Jens Rosteck Den Kopf hinhalten
Jens Rosteck
Den Kopf hinhalten
Roman
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Ohne zu wissen warum liebe ich diese Welt, auf die wir kommen, um zu sterben.
Natsume S Ō seki
1
Letztes Stündlein
Träume hatte Rupert sich schon seit Langem verboten. Erlebtes im Unterbewusstsein weiterzuspinnen, richtungslos abzuschweifen und die Ereignisse der letzten Jahre auch noch im Schlaf vor seinem inneren Auge ablaufen zu lassen, war strengstens untersagt. So hatte er es seinem Gewissen eingebläut. Und war, im Laufe der Zeit, gegen Anfechtungen jeglicher Art erfolgreich immun geworden. Dösend im Bett liegen zu bleiben und den Tag zu vertrödeln: Das kam nicht infrage. Abzuwägen, was besser sei oder richtiger gewesen wäre: sinnlos. Mit sich zu hadern, sich mit Fragen zu quälen, sich rastlos auf seinem Laken hin und her zu werfen oder fortgesetzt unter Selbstvorwürfen zu leiden – unnötig und pure Zeitverschwendung. Wankelmütig zu werden oder gar zu zweifeln war, so hatte er ein für alle Mal beschlossen, ein Ding der Unmöglichkeit. Jedenfalls was ihn betraf. Das gehörte sich nicht für ihn, einen entschlossenen, vorbildlichen Mann. Für ihn, Beaufort. Einen, nach allgemeinem Urteil, charakterstarken Scharfrichter. Den Gentleman unter den Henkern, wie die Presse ihn nannte. Den Routinier unter den Hangmen, so die Meinung seiner Kollegen. Den mutigen und unbestechlichen Nationalhelden, befanden einige Patrioten. Den Star unter den staatlich bestellten Todesengeln, so feierten ihn Freunde und trinkfreudige Kunden in seinem Lokal. Den Ersten im Lande, so das einstimmige Urteil der zuständigen Behörden. Den Besten seiner Zunft, davon war er selbst überzeugt. Träume waren etwas für Sentimentale und Nostalgiker. Träume waren ein Luxus, den man sich besser nicht leistete. Träume machten träge. Träume konnten einen schwer belasten. Träume führten dazu, dass man Gefahr lief, sein Ziel aus den Augen zu verlieren. Nein, nichts wäre törichter, als in der Vergangenheit zu verharren, sich mit Vorfällen zu befassen, an deren Verlauf oder Ausgang nichts mehr zu ändern war. Lieber richtete Rupert den Blick nach vorn. Befahl sich Zurückhaltung, verordnete sich Klarheit, ließ kein dunkles Wölkchen über seinen Gedanken schweben. Innere Einwände verscheuchte er. Und des Nachts wollte er wirklich nur eins: gründlich zur Ruhe kommen. Wegtauchen. So hatte er es schon immer gehandhabt. Einfach abschalten. Für ein paar Stunden wenigstens. Sich allmählich auf seine nächste Aufgabe vorbereiten. Präsent sein und konzentriert. Kräfte sammeln. Um seine Pflicht zu tun. Voller Entschlussfreudigkeit. So wie
an diesem Junimorgen im Jahre 1956. Er stellte fest, dass er tief und gut geschlafen hatte, ausreichend allemal. Auch wenn er erst mitten in der Nacht nach Hause gekommen war, nachdem er im Pub noch klar Schiff gemacht hatte. Träume, zumindest angebrochene, fochten ihn nicht an. Träume, die keinen Anfang und kein Ende kannten, vergaß man auf der Stelle. Träume waren ein Irrtum. Träume führten zu nichts. Sein vierundzwanzigstes Jubiläum im Dienst der britischen Krone rückte näher. Fast ein Vierteljahrhundert hatte Beaufort perfekt funktioniert. Zur allgemeinen Zufriedenheit. Hinrichtung für Hinrichtung, ob nun in London, Manchester oder Dublin. Ob daheim im Vereinigten Königreich, in Deutschland und Irland, in Österreich oder im Nildelta. Hatte Aufträge ausgeführt, vor denen sich die meisten, die er kannte, gefürchtet hätten. Vor denen sie zurückgeschreckt wären. Vorbildlich hatte er agiert. Konsequent und kompromisslos. War kreuz und quer durch Europa gereist, um seiner Nation zu Diensten zu sein, ohne sich zu beschweren oder auch nur zu murren. War bei Wind und Wetter in die entlegensten Ecken des Landes geeilt und hatte dabei keine Strapazen gescheut. Hatte in heiklen Situationen seinen Mann gestanden, nie gekniffen. Und kein einziges Mal hatte er versagt, gezaudert oder seine Vorgesetzten enttäuscht. Nie war er verhindert oder ernsthaft krank gewesen. Nie hatte er Details ausgeplaudert. Verschwiegen wie ein Grab war Beaufort. Fehler waren ihm keine unterlaufen, seine Weste war weiß. Was er tat, hatte – wie er es sah – mit Gewalt nichts zu tun, schon gar nicht mit Grausamkeit, und an seinen Händen haftete auch nicht der kleinste Tropfen Blut. Nicht einmal ein Spritzer. Mit allem was er tat, hinterließ er weder Flecken noch Spuren: Seine Hände machte er sich nicht schmutzig. Sein Herz blieb heiter. Stattdessen beendete Rupert Lebensläufe. Machte Schluss mit den Schicksalen Dritter. Unerfreuliche, unglückliche, verpfuschte, schlimme und unbeschreiblich schreckliche. Was einzig zählte, war, dass man sich auf ihn verlassen konnte, und das traf seit 1932 zu. Als er als Assistent begonnen hatte. Seit 1941, nach seiner Beförderung, hatte er als Chef das Sagen, bestimmten seine Anweisungen die Regeln beim Hängen. Seitdem war er ein Meister seines Fachs. War unumstritten und unersetzlich. Und auch so etwas wie ein Künstler. Ein Todeskünstler.
Der heutige Tag durfte also anbrechen, wenn es nach ihm ging, und der Tag brach auch tatsächlich an. So zuverlässig wie er selbst. Fast mechanisch. In wenigen Sekunden würde er aufstehen und sich ankleiden, sich ein paar Stunden später auf den Weg nach London machen und sich während der Zugfahrt gedanklich vorbereiten auf die Tötung eines ihm völlig unbekannten Menschen. Wie so oft würde sie am Samstagmorgen, pünktlich um neun Uhr, anberaumt werden, reibungslos vonstattengehen und, dafür würde er während der Durchführung Sorge tragen, niemandem Anlass zur Klage bieten. Keine zwanzig Sekunden würde es dauern, die Strafe zu vollstrecken. Keine Minute würde vergehen zwischen dem gemeinsamen Verlassen der Zelle und dem jähen Hinabfahren des Delinquenten ins Bodenlose, zwischen letztem Geleit und Genickbruch, zwischen Fürsorge und Eindeutigkeit. Präzision lautete Ruperts oberstes Gebot, Sorgfalt und Umsicht waren entscheidend. Zwischen achthundert und achthundertfünfzig Verurteilte und Verbrecher hatte er, als Arm des Gesetzes, im Laufe seines Lebens schon ins Jenseits befördert. Im Namen des Volkes, als Saubermann. Wie viele genau, wusste nur er allein und würde es, soweit möglich, niemandem verraten. Das ging nur ihn etwas an. Er war niemandem Rechenschaft schuldig. Wie viele davon Männer und wie viele Frauen gewesen waren, spielte keine Rolle und tat, selbst wenn man ihn danach gefragt hätte, nichts zur Sache. Wie viele davon womöglich unschuldig gewesen waren oder eine mildere Strafe verdient gehabt hätten, kümmerte ihn nicht. Und änderte auch nichts an seiner Einstellung. Das gehörte zu den Dingen, die nicht er zu beurteilen hatte. Sondern eine höhere Instanz. Ihm genügte die Gewissheit, das absolut Richtige zu tun. Das Notwendige und Unvermeidbare. Etwas, für das nur jemand wie er infrage kam. Etwas, für das er asehen war. Etwas, das er aus dem Effeff beherrschte. Und fertigbrachte, ohne sich oder die ihm Anvertrauten unnötig zu besudeln. Etwas, worauf er stolz war und das er mit einem wohligen, nur ihm bekannten Ehrgefühl verband. Somit erwachte Rupert an diesem Freitagmorgen, ohne geträumt zu haben. Ganz so wie geplant. Augenblicklich spürte er, wie die gewohnte Energie in seine Glieder fuhr, spürte die vertraute Anspannung, den Tatendrang. In Gedanken spielte er das kommende Wochenende durch, beruhigende, befriedigende Gedanken, fühlte sich gewappnet und stark. Er war bereit.
Rupert Beaufort schlug die Augen auf. Und wusste sofort, was ihm heute bevorstand. Zum zigsten Male. Er war mit sich im Reinen. Die Lage war eindeutig: Bei ihm gab es auch nicht die geringste Persönlichkeitsspaltung, weder eine gute noch eine schlechte Seite. Unterscheidungen waren zwecklos. Denn immer war er Kneipenwirt und Vollstrecker zugleich. Ausschenker und Handlanger. Beide Metiers verlangten Genauigkeit und Ausdauer, Belastbarkeit und auch Menschenfreundlichkeit. Wirt sein und Henker sein: Das war gleichwertig. Beide Berufe bereiteten ihm Freude. Das merkte man ihm an – so umsichtig und beflissen wie er nun einmal war. Fleißig und eifrig: Dieses Zeugnis hätte ihm jeder Prüfer ausgestellt. Makellosigkeit und Professionalität zur Schau stellend, ohne jedoch irgendein Aufheben davon zu machen. Ganz gleich, was er tat, immer bemühte er sich um grundanständiges Handeln. Er erledigte, was man von ihm erwartete, blieb freundlich und unauffällig. Einer eigenen Meinung enthielt er sich. Er war in der Lage, seinen Mund zu halten, wenn es darauf ankam, und mit Tatkraft zu Werke zu gehen, wenn es so weit war. Dabei war es völlig egal, ob es sich darum handelte, ein frisches Bier zu zapfen, einen Brandy zu servieren, einen Aschenbecher zu leeren, einen Kartenspieltisch mit einem feuchten Lappen abzuwischen oder einem Gefangenen die Hände auf dem Rücken zu verbinden, bevor er ihn aus der Todeszelle zur Exekution führte. Bevor er ihm das Gefühl gab, sich keine Sorgen mehr machen zu müssen. Bevor er ihn behutsam zu seinem eigentlichen Bestimmungsort geleitete. Bevor er ihn von seiner Seelenpein erlöste. Rupert blinzelte und atmete tief durch. Für einen kurzen Moment betrachtete er sein blasses und gleichförmiges, genau einundfünfzig Jahre altes Gesicht im länglichen Spiegel neben dem Kleiderschrank und war zufrieden, dass es keine besonderen Merkmale aufwies. Und nur erst wenige Falten. Rupert genoss seine offenkundige Durchschnittlichkeit, ja Unscheinbarkeit. Was er getan hatte und was er heute und morgen wieder tun würde, konnte man ihm nicht ansehen. Was er auf dem Kerbholz hatte, blieb unbemerkt. Er selbst sah sich als Ausbund an Unbescholtenheit und Tugend. Seine rekordverdächtige Hinrichtungsbilanz und sein Doppelleben hätte ihm, wie er da so lag, wohl niemand zugetraut, ausgeschlafen und in einen gestreiften Pyjama gewandet, das Kissen im Nacken hochgeschoben und sich selbst unwillkürlich zuzwinkernd, so als grüßte er einen
alten Bekannten. Er wirkte wie jemand, der keiner Fliege etwas zuleide tun würde. Wie eine gute Seele, von der man sich nicht vorstellen konnte, dass sie jemals einem räudigen Hund einen Fußtritt versetzen oder gar einem kleinen Jungen eine Tracht Prügel veren würde. Rupert und seine Frau hatten weder Kinder noch Haustiere. Er spürte jetzt, wie unvermittelt Vorfreude in ihm aufstieg. Vorfreude auf die Reise nach London, Lust auf die Erfüllung seines Auftrags. Unbändige Lust. Noch einige Sekunden zögerte er das Aufstehen heraus. Träume, wenn sie zu Ende geträumt wurden, machten ihm Angst. War er wach, breitete sich Zuversicht in ihm aus. In Träumen konnte man sich leicht verirren. Im Alltag hingegen fand er sich bestens zurecht.
