn ich ohnehin nichts tun kann«, sagte er und erhob sich wieder. »Ich muss einem Freund beim Umzug helfen – Wagen beladen, wieder ausladen und die Kartons auspacken –, das habe ich ihm versprochen, bevor mich Ihre Tochter angerufen hat. Er wird mir die Hölle heißmachen, weil ich zu spät komme.« Diese Geschichte hatte sich Philippe ausgedacht, während Brock am Telefon beschäftigt gewesen war. Für den Fall, dass ihn heute Abend noch jemand von der Hamilton-Familie sprechen wollte, war es besser, von vornherein eine Erklärung für seine Abwesenheit abzugeben. Er wollte nicht, dass Brock auf die Idee kam, er würde Sally nach Val-des-Lacs nachfahren.
»Gut, Philippe. Wir sehen uns bald. Es ist mir wirklich peinlich, dass Sally Ihnen solche Umstände gemacht hat. Die ganze Sache ist ausgesprochen ärgerlich – komplette Zeitverschwendung für alle Beteiligten, wenn Sie mich fragen. Wie auch immer, ich melde mich nächste Woche bei Ihnen, wenn sich die Wogen bei uns ein wenig geglättet haben. Dann gehen wir zusammen essen.«
»Gern«, sagte Philippe ungeduldig, weil er weg wollte. Er verließ mit gemessenen Schritten das Büro, um nicht den Eindruck zu erwecken, dass er es eilig hatte, aber als er auf der Straße war, sprintete er zu seinem Wagen. Erst studierte er die Straßenkarte – Val-des-Lacs war leicht zu finden –, dann fuhr er, ohne weitere Zeit zu verlieren, los in Richtung Laurentians auf die Autobahn. Wenn er sich beeilte, fand er Monsieur Dufour noch in der Tankstelle vor … wenn nicht, würde es sicher irgendwo ein Telefon geben. Er konnte die genaue Adresse der Hamiltons im Telefonbuch nachschlagen – bestimmt wohnten nicht viele Familien mit demselben Namen in dieser Gegend. Val-des-Lacs war nur ein kleines Dorf, dort kannte jeder jeden – er brauchte nur jemanden zu fragen, wo das Sommerhaus der Hamiltons war.
Die meisten Stadtbewohner waren schon in die Ferien gefahren und genossen die Ruhe in ihren Landhän an verschiedenen Seen und Flüssen. Der Verkehr hielt sich daher in Grenzen, und Philippe kam rasch voran. Er hielt aufmerksam nach Verkehrspolizisten Ausschau, während er über die Autobahn raste – wenn
er wegen Geschwindigkeitsüberschreitung angehalten werden sollte, würde er sich als französischer Staatsbürger ausweisen und behaupten, dass er von Tempobeschränkungen nichts gewusst hätte. Es kam ihm eigentümlich vor, dass die englischen Kanadier trotz all ihrer Probleme mit den Quebecern lieber in dieser französischen, katholischen Provinz wohnten als im protestantischen, englischen Ontario. Zugegeben, sie hatten sich die interessantere Gegend ausgesucht, wenn man den Quebecern glauben durfte, aber Philippe konnte sich vorstellen, dass der presbyterianische Schleier, der höchstwahrscheinlich noch immer über Ontario hing, viel weniger bedrückend für Engländer sein musste als für ihn, genau wie der hohe Druck und die Energie, die diese Provinz durchpulsten, weniger Anziehungskraft auf diejenigen ausüben musste, die im alten Trott weiterleben und die alten Feindbilder aufrechterhalten wollten, als auf einen so krassen Außenseiter wie ihn selbst.
Alte Feinde waren offenbar bessere Partner als alte Freunde. Vielleicht gab es in Wirklichkeit ja auch nur ganz wenige Unterschiede zwischen den beiden Volksgruppen, die sich in Kanada breitgemacht haben. Verlaine und Rimbaud, Richard und Saladin – waren sie Feinde oder Freunde? Und er und Sally – wenn er schon in solchen Gegensätzen dachte –, war zwischen ihnen Liebe oder Hass?
Er drückte den Fuß aufs Gaspedal und blieb bei der hohen Geschwindigkeit, bis er an eine Straßenbaustelle kam und gezwungen war, langsamer zu fahren. Wieso, um alles in der Welt, mussten sie ihre Autobahnen gerade in der einzigen Jahreszeit richten, in der jedermann sie benützen wollte? Natürlich konnten im Winter keine Reparaturen durchgeführt werden, und in den vielen Monaten, in denen strenger Frost herrschte, entstanden sicher große Schäden, aber man könnte sich sehr gut im Oktober oder Mai darum kümmern und nicht gerade während der Sommerferien. Er versuchte sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass Sally auch von den Straßenarbeiten aufgehalten wurde und sicher insgesamt langsamer und viel vorsichtiger fuhr als er. Dennoch wurde seine Stimmung nicht besser.
Vor ihm erhoben sich die Berge unter einem schiefergrauen Himmel. Die Luft
war noch ungewöhnlich heiß und drückend. Moskitos und dichte Fliegenschwärme prallten auf seine Windschutzscheibe, und das Abendlicht wirkte gelb wie Schwefel.
Die Straße vor ihm war leer, und Philippe konnte nach der Baustelle wieder beschleunigen. Als er den Fuß der Berge erreichte, war es so düster draußen, dass er die Pinien kaum noch von den Ahornbäumen unterscheiden konnte. Die Landschaft erschien Philippe trüb und niederschmetternd. Die Wälder auf beiden Seiten der Straße wirkten geheimnisvoll und unwirtlich und die Berge bedrohlich und geisterhaft. Selbst die Stille war unheimlich – unnatürlich, wie Philippe dachte. Er spürte deutlich den feindseligen Atem in der Dunkelheit. Die Wälder schienen zu flüstern, als würden sich die rastlosen, aufgebrachten Geister der toten Indianer in ihnen tummeln und auf Rache sinnen, und die entfernten Bergkämme hoben sich drohend gegen den finsteren Himmel ab, als würden sie sich auf eine erbitterte Schlacht gegen das nahende Unwetter vorbereiten.
Philippe fühlte sich unbehaglich in dieser unirdisch stillen, menschenleeren Welt mit den schwarzen Wäldern und den schweigenden, lauernden Bergen. Aber die feindselige Umgebung entmutigte ihn keineswegs – im Gegenteil, sie gab seiner gefährlichen Laune und seiner Wut nur neue Nahrung. Unbeeindruckt von der Aussicht auf ein Gewitter schaltete er die Scheinwerfer ein, drehte das Radio auf volle Lautstärke und raste weiter nordwärts.
Bei jedem Ortsschild, an dem er vorbeikam, wurde er ungeduldiger, er brauste durch Saint-Jerome und Sainte-Agathe, dann fuhr er in Richtung Saint-Donat und suchte die Abzweigung nach Val-des-Lacs. Inzwischen war es ganz dunkel geworden, und die Wälder schienen immer näher an die Straße zu rücken. Philippe fühlte sich eingesperrt in den Ausläufern der Berge, als wäre er dem Feind in die Falle gegangen.
Er atmete erleichtert auf, als er endlich nach Val-des-Lacs kam und sah, dass die Tankstelle tatsächlich noch geöffnet hatte. Er hielt neben der Zapfsäule, und
gerade als er aussteigen wollte, zerriss ein greller Blitz den schwarzen Himmel. Philippe wartete einen Augenblick, dann stieß er beim ersten Donnergrollen, das laut und gefährlich von den Berghängen widerhallte, die Autotür auf. Eine mürrische Gestalt schlurfte auf ihn zu und fragte, ob er Benzin tanken wolle.
»Ja, bitte. Machen Sie den Tank voll«, erwiderte Philippe. Er merkte, dass sein Akzent den Mann irritierte. »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich in der Zwischenzeit gern einmal telefonieren.«
Er schlenderte zur Telefonzelle an der Straße, suchte die Nummer der Hamiltons im Telefonbuch und wählte sie. Er hatte nicht vor, etwas zu Sally zu sagen, er wollte nur wissen, ob sie hier war. Wenn sie sich meldete, würde er ohne ein Wort den Hörer auflegen. Statt des erwarteten Klingelzeichens hörte er jedoch nur einen schrillen Dauerton – die Leitung war gestört. Er versuchte es noch einmal mit demselben Resultat. Als Nächstes wählte er die Nummer der Hamiltons in Montreal. Louise hob den Hörer ab, als Philippe ihre Stimme hörte, legte er schnell auf. Wenigstens ist sie in Montreal und nicht hier, dachte Philippe. Er startete noch einen dritten Versuch beim Hamilton-Landhaus, aber entweder war das Telefon kaputt oder die Leitung unterbrochen. Er zuckte ärgerlich mit den Schultern und notierte sich die Adresse.
Mittlerweile hatte es zu regnen begonnen, und in kürzester Zeit ergossen sich Wasserkaskaden von den Hängen. Philippe rannte ins Haus, um das Benzin zu bezahlen. Er erzählte dem Mann – den er für Monsieur Dufour hielt –, dass er kein Glück gehabt und die Leute, mit denen er telefonieren wollte, nicht erreicht hatte.
»Kann sein, dass die Leitungen unterbrochen sind«, bemerkte Monsieur Dufour, der nur allzu gut wusste, dass das gesamte Telefonnetz zusammengebrochen war. Aber er sah keinen Grund, höflich zu diesem Kerl zu sein, der so ein hochnäsiges, geschraubtes Französisch sprach. Er nahm an, dass sich der Schnösel über diese Information aufregen würde, und fügte hämisch hinzu: »Es
ist immer dasselbe, wenn ein Unwetter aufzieht.«
Dieses frankokanadische Kauderwelsch tat Philippe in den Ohren weh. Er hätte den Alten am liebsten angeschnauzt, aber er brauchte seine Hilfe. »Ich war noch nie in dieser Gegend«, sagte er so gleichgültig wie möglich. »Ich will Freunde besuchen – sie heißen Hamilton.« Er zeigte dem Mann den Zettel, auf den er ihre Adresse geschrieben hatte. »Sie wissen nicht zufällig, wo das ist?«
»Klar weiß ich das«, gab der Mann zurück, er schien jedoch nicht geneigt zu sein, freiwillig weitere Informationen preiszugeben. Philippe beförderte zehn Dollar zutage. Schon allein der Anblick genügte, um Monsieur Dufour zum Reden zu bringen. Philippe gab ihm den Geldschein und lief in den Regen.