Durch das weit geöffnete Fenster strömte frische, leicht salzige Luft ins Schlafzimmer. Es war empfindlich kühl für einen Sommertag, schließlich lagen Preston und Much Hoole nicht weit vom Meer. Die Irische See sorgte selbst im Binnenland stets für eine steife Brise. Doch die Sonne stand, auch wenn sie keine wohltuende Wärme verbreitete, schon hoch am Himmel. Grelles Licht tanzte auf dem Frisierspiegel, vor dem Ruth gestern Abend ihren Schmuck abgelegt hatte, und lockte ihn ins Bad. Draußen summten bereits die Bienen. Mit großem Eifer schwirrten sie durch Rosenbeete, Jasminsträucher und Hortensien, als wollten sie ihn ermuntern, endlich die Decke zurückzuschlagen. Was er nun auch, ein wenig ächzend, tat. Der Jüngste war er ja nicht mehr. In der Ferne hörte er einen Zug rattern und sah, als er sich erhob und sein Blick automatisch über die Vorgärten auf die wenig befahrene Landstraße und den Rand des kleinen Dorfes fiel, wie die betagte Mrs Pennebaker vorm Haus gegenüber auf den Bürgersteig trat, um die im Briefkasten steckende Freitagszeitung hereinzuholen. Er streckte sich, gähnte zweimal kräftig, hockte sich auf die Bettkante und schlüpfte in seine Pantoffeln. Griff nach dem Nachttopf, um ihn zu leeren, und schlurfte nach nebenan. Die Rasur beanspruchte nur wenige Minuten. Als Nächstes begab er sich zur Dusche und ließ, während er mit gekreuzten Beinen in der Wanne kauerte und ein Lied summte, das heiße Wasser eine Weile länger als nötig auf Kopf und Rücken prasseln. Zu guter Letzt schreckte er seinen
bleichen Körper mit einem kalten Guss ab und eilte zu seinen bereitgelegten Sachen. Auf eine untadelige Garderobe, auf einen guten Anzug, einen schönen Hut und eine Reihe ausgesuchter Accessoires hatte Rupert stets größten Wert gelegt. Ihm war es, als Kind armer Leute, sehr wichtig, ein gepflegter Mann zu sein. Ihm war es ganz allgemein wichtig, es zu etwas gebracht zu haben. Nützlich gewesen zu sein. Der Allgemeinheit zur Verfügung gestanden zu haben. Das, fand er, sah man ihm heutzutage ganz bestimmt an. An der Nasenspitze.
Ruth hatte sich lange vor ihm erhoben und war ins Erdgeschoss ihres bescheidenen Landhäuschens in Much Hoole entschwunden, in dem sie nun schon ein paar Jahre zufrieden lebten; er hörte sie in der Küche hantieren. Vielversprechende Aromen, von ihr mit viel Liebe in die Welt gesetzt, wirkten wie ein Magnet auf ihn, riefen ihn förmlich zu ihr hinunter, verschafften ihm sofort noch größere Lust auf sein Tagesgeschäft. Rupert hörte auch, als er sich abtrocknete und anzog, seine aufgezogene Taschenuhr in der Westentasche verschwinden ließ, die farblich abgestimmte Krawatte umband und ein sauberes Einstecktuch auswählte, den pfeifenden Teekessel und, ungleich undeutlicher, das Gebrabbel des s, der die Morgennachrichten im Radio verlas. Irgendetwas mit einem neuen Theaterstück, das, wenn er richtig verstanden hatte, Blick zurück im Zorn hieß und morgen Abend im Londoner Theatre District Premiere haben würde. Nun, Rupert war – wenn er sich’s recht überlegte – auf nichts und niemanden zornig. In ihm war keine aufgestaute Wut, die er irgendwo entladen oder an anderen auslassen musste. Sadistische Züge waren ihm fremd. Eigentlich hatte er konstant gute Laune. Ein kurzer Windstoß ließ das Fenster zufallen, das sich gleich wieder öffnete, wie von Zauberhand gelenkt. Kurz darauf vernahm er, wie erwartet, schließlich den fröhlichen Ruf seiner Frau. Das Frühstück war fertig. Es duftete verheißungsvoll. Zur Feier des Tages ein warmes Breakfast, mit allem Drum und Dran. „Kommst du?“ Rupert ließ sich das nicht zweimal sagen, stieg die enge Treppe nach unten, kam der freundlichen Aufforderung seiner Frau am Küchentisch Platz zu nehmen
nach, und genehmigte sich eine große Portion Baked Beans mit Blutwurst und Bacon. Ruth, noch im Morgenrock, hatte die Schlagzeilen bereits überflogen und danach einen Musiksender eingestellt, der leise vor sich hin dudelte. Lange vor ihm war sie mit dem Essen fertig, leistete ihrem Mann Gesellschaft, spottete über seinen ausgesprochen guten Appetit und musterte ihn mit ihrem kritischen, wohlwollenden Blick. In ihren Augen las er eine gewisse Unruhe; sie sandten aber auch Signale der Ermunterung an ihn aus. Nachbarschaftstratsch und die Einnahmen des letzten Abends im Pub – mehr als zufriedenstellend – dominierten ihr unbefangenes Geplauder. Rupert murmelte zustimmend, hörte ihr nur mit halbem Ohr zu, nickte und kaute, klapperte mit dem Besteck und schlang seine Scrambled Eggs herunter. Beiläufig erkundigte sie sich nach der Abfahrtzeit seines Zuges. Obwohl sie den Fahrplan genauestens kannte. Ansonsten stellte sie keine Fragen, beklagte sich nicht, ließ ihn in Ruhe, und Rupert liebte sie dafür. Für ihre Diskretion und ihr Verständnis. Für ihre Geschmeidigkeit und ihre unausgesprochene Bewunderung für sein Tun. Wie er war Ruth ein Musterbeispiel an Verschwiegenheit. Dabei wusste er genau, dass sie alles wusste. Er wusste, dass selbstverständlich sie es war, die neulich den versiegelten Brief von der Gefängniskommission in Empfang genommen und ihn sogleich, wie sie es noch während der Kriegsjahre, gleich zu Beginn ihrer Ehe, stillschweigend vereinbart hatten, ohne Kommentar auf den Kaminsims gelegt hatte. Er wusste, dass sie wusste, was solche offiziellen Schreiben bedeuteten. Sie lagen da, damit er sie gleich sah, wenn er von der Arbeit nach Hause kam. Von ihr platziert, wie ein Ausrufezeichen. Wie schon seine Mutter es bei seinem Vater und seine Tante bei seinem Onkel getan hatten. Um wortlos auf das Unabänderliche hinzuweisen. Dutzende, Hunderte von Briefen, Telegrammen, Depeschen. Ungeöffnet hatten Ruth und ihre Leidensgenossinnen diese Schreiben dort hingelegt, ohne ihre Missbilligung kundzutun. Mit der Schreibmaschine getippte, im Behördenton verfasste Schreiben, die keine Worte der Zuneigung oder Anerkennung enthielten, nichts Persönliches. Schreiben, aus denen sich nichts vom bevorstehenden Grauen herauslesen ließ. Nur Daten, Termine, Floskeln, Anweisungen. Immer auf dem Kaminsims auf die Männer der Beaufort-Familie wartend. Und das ganze Leid der vorübergehend Alleingelassenen schon
enthaltend, die sich nun ausmalen konnten, was sich während der Abwesenheit ihrer Gatten irgendwo da draußen im Lande abspielte. Was ihre Männer anstellten, zu welchen entsetzlichen Taten sie fähig waren. Fähig sein mussten. Als sei es ihnen vorbestimmt. Und doch befürworteten die Frauen diesen Dienst und die Geschehnisse, hießen sie gut, stärkten ihren Männern den Rücken, indem sie sie ihr Einverständnis spüren ließen. Stumme Befehle waren diese Benachrichtigungen somit, Befehle, die einen Mechanismus in Gang setzten. Stumme Schreie, die tagelang in den Ohren der Ehefrauen gellten und das Blut ihrer Männer augenblicklich in Wallung brachten. Schreie, die an das Ehrgefühl dieser Männer und Frauen appellierten. Eindringlich, unbarmherzig, fatalistisch. Schreie wie dieser, der vorerst letzte in einer endlosen Reihe von Briefen. Anfang der vorangegangenen Woche war das gewesen. Rupert hatte, als er ihn bei seiner Heimkehr mitten in der Nacht auf dem Sims entdeckt hatte, den Umschlag mit dem Finger aufgerissen, das Papier entfaltet und die kurze Mitteilung in wenigen Sekunden überflogen. Wandsworth, so lautete die entscheidende Information, die altehrwürdige Londoner Korrektionsanstalt. Wieder einmal Wandsworth, wo er sich auskannte wie in seiner Westentasche. Das Gefängnis Ihrer Majestät im Südwesten der Hauptstadt, das vor Kurzem, als noch nicht die blutjunge Elisabeth Königin, sondern der stotternde George König gewesen war, His Majesty’s Prison geheißen hatte. Dort hatte er, wie er jetzt in Erfahrung brachte, als Chief Executioner einen Mann zu hängen, Mitte zwanzig, Italiener, klangvoller Name, künstlerischer Beruf, gutes Einkommen, keine Vorstrafen, Mord aus Leidenschaft. „Ich fahre natürlich“, hatte er Ruth mit falscher Munterkeit zugerufen, und die Blicke der Eheleute hatten sich für eine Sekunde gekreuzt. „Nächsten Samstag.“ „Das heißt dann ja wohl, ich muss die Rose ganz alleine schmeißen“, hatte seine Gattin bloß entgegnet. Was nicht klang, als wäre die Aussicht auf diesen anstrengenden Abend gleich das Ende der Welt für sie. Und dann achselzuckend, aber nicht ohne einen bitteren Unterton, hinzugefügt: „Es sei denn, sie begnadigen ihn wieder.“ Rupert hatte eine Grimasse gezogen und gleichzeitig einen dumpfen Schlag in
der Magengegend verspürt. „Bloß nicht“, hatte er entgegnet, vernehmlich geseufzt und sich darangemacht, seine engen Schuhe aufzuschnüren, um sich vom langen Stehen im Lokal Erleichterung zu verschaffen. Ruth hatte ihm dabei zugesehen. Wie damals, so überkam sie auch jetzt wieder, am Frühstückstisch, ein Gefühl der Zärtlichkeit. Nur zu genau wusste sie: Die Demütigung vom Vorjahr hatte er noch lange nicht verwunden.
Träumen, Wunschträumen anhängen und Fantasien durchspielen, das überließ er den anderen. Menschen, für die er seit Jahren den Helden spielte. Für die er der Rächer schlechthin war, einer, der für Wiedergutmachung sorgte. Von seinen glorreichen Taten ließ er schlichte Gemüter ruhig weiterträumen, die in ihm etwas Größeres, Bedeutenderes sahen, sehen wollten, dessen Glanz ein wenig auch auf sie abstrahlte. In erster Linie den Stammgästen in seiner Kneipe, die keinen Hehl aus ihrer Bewunderung für ihn machten. Und ihn wegen seiner biederen Manieren und Jovialität ungemein schätzten. Männer, die stolz darauf waren, jeden Abend nicht in irgendeinen, sondern in einen ganz besonderen Pub zu gehen, The Rose & Crown, einen Pub, wo eben er der Boss war, und sich bis zu einem halben Dutzend Pints zu genehmigen, einen Pub, dessen Pächter eine echte Berühmtheit war – die bloße Gegenwart des Pächters löste behaglichen Nervenkitzel bei ihnen aus. Allen voran Stuart, sein treuer Kumpel noch aus den Tagen, als beide als Lieferanten arbeiteten und schwer anpacken mussten, Stuart Nicholson, der am liebsten jede Einzelheit brühwarm von Rupert erzählt bekommen wollte. Wäre sein gefeierter Freund doch nur ein einziges Mal bereit, seine makabren Geheimnisse preiszugeben. Und dabei in puncto Horror noch mit Ausschmückungen und Übertreibungen ordentlich einen draufzulegen. „Spuck’s aus, Rupert“, flüsterte ihm Stuart, schon zu früher Stunde leicht beschwipst, mehr als einmal pro Abend vertraulich zu, wenn Rupert gerade wieder von einer Dienstreise zurück war, „wie war’s in Liverpool? Alles gut gelaufen? Oder hat der arme Hund dir etwa Scherereien bereitet?“ Rupert lächelte vielsagend zurück, krempelte die Ärmel hoch und machte sich, eine dicke Zigarre im Mundwinkel, hinter dem Tresen zu schaffen.