Zehn Minuten später fuhr er mit abgeblendeten Lichtern über einen Feldweg durch den endlosen Wald. Überall waren Schlaglöcher, und der Regen hatte die Erde bereits aufgeweicht und in Schlamm verwandelt, sodass Philippe nur langsam vorankam. Die Scheibenwischer wurden nur unzulänglich mit der Regenflut fertig, und er konnte den Weg bloß dann richtig sehen, wenn gelegentlich ein Blitz das Gelände erhellte. Ihm blieb gar nichts anderes übrig, als in dieser Einöde vorsichtig zu fahren und sich im Schritttempo vorzutasten.
Als er um eine Biegung kam, sah er plötzlich einen trüben Lichtschein direkt vor sich. Der komische Kauz an der Tankstelle hatte ihm gesagt, dass auf diesem Stück Land nur ein einziges Haus stand – das der Hamiltons. Dann entdeckte er Sallys Wagen, und wusste, dass er am Ziel war.
Er schaltete die Scheinwerfer aus, ließ sein Auto lautlos weiterrollen und blieb auf der Wiese unter den Bäumen stehen. Leise öffnete er die Tür und stieg aus. Im strömenden Regen huschte er in Richtung Haus, vermied dabei, auf den Kiesweg zu treten, damit man im Haus seine Schritte nicht hören konnte.
26
Sally hatte eine schreckliche Fahrt hinter sich. Ungefähr eine halbe Stunde hinter Montreal fiel ihr ein, dass sie ihre Mutter anrufen und ihren Besuch ankündigen sollte. Sie blieb stehen, suchte einen Münzfernsprecher und versuchte zufällig gerade in dem Moment, Louise zu erreichen, als Carson mit ihr sprach. Es war ständig besetzt, weil Louise nach der langen Unterhaltung sofort wieder den Hörer abnahm und erst bei Sally zu Hause anrief und gleich darauf Brock über die missliche Lage in Kenntnis setzte.
Nach fünf oder sechs erfolglosen Versuchen rief Sally die Störungsstelle an und erkundigte sich, ob der Anschluss ihrer Mutter gestört sein könnte. Der Mann überprüfte die Leitung und sagte ihr, dass alles in Ordnung war und der Teilnehmer ein Gespräch führte. Sally wusste, dass ihre Mutter Stunden am Telefon verbringen konnte, und beschloss, zu ihrem Auto zurückzukehren. Sie hatte eine Viertelstunde vergeudet – für nichts. Es war immer dasselbe, wenn sie mit ihrer Mutter reden wollte. Sally war wütend auf Louise, weil sie ständig mit jemandem am Telefon klatschen musste.
Etwa zehn Minuten später kam Sally zur ersten Straßenbaustelle. Sie konnte es kaum fassen, man hatte ihre Fahrbahn gesperrt, sodass der Gegenverkehr ungehindert fließen konnte, und es dauerte eine Ewigkeit, bis die Straße für sie freigegeben wurde.
Zwanzig Kilometer weiter wurde es noch schlimmer – die Straßenarbeiter fuhren geschäftig mit ihren schweren Maschinen hin und her und beeilten sich, mit dem, was sie angefangen hatten, fertig zu werden, bevor das Unwetter ausbrach. Alle Autos mussten warten, bis sie die Raupen und Bagger von der Fahrbahn manövriert hatten. Sally stieg aus, marschierte voller Zorn zu dem Vorarbeiter und beschwerte sich. Er machte sie ungerührt darauf aufmerksam, dass ein
schweres Gewitter im Anzug war und dass zuerst die wichtigsten Arbeiten beendet und die Maschinen aufgeräumt werden mussten, bevor die Autos weiterfahren konnten.
Die Krönung des Ganzen war jedoch, dass sie kurz vor Valdes-Lacs merkte, wie ihr Reifen platt wurde und immer mehr Luft verlor. Es war bereits kurz vor acht, und Sally wusste, dass sie um diese Zeit niemanden auftreiben würde, der ihr den Reifen wechselte.
Sie spielte mit dem Gedanken, an der Tankstelle zu halten und um einen Reifenwechsel zu bitten, aber Monsieur Dufour war nicht gerade berühmt für seine Hilfsbereitschaft, und der Mechaniker hatte längst Feierabend. Er ging immer um sechs Uhr. Sally hielt es für das Beste, den platten Reifen in Kauf zu nehmen und zuzusehen, dass sie nach Hause kam, ehe der Himmel seine Schleusen öffnete.
Sie fuhr langsam durch das Dorf und bog auf das Grundstück ein, ierte das Tor und das Schild mit der Aufschrift »Durchfahrt verboten« und rollte auf dem Feldweg weiter. Den Weg hätte sie im Schlaf gefunden, sie kannte ihn seit ihrer Kindheit. Sie spähte in die Dunkelheit hinaus – plötzlich kam ihr alles noch viel schwärzer vor, weil die hohen Bäume so nah standen. Sally lenkte den Wagen behutsam um die Schlaglöcher und achtete auf die Steine und Rinnen. Ein paarmal rutschte sie aus der Spur und war gottfroh, als sie die letzte Kurve genommen und das Haus erreicht hatte. Sie blieb stehen, schaltete den Motor aus und atmete erleichtert auf.
In keinem der Fenster war Licht zu sehen. Mum ist wahrscheinlich zum Abendessen ausgegangen, dachte sie, schlang den Riemen der Tasche um ihre Schulter und nahm die Taschenlampe, die sie immer im Wagen hatte, in die Hand. Dann überquerte sie die Rasenfläche und ging zum Eingang.
Während sie in der Tasche nach dem Schlüssel kramte, dröhnte ein Donner von den Felswänden. Sally betrachtete den Himmel – sie hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft. Auf einem Baum in der Nähe saß ein Ziegenmelker und schrie monoton nach seiner Gefährtin.
Sally ärgerte sich über ihre Mutter, weil sie nicht zu Hause war. Sorgen machte sie sich keine – Louise ging oft auf einen Drink oder zum Essen zu Freunden –, aber dies war wohl kaum der herzliche Empfang, auf den sie sich während der furchtbaren Fahrt so gefreut hatte. Sie hatte sich mütterliches Mitgefühl, ein gutes Essen, ein vertrauliches Gespräch, während das Unwetter draußen tobte, und vielleicht einen guten Schluck vor dem Schlafengehen vorgestellt.
In dem Vorhaben, einen Rundruf bei allen Bekannten in der Gegend zu starten, steuerte Sally als Erstes das Telefon im Flur an. Sie wollte ihre Mutter aufspüren und sie wissen lassen, dass sie hier war. Sallys Stimmung sank auf den Nullpunkt, als sie entdeckte, dass die Leitung tot war. Sie verfluchte im Stillen die Telefongesellschaft und fühlte sich betrogen. Viel zu spät wurde ihr bewusst, dass sie Louise ihr Kommen hätte ankündigen müssen, bevor sie Montreal verlassen hatte.
Sie ließ sich in einen Sessel fallen und grübelte darüber nach, was sie jetzt tun konnte, als ein Donner unheilvoll über den Bergen grollte. Sie beruhigte sich mit dem Gedanken, dass Louise nur irgendwo einen Drink nahm und jeden Moment zurückkommen musste. Wenn ihre Mutter allerdings auswärts aß, konnte es noch Stunden dauern.
Sally entschied, dass sie sich genauso gut etwas zu essen machen könnte, statt tatenlos herumzusitzen und nachzudenken, und ging in die Küche. Die Lichter gingen aus, als sie ein Stück Schinken aus dem Kühlschrank holte. Gleich darauf erhellte ein blendend weißer Blitz den Raum, ein ohrenbetäubender Donner folgte beinahe ohne Verzögerung. Die Lampen flackerten kurz, dann war alles wieder in Ordnung. Im nächsten Moment begann die Regenflut.
Sally liebte Gewitter – sie fand Blitz und Donner aufregend. Ihre Mutter, der nie wohl bei Unwettern war, hatte schon früh dafür gesorgt, dass Sally keine Angst bekam, und nie den Gedanken an Waldbrände oder sonstige Gefahren wie Blitzeinschläge aufkommen lassen. Sie hatte jedes Gewitter zu einem heiteren, schönen Erlebnis gemacht, indem sie Öllampen im ganzen Haus anzündete, ihre Tochter im elterlichen Bett sitzen ließ und ihr erlaubte, Bonbons zu essen und Cola zu trinken. Wenn das Unwetter am Tag losbrach, kurbelte sie das alte Grammophon an, das nur zu solchen Gelegenheiten in Betrieb genommen wurde, und legte alte Platten aus den Dreißigerjahren auf. Dann spielten sie, begleitet von Bing Crosbys und Burl Ives’ Stimmen lustige Spiele. Einmal hatte Sally ihre Mutter gefragt, ob der Blitz in ihr Haus einschlagen könnte und wie das wäre. Louise hatte ihr mit bewundernswerter Überzeugungskraft versichert, dass Blitze nur vom Wasser angezogen würden.
»Er schlägt nie bei uns ein«, behauptete sie fest, »sondern in den See.«
Das Ergebnis dieser früheren Erfahrungen war, dass Sally sich freute, wenn ein Unwetter tobte. Beim ersten Donner hellte sich ihre Laune auf, und sie bedauerte, dass sie heute allein war – nicht weil sie sich fürchtete, sondern weil sie diesen Spaß nicht mit jemandem teilen konnte. Da der Strom jedes Mal bei einem Gewitter über kurz oder lang ausfiel, vergaß sie für den Augenblick das Essen und wanderte durchs Haus, um die vielen Öllampen, die ihre Mutter überall bereitgestellt hatte, anzuzünden. Ihr kam nicht in den Sinn, die Haustür abzuschließen. Auf dem Land fühlte sie sich ebenso sicher wie in der Stadt unsicher, und da ihre Eltern dieses Haus nur zusperrten, wenn sie mehrere Stunden abwesend waren, wäre sie selbst nie auf die Idee gekommen, sich hier zu verschanzen.
Als sie ihren Rundgang beendet hatte, ging sie wieder in die Küche und öffnete eine Dose mit Suppe. Sie stellte die Suppe auf den Herd und machte sich in der Speisekammer auf die Suche nach einer Flasche Wein. Ihre Eltern tranken selten Wein, aber Sally hatte ihre Liebe dafür schon vor Jahren entdeckt, und Brock
hielt immer eine Kiste Beaujolais für sie bereit. Gerade als sie die Suppe, Brot, den Schinken, die Weinflasche und ein Glas auf den Tisch gestellt und sich hingesetzt hatte, polterte ein Donner direkt über dem Haus los. Diesmal flackerte das elektrische Licht ein letztes Mal, dann ging es endgültig aus. Sally beglückwünschte sich selbst, so weitblickend gewesen zu sein und die Öllämpchen rechtzeitig angezündet zu haben, und machte sich daran, den Beaujolais zu entkorken und etwas davon in ihr Glas zu gießen. Sie hörte, dass die Haustür geöffnet wurde, und seufzte zufrieden, weil ihre Mutter endlich heimkam.
Damit Louise nicht erschrak, rief sie: »Ich bin’s, Mum, keine Panik. Ich sitze in der Küche beim Essen!« Schritte durchquerten den Flur, und Sally schrie laut, um den Sturm zu übertönen: »Ich habe versucht, dich anzurufen, aber es war ständig besetzt. Ich wollte nicht warten, bis du auflegst, deshalb bin ich einfach weitergefahren. Jetzt ist wie üblich die Leitung gestört.«
In diesem Augenblick betrat Philippe die Küche. Sally sprang wie elektrisiert auf die Füße und schmiss dabei ihren Stuhl um. Ihr Blick zuckte unweigerlich zu den Messern, die an einem Brett über dem Spülbecken auf der anderen Seite des Raums hingen. Philippe sagte kein Wort. Sally starrte ihn entsetzt an und wich ein paar Schritte zurück, als er die Tür zuschlug und sie immer noch schweigend ansah.
Sein Gesicht war bleich und nass vom Regen, und seine Augen glitzerten eigenartig in dem trüben Licht der kleinen Lampen. Wasser tropfte aus seinem Haar auf die Schultern und von seinen Kleidern auf den Boden. Er rührte sich nicht von der Stelle, aber sein Blick folgte dem ihren, und ein Muskel an seiner Wange zuckte. »Warum hast du mir nicht gesagt, dass Carson heute wegfahren wollte?«, fragte er nach einer halben Ewigkeit. »Und, verdammt noch mal, weshalb hast du mich ohne Sinn und Zweck in das Büro deines Vaters gehetzt? Zum Teufel, du hättest mir sagen sollen, dass du vorhast hierherzufahren.« Er bemerkte, dass sie wieder zu den Messern schielte.
Sally war sich im Klaren, dass es schwierig werden würde, den Tisch zu umrunden, ohne von Philippe aufgehalten zu werden. Sie musste die Ruhe bewahren und ihn in ein Gespräch ziehen, damit er redete, bis ihre Mutter nach Hause kam.
»Du bist ganz nass«, sagte sie, ohne auf seine Fragen einzugehen. »Möchtest du dich umziehen und etwas essen? Du kannst dir ein paar Sachen von Vater ausleihen. Der Schrank im Schlafzimmer ist voll mit Kleidern – oben die erste Tür links.« Philippe sagte nichts, und Sally fühlte sich wie gelähmt. Sie musste sich entspannen. »Ich habe mir gerade eine Suppe warm gemacht«, plapperte sie weiter. »Es ist genug da für uns beide – und es gibt, wie du siehst, eine Menge Brot und Schinken. Ich hole dir einen Teller und Besteck.« Er bewegte sich nicht vom Fleck – sie auch nicht. »Ich fürchte, das ist kein aufregendes Mahl«, fuhr sie zaghaft fort, »aber du kannst gern mitessen. Ich weiß ja nicht, wie es bei dir ist, aber ich bin am Verhungern.«
»Ich warte«, sagte er, »du kannst allein essen. Du wirst eine Stärkung brauchen, wir haben eine lange Fahrt vor uns. Wenn du willst, kannst du mir ja ein Sandwich für unterwegs machen.«
»Was soll das heißen? Willst du heute Abend nach Montreal zurückfahren?«
»Natürlich nicht. Ich habe versucht, dich zu erreichen, um dir zu sagen, dass uns jemand für ein paar Tage ein Cottage zur Verfügung gestellt hat. Wir müssen nach Norden in Richtung Lac Saint-Jean. Die Fahrt wird sicher anstrengend bei diesem Wetter. Wir brechen in zwanzig Minuten auf, also beeil dich mit dem Essen.«
Sally sah ihn erschrocken an. »Ich kann nicht weg«, erklärte sie so ruhig wie möglich. »Ich bin gerade erst angekommen. Mein Auto hat einen Platten, und
ich kann nicht damit fahren, bis der Reifen gewechselt ist.«
»Wir brauchen dein Auto nicht, wir nehmen meins.«
»Sei nicht albern«, versetzte sie viel zu aufgeregt. »Wie soll ich dann zurückkommen?«
»Ich bringe dich wieder her.« Er kam zwei Schritte auf sie zu. »Setz dich und iss etwas, solange du noch Zeit hast. Es sind noch sechzehn Minuten bis zur Abfahrt.«
»Philippe«, flehte sie ängstlich, »ich bin total erledigt und todmüde. Ich möchte heute wirklich nicht mehr irgendwohin fahren.«
»Ich fahre, und wenn du willst, kannst du im Auto schlafen«, erwiderte er. »Die Fahrt wird lange genug dauern. Der Ort ist schwer zu erreichen, wie ich auf der Karte gesehen habe, und Gott allein weiß, wie der Zustand der Straßen ist. Selbst wenn wir einigermaßen zügig vorankommen, werden wir die ganze Nacht brauchen.«
»Lass uns wenigstens warten, bis das Gewitter vorbei ist. Du willst doch sicherlich nicht in diesem starken Regen losfahren.«
»Gerade bei einem solchen Wetter – dann ist außer uns niemand unterwegs.«
Sally suchte fieberhaft nach einer Möglichkeit, ihn abzulenken. »Ich muss wenigstens Carson Bescheid sagen. Ich kann nicht einfach abhauen, ohne ihm etwas davon zu sagen. Lass mich bitte zuerst telefonieren.«
»Das Telefonnetz ist zusammengebrochen, wie du sehr wohl weißt. Immerhin hast du vorhin, als ich hereinkam, selbst gesagt, dass die Leitung gestört ist. Carson wird sich, solange er in Sherbrooke ist, ohnehin keine Gedanken darum machen, wo du abgeblieben bist. Du kannst ihn anrufen, wenn wir angekommen sind.«
»Carson ist nicht in Sherbrooke! Wovon, um alles in der Welt, redest du überhaupt?«
»Voyons.« Vor Erschöpfung und Wut verfiel Philippe ins Französische. »Lügen sind zwecklos. Ich weiß von deinem Vater, dass Carson auf halbem Weg dorthin war, als er angerufen hat. Er hält heute Abend bei einem Dinner eine Rede – das weißt du sicher ganz genau.«
»Nein, davon habe ich nicht die geringste Ahnung. Ich glaube dir kein Wort.« Sally bemühte sich verzweifelt, ihre Gedanken zu ordnen. Carson war doch nicht tatsächlich nach Sherbrooke gefahren, oder? Was hatte er dort zu suchen? Sally kannte seinen Terminkalender, und ganz bestimmt war er nicht zu einem Essen eingeladen, bei dem er eine Ansprache halten sollte. Entweder log Philippe, oder Carson war … Aber Carson würde nie die Unwahrheit sagen – es sei denn, er traf sich mit einer anderen Frau. Nun, sie konnte es sich nicht leisten, gerade jetzt über diese Möglichkeit nachzudenken. Wahrscheinlich hatte er ihrem Vater am Telefon gesagt, dass Philippe vorhatte, sie umzubringen. Warum hätte er ihn sonst anrufen sollen?
Nach allem, was Philippe verraten hatte, konnte Sally nicht wissen, dass Carson
mit Louise und nicht mit Brock gesprochen hatte.
»Iss«, befahl Philippe. »Setz dich hin und iss endlich, wir müssen los.«
Das ist eine Möglichkeit, ein bisschen Zeit zu gewinnen, dachte sie und gehorchte. Sie setzte sich und aß einen Löffel Suppe. Sie war lauwarm. »Ich muss sie noch einmal auf den Herd stellen«, sagte Sally und erhob sich wieder.
»Dazu haben wir keine Zeit mehr. Iss sie auf oder lass sie stehen und mach dir ein Schinkenbrot.« Philippe kam auf die andere Seite des Tischs und bezog zwischen den Messern und der Tür Posten.
Sally nahm niedergeschlagen Platz, schob den Suppenteller weg und bediente sich mit Brot und Schinken. Wenn ihr Vater über Philippe Bescheid wusste und nach ihr suchte, würde er sicherlich so schlau sein, die Polizei zu informieren. Irgendwann musste ihre Mutter ja nach Hause kommen – sie brauchte also nichts weiter zu tun, als Zeit zu schinden. Sie aß schweigend und trödelte dabei so lange wie möglich herum.
»Wie wär’s mit einem Glas Wein?«, fragte sie unvermittelt. »Möchtest du einen Schluck? Es ist Beaujolais.«
»Ich muss noch fahren«, entgegnete Philippe. »Wir können die Flasche mitnehmen. Wenn wir am Ziel sind, würde ich gern ein Glas trinken.«
»Es ist der reinste Wahnsinn, in einer solchen Nacht durch die Gegend zu
kutschieren«, beschwerte sich Sally. »Wieso warten wir nicht bis morgen? Dann könnte ich meinen Reifen wechseln lassen, Carson Bescheid sagen und vor unserer Abfahrt alles regeln.« Sie sah ihn erwartungsvoll an, aber sein Gesicht wirkte unerbittlich. »Abgesehen von allem anderen«, fuhr sie unsicher fort, »werden sich alle entsetzliche Sorgen machen, wenn ich plötzlich von der Bildfläche verschwinde – Carson, meine Eltern, alle. Vielleicht alarmieren sie sogar die Polizei.«
»Das tun sie sicher nicht. Zumindest nicht heute Abend. Sie wissen, dass du hier bist – der Portier am Westmount Square hat deinem Vater erzählt, dass du heute am Nachmittag losgefahren bist –, und wenn sie versuchen, hier anzurufen, merken sie sicher schnell, dass die Leitung nicht in Ordnung ist. Du könntest sie, selbst wenn du wolltest, nicht benachrichtigen, dass du gut angekommen bist oder gleich wieder wegfahren willst.«
»Die Telefongesellschaft wird den Schaden bestimmt bald behoben haben, dann finden sie heraus, dass ich nicht im Haus bin. Hast du daran schon mal gedacht?«
»Natürlich, deshalb habe ich auch die Telefondrähte im Flur herausgerissen, als ich ins Haus kam.« Philippe lächelte zum ersten Mal an diesem Abend. Es war kein freundliches Lächeln. »Niemand kann dich hier erreichen, und ich bezweifle, dass sich deine Eltern die Mühe machen, noch heute Nacht hierherzufahren. Falls sie sich doch bei diesem Wetter auf den Weg machen sollten, sind wir längst weg, bevor sie in Val-des-Lacs auftauchen.«
Sally sah ihn betrübt an.