Stuart versorgte den „Publican“, den Gastwirt Rupert, sobald er sich eine Schürze umgebunden oder nach dem Geschirrtuch gegriffen hatte, auch mit Neuigkeiten, die er entweder in der Zeitung gelesen oder beim Schwatz auf der Straße aufgeschnappt hatte – von Verbrechen, Eifersuchtsdelikten und Raubüberfällen, die sich im Umkreis von Manchester, im fernen London, in Wales oder Schottland, manchmal gar ganz in der Nähe zugetragen hatten. „Das ist wohl wieder ein Kandidat für dich, alter Junge“, meinte er dann grinsend, „warten wir’s ab, ob die Geschworenen mitspielen.“ Nicht selten erwiesen sich Stuarts Prophezeiungen als durchaus zutreffend, und besagte Missetäter zählten dann tatsächlich zu jenen unglücklichen Sündern, an denen Rupert die verkündete Höchststrafe „Tod durch den Strang“ einige Wochen später vornahm. Stuart, von kriminalistischem Ehrgeiz beflügelt, träumte nach eigener Aussage oft davon, Rupert begleiten zu dürfen, hautnah dabei zu sein, dem Todgeweihten in die Augen zu blicken und ein zusätzliches Geständnis mit vielen pikanten Informationen zu entlocken, wenn es sich – wie zumeist – um eine Eifersuchtstat, um eine Kinderschändung oder einen Raubmord mit vorheriger Vergewaltigung, wenn es sich um „sex and crime“ handelte. Dann war da noch Burt, ebenso wissbegierig und detailversessen, der stundenlang auf dem verstimmten Klavier im Rose & Crown für beschwingte Hintergrundmusik sorgte, Burt Ivins mit vollem Namen, dem es größtes Vergnügen bereitete, mit flinken Fingern zu klimpern und einen Ragtime nach dem anderen zum Besten zu geben. Burt, der Rupert bei seinen beliebten Gesangseinlagen kurz vor der Sperrstunde mit unermüdlicher Begeisterung begleitete und dafür dann und wann von ihm ein Ale ausgegeben bekam – Burt war die Neugier selbst. Erpicht waren Burt und seinesgleichen auf Schauergeschichten. Auf blutrünstige Anekdoten. Hätten nur zu gern als Fliegen an der Wand beim Hängen zugeschaut, erschreckt gestarrt, wenn der Gehenkte nach Öffnen der Falltür in die Tiefe fuhr, oder, wer weiß, womöglich gern einmal selbst Hand angelegt. Rupert wusste nur zu gut: Dazu wären sie nie und nimmer in der Lage gewesen. Weder zum Verhüllen des gesenkten Kopfes mit einem weißen Tuch, das einer Kapuze glich, noch zum richtigen Anbringen der Schlinge. Zum Abnehmen des
leblosen Körpers vom Seil, den man weiter unten in Empfang zu nehmen hatte, zur andächtigen letzten halben Stunde also, ganz allein mit dem Kadaver des Missetäters, erst recht nicht. Sie hätten kalte Füße bekommen und sofort den Schwanz eingezogen, wenn sie an seiner Stelle gewesen wären. Maulhelden waren sie. Obwohl er beide, Stuart wie auch Burt, mochte und ihre Loyalität schätzte. Auch weil er wusste, dass er sich vor ihnen nie rechtfertigen musste – seine Berechtigung zum Hinrichten würden sie zuallerletzt infrage stellen. Darüber hinaus wusste er, wie sehr es ihnen imponierte, dass er sich nie mit seinen Leistungen und Opferzahlen brüstete. Es schmeichelte ihm insgeheim, dass Ivins und Nicholson ihm so ergeben waren, wenngleich er doch in all den Jahren kein Sterbenswörtchen durchsickern lassen, nicht einmal eine Andeutung gemacht hatte. Und dass sie, auch wenn sie diesbezüglich bislang noch nie auf ihre Kosten gekommen waren, allabendlich allein seinetwegen eigens aus Oldham und Hollinwood anreisten. Was bemerkenswert war und ganz schönen Aufwand erforderte. An der Qualität seiner Biere konnte es sicher nicht liegen. Die waren nichts Besonderes. Anständig und banal. Nein, seine Boys kamen wirklich gern. Sie mochten, ja liebten ihn, konnten keinen Abend ohne ihn zubringen. Es machte ihnen Spaß, sich als Ruperts Freunde auszugeben, Ruth, ohne es wirklich ernst zu meinen, schöne Augen zu machen und mit dem einen oder anderen jungen Mädchen, das gelegentlich in Begleitung vorbeikam, um im Stehen einen Port oder Sherry zu trinken, möglichst unbemerkt zu flirten. Ganz harmlos war das eigentlich alles. Hätte jemand Burt und Stuart interviewt, so hätten sie sich, ohne zu zögern, als seine besten Freunde bezeichnet. Aber so jemand wie Rupert Beaufort hatte, wie er nur zu gut wusste, keine Freunde. Nur Bekannte. Das war auch besser so. Das war ihm wichtig, und das schützte ihn. In die Karten schauen ließ er sich von niemandem, und wenn überhaupt, dann nur von Ruth. Und auch von ihr nur ein ganz klein wenig. Wenn sie ihm gar zu sehr auf die Pelle rückten mit ihrer Neugier, wenn Stuart ihn in die Zange nahm und Burt ihn erneut ausfragte, ja auszuquetschen versuchte, beugte Rupert sich über die Spüle, pfiff einen Gassenhauer, tat so, als sei er von einem anderen Gespräch im Raum abgelenkt, hielt ein abgetrocknetes Glas prüfend gegen das Licht oder beschäftigte sich so lange gedankenverloren
mit dem Zapfhahn, bis sie von ihm abließen. Irgendwann, meist erst zu später Stunde, wenn sie merkten, dass sie wieder nichts aus ihm herausbekommen würden, gaben sie Ruhe, fast zufrieden, dass der Publican nun doch nicht zum Schwätzer geworden war. Dann jedoch trat ihr berühmter Buddy in den Schankraum und war nicht länger zerstreut, wandte sich leutselig einem anderen Gast zu, spazierte von Tisch zu Tisch, ließ joviale, aber folgenlose Bemerkungen fallen und seinen angeborenen Charme spielen. Dass er so gut mit Menschen konnte, die ihm überhaupt nicht am Herzen lagen, die ihm sogar gleichgültig waren, dass er Warmherzigkeit versprühte und mit seinem unverbindlichen Small Talk eine gemütliche Atmosphäre herzustellen vermochte, war der Hauptgrund dafür, dass der Pub immer gut gefüllt war und die meisten Gäste nur sehr ungern von dannen zogen, wenn die Uhr elf geschlagen hatte. „Du hast sie wieder über den Tisch gezogen“, pflegte Ruth dann anerkennend zu ihm zu sagen, während sie das Geld zählte und er vor dem Ausfegen die Stühle auf die Tische wuchtete, „du bist einfach ein schlauer Fuchs.“ Rupert musste sich indessen gar nicht eigens um eine freundliche Taktik bemühen. Diesen Gelassenheitspanzer, diese Rüstung aus Friedfertigkeit und Liebenswürdigkeit hatte er sich schon vor einer halben Ewigkeit zugelegt. Dieser Selbstschutz funktionierte einwandfrei. Besonnenheit war seine große Stärke. Nie über den Durst trinken, nie ungefragt ins Erzählen geraten. Nie die Fassung verlieren. Einfach nur nett sein und gesellig. Zuhören. Nicken und von Zeit zu Zeit beipflichtende, triviale Bemerkungen anbringen. Für jeden ein freundliches Wort überhaben. Mit Leuten umzugehen, das lag ihm von jeher im Blut. Und wenn sie, bei seinen musikalischen Darbietungen buchstäblich an seinen Lippen hängend und ihn mucksmäuschenstill anstarrend, nach dem dritten Rausschmeißer, johlend und wie wild klatschend, noch eine weitere Zugabe verlangten, kam er erst richtig in Fahrt, drehte auf und gab seinem Affen Zucker. Ließ seinen sonoren Bariton ertönen und versorgte sie mit noch einem herzzerreißenden Matrosenliedchen, noch einer irischen Volksweise, noch einer schottischen Ballade, noch einer anzüglichen Moritat, noch einem inbrünstig vorgetragenen Love Song. Dann tat er ihnen eben den Gefallen. Sein Repertoire – frivole Gassenhauer,
Folklieder, bluesige Nummern – war ja unerschöpflich. Sie jubelten. Sie himmelten ihn an. Beaufort, der war einfach einmalig. Ein Pfundskerl. Ein Held noch dazu. Ein Glücksfall. Wir sind so froh, dass wir ihn kennen. Einer von uns. So hörte er sie raunen und schwärmen. So manches Männerauge wurde feucht, wenn er seine Stammgäste zum Abschied kurz umarmte und sie damit für den Bruchteil einer Sekunde zu Privilegierten machte. Nie zu lange, stets ohne sentimentale Anwandlung. Rupert beherrschte die Kunst der richtigen Dosierung von Distanz und Zutraulichkeit. Verfügte – nicht nur beim Hängen – über ein unnachahmliches Timing. Und er wusste, morgen würden sie gleich nach Lokalöffnung wieder zur Stelle sein. Todsicher um Einlass bitten. Zu ihm aufschauen und um seine Gunst buhlen. Das war eine Genugtuung für ihn. Danach konnte er die Uhr stellen. Es war auch eine Handvoll Frauen unter seinen Fans, die Rupert vor jeder Hinrichtung anfeuerten wie bei einem Boxkampf. Die ihm schamlose Blicke zuwarfen und ihn anstachelten, die ihm: „Gib’s dem Halunken!“, oder, ärger noch: „Bring’ den Schweinehund zur Strecke!“, zuriefen, bevor er sich anderntags auf die Reise machte. Das war ihm immer ein wenig unbehaglich und manchmal richtig zuwider. Er kam sich dann vor wie ein großer halb nackter Bulle, der, von Tausenden Augenpaaren angeglotzt, in den Ring steigt. Wie ein hirnloses Kraftpaket, das sich zum wild gewordenen Affen macht, indem es sich grölend an die Brust schlägt und seinem Gegner einen brutalen, gezielten Faustschlag vert. Bis der Getroffene k.o. geht und am Boden liegt. Um dann, noch voller Verachtung, nachzutreten.