»Die zwanzig Minuten sind vorbei«, verkündete Philippe. »Steck den Korken in die Flasche und pack das Brot und den Schinken ein, für den Fall, dass wir
Hunger bekommen und nichts kaufen können.«
Sally überlegte fieberhaft. Philippe beobachtete schweigend, wie sie aufstand.
»Gut«, sagte sie und nahm den Suppenteller vom Tisch. »Ich spüle nur noch ab und räume die Küche auf, ehe wir aufbrechen.«
Philippe ahnte, was sie vorhatte, und rückte näher zur Spüle. Sally bewegte sich ganz langsam und bereitete sich innerlich auf einen Kampf vor. Sie war sich bewusst, dass Philippe sie keine Sekunde aus den Augen ließ, als sie die Suppe in den Ausguss schüttete, das heiße Wasser aufdrehte und sorgsam den Löffel und den Teller abwusch.
Als sie damit fertig war, hob sie die Hand, als wollte sie den Wasserhahn zudrehen, fasste aber stattdessen nach dem größten Messer, das über dem Becken an einem Brett hing. Philippe stürzte sich auf sie und drängte sie gegen die Spüle. Sie schnappte sich das Messer, aber Philippe war schneller. Er umklammerte mit beiden Händen ihren Arm und schlug ihr Handgelenk so heftig auf den Wasserhahn, dass ihr das Messer aus den Fingern rutschte. Sally keuchte vor Schmerz, als es in das Spülbecken polterte.
Philippe wirbelte sie herum, sodass sie ihm ins Gesicht sehen musste, holte aus und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Sie schwankte und streckte eine Hand aus, um sich festzuhalten. Philippe jedoch fing ihre Bewegung ab und schlug noch einmal zu.
Seine Finger schlossen sich um ihre Handgelenke, und er drückte so stark zu, dass ihr die Tränen in die Augen schossen. Eine ganze Weile hielt er sie so fest
und musterte sie, ohne ein Wort von sich zu geben. Er zitterte vor Wut. »Ich rate dir, so etwas nicht noch einmal zu versuchen«, zischte er, dann zerrte er sie, ohne auf ihren heftigen Protest zu achten, zur Tür.
»Meine Mutter kann jeden Augenblick zurückkommen. Sie wird sich fragen, wo ich abgeblieben bin«, schluchzte Sally. »Sie ruft sofort die Polizei, wenn sie mich nicht im Haus antrifft.«
»Deine Mutter ist in Montreal. Ich habe vor ein paar Minuten von Val-des-Lacs aus bei deinen Eltern angerufen, um mich zu vergewissern, dass sie heil und gesund dort angekommen ist.« Er lachte boshaft. »Es ist wirklich komisch – ihr beide seid wohl gleichzeitig aufgebrochen und aneinander vorbeigefahren.«
Sallys Schrei klang wie der eines Tieres, das bei einem Waldbrand von den Flammen umzingelt wurde. »Philippe, bitte!«, flehte sie. »Bitte lass mich gehen.« Philippe ignorierte sie.
Ich darf nicht nachgeben, überlegte sie verzweifelt. Letztes Mal hatte sie auch gedacht, dass alles verloren war, aber dann hatte er sie doch verschont. Zum Schluss hatte ihn der Kampf mit ihr gelangweilt, als ihm klar wurde, dass sie ihn nie lieben würde. Er hatte von ihr abgelassen und sie aus seinem Zimmer geworfen. Sie würde ihn auch jetzt so weit bringen, dass er sie gründlich satt bekam. Sie musste ihn unbedingt davon überzeugen, dass sie ihm die ganze Zeit etwas vorgemacht und ihn niemals wirklich geliebt hatte. Diese letzte Karte musste sie ausspielen – das war ihre einzige Hoffnung, mit heiler Haut davonzukommen.
Als er sie durch das Wohnzimmer hinter sich herzog, fasste sie sich ein Herz. Sie holte tief Luft und kreischte schrill: »Ich liebe dich nicht. Das habe ich nie getan. Ich habe dir das alles nur vorgespielt. In Wirklichkeit liebe ich einen anderen.«
Philippe blieb wie angewurzelt stehen. Er hatte ihr den Rücken zugewandt, hielt aber immer noch ihren Arm fest. Ganz langsam drehte er sich zu ihr um. Seine blauen Augen hatten sich plötzlich zu Eis verwandelt. »Das weiß ich bereits«, sagte er mit Grabesstimme. »Du hast mir das schon am Telefon gesagt. Deshalb möchte ich ja mit dir in dieses Cottage fahren. Wenn wir dort sind, wirst du mir alles von Anfang an erzählen.«
»Den Teufel werd ich tun. Ich erzähle dir kein Wort. Ich hasse dich. Ich wünschte, du wärst tot!«, schrie Sally. Er schlug mit der ganzen Wucht seines Zorns zu und beobachtete reglos, wie sie herumwirbelte und bewusstlos zu Boden sank.
27
Regen trommelte auf das Autodach, das Geräusch weckte Sally. Ihr Kopf tat höllisch weh, ihre Wange fühlte sich taub an, und ihr Handgelenk war angeschwollen von dem Schlag gegen den Wasserhahn. Sie brauchte einen Moment, bis sie begriff, dass sie auf dem Rücksitz von Philippes Auto lag. Als sie versuchte, eine andere Position zu finden, merkte sie, dass sie an Händen und Füßen gefesselt war.
Sie sah Philippes Hinterkopf und richtete sich auf. Philippe hörte, dass sie sich bewegte, und befahl ihr, liegen zu bleiben. »Ich möchte, dass du außer Sicht bleibst«, sagte er, »und könnte mir vorstellen, dass es dir lieber ist, wenn ich dich nicht noch einmal k.o. schlage.«
»Ich habe Durst«, jammerte sie. »Bitte, können wir irgendwo anhalten und etwas zu trinken kaufen?«
»Nein«, versetzte er. »Ich würde an deiner Stelle noch ein wenig schlafen.«
Es war sehr dunkel draußen.
»Wo sind wir?«, wollte sie wissen. »Wie lange habe ich geschlafen?«
»Nicht sehr lange. Wir haben noch ein paar Stunden Fahrt vor uns.«
Sie döste wieder ein. Als sie das nächste Mal wach wurde, rührte sie sich eine ganze Weile nicht und überlegte, wie sie ihn zum Anhalten zwingen könnte.
»Ich muss aufs Klo«, verkündete sie unvermittelt. »Bleibst du bitte an der nächsten Tankstelle stehen?«
Er lachte. »Wozu brauchst du eine Tankstelle? Das ganze verdammte Land steht dir zur Verfügung.«
»Es regnet in Strömen. Ich möchte nicht nass werden.«
»Dir wird nicht viel anderes übrig bleiben.«
Sally registrierte, dass er langsamer fuhr, dann bremste er ganz ab und sprang aus dem Wagen. Er riss die hintere Tür auf, beugte sich zu ihr und löste die Fesseln von ihren Füßen – ihre Hände blieben zusammengebunden. Dann half er ihr beim Aussteigen. Sie befanden sich in einem Wald – der Himmel wusste, in welchem –, und weit und breit war kein anderes Auto zu sehen.
»Kannst du bitte die Fesseln von meinen Händen nehmen?«, fragte sie zaghaft. »So kann ich mich kaum rühren.«
»Nein«, gab Philippe zurück, »dann hättest du zu leichtes Spiel. Lass bloß deine kleinen Tricks, die nützen dir gar nichts.«
Er umfasste ihren Arm und führte sie ein Stück in den Wald. »Also, bring’s hinter dich«, brummte er.
»Würde es dir was ausmachen, dich umzudrehen?«, erkundigte sie sich.
»Woher kommt diese plötzliche Schamhaftigkeit? Jetzt aber los, mach schon. Ich habe keine Lust, im Regen herumzustehen.«
Sie fühlte sich gedemütigt und erniedrigt. Er wusste verdammt genau, dass sie ihn um Hilfe bitten musste, solange ihre Hände auf dem Rücken gefesselt waren. Als hätte er nichts anderes im Sinn, als sie vollkommen in Verlegenheit zu bringen, hielt er sie am Arm fest, während sie sich unter einem Baum erleichterte.
In ihrem Geist war sie wieder in Paris, und er schwenkte seinen Penis vor ihrem Gesicht hin und her. Er hatte vor, so etwas wieder zu tun, dessen war sie ganz sicher. Aber das konnte sie nicht ertragen, noch einmal stand sie das bestimmt nicht durch.
»Warum bringst du es nicht gleich hinter dich und ermordest mich hier und jetzt? Du willst mich doch töten, oder?« Sie schluchzte, als sie zum Wagen zurückgingen.
»Dich töten?«, fragte er nachdenklich. »Mais non, mon amour chéri. On va faire l’amour un peu, c’est tout.«
Sally schwebte am Rand eines hysterischen Ausbruchs. »Warum sprichst du französisch?«, schrie sie. »Ich halte das nicht aus. Ich will nicht, dass du französisch mit mir sprichst!«
»Oh, aber das magst du doch«, erwiderte er, als er sie ohne Umschweife auf den Rücksitz schubste. »Wir müssen doch deine kleinen Fantasien neu beleben, und wenn wir alles ganz richtig machen wollen, müssen wir dabei auch französisch sprechen.«
Sie versuchte, ihm einen Tritt zu versetzen, als er ihre Fußgelenke erneut fesselte, aber selbst das glückte ihr nicht.