Rupert hasste es, wenn sich Außenstehende an seiner Pflichterfüllung aufgeilten und unverhohlen ihren Rachedurst bekundeten. Denn was er in Pentonville oder in Strangeways, in Wandsworth, in Shepton Mallet oder in Mountjoy mit seinen Verurteilten anstellte, die ihm im Laufe der Jahre immer mehr wie Schutzbefohlene erschienen waren, hatte freilich mit Brutalität und Fertigmachen, mit Plattwalzen und Auslöschen rein gar nichts zu tun. Er war kein öffentlicher Auspeitscher, er betätigte keine Guillotine, er schlug niemanden zu Brei. Er nutzte die Position der Überlegenheit, die Amt und Gesetz ihm zuschrieben, nie aus, um zu demütigen oder zu vernichten. Er war stark, ohne muskulös zu sein. Mit einer unkontrollierbaren Bestie, der man einen Schwächling zum Fraß vorwarf, hatte er nichts gemein. Und schon gar nicht mit einer Tötungsmaschine. Diese armen Menschen, die ihm in ihren letzten Lebensminuten unter die Augen traten, weil sie der Gemeinschaft der Unbescholtenen nicht länger unter die Augen treten durften und für ihre Untaten büßen mussten, waren alles andere als wehrlose Gegner. Rupert hatte vor den zu Hängenden den allergrößten Respekt. Ihm war bewusst, dass sie die Konsequenzen ihrer Straftaten, nach wochenlanger Grübelei in den Zellen und in der Einsamkeit der Kerker, längst akzeptiert hatten, und er wusste um ihr Einverständnis. Er war zutiefst davon überzeugt, dass jede und jeder von ihnen am Todesmorgen mit ihrem oder seinem Ende einverstanden war. Und dass sich die meisten von ihnen glücklich schätzten, dass gerade er zu ihnen gekommen war, damit dieser Abschluss möglichst rasch herbeigeführt werden konnte. Höflich war, mit wenigen Ausnahmen, ihr Betragen. Gefasst waren sie, nur wenige wehrten sich, und die Ruhigsten unter ihnen atmeten hörbar auf, wenn sie merkten, dass Rupert auch ihnen mit Zuvorkommenheit begegnete. Seine Verurteilten. Sie gehörten ihm ja, an diesem letzten Tag ihres Lebens. Ihm allein. In ihrer Todesstunde, kaum mehr als ein Stündchen, das dann auf nur wenige Minuten, Sekunden eigentlich, zusammenschrumpfte, gehörten sie ihm ganz und gar. Er hatte gelernt, sie zu studieren und ihre Demut zu deuten. Er las in ihren Augen, spürte, wie zartbesaitet sie eigentlich waren, erkannte die Verwundbarkeit, die Verletzungen, die tiefen Wunden ihres Vorlebens; von ihren
eigentlichen Straftaten erfuhr er in diesem Moment nichts und wollte auch, zumal wenn er die Hinrichtung hinter sich gebracht hatte, so wenig wie möglich davon wissen. All dies hätte er seinen Gästen im Pub am liebsten einmal in Ruhe auseinandergesetzt. Allerdings ließen sie ihn nie zu Worte kommen, ihnen stand der Sinn nach anderen Informationen. Oder nach Liedern. Möglichst zweideutigen oder obszönen. Diesen sich in Ekstase steigernden, nach Blut und Gewalt förmlich lechzenden Frauen in seinem Lokal, allesamt ehrbare Ehefrauen noch dazu, die sich unter dem amüsierten Blick ihrer Männer gerne einmal ein wenig gehen ließen, hätte Rupert gern erklärt, dass er überhaupt kein Mörder war. Beteuert hätte er es. Auch, dass er sich nicht mit einem Serial Killer, wie ihm immer wieder zu Ohren gekommen war, vergleichen ließ. Bei solchen Szenen hätte er Stuart am liebsten untersagt, was der seit Monaten am liebsten tat: von Ruperts neuestem Auftrag überall im Ort und selbst in Manchester ungeniert herumzuerzählen. Es half nichts: Die Sensationsgier seines Kumpels war stärker. Kaum hatte Rupert das nächste offizielle Schreiben von der Gefängniskommission erhalten und, an den Kaminsims gelehnt, aufmerksam studiert, kaum das genaue Datum der Exekution in Erfahrung gebracht und den Ablauf seines Wochenendes fern von zu Hause geplant, wusste Nicholson aus mysteriösen Gründen genauestens Bescheid, verbreitete Gerüchte, applaudierte Rupert, wenn er die Kneipe betrat, grinste vielsagend, wies mit dem Daumen auf ihn und ließ ihn hochleben – dabei hätten Ruth und ihr Mann die Hand dafür ins Feuer legen können, niemandem davon berichtet zu haben.
The Rose & Crown war Ruperts und Ruths zweiter Pub und der erste mit einem ansprechenden Namen, der erste auch auf dem Land. Den ersten, weitaus kleineren, im Randbezirk der Großstadt, hatten sie kurz nach ihrer Eheschließung gepachtet, was mitten im Krieg und ohne nennenswerte Ersparnisse ein mutiger, fast leichtfertiger Schritt gewesen war. Rupert, damals an die vierzig, hatte aber schon seit Langem Aufstiegschancen gewittert und nur auf die ende Gelegenheit gewartet, sie auch wahrzunehmen. Eine niedere Existenz als Auslieferungsfahrer eines
Gemüsegroßhändlers führen zu müssen, davon hatte er die Nase voll gehabt. Für einen wie ihn musste und würde sich irgendwo eine Tür öffnen, das war weniger eine Hoffnung als eine Tatsache, von der er schon als Heranwachsender überzeugt gewesen war. Als Rupert die Anzeige entdeckte, in der nach einem neuen Pächter gesucht wurde, fackelte er daher nicht lange und griff zu. Seine Frau war, wie erwartet, einverstanden. Gemeinsam arbeiteten sie auf ihr neues Ziel hin, verschrieben sich einer Idee. So töricht sie auch sein mochte. Taten alles, um sie Wirklichkeit werden zu lassen. Sich Gastwirt nennen zu können, das war doch etwas ganz anderes. Und sein eigener Herr zu sein, das war auch nicht zu verachten. Bei allem Risiko. Binnen Kurzem, so hatte Rupert mit reichlich Wunschdenken angenommen, würde er zur Respektsperson werden, würde die Kasse klingeln. Als patenter, gutmütiger Wirt im Hintergrund. Anfängerglück und der nötige Elan zahlten sich für ihn und die gar nicht so schüchterne Ruth, die sich wahrlich lange genug an der Theke eines Krämerladens die Beine in den Bauch gestanden hatte und gleichfalls nach Höherem strebte, denn auch aus. Weg mit den Brotberufen! Ihr Elan sollte ihnen Recht geben. Der seit Menschengedenken gut eingeführte Laden, im Zentrum von Hollinwood, für Kneipengänger aus Oldham und trinkfeste Zecher aus Manchester spielend erreichbar, florierte. Und das in den schlimmen Jahren 1943/44! Das Wirtsehepaar besaß offenbar ein Händchen für das neue Metier. Dass ihr junges Glück bislang kinderlos geblieben war – was sich auch in den Nachkriegsjahren nicht mehr ändern sollte –, begünstigte den Neustart: Beide Beauforts konnten sich der Arbeit im Pub ohne Einschränkungen, Säuglingsbetreuung oder umständliche Aufgabenteilung zwischen Lokal und Kneipe widmen. Sie hatten die Wohnung gleich über dem Pub bezogen, was praktisch war und sie Berufs- und Privatleben auf ideale Weise verbinden ließ. Dass der traditionsreiche Laden nun ausgerechnet Help the Poor Struggler heißen musste, irritierte das junge Ehepaar anfangs doch sehr. Struggler, da dachte man ja unwillkürlich an einen um sein Leben Kämpfenden, einen, der verzweifelt mit den Beinen strampelt, dessen Füße herabbaumeln und der
vergebens nach einem Halt sucht. An einen, der dringend Hilfe braucht, um nicht den Boden unter den Füßen zu verlieren und im Sumpf unterzugehen. Struggler, das klang nach Agonie und erfolglosem Bemühen. Zu einem Henker te der Name dagegen wie die Faust aufs Auge. Trug aufgrund seiner Deutlichkeit dazu bei, dass man sich ordentlich gruselte, provozierte er doch böse Assoziationen und wahre Horrorvorstellungen. Ein schlechter Witz. Ein Bonmot mit üblem Beigeschmack. Weil er, wenn man vom Nebenerwerb des tüchtigen Beauforts erst einmal wusste, natürlich eine echte Geschmacklosigkeit war. Eine Zeit lang meinte Ruth, es sei womöglich besser, das Schild abzuhängen und eine Namensänderung vorzunehmen, bevor es zu spät sein könnte. Aber die Leute im Viertel hingen längst an dem alten, seit Jahrzehnten etablierten Namen, der auch über Manchester hinaus einen guten Klang zu haben schien. Es blieb also dabei. Dass den „poor strugglers“ am Galgen aber niemand mehr zu Hilfe kam, dass diesen Armen auf Erden nicht mehr zu helfen war, wusste im Übrigen nur der Galgenmann allein. Das war Ruperts vielleicht größtes Geheimnis. Doch wasserdicht war sein Alibi anscheinend nicht: Alle paar Wochen kritzelte jemand, der den Beauforts auf die Schliche gekommen war und von Ruperts dunklem Geschäft wusste, jemand, der es nicht so gut mit ihnen meinte oder sich einfach auf ihren Kosten einen unenden Scherz erlauben wollte, mit Kreide ein Galgenmännchen an die Eingangstür des Pubs. Für jedermann sichtbar. Augenscheinlich ein Eingeweihter! Wer ihm wohl diese Informationen zugespielt hatte – sie hatten keinen Schimmer. Und einen Könner hatten sie obendrein vor sich, denn die Zeichnungen waren so explizit wie gelungen. Was dem Publican und seiner Frau jedes Mal einen gehörigen Schrecken einjagte. Ruth beeilte sich, das Graffito rasch wieder abzuwischen. Keiner von beiden wusste, wie lange dies barbarische Spielchen noch weitergehen mochte. In den ersten Monaten nach der Eröffnung des Struggler war gottlob alles gut gegangen, niemand hatte zunächst den Doppelsinn des Lokalnamens auch nur erahnen können. Doch dann, nach Kriegsende, kam die zermürbende, aufreibende Phase auf die Beauforts zu, eine wahre Bewährungsprobe, als Rupert für die Hängung von zahllosen deutschen Kriegsverbrechern nahezu ununterbrochen nach Deutschland geflogen wurde, in geheimer Mission. Nur dass es mit diesem Geheimnis nicht weither war … Ein Auftrag, der von „ganz oben“ kam und eine große Ehre für ihn darstellte. Man brachte ihn in die
britische Besatzungszone, um dort, im bislang unbedeutenden Gefängnis einer kleinen niedersächsischen Stadt, von der britischen Militärjustiz angeordnete Todesurteile im Akkord zu vollstrecken. Nicht selten damals tötete er ein Dutzend Menschen oder mehr an einem Tag oder an einem Wochenende. Hinrichtungen am Fließband, auch für ihn ein Novum. Und eine Herausforderung, die er wiederum meisterte. Wenn es ihm, zum ersten Mal, auch schwerfiel. Woche um Woche, Monat um Monat. Seinem Gewissen zusetzte und seine Seelenruhe auf die Probe stellte. Da war es, sobald die Presse Wind vom Beginn der Aktion bekam und von der Identität des heldenhaften Executioner erfuhr, aus und vorbei mit der bewährten Diskretion und der früheren Geheimniskrämerei. Von einem Tag auf den anderen war der Name Beaufort in aller Munde, und die Menschen kamen in Scharen nach Hollinwood, um ihn anzustarren, zu bewundern und zu feiern. Damit war sein Schicksal als Volksheld unwiderruflich besiegelt, und über Nacht war er zu einer Berühmtheit geworden. Zu einem tollen Hecht, der es den verhassten Deutschen endlich einmal zeigte. In Hameln. Hamelin, wie seine Landsleute sagten. Der mit Judenmördern abrechnete und der Unmenschen wie verachtenswerten Schindern den Garaus bereitete. Der die Schlächter unter den Nazis, die lange genug ungestraft ihr Unwesen treiben durften, kurzerhand ins Massengrab beförderte. Der den Sieg der freien Welt mit seinem Tun eindrucksvoll untermauerte. Wenn es nach Rupert gegangen wäre, hätte sein Leben lang nie jemand von seinem Zweitberuf erfahren. Auch jetzt noch nicht. Nur allzu gern hätte er die Uhr wieder zurückgedreht und die deutsche Episode ungeschehen gemacht, um seine Anonymität bis zum letzten Atemzug zu bewahren und zu schützen. Es widerstrebte ihm, seine Leidenschaft an die große Glocke zu hängen. Alles, was mit Galgen und Todesstrafe, mit Vollstrecken und Hinrichten zu tun hatte, wollte er um jeden Preis für sich behalten. Er hätte demnach auch weiterhin eine richtige Dr.-Jekyll-and-Mr.-Hyde-Existenz führen können, so perfekt und undurchsichtig wie möglich. Wenn ihm die Tötungsserien im fernen Hameln nur nicht dazwischengefunkt hätten, wo er es zum ersten Mal nicht mit Liebenden, Verzweifelten, Dieben oder Psychopathen zu tun bekommen hatte, sondern mit Funktionsträgern eines Unrechtsstaates, die mordeten, weil ein verbrecherisches System es ihnen
befohlen hatte. Mit Bürokraten des Grauens, genau genommen. Deshalb hatte er sich zum ersten Mal auch die Frage stellen müssen, ob er da in Wahrheit nicht seinesgleichen unbekümmert in den Tod schickte. Menschen, die wie er Vorschriften gefolgt waren und Befehle ausgeführt hatten, die an ihren Auftrag geglaubt hatten und nun, wohl oder übel, einsehen mussten, dass eine andere, tolerantere Rechtsprechung ihr Handeln im Nachhinein als unrechtmäßig einstufte und sie verdammte. Ja, zum ersten Mal war Rupert mit grundsätzlichen und sehr unangenehmen Fragen konfrontiert worden, die an sein Inneres rührten, die sein Selbstverständnis ins Wanken bringen konnten, die ihn massiv bedrohten. Rupert hatte nicht lange überlegt, war nur für einige Minuten in sich gegangen und hatte sich in einer Art innerem Kreuzverhör selbst befragt. Zweifel hatte er erst gar nicht an sich herangelassen, nach jedem Hamelner Wochenende eine tiefe Mütze Schlaf genommen und eventuelle Gemeinsamkeiten zwischen ihm und den deutschen KZ-Schergen empört verneint. Welten trennten ihn von ihnen, und, wie unübersehbar war, standen die Schergen auf der falschen Seite der Geschichte. Hatten sich ihr Los selbst zuzuschreiben, während er, momentan, sich aus freien Stücken in den Dienst der Alliierten stellte. Nach allen Regeln der Kunst hatte er mit ihnen, die in Schnellverfahren, von deren Verlauf er keine Kenntnis hatte, abgeurteilt worden waren, kurzen Prozess gemacht. Burt und Stuart meinten: hochverdient. Rupert müsse ein Orden verliehen werden für seine Verdienste ums Vaterland, um die Freiheit und die westliche Demokratie. Eine Auszeichnung für ihn müsse dringend her, mit einer großen Freudenfeier, mit Feuerwerk, Marschmusik und offiziellen Reden. Und auch Ruth ließ ihn spüren, dass er seine Sache diesmal besonders gut gemacht hatte. Triumphgefühle ließ, wie Rupert wusste, das britische Justizwesen gar nicht erst aufkommen, erst recht nicht im Zusammenhang mit den heiklen Kriegsverbrecherprozessen, wo auch nicht unbedingt alles nach Wunsch oder mit der gebotenen Fairness abgelaufen war – schnell, rasend schnell hatte es gehen müssen, die Rechtsprechung hatte auf wackligen Füßen gestanden, die Bürger der Siegermächte waren von verständlichen Emotionen wie Vergeltung, von niederen Gefühlen wie Heimzahlen und Aufrechnen keinesfalls frei gewesen. Vor weiteren Anwürfen, die nur er selbst an sich richten konnte, musste er fortan auf der Hut sein und aufen, nur ja nicht auf einmal dünnhäutig zu werden. Oder angreifbar. Nun war sein Name regelmäßig in den
Zeitungen des Landes zu lesen und sein Konterfei auf so mancher Titelseite abgebildet gewesen, und an diesem misslichen Umstand hatte sich auch in der jüngsten Vergangenheit nichts mehr ändern lassen können. Rupert musste mit seiner Berühmtheit weiterleben, ob er wollte oder nicht. In den Folgejahren machte er seinen Frieden mit diesem neuen Status. Übte Nachsicht mit seinen Anhängern. Ließ es zu, dass die Würdigung seines Tuns so manches Mal überhandnahm. Ließ sich dazu hinreißen, ganz selten nur kam das vor, die „Beaufort!“-Rufe zu genießen, die ihn an Samstagabenden entgegenschallten. Nur für Stuart und Burt war er einfach Rupert. Und für Ruth, na klar. Sonst durfte sich niemand eine solche Vertraulichkeit herausnehmen. Für den Struggler, begehrt wie nie zuvor, zahlte sich seine Reputation auf alle Fälle aus – die Gäste standen Schlange, wollten dem bunten Hund Beaufort die Hand schütteln und ihre Komplimente loswerden. Bald gehörte es zum guten Ton in Manchester und Umgebung, hier nach Arbeitsschluss vorbeizuschauen, sich ein paar Gläschen zu genehmigen und gesehen zu werden. Es wurde Kult, im Struggler für eine große Anzahl Freunde oder Kollegen eine Runde zu schmeißen. Selbst mit einem Champagnervorrat musste sich Rupert eindecken – ein edles Gesöff, das früher nie jemand bestellt hatte. Nach ein paar Monaten konnten Ruth und er sich sogar eine Bedienung leisten und zusätzlich einen jungen Mann, der an den Wochenenden spülte und den Laden sauber hielt. Der Pub hatte sich als Goldgrube erwiesen. Einige Jahre später zogen die Beauforts aufs Land und wurden Pächter einer viel größeren Kneipe. Hier war der Rummel erträglicher, auch wenn die hartnäckigen Fans aus Hollinwood, treu wie sie waren, ihnen nachreisten und Wochenende für Wochenende die Bude einrannten. Auf sie war Verlass. Was Rupert rührte. Ganz ohne Sensationstouristen, die sich gemeinsam mit ihm ablichten lassen wollten, wobei sie mit albernen Gesten sich die Hand an die Kehle legten oder den Kopf hängen ließen und die Zunge herausstreckten, um eine Hinrichtung nachzuahmen, ganz ohne die Horrorfans ging es auch in Much Hoole nicht ab. Egal, da musste Rupert durch. Machte gute Miene zum bösen Spiel. Blickte mit gespielter Verzweiflung in die Kamera. Ein kleines Häuschen war nun auch drin für ihn und seine emsige Frau. In dem sie es sich bequem machten. Much Hoole
war nicht der Nabel der Welt, Preston, etwas weiter nördlich, auch nicht, aber auf den Stress der Großstadt und auf das hektische Vorstadttreiben konnten die beiden, unterdessen im mittleren Alter angelangt, gut verzichten. Wohlhabender als seine Familie in Clayton, wo er geboren, und in Huddersfield und Failsworth, wo er aufgewachsen war, waren Ruth und er mittlerweile allemal. Und auch ein ganzes Stück glücklicher, wie ihm schien. Rupert störte es nicht, dass er nach Schließung des Lokals, eine Viertelmeile von ihrem Cottage entfernt, allnächtlich noch einen kleinen Bummel absolvieren musste, bevor er endlich alle viere von sich strecken und sich ausruhen konnte. Dieser kurze Spaziergang, auch an kalten, sternenklaren Winterabenden, zwischen verrauchter Bude und trautem Heim tat ihm gut, half ihm, seine Gedanken zu ordnen. Schuf Abstand zwischen dem Geplänkel im Pub und der ersehnten Nachtruhe, Seite an Seite mit Ruth. Aus den armen Kämpfern, aus dem Lieferanten und der Hilfskrämerin war ein zufriedenes Ehepaar geworden, das sich seinen Wohlstand hart erarbeitet hatte. Ziemlich weit hatten sie, der ehemalige Fahrer und die ehemalige Verkäuferin, es gebracht. Eine ansehnliche Laufbahn absolviert. Nicht dass sie über die Stränge schlugen. Eine Woche Brighton oder ein paar Tage Blackpool pro Jahr, ein Wochenendausflug nach Birmingham, ein Kurztrip zur Hadrian’s Wall lagen im Bereich des Möglichen. Wenn ihnen Pub und Henkergeschäft überhaupt Zeit dafür ließen. Sie waren es zufrieden – denn mit den Hinrichtungen allein wurde man weiß Gott nicht reich. Henker waren keine Beamte, ein Grundgehalt gab es nicht, und bezahlt wurde, neben Spesen, allein die erfolgte Hinrichtung: als Einzelleistung. Nicht mehr als ein Zubrot sprang dabei heraus. Eine Aufwandsentschädigung, wenn man so wollte. Eine Besoldung war auch für die besten unter den Scharfrichtern nicht vorgesehen. Es war und blieb ein Handwerk ohne goldenen Boden. Nur in den Nachkriegsjahren hatten die Massenexekutionen Rupert kurzzeitig die Taschen gefüllt; danach kehrte, mit im Schnitt nicht mehr als zehn Hängungen pro Jahr, wieder der Normalzustand ein. Die schon früher mal in liberalen Kreisen aufgeflammte und jetzt quer durch alle Bevölkerungsschichten immer hitziger geführte Debatte um Sinn und Abschaffung der Todesstrafe hatte in jüngster Zeit
die Zahl der Hinrichtungen noch weiter gedrückt – eine beängstigende Entwicklung, zumindest für die Beauforts. Schlimmer noch: Wurde im letzten Moment einem Gnadengesuch stattgegeben, was meist auf Druck der Öffentlichkeit gestellt wurde, ging der Executioner völlig leer aus, obwohl er sich schon eigens für den Vollzug der Strafe in eine andere Stadt begeben hatte – und obwohl er absolut nichts für diesen Sinneswandel der öffentlichen Meinung und der zuständigen Gerichtsbarkeit konnte. In diesem Fall waren zwei ganze Tage futsch, und es wurden nur Auslagen zurückerstattet, so wie erst neulich wieder, im zurückliegenden Monat Mai. Als er aus Pentonville unverrichteter Dinge und mit leeren Taschen zurückreisen musste. Minuten nur bevor er die Todeszelle betreten hätte, hatte ihn ein Angestellter der Staatsanwaltschaft kurz und bündig darüber unterrichtet, dass man dem Antrag auf Begnadigung gefolgt sei und die ursprüngliche Todes- in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt habe. Kein Tod: kein Lohn. Dann hatte im Pub für fast achtundvierzig Stunden eine Arbeitskraft weniger zur Verfügung gestanden, ohne dass ein finanzieller Ausgleich dafür geschaffen werden konnte, und die ausgefallenen Einnahmen im Rose & Crown standen in keinem Verhältnis zum Almosen, das Rupert für eine ausgefallene Hängung zugestanden wurde. Nicht einmal ein Wort des Dankes oder des Bedauerns hatten die hohen Herren für ihn gefunden. Beim bloßen Gedanken an diese Schmach kochte gleich wieder die Wut in ihm hoch. Gleich nach seiner Rückkehr nach Much Hoole hatte er, enttäuscht und frustriert, an die Kommission geschrieben und sich in seiner Beschwerde, Bezug nehmend auf den Vorfall in Pentonville, bitter beklagt. Höflich und zuvorkommend, aber auch selbstbewusst und bestimmt. Sein erster Brief überhaupt nach seinem erfolgreichen Bewerbungsschreiben, das er damals noch als junger Mann an die Behörden gerichtet hatte. An seine jahrelange Treue und guten Dienste hatte Rupert erinnert, darauf gepocht, gefälligst respektvoll behandelt zu werden, darauf hingewiesen, wie sehr sich in letzter Zeit – zu seiner und ihrer Bestürzung – die Gnadengesuche gehäuft hätten, und sodann die volle Bezahlung eingeklagt. Ohne Abstriche. Woraufhin sich eine längere, ziemlich unerfreuliche Korrespondenz entspann, in deren Folge er zwar nicht seinen Forderungen entsprechend entlohnt wurde, man ihm jedoch wenigstens mehr als nur die ursprünglich ausgezahlten, vom Gesetz vorgesehenen Spesen zukommen ließ. Das Vierfache des von Pentonville
angebotenen Satzes bekam er nun, gewiss, aber noch immer nicht einmal ein Drittel seiner üblichen Bezahlung. Ein fauler Kompromiss. Ruperts Unzufriedenheit war mit diesem Zugeständnis nicht verflogen. Und er war sich fast sicher, in Zukunft nie wieder etwas aus London oder Manchester zu hören, zur Strafe womöglich sogar von der berüchtigten „Liste“ gestrichen zu werden, der Liste einsetzbarer Vollzugspersonen, die aus Assistenten und Chief Excutioners bestand und die er jahrelang unangefochten angeführt hatte. Mit seinem klangvollen, ungewöhnlichen Namen. Einem Namen, mit dem man sofort eine ganze Dynastie von Henkern verband, einem Namen, der einer Qualitätsmarke gleichkam. Zu groß war wohl die Unverschämtheit gewesen, die er in den Augen der Königlichen Kommission begangen hatte, zu weit hatte er sich vorgewagt. Und es sich vielleicht für immer verscherzt. Als dann jedoch letzte Woche ein erneuter Befehl auf dem Kaminsims bereitlag, einschließlich der Aufforderung, sich heute in Wandsworth einzufinden und wie gehabt nach bestem Wissen und Gewissen ein Todesurteil zu vollstrecken, tat man auf beiden Seiten scheinbar so, als wäre nichts vorgefallen. Überging den peinlichen Zwischenfall. Das wollte etwas heißen. Sie wissen schon, was sie an mir haben, hatte Rupert im Stillen frohlockt, ohne dabei den Mund aufzumachen, als er das zerknitterte Blatt Papier in seine Jackentasche stopfte und Ruth einen wissenden Blick zuwarf. Gut gemacht, schien sie ihm zu erwidern, auf meine Unterstützung kannst du rechnen. Als er dann am Folgetag den Pub aufschloss, stand Ivins schon lauernd vor der Eingangstür. Platzte fast vor Stolz, wusste Bescheid, fühlte sich als Komplize. Und Ivins, indem er Rupert jetzt erst recht für einen Awählten hielt und sich selbst für Beauforts engsten Kameraden, Ivins strahlte über beide Backen.