»Du hättest mich nicht belügen dürfen, mon amour«, flüsterte er und beugte sich über sie. »Glaubst du, ich wüsste nicht, was du 1962 in Paris getrieben hast?«
Er merkte, dass sie erschrocken zusammenzuckte und ihm, so gut es ging, auswich. Sie zitterte wie Espenlaub, obwohl die Luft schwül und heiß war.
»Sobald wir unser Ziel erreicht haben«, kündigte er an, »werde ich dir beweisen, dass ich das Ungeheuer aus deinen Träumen sein kann. Du brauchst dir gar nicht einzubilden, dass du die Einzige bist, die anderen Theater vorspielen kann.«
Sally ging durch die Hölle, während sie Stunden um Stunden auf dem Rücksitz lag. Ihre schlimmsten Albträume wurden lebendig, und das Entsetzen hielt sie gefangen. Sie schrie gellend und ohne Luft zu holen, als Philippe lange Zeit nach ihrem kurzen Aufenthalt plötzlich bremste, stehen blieb und ausstieg.
»Großer Gott, beruhige dich«, sagte er. »Hier ist weit und breit kein Mensch, der dich hören könnte. Du kannst dir den Ausbruch sparen.«
Er öffnete die hintere Tür und legte die Hand unter Sallys Kopf.
»Tut mir leid, dass ich das tun muss«, meinte er, als er den Gürtel von ihrem Kleid löste. Er stopfte ihr ein großes Taschentuch in den Mund und benutzte den Gürtel, um es an Ort und Stelle zu halten. »Es wird nicht lang dauern, bis ich dir das wieder abnehme. Ich muss an der nächsten Raststelle halten und tanken, und ich möchte vermeiden, dass du eine Szene machst.«
Er holte eine alte Decke aus dem Kofferraum und warf sie über Sally.
»Ich warne dich, wenn du auch nur einen einzigen Laut von dir gibst, schlage ich dich bewusstlos. Es wäre wirklich klüger, du würdest dich still verhalten und nicht bewegen.«
Zehn Minuten später hielt er an einer Tankstelle und schaltete den Motor aus. Sally rührte sich nicht, sie wagte nicht einmal zu atmen, als er ausstieg und die Tür zuschlug. Sie wartete, während er den Tank auffüllte, und versuchte den richtigen Moment abzuen, um sich bei irgendjemandem, der sich zufällig in der Nähe des Autos befand, bemerkbar zu machen, während er ins Haus ging und das Benzin bezahlte. Sie hörte, wie das Benzin in den Tank floss und dann der Zapfhahn in den Schlitz zurückgesteckt wurde. Sie gab Philippe noch einen Moment Zeit, dann zappelte sie heftig hin und her und trat mit den Füßen an die Autotür. Ihr war klar, dass ihre erstickten Schreie für jemanden, der außerhalb des Wagens im Regen stand, kaum hörbar waren. Deshalb nutzte sie all ihre Kräfte, um gegen die Tür zu schlagen.
Niemand kam und befreite sie. Vielleicht ist außer uns gar niemand hier, dachte sie niedergeschlagen, als sie hörte, wie Philippe zurückkam.
Er fuhr los, ohne ihr den Knebel aus dem Mund zu nehmen. Erst nach einer halben Ewigkeit, wie es Sally schien, hielt er am Straßenrand an.
»Das war die gerechte Strafe«, erklärte er. »Ich habe dir gesagt, dass du dich still verhalten sollst, du hättest mir nur zu gehorchen brauchen.«
Er kletterte neben sie auf den Rücksitz, löste den Gürtel, den er um ihren Kopf befestigt hatte, und nahm ihr das Taschentuch aus dem Mund, dann zerrte er sie in eine sitzende Position.
»Du hast vorhin gesagt, dass du durstig bist«, meinte er, während er ihr eine geöffnete Cola-Dose an die Lippen hielt. »Los, trink ein paar Schlucke. Ich habe das für dich gekauft.«
Während der langen, dunklen Stunden, die folgten, plante Sally ihre Flucht. Für sie war es ganz klar, dass sie ihn umbringen musste – sie hatte gar keine andere Wahl. Freiwillig würde er sie, wie sie inzwischen wusste, nie gehen lassen.
»Hast du meine Tasche mitgenommen?«, fragte sie nach endlos langem Schweigen.
»Ja, sie steht hier neben mir, aber die Messer habe ich herausgenommen, falls
dich das interessiert. Übrigens – es wäre dumm, wenn du nach unserer Ankunft irgendwelche Mätzchen machst. Ich könnte die Beherrschung verlieren und dich aus Versehen töten.«
Sally sagte nichts. Der Himmel wurde allmählich heller, sie waren fast die ganze Nacht unterwegs gewesen.
Philippe fuhr noch weitere siebzig Kilometer, dann blieb er ganz unerwartet stehen und studierte eingehend die Straßenkarte.
»Nom de Dieu!«, murmelte er leise. »C’est vraiment au bout du monde. Schön«, sagte er, als er Gas gab, »in etwa einer Stunde sind wir da.«
Sally merkte, dass er scharf nach rechts abbog, offenbar auf einen unbefestigten Weg, denn der Wagen holperte, und man konnte Steine unter den Reifen knirschen hören. Wenn sie nur wüsste, wo sie waren. Irgendwo in der Nähe stand bestimmt ein Bauernhaus, oder sie kamen durch ein Dorf, in dem sie um Hilfe schreien konnte.
»Mir ist übel«, informierte sie Philippe nach einiger Zeit. »Ich muss aussteigen.«
»Wir sind fast am Ziel, es dauert nur noch ein paar Minuten.«
»Darf ich mich nicht wenigstens aufsetzen und den Kopf aus dem Fenster halten? Ich muss mich übergeben und mache dein Auto schmutzig, wenn ich das Fenster nicht aufmachen darf.«
»Du wirst dich nicht übergeben, und eines kann ich dir sagen: Hier gibt es überhaupt nichts zu sehen – nur Bäume und Wasser.«
Die Schaukelei dauerte noch eine halbe Stunde, dann verkündete Philippe endlich: »Wir sind da. Ich sehe nur schnell mal nach, ob es auch wirklich das richtige Haus ist.« Er stieg aus, schlug die Tür zu und entfernte sich von dem Wagen.
»Gut«, rief er, als er zurückkam, »ich habe mich umgesehen. Alles scheint in Ordnung zu sein, und das Haus macht einen sehr behaglichen Eindruck.«
Ohne ihr die Fesseln abzunehmen, zerrte er sie aus dem Auto, trug sie ins Haus und setzte sie in der Küche auf einem großen Holztisch ab. »Rühr dich nicht von der Stelle, und lass dir nicht einfallen, da herunterzufallen und dich selbst zu verletzen«, warnte er. »Ich hole das Brot und den Schinken aus dem Auto. Ich bin am Verhungern, und du kannst sicher inzwischen auch wieder etwas zu essen vertragen.«
Sally begann zu weinen. »Bitte töte mich«, schluchzte sie. »Warum bringst du mich nicht um, damit das alles ein Ende hat?«
»Du scheinst ganz versessen darauf zu sein, dass ich dich umbringe. Wie kommst du auf die Idee, dass du den Tod verdienst?« Er drehte sich zur Tür um und fügte hinzu: »Ich werde, verdammt noch mal, überhaupt nichts tun, bis ich etwas im Magen habe.«
Er kam nach kürzester Zeit mit der Tüte und der Weinflasche zurück. Dann hob er Sally vom Tisch, setzte sie auf einen Stuhl und nahm ihr die Fesseln von den Händen ab. Sobald sie ihre Arme frei bewegen konnte, versuchte sie, ihn von sich wegzustoßen. Sie schlug mit geballten Fäusten zu, und als das nichts fruchtete, zog sie ihm die Fingernägel über die Wangen.
Philippe ließ sich das nicht gefallen – er gab ihr eine kräftige Ohrfeige und stieß sie auf ihren Stuhl zurück. Er legte eine Hand um ihren Hals und drückte gefährlich fest zu. Nach ein paar Sekunden ließ er sie los und fasste stattdessen in ihr Haar. Seine freie Hand nutzte er, um seinen Gürtel aus den Schlaufen zu ziehen, während er ihren Kopf zurückriss, dann ließ er den Lederriemen hart auf ihre Schenkel sausen. Sally heulte auf und schrie immer weiter, als er sie wieder und wieder peitschte.
»Das ist noch harmlos im Vergleich zu dem, was ich mit dir machen werde, wenn du so etwas noch einmal wagst«, drohte er und warf seinen Gürtel auf den Tisch, dann nahm er die Schnur, mit der ihre Hände gefesselt waren, zur Hand. »Offensichtlich ist es besser, wenn deine Bewegungsfreiheit ein wenig eingeschränkt bleibt.«
Er knotete die dicke Schnur fest um ihr rechtes Handgelenk, führte sie unter der Sitzfläche des Stuhls hindurch und verknüpfte sie mit dem linken Handgelenk, sodass ihre Arme festgebunden waren, ihre Hände jedoch lose an ihren Seiten hingen.
»Das scheint bequemer zu sein als vorhin«, stellte Philippe fest und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten.
Er machte sich ein Sandwich zurecht und biss hinein, ehe er sich setzte. Solange er aß, sagte keiner von beiden etwas, dann rückte Philippe seinen Stuhl an Sallys
Seite und fragte: »Möchtest du auch etwas zu essen haben?«
»Wie sollte ich mit so gefesselten Händen etwas essen können?«, schluchzte sie.
»Ich werde dich füttern. Komm, hör auf zu heulen«, sagte er, als er ein Taschentuch hervorholte und damit über ihre Augen wischte. »So ist’s schon besser. Wie wär’s mit einem Drink?« Er goss Wein in ein Glas und nahm selbst zwei Schlucke, bevor er es ihr an die Lippen hielt. Sie wollte gar nichts trinken, aber er ließ ihr keine andere Wahl. »Trink aus«, sagte er und zwang sie, den Mund zu öffnen. »Es ist noch genug da. Als du ohne Bewusstsein warst, habe ich einen Blick in eure Speisekammer geworfen und die ganze Kiste mitgenommen. Sie ist im Kofferraum.«
Sally riss erschrocken die Augen auf, äußerte sich jedoch nicht dazu.