Träumte Ruth? Das hatte Rupert sich schon oft insgeheim gefragt, sie aber nie ausdrücklich zu fragen gewagt. Wie stand es um sie? Bereiteten ihr seine Aufträge oder sein Ruf als kaltblütiger, emotionsloser Vollstrecker eigentlich regelmäßig Albträume oder zumindest ab und zu schlaflose Nächte? Setzten diese Vorgänge ihr, der exklusiv Eingeweihten, zu, versetzten sie sie gar in Panik?
Falls ja, hatte sie sich nie etwas anmerken lassen und auch nichts erwähnt. Und wenn Rupert nachts selbst einmal wach lag, hatte er sie betrachtet, wie sie, tief in die Kissen eingesunken, friedlich ruhte, und minutenlang ihre regelmäßigen, tiefen Atemzüge studiert. Keinerlei Anzeichen von Unruhe, Besorgnis oder echter Furcht. Nichts als tiefe Entspanntheit. Zu seiner großen Erleichterung. War sie jemals schweißgebadet vor dem Morgengrauen aufgewacht oder hatte sich, von Angstzuständen geplagt, an ihn geklammert? Hatte sie ihn jemals darum gebeten, sie zu beschützen? Rupert konnte sich nicht daran erinnern. Wann immer sie sich an ihn schmiegte, schnurrend wie ein Kätzchen, dann stets, um ihre Bereitschaft zum Beischlaf zu signalisieren. Um auf ihre Begierde hinzuweisen, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Was selten genug der Fall war. Wovon träumte Ruth, was ging in ihr vor? Das fragte er sich auch heute wieder, als er sich den Mund mit der Serviette abtupfte, vom Tisch aufstand, die Hände wusch und seine Schritte in Richtung Haustür lenkte. Es war kurz vor elf. Sie brachte ihn nach draußen, um ihn zu verabschieden und ihm viel Glück zu wünschen. Sagen musste sie das nicht eigens. Aber Rupert konnte ihre Worte dennoch hören. Die Intensität, mit der sie ihn anschaute, unverwandt und fast flehend, ihre fließenden Bewegungen beim Abräumen, die alle nur auf ihn gerichtet zu sein schienen, die Art, wie sie ihm ein flüchtiges Küsschen auf die Wange drückte, als beide den Gartenzaun erreicht hatten, verrieten ihm, dass er sich für immer und ewig ihrer Unterstützung gewiss sein konnte. Mit jeder Faser ihres Herzens liebte sie den Wirt und den Mann in ihm, und sie konnte auch mit dem Henker in ihm leben. Dessen war er sich immer sicher gewesen, heute indessen mehr denn je. Wohl auch, weil er ihre Zuversicht heute mehr denn je benötigte. Es war offenbar doch ein ganz besonderer Tag. Er nahm sie in den Arm, nicht länger als nötig, denn die Nachbarn schauten zu und würden sofort registrieren, dass er heute wieder einmal früher als sonst das Haus verließ und an der Straßenecke auf den Überlandbus nach Preston wartete, anstatt wie sonst am Nachmittag mit dem Wagen Besorgungen zu machen und seine Einkäufe dann zum Pub zu fahren. Plötzlich sagte Ruth doch etwas. „Man sollte meinen“, bemerkte sie und ließ ihn ihre Körperwärme spüren, „deine Euphorie habe sich in den Jahren ein wenig verflüchtigt. Und doch freust du dich heute wieder wie ein kleiner Junge, nicht wahr?“ Zuweilen hatte sie diese etwas merkwürdige Gewohnheit, sich hochtrabend auszudrücken und ihre Worte sorgsam zu wählen. Sie behauptete oft, eine literarische Ader zu besitzen. Und
überhaupt für alles Musische empfänglich zu sein. Wer konnte schon mit Sicherheit sagen, ob das wirklich zutraf? Rupert stimmte ihr zu. Sie hatte nicht unrecht: Er konnte es in der Tat kaum noch abwarten, auf Reisen zu gehen. Und seine Pflicht zu tun. Die Lust am Hängen, die Lust am Strafvollzug war wieder zu ihm zurückgekehrt. Schon beim Aufstehen hatten sich elementare Bedürfnisse bei ihm zurückgemeldet. Gleichzeitig fiel ihm unwillkürlich auf, nicht zum ersten Mal, dass Ruth neuerdings wieder zur Üppigkeit neigte. Während Rupert, wie sie spöttisch und mit weit weniger anspruchsvollen sprachlichen Wendungen befand, wenn sie abends im Bad nebeneinander standen, seltsamerweise aus nichts als Haut und Knochen zu bestehen schien. „Mein hagerer Hund“, gurrte sie, lachte schelmisch auf, und Rupert feixte. Dürr, das stimmte, dürr war er schon. Schlaksig und mager, so wie sein Daddy und dessen Bruder. Und das, obwohl er sich ohne Zurückhaltung über jeden Sunday Roast hermachte, den sie auftischte, und sich auch bei den leckeren, kalorienreichen Scones, die zur Tea Time gereicht wurden, gütlich tat. Rupert war es recht so. Dass Ruth diese herrlichen Rundungen besaß, gefiel ihm ungemein, und dass er zur Belohnung verdrücken konnte, was er wollte, ohne jemals auf sein Gewicht achten zu müssen, mindestens ebenso. „Gute Reise, my love“, hauchte Ruth ihm ins Ohr, löste sich aus seiner Umarmung und wandte sich auf dem Absatz um. Rupert rief ihr ein „See you tomorrow!“ hinterher, wartete, bis er die Haustür hinter ihr ins Schloss fallen hörte, drehte sich nicht noch einmal um und spazierte die kaum belebte Hauptstraße des Dorfes entlang gemächlich auf die Haltestelle zu. Schon sah er den Bus von Südwesten herannahen, er war pünktlich. In zwanzig Minuten würde Rupert in Preston sein, dann mit dem Vorortzug nach Manchester weiterfahren und um vierzehn Uhr mit dem Wochenend-Express von der London Road Station in die Hauptstadt reisen. Zweiter Klasse, das war an einem Freitagnachmittag am unauffälligsten. Und mit leichtem Gepäck – Beaufort führte nur eine Aktentasche mit sich, in der sich Füller und Papier, die Wochenendzeitung, ein Regenschirm, Waschzeug und frische Wäsche befanden. Sowie ein weißes Tuch, das er seinem Delinquenten morgen früh wie eine Kapuze über den Kopf ziehen würde.
Ein Gnadenakt, den er stets gern erwies. Einer von vielen. Eine letzte Geste der Schicklichkeit. Alles würde wie immer sein.
Tagträume gestattete er sich durchaus. Besonders während der langen, schier endlosen Zugfahrten quer durch das Vereinigte Königreich. Mit leerem Blick starrte er aus den verschmutzten Fenstern in die vorbeiziehende Landschaft aus Grün- und Brauntönen und die sich wie in Zeitlupe entfaltenden Städte und Industrieanlagen, nahm die heruntergekommenen Provinzbahnhöfe und die traurig in den Junihimmel ragenden Fabrikschlote nicht wirklich wahr, auch die wartenden und rauchenden agiere auf den Bahnsteigen nicht, ignorierte zuund aussteigende Mitreisende, klappte die Lider herunter, registrierte nichts Bestimmtes um sich herum. Kurz, er verbrachte die Fahrtzeit wie in Trance. Blendete alles aus, lästige Gespräche, unbeholfene Anbandelungsversuche unter Teenagern, das öde Geschnatter aufgeregter Hausfrauen, die zum Shopping nach London unterwegs waren, fußballverrückte Männer, die fachsimpelten und andere von den Vorzügen gerade ihres Clubs überzeugen wollten, Fahrkartenkontrollen, fliegende Händler, das ewige Geschiebe von Koffern und Taschen, das inquisitorische Auftreten der Schaffner, von Sitznachbarn angebotene Bonbons, den strengen Geruch eines ausgewickelten, mit Innereien belegten Sandwiches, das Geräusch, wenn sich jemand aus einer mitgebrachten Thermoskanne Tee eingoss, die Ausdünstungen eines Arbeiters, der nach der Frühschicht in der Fabrik noch nicht dazu gekommen war, sich zu reinigen, all das also, was nichts mit seiner Aufgabe zu tun hatte. Rupert schlug die Zeit tot, nutzte die langen Stunden und das monotone Geratter, um bei der Ankunft noch wachsamer, noch konzentrierter sein zu können. Tagträume waren sehr hilfreich. Um Fremde abzuwimmeln, die ihn im Abteil erkannten, auch wenn er den Hut weit ins Gesicht gezogen hatte. Und ihn bedrängten und bestürmten. Mit Fragen, Glückwünschen und Kommentaren. „Sie sind’s doch, Beaufort, stimmt’s?“, war die Standardformel. „Großartig, wie Sie Ihren Job machen!“, bekam er ein ums andere Mal gesagt.
Gefolgt von einem solidarischen „Weiter so, alter Freund. England ist stolz auf Leute wie Sie.“ Rupert verfuhr wie im Pub: Er bedankte sich artig, winkte bescheiden ab und lächelte, behalf sich mit ein paar nichtssagenden Floskeln, schlug wie ein junges Mädchen, dem man zum ersten Mal etwas Nettes sagt, verschämt die Augen nieder und gab deutlich zu erkennen, dass er nicht an Austausch oder Konversation interessiert war. Meistens gelang ihm das. Wenn nicht, verzog er sich in den Speisewagen, begab sich zum Rauchen in den zugigen Zwischenraum zwischen den Waggons oder versteckte sich hinter seiner Zeitung, gähnte vernehmlich oder täuschte ein Nickerchen vor. Dabei war er hellwach. Tagträume waren kein Allheilmittel gegen Belästigungen. Es war schon vorgekommen, dass, obschon er so unbeteiligt wie möglich zur Seite geblickt und betont gelangweilt getan hatte, ihn jemand in eine langwierige Unterhaltung verstrickt hatte, aus der er nicht entkommen konnte. Irgendein Unbedarfter und Wissensdurstiger, der ihn bis zur Ankunft nicht aus seinen Klauen ließ, dem immer noch weitere Fragen zu den Delinquenten einfielen, zu den Gräueltaten, die zu ihrer Verurteilung geführt hatten, zum Ablauf der Hinrichtung natürlich, zu Ruperts persönlichen Gefühlen und Eindrücken beim Hängen – intime Einzelheiten, über die er nie reden mochte, Gott bewahre, schon gar nicht mit einem Fremden. Außerdem hatte er vor Jahrzehnten eine bindende Erklärung unterschreiben müssen, die ihn zu radikalem Stillschweigen verpflichtete. Auf Lebenszeit. Ein solches Gelöbnis war ihm heilig. Innerlich, während er eine heitere Miene aufsetzte, verfluchte er dann diesen so bemühten, enthusiastischen Menschen vor ihm, der ihm Löcher in den Bauch fragte, weil er endlich einmal die Chance sah, über die Unterredung mit ihm direkt mit dem vermeintlich Bösen in Verbindung zu treten. Rupert hütete sich, solche Leute zu verprellen oder abweisend zu wirken. Der Galgenmann ertrug solche Zumutungen mit Galgenhumor. Das gehörte wohl zu seiner Stellung und zu seinem Amt dazu, dieses unablässige, eintönige Interesse. Das musste man aushalten. Er wollte niemanden vor den Kopf stoßen. Und auch nicht verärgern. Dass seine Fragensteller aber mit Enttäuschung reagierten, wenn sie bei ihm auf Granit stießen, das wiederum konnte er nicht verhindern. Dessen ungeachtet war ihm wichtig, dass sie ihn in guter Erinnerung behielten. Als zwar zugeknöpften,
doch umgänglichen Zeitgenossen. Für maulfaul oder verschüchtert sollten sie ihn seinetwegen halten, aber nicht für unhöflich, ruppig oder gar feindselig. „Doch nicht so spannend, wie wir dachten. Doch kein so aufregendes Gewerbe. Und nicht gerade redegewandt, der Bursche …“: Wenn sie so von ihm dachten, wenn dies ihr Image von Rupert Beaufort war, dann ging das in Ordnung. Heute war alles gut gegangen, man hatte ihn im Zug und auch auf dem Bahnhofsgelände in Frieden gelassen. Die Reisezeit war wie im Nu vergangen. Rupert schritt, vom Gefühl beseelt, dass auch sonst alles wie am Schnürchen laufen würde, mit großer Eile aus dem Bahnhofsgebäude heraus und winkte ein Taxi herbei. Der einzige Luxus, den er sich im Rahmen seiner Aufträge leistete. Um nicht auch noch durch dicht gedrängte Großstadtstraßen hetzen zu müssen, um der unangenehmen Nähe von Menschenmassen zu entgehen. Um Clochards und Rowdys konnte er auf diese Weise einen großen Bogen machen und zugleich Ansammlungen aggressiver Spinner vermeiden, unter denen, wer weiß, womöglich auch noch Streitsüchtige waren, die für die Abschaffung der Höchststrafe demonstrierten und ihm den Weg in die Strafanstalt versperren mochten. Er warf sich auf den Rücksitz und schnippte, unternehmungslustig und auch ungeduldig, mit den Fingern. Der Fahrer, ein mürrischer Alter, der kaum die Zähne auseinanderbekam, gab nicht zu erkennen, ob er begriffen hatte, wen er da durch London kutschierte. „Wandsworth Prison – und sparen Sie die großen Boulevards aus“, kommandierte Rupert ihn herum und zündete sich eine Zigarre an. Das Zigarrerauchen gehörte für ihn wie schon für seinen Onkel Theodore, den alle Welt nur Uncle Theo genannt hatte, einfach zu den Ritualen dazu, mit denen man sich das Hinrichtungswochenende etwas angenehmer gestalten konnte. Drei pro Auftrag, mehr nicht. Uncle Theo, der nun schon zwei Jahre tot war, hatte ihm auch das beigebracht. Rupert kurbelte das Fenster herunter und spähte in den bleiernen Londoner Himmel. Es hatte sich bezogen und war, den gemäßigten Temperaturen zum Trotz, schwül geworden. Mit der kaum gelesenen Zeitung fächelte er sich Luft zu. Tauben flatterten vorbei. Als sie die Themse überquerten, ließ der Verkehr merklich nach. Auf den Trottoirs südlich des Flusses wimmelte es dagegen nur
so vor Tagedieben, ausgehwütigem Volk und einkaufenden Hausfrauen. Vor den Pubs bildeten sich die ersten kleinen Schlangen, durchweg Männer, viele von ihnen noch in Arbeiterkluft. Die Freiflächen vor den Kinos waren gerammelt voll. Junge Frauen in Petticoats, die sich schick gemacht und die Haare toupiert hatten, standen sich dort die Beine in den Bauch. Das Taxi bog in eine Seitenstraße ein, musste einmal scharf an der Kreuzung bremsen, um einer älteren Dame den Vortritt zu lassen, ließ einen belebten Park, Clapham Common, und ein verwaistes Cricketfeld rechts liegen und verlangsamte schließlich seine Fahrt. Rupert vergewisserte sich, bevor er das Auto verließ – denn nur drinnen war er in Sicherheit: Noch waren weit und breit keine Demonstranten oder Fanatiker zu sehen, keine Transparente, noch waren keine Trillerpfeifen oder wütenden Gesänge zu vernehmen. Menschenleer lag der abweisende Platz vor Portal und Haupteingang vor ihm, dahinter die große steinerne Festung mitsamt Barrikaden, wehenden Fahnen, Wappen, winzigen vergitterten Fenstern. Gewitterwolken brauten sich über der Fassade zusammen. „Welcome, Rupert“, sagte er zu sich selbst, und dann brach er in Schweiß aus. Vor dem Gefängnistor beim Aussteigen würdigte ihn der Chauffeur keines Blickes, hielt ihm am ausgestreckten Arm missmutig die Aktentasche hin. Bildete er es sich nur ein, dass er von ihm angeknurrt wurde? Er hörte etwas genauer hin. Ja, kein Zweifel: Hier wollte einer Stunk machen. Hatte der Mann etwas gegen ihn? Grollte er oder zählte er zu seinen erklärten Feinden? Welche Laus war ihm nur über die Leber gelaufen? „Thank you, Sir“, brachte der Alte dann mühsam hervor, verbeugte sich unmerklich und unterdrückte seinen Unmut, als Rupert ihm die Münzen einzeln in die Hand zählte. Presste die Lippen zusammen, so als würde jemand versuchen, ihm Gift einzuflößen. Viel hätte nicht gefehlt, und er hätte ausgespuckt oder das Geld auf die Straße geworfen. Rupert entschied, das ungebührliche Betragen des Mannes nicht auch noch mit einem Trinkgeld zu belohnen. Er hielt inne und nahm die Haftanstalt in den Blick. Merkte, wie vertraut ihm
gleich wieder alles war. Der Stacheldraht, die Scheinwerfer, die auf und ab patrouillierenden Wachen, die Schäferhunde mit Maulkorb. Die Abwesenheit von anten und spielenden Kindern. Die tödliche, gespenstische Stille. Sein Zuhause, sein Revier. Er drückte den Rücken durch und schien über sich hinauszuwachsen. Der gute alte Henderson stand schon bereit, tippte zum Gruß an die Mütze, lächelte knapp. Alles war wie immer.
Seite an Seite mit Henderson durchschritt Rupert die ellenlangen Flure, nahm zuvor kurz vom Büropersonal Notiz, das sich zu seiner Begrüßung im Eingangsbereich versammelt hatte, und ließ sich eine Sicherheitstür nach der anderen von Henderson aufschließen. In jenen Zellen, die vom Innenhof nur durch Gitter abgetrennt waren und nicht durch Wände, standen die Gefangenen Spalier und verfolgten ihn mit den Augen. Keiner muckste sich, niemand erhob die Stimme. Alle wussten genau, wer hier zu Besuch kam und was sein Erscheinen zu bedeuten hatte. Als der Bedienstete und er, vom Erdgeschoss in den dritten Stock gelangt, nach etlichen Minuten endlich im Sicherheitstrakt angekommen waren, standen wie üblich schon der Gefängnisdirektor, Mister Lurie, jemand vom Justizministerium, ein kleiner Beamter, und ein Vertreter der Staatsanwaltschaft, ein hohes Tier, dessen Namen er sich nie merken konnte, bereit. Und Howard natürlich, ein Mittdreißiger aus Leeds, Howard Phelps, sein treuer, zuverlässiger Assistent, der ihm nun schon seit vielen Jahren zur Hand ging. Und ihn jetzt mit einem breiten Grinsen empfing. Man war unter sich in dieser Männerrunde, man kannte sich. Alles war eingespielt, man konnte getrost zur Routine übergehen. Hände wurden geschüttelt, knappe Begrüßungen ausgetauscht. „Schön, dass Sie mal wieder bei uns sind, Beaufort“, sagte der Gefängnisdirektor mit unverstellter Freundlichkeit zu ihm und sah ihn dabei direkt an, eine Spur zu lang vielleicht. Eine Anspielung auf die dumme Angelegenheit in Pentonville? Rupert hatte nicht den Eindruck.
„Sie wissen ja, was zu tun ist“, fuhr der ältere, ehrwürdige Herr fort, auch er nicht in Uniform. „Ratschläge benötigen Sie nun wirklich nicht.“ Er nickte Rupert anerkennend zu, gab ihm zu verstehen, wie sehr er es schätzte, dass der Executioner sich hier bestens auskannte, hielt inne – fiel ihm noch etwas ein? – und räusperte sich. „Wir sehen uns dann morgen früh.“ Lurie verabschiedete sich gleich wieder. Der Priester und die beiden Wärter, die während der Prozession zu beiden Seiten des Sträflings mit ihm von der Todeszelle in die unmittelbar benachbarte Schreckenskammer schreiten würden, waren noch nicht anwesend. Sie würden erst im Morgengrauen dazustoßen und dann zwei Kollegen ablösen, die den Vortag und die Nacht mit dem Verurteilten verbrachten. Oft waren sie es, mit denen der Unglückliche Zigaretten rauchte und palaverte, seine Henkersmahlzeit zu sich nahm. Oft waren sie es, die am meisten von ihm erfuhren, seine Nöte, seine letzten Geheimnisse, die seine Verzweiflung und seine Tränen zu sehen bekamen, manchmal auch seine Reue, seine tiefe Bestürzung. Oft waren sie es, die nach der Todeshandlung Mühe hatten, die Fassung zu bewahren. Vielleicht, weil sie dem zum Sterben Verdammten so verdammt nahe kamen. Und als Vorletzte dessen Körperwärme gespürt hatten, die dann auf einmal nicht mehr da war, wie weggezaubert. Rupert teilte sich mit Howard eine Zelle, eine Etage höher. Mit einem Waschbecken sowie zwei Feldbetten ausgestattet und recht komfortabel, „unser Wohnzimmer“, witzelten sie, ihr Living Room. Wenn Phelps auch die Angewohnheit hatte, fürchterlich laut zu schnarchen. Für ihr leibliches Wohl würde gesorgt sein. Oft sogar war das Essen, das man ihnen hochbrachte, erstklassig und stammte gar nicht aus der Gefängniskantine. Woher genau und wer dahintersteckte, blieb ihnen verborgen: ein unbekannter Gönner. Gewiss ein Förderer, ein Befürworter des Todes durch den Strang, dem es eine Herzensangelegenheit war, den Henkern ihren Arbeitstag so angenehm wie möglich zu gestalteten. Den angebotenen Alkohol lehnten sie kategorisch ab. „Hinterher“ genehmigte sich Howard, noch an Ort und Stelle, gern ein Bierchen oder einen Cognac, denn die Gefängnisleitung hielt immer ein paar hochprozentige Getränke und
Erfrischungen bereit, sobald alle wieder außerhalb der Schreckenskammer waren; Rupert trank erst, wenn er und Howard die Haftanstalt verlassen hatten und vor der Heimreise noch irgendwo in London einkehrten. Meistens spielten sie am Vorabend Karten, unterhielten sich über dies und jenes und legten sich früh schlafen. Um bei Tagesanbruch fit und hellwach zu sein. Die größte, anstrengendste Arbeit kam aber jetzt: die Generalprobe. Die Simulation. Das genaue Durchspielen der morgigen Hängung. Wichtiger noch als die Tötung selbst, wie Rupert gern betonte, auch wenn das, wie er an Howards ausbleibender Reaktion sehr wohl bemerkte, immer etwas oberlehrerhaft wirkte. In einem ersten Schritt schob Rupert einen Riegel beiseite, ganz leise, um keinen Lärm zu verursachen, und blickte durch ein längliches Peeploch, ähnlich dem Spion an Wohnungstüren, nur dass es ein sehr viel genaueres Studium des dahinterliegenden Raumes ermöglichte, in die Todeszelle. Ohne dass der Gefangene das wusste. Und möglichst auch nicht mitbekam. Judasauge, so nannte man in der Henkerszunft diesen Spalt. Das war immer der entscheidende Moment: den Delinquenten taxieren, in Augenschein nehmen, beobachten und sein Verhalten analysieren. Seine Nervosität oder Gefasstheit einschätzen. Seine etwaige Gewaltbereitschaft in Betracht ziehen. Seine Größe und sein Gewicht überprüfen. Und davon ausgehend beurteilen, welche Fallhöhe benötigt wurde, welche Stricklänge. Dabei kam es auf jeden Inch an. Verschätzen durfte man sich dabei nicht. Jede Fehlkalkulation würde beim Fallen eine qualvolle Strangulation des zu Hängenden nach sich ziehen, die mehrere Minuten dauern konnte und einer Folter gleichkäme, im schlimmsten Falle seine ungewollte Enthauptung. Das wäre dann eine verpfuschte Hinrichtung, und die konnte niemand wollen. Im wahrsten Sinne des Wortes ein Hängen und Würgen. Abscheulich. Rupert Beaufort und Howard Phelps hatten bislang immer richtiggelegen, sie waren ein perfekt eingespieltes Team. Rupert betrachtete den Todeskandidaten, der ihm den Rücken zukehrte, und ließ sich dabei Zeit. Der Mann, schlank, lockiges Haar, hochgewachsen und mit einem ungewöhnlich großen, fast kantigen Kopf, saß am Tisch, kerzengerade und bewegungslos, in die Lektüre eines Buches vertieft, vor ihm ein Stapel länglicher, großer Bände, von denen der oberste aufgeschlagen war. Als Rupert
die Augen zusammenkniff und genauer hinschaute, meinte er eine mit kleinen schwarzen Zeichen und Punkten übersäte Partitur zu erkennen. Noten also – für ihn nichts anderes als Hieroglyphen. Die Wärter saßen hinten in der Ecke, sprachen halblaut untereinander und zeigten sich gegenseitig irgendetwas in einer Sportillustrierten. Beaufort bedauerte, dass er das Gesicht des Delinquenten nicht sehen, dessen Züge nicht studieren konnte. Etwas an dessen ruhiger Haltung beeindruckte ihn. Der hier wirkte nun wirklich nicht, als fürchtete er sich davor, in wenigen Stunden gehängt zu werden. Der konnte sich beherrschen. Dessen elegante Hände fielen ihm auf und seine südländische Erscheinung. Kultiviert wirkte er, nobel. Fromm eher nicht. Kein Gangster oder gewöhnlicher Ganove. Howard hatte Rupert den Vortritt am Judasauge gelassen, nun trat er selbst beiseite, damit auch der Jüngere sich ein Bild von dem Hinzurichtenden machen konnte. In Gedanken errechnete er bereits die bei der Vollstreckung benötigte Fallhöhe, damit der Long Drop, wie man in England das kalkulierte, jeweils neu festgelegte Herabstürzen durch die sich nach unten öffnende, in der Mitte geteilte und in zwei Richtungen oder Hälften auseinanderklappende Falltür nannte, erfolgreich zum Einsatz gebracht werden konnte. Dadurch war das Ersticken bei gleichzeitiger Bewusstlosigkeit quasi garantiert, und ein qualvoller, in die Länge gezogener Würgetod war damit ausgeschlossen. The Long Drop, einst von William Marwood, dem Urahnen der modernen Henker, erdacht: die humanere und bei Weitem beste, von Fachleuten bevorzugte Methode, weil der verantwortliche Henker für jeden Verurteilten individuelle Maße zur Anwendung kommen ließ, anstatt sich ohne Rücksicht auf die Besonderheiten jedes Einzelnen mit einem mittleren Standardwert für alle zu Hängenden zu begnügen – so wie es früher, zum Leidwesen seiner Vorgänger, der Fall gewesen war. Howard schob den Riegel wieder vor den Spalt, entfernte sich von der Zelle und stellte lapidar fest, als beide wieder außer Hörweite waren: „Der wird uns keine Scherereien bereiten, da bin ich mir sicher. Der hat die Ruhe weg.“ Und erwähnte dann noch, dass der Mann Magazzano heiße und, obwohl italienischer Herkunft, hier aus London sei. Rupert nahm es zur Kenntnis.