Philippe erriet ihre Gedanken und nickte. »Du hast ganz recht, wir bleiben ein paar Tage hier, und es könnte durchaus möglich sein, dass ich dich irgendwann einmal richtig betrunken machen möchte.« Er schwieg einen Moment, dann lachte er. »Es könnte aber auch ieren, dass ich selbst mich gründlich besaufen möchte, bevor wir fertig miteinander sind. Wer weiß? Vielleicht macht es mir keinen Spaß mehr, dir Schmerzen zuzufügen, ehe du die Erniedrigung, nach der du dich so sehr sehnst, erreicht hast.«
»Philippe, bitte«, jammerte sie, »lass mich gehen. Du hast das alles nicht richtig begriffen. Die ganze Sache war ein großes Missverständnis.«
»Für mich nicht, das versichere ich dir. Ich habe jede Minute genossen.« Er stand auf, nahm seinen Gürtel und fuhr fort: »Mach diesmal keinen Unsinn! Ich
möchte dir die Fesseln abnehmen, damit wir hinaufgehen können. Aber zuerst will ich ein scharfes Messer suchen. Du magst Messer, stimmt’s? Wir nehmen eins mit hinauf … nur für den Fall.«
Nachdem er ihr die Fesseln abgenommen hatte, ergriff er ihren Arm und führte sie die Treppe hinauf, dabei hielt er ihr das Messer an die Kehle.
28
Vom Morgen bis zum Mittag und vom Mittag bis zum Abend, als sich der Sturm legte, durchlebte und durchlitt Sally diesen Sommertag in einer Art Trance. Ihre Umgebung kam ihr vor wie ein Horrorszenario – Beelzebub, Belial und Moloch verschmolzen zu einer unheilvollen Einheit, als sie zum ersten Mal die Realität eines Lebens ohne jede Liebe erkannte.
Philippe bestand darauf, dass sie nur französisch sprach, und da er sich selbst auch an diese Anordnung hielt, klang seine Stimme in Sallys Ohren genau wie die ihres Peinigers aus Paris. In diesen Augenblicken war sie mehr denn je überzeugt davon, dass er derjenige war, der sie damals verschleppt und gequält hatte.
»Tu es une vraile salope!«, brüllte er. »Une vraie petite merde. Seize ans. Putain! Tu me dégoûtes. Qu’est-ce qu’il t’a fait qui t’a tellement plu?«
Wenn Sally einmal aus Versehen – weil sie zu verängstigt war oder ihr französisches Vokabular nicht ausreichte – ein englisches Wort oder ein englischer Satz herausrutschte, prügelte er auf sie ein und zwang sie, ihre Aussage auf Französisch zu wiederholen.
»Los!«, schrie er. »Sag das auf Französisch. Ich möchte hören, wie du es sagst … Lauter! … Du kannst es nicht? Aber du hast es früher doch auch getan, und du wirst es, verdammt noch mal, wieder tun.«
Je später es wurde, desto gewalttätiger und zorniger zeigte er sich. »Ich weiß,
was du in Paris getrieben hast, also lass die verfluchten Lügen! Du warst erst sechzehn, um Himmels willen. Wie alt warst du, als du mit diesen Spielchen angefangen hast?«
Trotz des Entsetzens und der Erschöpfung, der Schläge und Schmerzen und allen nur erdenklichen Erniedrigungen, die er für sie parat hatte, weigerte sich Sally zu reden. Soweit sie es beurteilen konnte, wusste er ohnehin alles. Er hatte nicht vergessen, was er ihr in Paris angetan hatte – er tat es ja jetzt wieder.
Sie schluchzte hilflos: »Du weißt, was geschehen ist. Ich will nicht darüber sprechen. Warum sollte ich auch, wenn du sowieso alles weißt? Außerdem kann ich es nicht. Mein Französisch reicht nicht aus.«
Philippe war verblüfft über ihre Sturheit und deutete ihre Weigerung vollkommen falsch – er bildete sich ein, dass ihr Schweigen nichts anderes hieß, als dass sie es mochte, missbraucht und geschlagen zu werden. Plötzlich fiel ihm ein, dass sie möglicherweise versuchte, diesen anderen Mann zu schützen. Je verschlossener sich Sally zeigte, desto überzeugter war Philippe, dass sie ihn die ganze Zeit belogen und betrogen hatte. »Wie hieß er? Wo hast du ihn kennengelernt? Wer ist er? Wo lebt er jetzt?«
»Ich weiß es nicht«, kreischte Sally voller Angst. »Ich weiß es nicht! Ich weiß es nicht!«
»Lügnerin! Du deckst diesen Kerl, stimmt’s? Du weißt genau, wo er ist. Ich bringe dich um, wenn du mir nicht endlich die Wahrheit sagst.«
Als es dämmerte, fiel Sally etwas auf, was ihr bis jetzt entgangen war. Der
schlüssige Beweis, nach dem sie all die Monate gesucht hatte, war direkt hier, aber das wurde ihr erst jetzt bewusst.
Philippe schrie noch immer und schüttelte sie, aber von einer Sekunde zur anderen hörte er auf und wurde ganz ruhig. »D’accord, ma chérie. On va voir si tu te souviens. Wir werden uns lieben, aber diesmal ganz anders.« Er drückte die Messerspitze an ihre Kehle. »Mais si, mon amour … On va faire l’amour … Tu verras …«
Sally betrachtete ihre Hände, als würden sie nicht zu ihr gehören … sie zerrte heftig an seiner Brust, und plötzlich erinnerte sie sich. Sie hatte damals sein Hemd zerfetzt, ihre Zähne in seine Schulter gegraben und die Haut an seiner Brust zerkratzt. Sie sah noch immer die blutigen Wunden vor sich. Aber etwas war anders gewesen … diese Brust sah anders aus – die Haut … Wieso war ihr das nicht schon längst aufgefallen?
»O mein Gott«, wimmerte sie. »Du bist nicht … O Gott! Was habe ich getan?«
Zum ersten Mal seit Stunden sah sie Philippe richtig an, aber so, als wäre er ihr nie zuvor in ihrem Leben begegnet. Sie starrte fassungslos auf seine Brust, dann schloss sie die Augen und heulte gequält auf.
Philippe ließ das Messer fallen und umklammerte ihre Schultern. »Sieh mich an«, schrie er. »Was ist los? Sag es mir sofort, ich muss es wissen.«
Sie hob den Kopf und schaute aus weit aufgerissenen, ängstlichen Augen in sein Gesicht. »Du hast Haare auf der Brust«, hauchte sie und schluchzte.
»Natürlich habe ich Haare auf der Brust. Ich hatte schon die ganze Zeit welche, was ist daran so verwunderlich, um Himmels willen?«
Seine Haut war so glatt, dachte sie, ganz glatt und blass. Wie hatte sie das nur vergessen können? Sie streckte vorsichtig eine Hand aus und berührte Philippes Arm. Dies war nicht dieser samtweiche, fast mädchenhafte Arm, den sie jetzt wieder ganz deutlich im Gedächtnis hatte. Und seine Brust war nicht unbehaart. Sie wusste wieder, dass sie sich schon damals gewundert hatte, dass er kein Härchen am Körper gehabt hatte, obwohl seine Mähne am Kopf so dicht gewesen war.
Sie schaute ihre Hände an und entdeckte Philippes Blut unter ihren Nägeln, und plötzlich, nach all diesen Jahren, sah sie sein Gesicht vor sich.
»Antworte mir«, forderte Philippe sie auf und schüttelte sie heftig. »Wovon sprichst du? Sag mir endlich, was für ein Spiel du treibst!« Er schrie immer noch, aber Sally hatte inzwischen den Kopf zur Seite gedreht und stöhnte leise.
Philippe war nahe dran, die Nerven zu verlieren. Er tastete nach dem Messer und presste erneut die Klinge an Sallys Hals. »Du wirst mir jetzt sofort alles erzählen, hast du verstanden? Ich meine es ernst, ich bringe dich um, wenn du dich weiterhin in Schweigen hüllst.«
Er rüttelte sie so heftig an den Schultern, dass ihr der Nacken wehtat. Im nächsten Moment schlug er sie ins Gesicht, und Sally erinnerte sich daran, wie der Arzt sie auf die Wange geschlagen hatte …
Was hatte er gesagt? »Sie müssen vergessen, was iert ist. Zwingen Sie sich, nicht mehr daran zu denken – ich meine das ernst. Was auch immer vorgefallen ist, Sie müssen es aus Ihrem Gedächtnis streichen. Wenn Sie das nicht tun, glauben Sie mir, dann zerstören Sie Ihr ganzes Leben.«
Sie zwang sich selbst zurück in die Gegenwart und versuchte, etwas zu sagen, aber ihre Stimme war so schwach, dass sich Philippe ganz nah zu ihrem Mund beugen musste, um etwas zu verstehen.
»Ich dachte, du bist dieser … dieser Mann, der Mann, der … in Paris … Ich habe dich für ihn gehalten.«
Das Messer fiel Philippe aus der Hand. Er glaubte, den Verstand zu verlieren. »Putain de merde!«, donnerte er. »Kann ich diesen Mistkerl denn nie aus deinen Gedanken vertreiben? Was hat er mit dir gemacht, dass er dir nicht mehr aus dem Kopf geht? Sag es mir! Was hat er mit dir getrieben? Er hat versucht, dich zu erwürgen, habe ich recht? Und das hat dir so sehr gefallen, dass du es wieder erleben willst?«
Sie spürte, wie sich seine Hände um ihre Kehle schlossen, und flüsterte heiser: »Nicht, Philippe. Du verstehst mich nicht. Hör auf damit, bitte. Hör mir zu. Ich habe mich geirrt. Es ist alles ein entsetzlicher Irrtum.«
Sein Griff lockerte sich ein wenig. »Und weiter«, murmelte er. »Ich höre … Womit hat er dich so nachhaltig beeindruckt, dass du es immer wieder haben möchtest und dich nach ihm verzehrst?«
»Ich habe ihn gehasst!«, kreischte Sally hysterisch. »Kannst du das denn nicht
verstehen? Du hast gedacht, dass ich ihn liebe, aber ich habe ihn gehasst und werde ihn immer hassen. Mein ganzes Leben lang habe ich ihn abgrundtief verabscheut. Ich hatte schreckliche Angst, weil ich dich für ihn hielt und glaubte, dass du das Schreckliche wieder tust.« Sie weinte so bitterlich, dass er ihre Worte kaum verstand. »Es tut mir so leid, Philippe«, wimmerte sie. »Es tut mir von ganzem Herzen leid, wirklich. Ich dachte ehrlich, dass du es gewesen bist.«
Er starrte sie sprachlos an und ließ seine Hände sinken. »Ich begreife das alles nicht«, murmelte er verwirrt. »Vielleicht bist du so freundlich, mir die ganze Sache etwas ausführlicher zu erklären.«
»Du hast doch gesagt, dass du weißt, was in Paris vorgefallen ist. Das hat mich noch mehr davon überzeugt, dass ihr, du und er, ein und derselbe seid. Wie hättest du sonst etwas von den Vorfällen erfahren können? Woher weißt du, was los war? Kein Mensch hat auch nur die geringste Ahnung – niemand außer Carson, und der würde nicht darüber sprechen, am allerwenigsten mit dir.«
»Dein Vater hat es mir erzählt.«
»Mein Vater? Das kann nicht sein. Weder er noch Mutter haben je etwas von mir erfahren. Er weiß nichts über die Vorfälle in Paris.«
»Großer Gott, Sally. Ich bitte dich, mir wenigstens ein einziges Mal die Wahrheit zu sagen. Er hat dich im Krankenhaus besucht und dich gesehen, oder nicht? Du konntest ihm nichts vormachen. Er ist doch nicht blind. Selbstverständlich weiß er es.«
»Er denkt, dass ich nur schlimmes Nasenbluten hatte. Von diesem Kerl habe ich
nie ein Wort gesagt. Meine Eltern haben keine Ahnung, dass er mich erst von der Straße in sein Auto gezerrt und entführt, dann missbraucht und beinahe vergewaltigt hat.«
Philippe fühlte sich, als hätte man ihm mit dem Vorschlaghammer in die Magengrube geschlagen.
»Dieser Mensch hat versucht, dich zu vergewaltigen?«, fragte er vollkommen verblüfft. »Willst du damit sagen, dass du nicht freiwillig mit ihm zusammen warst?«
»Aber das weißt du doch, oder? Du hast immer wieder gesagt, dass du alles weißt.«
»Woher sollte ich das wissen, Herrgott noch mal? Du hast nie ein Wort darüber verlauten lassen. Wie, zur Hölle, soll ich davon erfahren haben?« Er zitterte am ganzen Leib. Das kann doch nicht wahr sein, dachte er verzweifelt. Sie hatte ihm so viele undurchdringliche Lügen aufgetischt, wie sollte er sich in diesem Labyrinth noch zurechtfinden? »Wenn das wirklich wahr ist, dann hättest du längst mit mir darüber sprechen müssen.«
»Das konnte ich nicht … Außerdem dachte ich ja, dass du es weißt, weil ich annahm, du selbst hättest mich damals verschleppt.«
»Du erwartest doch nicht von mir, dass ich dir das abnehme.« Philippe verlor vollkommen die Fassung und schrie wieder. »Du hältst mich wohl für einen kompletten Idioten? Großer Gott, du …«
»Ich dachte es wirklich, ich schwöre es. Deshalb hatte ich ja so schreckliche Angst. Mir ist klar, dass ich dir entsetzlich unrecht getan habe … aber so ist es nun mal. Ich war ganz sicher, dass du er bist.«
Philippes Gesicht war aschfahl geworden, und er schien kaum noch Luft zu bekommen. Nach einem lähmenden Augenblick stand er auf und ging rastlos im Zimmer hin und her. Von Zeit zu Zeit drehte er sich zu Sally um, sah sie an und schüttelte ungläubig den Kopf. »Du hättest dich gar nicht mit mir eingelassen und mich nicht einmal wahrgenommen, wenn du nicht sicher gewesen wärst, dass ich der Mann aus Paris bin – willst du mir das weismachen? Du lügst mich immer noch an, stimmt’s? Ich schwöre zu Gott, dass ich dich umbringe, wenn du mir nicht die Wahrheit sagst. Ich muss erfahren, was wirklich los ist, sonst werde ich noch verrückt.«
»Ich musste mir Gewissheit verschaffen … Ich wollte dich töten, verstehst du? Ich wollte ihn töten, und ich hielt dich für ihn. Ich glaubte ganz fest, dass ich etwas an dir wiedererkenne … aber ich musste erst ganz sicher sein. Bevor ich dich umbringen konnte, brauchte ich einen hundertprozentigen Beweis, dass du mich damals in Paris in diesem Dachzimmer gefoltert, geschlagen und gequält hast.«
»Du hast gesagt, dass du von Anfang an sicher gewesen seist.«
»Das war ich auch – zumindest fast. Ich meine, ich war praktisch sicher, wollte aber trotzdem einen eindeutigen Beweis.« Sie sah seine skeptische Miene und seufzte schwer. »Als ich dir zum ersten Mal auf dieser Party begegnet bin, war ich felsenfest überzeugt, aber dann, als wir miteinander geschlafen hatten, kamen mir Zweifel. Ich sagte mir, dass ich erst endgültige Gewissheit habe, wenn du etwas auf Französisch zu mir sagst … Das Schlimme war nur, dass ich mich mittlerweile in dich verliebt hatte, ich konnte mir ein Leben ohne dich
nicht mehr vorstellen, und plötzlich war ich mir gar nicht mehr so sicher …«
»Aber du hast gerade behauptet, dass du mich vom ersten Augenblick an für ihn gehalten hast – und plötzlich hast du geschwankt?«
»Aber dann, vorgestern Abend, am Telefon – du sagtest, du würdest mich umbringen, wenn ich auch nur in die Nähe deiner Wohnung käme, und du hast mir all diese französischen Beleidigungen an den Kopf geworfen, weißt du noch? –, da glaubte ich mit einem Mal, es ganz genau zu wissen. Du hast vorher nie französisch gesprochen, verstehst du, und du hast genau dieselben Worte wie er damals gesagt. Deshalb wurde mir klar, dass ich von Anfang an recht gehabt hatte und dass du der Mann aus Paris bist … Ich meine, ich habe es geglaubt …« Sie brach ab und drehte den Kopf zur Seite. »Aber ich habe mich geirrt. Du bist es nicht … Jetzt kann ich mich erinnern, wie er ausgesehen hat …« Sie begann zu weinen. »Es tut mir schrecklich leid, Philippe. Ich kann dir gar nicht sagen, wie grauenvoll ich mich fühle. Ich werde das alles wiedergutmachen, das verspreche ich dir. Ich werde alles tun … Du kannst dir nicht vorstellen, was für ein Albtraum das war …«
Plötzlich fiel es Philippe wie Schuppen von den Augen: Die Frau war wahnsinnig, vollkommen verrückt. Ihre Mutter hatte recht – sie war nicht bei Verstand und einem Nervenzusammenbruch nahe.
»Würde es dir etwas ausmachen, mir alles von Anfang an zu erzählen?«, bat er. »Ich fürchte, ich habe den Faden verloren und gar nichts begriffen.«
Ihre Hände verkrampften sich ineinander und lösten sich wieder. Es dauerte lange, aber schließlich hatte sie es geschafft – Philippe erfuhr die ganze Wahrheit, oder wenigstens das, was sie für die Wahrheit hielt. Philippe ließ sie nicht aus den Augen, hörte aufmerksam zu und dachte daran, dass sie wirkte wie
jemand, der im dichten Nebel ein erbittertes Duell ausfechten musste. Als sie zum Ende kam, fehlten ihm die Worte.
Er durchmaß schweigend den Raum, stapfte auf und ab, blieb hin und wieder vor dem Fenster stehen und sah in die Nacht.
»Ich brauche unbedingt frische Luft«, verkündete er unvermittelt. »Ich muss über all das nachdenken und gehe ein bisschen raus.«
Sally sagte nichts dazu. Nach einem tiefen Seufzer, drehte sie sich um, sie vergrub das Gesicht im Kissen und weinte.
Philippe ging über eine Stunde spazieren. Als er zurückkam, saß Sally aufrecht im Bett. Ihre Tränen waren versiegt, und sie starrte blicklos ins Leere, aber als Philippe das Zimmer betrat, huschte ein hoffnungsvolles Lächeln über ihr blasses Gesicht.
Philippe erwiderte das Lächeln nicht. Er durchquerte das Zimmer, stellte sich neben das Bett und musterte Sally eingehend.
»Du bist verrückt«, sagte er. »Du hast mein und dein Leben vollkommen zerstört. Ich habe dich ehrlich geliebt, hast du das nicht gemerkt? Und jetzt … was ist uns noch von unserer Liebe geblieben?«
»Alles ist wieder gut«, behauptete Sally. »Du kennst jetzt die ganze Geschichte, und alles ist in Ordnung. Siehst du das denn nicht?«
»In Ordnung?«, brauste er auf. »Verdammt noch mal, was soll das heißen ›alles ist in Ordnung‹? Du hast mich in ein brutales Ungeheuer verwandelt. Ich habe dich misshandelt und erniedrigt. Ich habe dich vergewaltigt und war verflucht nahe dran, dich umzubringen – und du meinst, dass alles in Ordnung ist?«
»Aber das, was zwischen uns gewesen ist, spielt doch jetzt überhaupt keine Rolle mehr. Ich habe mich getäuscht und den Irrtum Gott sei Dank bemerkt, also ist das Ganze unwichtig geworden. Lass uns alles, was war, vergessen und von vorn anfangen.«
»Vergessen? Wie könnte ich so etwas Grauenvolles je vergessen? Begreifst du eigentlich gar nichts? Du hast ein Monster aus mir gemacht, zu dem ich ohne dich niemals geworden wäre.«
»Aber ich liebe dich. Wir lieben uns, oder nicht? Warum können wir nicht …«
»Liebe! Zwischen uns?«, brüllte Philippe zornig. »Wir können uns nicht mehr lieben. Ein solches Gefühl kann es nicht mehr zwischen uns geben. Nach allem Entsetzlichen, das ich dir angetan habe, kannst du dir doch nicht auch nur für einen Moment ernsthaft vormachen, dass du mich liebst. Und wie könntest du noch glauben, dass ich echte Liebe für dich empfinde? Hast du auch nur die geringste Vorstellung davon, was du mit mir gemacht hast? Du hast die allerschlimmste, die schändlichste Seite an mir zutage gefördert – eine Seite, die ich selbst nicht einmal an mir kannte –, und gleichzeitig hast du mir deine abstoßendste, menschenunwürdigste Seite gezeigt.«
»Aber wir beide haben auch andere Eigenschaften, das weißt du. Wir können einfach noch mal ganz von vorn anfangen. Warum sperrst du dich dagegen?«
»Es ist zu spät für uns, Sally. Verstehst du das nicht? Ich habe Blut geleckt, durch dich habe ich Geschmack an Gewalt und Brutalität gefunden – dagegen werde ich für den Rest meines Lebens ankämpfen müssen. Dir muss doch klar sein, dass ich imstande gewesen wäre, dich umzubringen, mich nach vollbrachter Tat aus dem Staub zu machen und mir andere Frauen zu suchen, die ich vergewaltigen und ermorden kann. Ich könnte es wieder und wieder tun. Dadurch, dass du so fest davon überzeugt warst, dass ich ein Ungeheuer bin, hast du mich in eins verwandelt. Das kann ich dir mein Leben lang nicht verzeihen.«
»Bitte, Philippe, versuch, das alles zu vergessen. Ich habe Todesängste ausgestanden und wusste nicht, was ich tat. Bitte, versteh mich doch.«
»Du hast auch die ganzen Jahre über nicht vergessen, was dir in Paris widerfahren ist. Wie kommst du auf die Idee, dass ein anderer etwas Ähnliches vergessen könnte? Es ist ein Teufelskreis, meine liebe Sally. Ich hätte angenommen, dass gerade dir das bewusst ist.«
»Aber was wird aus uns? Was sollen wir beide tun?«
»Du kannst immerhin zu deinem Mann zurückkehren. Und ich? Gott allein weiß, was aus mir wird.«
»Ich kann nicht zu Carson zurück. Er hat mich verlassen. Er liebt mich nicht mehr und hat den Verdacht, dass ich fremdgegangen bin, obwohl ich es abgestritten habe. Deshalb hat er sich von mir getrennt. Er kommt nicht mehr zurück, das weiß ich. Er ist weg.«
»Das ist dein Pech. Es geht mich nicht das Geringste an – fang jetzt bloß nicht wieder an zu heulen, um Gottes willen. Du hast dir das alles ganz allein eingebrockt. Armer alter Carson! Wenn du sonst schon keine Reue empfindest, hoffe ich wenigstens, dass du dich für das, was du ihm angetan hast, schämst.«
»Warum? Wieso sollte ich mich seinetwegen schämen? Er wusste, was mir iert ist. Ich habe ihm alles haarklein erzählt, und er kannte schon vor unserer Hochzeit meine Ängste. Ihm war klar, was mit mir los war. Er hätte mich nicht zu heiraten brauchen, nachdem er alles erfahren hatte. Er war der einzige Mensch auf der ganzen Welt, mit dem ich je darüber geredet habe.«
»Vielleicht hat er nicht begriffen, dass du fest entschlossen warst, nie zu vergessen. Das war dein größter Fehler, meine Liebe. Dieser einfache Entschluss hat das Leben von uns allen zerstört.«
Er wandte sich von ihr ab und ging zum Fenster. »Ich muss weg von hier.« Er dachte laut. »Ich muss unbedingt sofort zurück nach Montreal, meinen Job bei der Universität aufgeben und die beiden Wohnungen kündigen und leer räumen. Ich muss noch eine Menge Dinge erledigen, bevor ich meine Zelte ganz abbrechen kann.«
»Du willst doch nicht ganz von Montreal wegziehen, das geht nicht.«
»Warum nicht?« Er drehte sich zu ihr um und sah sie mit kaltem Blick an. »Du erwartest sicher nicht ernsthaft von mir, dass ich in dieser Stadt bleibe.«
»Ich erzähle keiner Menschenseele, was zwischen uns vorgefallen ist, darauf gebe ich dir mein Wort. Du hast überhaupt keinen Grund, deine Stellung so
plötzlich aufzugeben und wegzuziehen.«
»Du scheinst immer noch nicht zu verstehen, was in mir vorgeht. Ich will und kann nicht bleiben.«
»Wohin wirst du gehen?«
»Keine Ahnung.«
»Du kannst mich nicht allein in diesem Haus lassen und ohne mich wegfahren!«, schrie sie in Panik, als er auf die Tür zustrebte. »Warte. Ich bin in einer Minute fertig.« Sie sprang auf die Füße und suchte in Windeseile ihre Kleider zusammen.
Philippe blieb stehen und warf ihr einen Blick zu. Sie hatte am ganzen Körper blaue Flecke – ihre Wange war angeschwollen, die Unterlippe aufgeplatzt. Es war nicht zu übersehen, dass sie Schmerzen hatte, wenn sie die Arme bewegte. Eine ganze Weile starrte er sie an, dann wandte er sich angewidert ab.
»Ich setzte dich an der nächsten Bushaltestelle ab«, sagte er, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Von dort aus findest du allein nach Hause.«
»In dieser abgelegenen Gegend gibt es bestimmt keine Busse, die nach Montreal fahren. Und die Strecke ist schrecklich weit. Wie, um alles in der Welt, soll ich ohne dich nach Hause kommen?«
»Es muss wenigstens eine Busverbindung in die nächste Stadt geben, dort findest du sicher einen Anschluss nach Quebec«, erwiderte er ausdruckslos. »Dann dürftest du keinerlei Schwierigkeiten mehr haben, einen Bus nach Montreal ausfindig zu machen. Du siehst, das alles ist gar kein so großes Problem.«
»Du weißt verdammt genau, dass so spät am Abend überhaupt keine Busse mehr verkehren. In so abgelegenen Regionen gibt es wahrscheinlich ohnehin nur einen einzigen Bus am Tag, wenn überhaupt einer fährt … Unter Umständen hocke ich vierundzwanzig Stunden irgendwo herum und muss warten, bis der nächste geht. Du kannst mich nicht allein irgendwo in einem gottverlassenen Nest, das ich nicht kenne, sitzen lassen.«
»O doch, das kann ich ohne Weiteres«, gab er ungerührt zurück. »Das lässt mir wenigstens Zeit, nach Montreal zu kommen, bevor du dort auftauchst. Ich habe vor, mich bei Gott und der Welt sehen zu lassen, ehe du auf der Bildfläche erscheinst.«
»Und was soll ich meinen Eltern sagen? Bestimmt haben sie längst mein Auto gefunden und bei der Polizei eine Vermissten- oder Suchanzeige aufgegeben. Vermutlich denken sie, dass ich im See ertrunken bin, und setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um mich zu finden. Was soll ich ihnen erzählen, wo ich war?«
»Sag, dass du dich an nichts erinnerst, dass du den Verstand oder was auch immer verloren hast – das ist gar nicht so weit von der Wahrheit entfernt.«
»Das kann ich unmöglich sagen. Sie werden mich in ein Sanatorium oder eine Klinik stecken. Ich muss mir eine plausible Erklärung einfallen lassen.«
»Mir ist es verdammt egal, welche Lügen du dir ausdenkst«, zischte Philippe. »Das ist nicht mehr mein Problem. Zieh dich an und beeil dich gefälligst. Ich räume inzwischen unten auf, und wenn ich damit fertig bin, fahre ich los, ob du bereit bist oder nicht.«
Sally stand neben ihm, als er die Tür abschloss. »Nimm das«, sagte er und drückte ihr die Plastiktüte mit der leeren Weinflasche und den restlichen Lebensmitteln in die Hand. »Du kannst das Zeug an der Busstation oder wo auch immer loswerden. Die anderen Flaschen schmeiße ich auf dem Heimweg in irgendeinen See. Diese Schlüssel«, setzte er hinzu, »gebe ich meinem Freund zurück und sage ihm, dass mir etwas Unaufschiebbares dazwischengekommen ist und ich sein Angebot leider nicht annehmen kann, obwohl ich nichts lieber täte. Ich warne dich, wenn du auch nur den Versuch unternimmst, jemandem zu erzählen, dass wir zusammen waren, werde ich dich in aller Öffentlichkeit für geisteskrank und total verrückt erklären und dafür sorgen, dass du in die Klapsmühle kommst.«
Während der Fahrt schwiegen beide. Es war so finster, dass man nichts von der Landschaft sehen konnte. Der Feldweg wand sich scheinbar endlos durch den Wald, und als sie endlich die Straße erreichten, waren immer noch rechts und links nichts anderes als hohe Bäume zu sehen.
Etwa zwei Stunden später hielt Philippe den Wagen ohne Vorankündigung vor einer Gemischtwarenhandlung in einem kleinen Dorf an.
»Irgendwann wird sich hier schon jemand blicken lassen«, versicherte er, »spätestens morgen früh, wenn der Laden öffnet. Dann kannst du dich erkundigen, wie du weiterkommst und wo der Bus abfährt.«
»Lass mich nicht hier zurück«, flehte Sally, als er auf die Beifahrerseite kam und sie aus dem Wagen zerrte. »Ich kann nicht die ganze Nacht allein vor einem Geschäft herumsitzen. Warum nimmst du mich nicht einfach mit und lässt mich kurz vor Montreal aussteigen?«
»Weil ich deine Nähe keine Minute mehr ertrage. Ich kann nicht einmal mehr den Gedanken daran ertragen, was du mir angetan hast, und der Mensch, der du wirklich bist, ist mir zuwider.«
Sally streckte die Hand aus und versuchte, seinen Arm zu berühren, aber er schüttelte sie ab, als wäre sie etwas Ekelerregendes.
»Philippe, verzeih mir, ich flehe dich an. Bitte vergib mir. Ich tue alles, um es wiedergutzumachen.«
Er drehte ihr den Rücken zu und stieg ohne ein weiteres Wort ein. Sie sah ihm nach, als er davonfuhr, bis die Rücklichter in der Dunkelheit immer schwächer wurden und schließlich ganz hinter den Bäumen verschwanden.
Die Nacht war warm und schwül. Sallys Arme und Beine waren schon jetzt mit Insektenstichen übersät. Blut, dachte sie und fühlte einen warmen Tropfen an ihrem Bein, der langsam zum Knöchel rann. Die Kriebelmücke war hinter ihrem Blut her.