Die nächsten zwei Stunden verbrachten sie im Schweiße ihres Angesichts mit der mehrmaligen Hängung eines Dummys, einer Gliederpuppe in Menschengestalt, deren Gewicht und Länge veränderbar war und die sie untereinander als „Strohmann“ bezeichneten. Sie überprüften das Alter, die Qualität und die Straffheit des Seils, auch dessen Durchhaltevermögen, bereiteten die Schlinge vor und tasteten danach den Lederriemen ab, den man bei dem Unglücklichen unterhalb des linken Kieferknochens anbrachte. Damit wurde ein präziser Genickbruch ermöglicht: durch die Fraktur mehrerer Nackenwirbel und die Kompression wichtiger Schlagadern – sowohl der Kopfals auch der Wirbelsäulenarterie. Ferner prüften sie den Mechanismus des Hebels, mit dem das Öffnen und Auseinanderklappen der Falltür ausgelöst wurde, schauten sich die am Hebel angebrachte Sicherheitsverriegelung genau an, um festzustellen, ob sie auch wirklich funktionsfähig war, inspizierten die Holzscharniere an der Falltür, um sicherzugehen, dass sie nicht morsch oder wurmstichig waren, und begaben sich zuletzt in den dunklen Raum unterhalb der Schreckenskammer, in dem ein Amtsarzt den augenblicklich eingetretenen Tod bestätigen und der Gehenkte bedauerlicherweise noch genau eine Stunde lang allein weiterbaumeln würde. So lautete die Vorschrift, so wurde es seit Jahrzehnten gehandhabt. Bis Beaufort den Leichnam endlich vom Strang nehmen, waschen und in einen bereitstehenden Sarg betten konnte. Phelps hatte, wiederholt und ernst gemeint, auch bei diesem letzten Arbeitsgang seine Unterstützung angeboten, aber für Rupert war es Ehrensache, sich persönlich um diesen toten Straftäter, der für ihn immer noch und trotz allem ein Mensch blieb, zu kümmern und für einen würdigen Abschied von dieser Welt zu sorgen. Die Größe der Schreckenskammern – mit ihren fast identischen Gerätschaften – variierte von Stadt zu Stadt und Gefängnis zu Gefängnis, aber es waren durchweg außerordentlich kleine, beängstigend enge Räume. In denen höchstens drei, vier Leute aufrecht stehend Platz hatten. Der Assistent, dem das Fesseln der Beine des ihm Anvertrauten oblag und auch die präzise, parallele Positionierung von dessen Füßen an zwei genau markierten Stellen auf je einer geschlossenen Klappe, musste sich in Acht nehmen, nicht mit dem Gehenkten in die Tiefe zu stürzen, weil er, wenn der Chief Executioner ohne Vorankündigung den Hebel betätigte, sich nicht rechtzeitig oder vollständig vom Klappenbereich zurückgezogen hatte. Das war in der Vergangenheit mehrfach vorgekommen, jedes Mal ein grotesker und auch peinlicher Vorfall – zumal sich der Assistent
dabei verletzen, den Verurteilten, ohne es zu wollen, in einer ungeschickten Umarmung begleiten und somit die einwandfreie Durchführung der Hinrichtung gefährden konnte. Howard und Rupert, die jeden Gegenstand im Raum kritisch begutachtet hatten und jegliches Missgeschick von vornherein ausschließen wollten, war das noch nie iert. Am nächsten Morgen dann, etwa eine halbe Stunde vor der angesetzten Hängung, würden die beiden Männer den gesamten Vorgang noch einmal durchexerzieren – um sicherzustellen, dass alles perfekt vorbereitet war und einwandfrei durchgeführt werden konnte. Nun konnten sie sich einstweilen zurückziehen. Das Anstrengendste lag hinter, das Schlimmste noch vor ihnen. Sie wurden – wie auf Verabredung – gesprächiger und gelöster, lachten öfter. Es war noch früh am Abend, sie legten ihre Jacketts ab, lockerten ihre Krawatten und warteten auf das Abendessen, das ihnen ein uniformierter Wärter in den nächsten Minuten vorbeibringen und servieren würde. Rupert war hungrig; die lange Anreise, seine neu erwachte Zuversicht und die Vorbereitungen, die zu seiner größten Zufriedenheit abgelaufen waren, hatten zusätzlich appetitanregend gewirkt. Auf einmal sprang die Tür auf, ohne Vorankündigung, in deren Rahmen jedoch nicht der Essensbote, sondern Direktor Lurie höchstpersönlich erschien, etwas außer Atem und sichtlich freudig erregt. Oder vielmehr irritiert. Die beiden Männer fuhren herum. „Dem Italiener wird ein Klavier geliefert“, stieß er hervor und schien es selbst noch nicht richtig zu glauben, „in seine Zelle. Das war sein letzter Wunsch. Befehl von höchster Stelle“, setzte er mit bedeutungsvoller Miene hinzu und hob die Augenbrauen, „es müsste gleich so weit sein. Für das Heranschaffen zahlt er persönlich. Ich gestehe, ich war verwundert“, er machte eine kurze Pause, „ich … nun, ich habe nichts dagegen einzuwenden gehabt.“ Rupert und Howard starrten sich verblüfft an. Sie waren erst einmal sprachlos. So etwas hatte es noch nie gegeben. Extrawürste waren, das war ungeschriebenes Gesetz, ausgeschlossen. Normalerweise jedenfalls. Gefangene hatten, außer speziellen Menüwünschen und der ominösen letzten Zigarette am Morgen, einfach nichts zu wollen. Eine solche Wendung, erst recht so kurz vor der entscheidenden Nacht, hatte Beaufort in all den Jahren nicht erlebt.
War die Entscheidung im Ministerium getroffen worden? Oder von Regierungsstellen, am Ende gar im Königshaus? Und wieso erst jetzt, nach Dienstschluss, wenn im Prinzip niemand mehr in den Behörden erreichbar war? „Um ehrlich zu sein“, meinte Lurie dann, als könnte er Ruperts Gedanken lesen, „man hat mir keine Wahl gelassen. Mir waren die Hände gebunden. Nehmen wir die Dinge so, wie sie sind. Und nun“, er blickte in die Runde und versuchte, seine Fassung wiederzugewinnen, „wünsche ich Ihnen guten Appetit und“, wieder pausierte er, „gute Abendunterhaltung. Genießen Sie die Darbietung. Schlafen Sie gut.“ Alles war wie immer, bis vor einer Minute. Und nun war nichts mehr wie immer.
Träumten sie eigentlich, die vielen Männer und wenigen Frauen, die man ihm zum Aufknüpfen überantwortet hatte? Träumten sie in den langen, einsamen Nächten vor ihrer Todesreise? Rupert mochte gern daran glauben. Sicher dachten sie noch einmal gründlich über ihre Untaten nach und verwandelten sie, unter Zuhilfenahme der Fantasie, in etwas Schönes und Befreiendes, Sauberes und Gutes; gewiss ging ihnen ständig durch den Kopf, was sie angerichtet hatten und dass, könnten sie das Geschehene doch bloß rückgängig machen und den Film anhalten, jetzt stattdessen irgendwo die Arme eines geliebten Menschen, eine wohlschmeckende Mahlzeit, ein Glücksgefühl, eine friedliche Nacht auf sie warteten. Auch wenn sie glaubhaft nichts bereuen und zu ihren verwerflichen Handlungen stehen sollten. Sie wussten und sie vermochten sich gegen dieses Wissen nicht zu wehren, sie wussten, sie könnten, mit einem Quäntchen Einbildungskraft, woanders sein, wenn sie es nur wirklich gewollt hätten. Anstatt wie jetzt in der Todeszelle die verrinnenden Stunden und Minuten zu zählen, die sie noch von jenem demütigenden Moment trennten, da Rupert ihnen die weiße Kapuze überziehen musste. Nie wieder würden sie diese herrliche, so unendlich viele Möglichkeiten bietende Welt sehen, auf der sie bis heute leben durften, nicht einmal mehr durch ein Judasloch in sie hineinlugen, und um diese Schmach hinter sich zu bringen, neigten sie ihre Köpfe, hielten sie ihm bereitwillig hin. Flehten beinahe darum, die Schlinge um den Hals gelegt zu bekommen. Baten darum wie um einen großen Gefallen. Schon aus diesem Grund, um sie vor der kalten Realität des anbrechenden Morgens zu schützen, wünschte Rupert ihnen wunderbare und beglückende
Träume, die sie mit ins Reich des Todes hinübernehmen konnten, Träume, die niemand misstrauisch beäugen durfte, Träume, die nur ihnen ganz allein gehörten. Träumen sollten sie, was das Zeug hielt. Von ihren Geliebten und Liebhabern, von ihren Kindern und Eltern, von Festen und Überraschungen, von Orgasmen und religiösen Erweckungen, von Lachkrämpfen und von beruflichem Erfolg, von sportlichen Triumphen und ihren ersten unsicheren Schritten als Kleinkind, von alldem, was ihnen auf Erden einst große, unbändige Freude bereitet hatte. Diese ultimativen Träume könnten dazu beitragen, dass ihre Seele gerade noch rechtzeitig heilte. Bevor es zu spät war. Diese Träume könnten sie vielleicht doch noch retten. Könnten andeuten, dass etwas Erhabenes existierte, nicht nur im Jenseits, sondern auch hier, mitten im irdischen Elend. Kurz vor dem Fall. Träumen tat er selbst natürlich auch in dieser Nacht nicht. In den Abendstunden gab er sich dem unvergleichlich intensiven, emotionsgeladenen und leidenschaftlichen Klavierspiel hin, das der Italiener in der Zelle nebenan für ihn und Howard abspulte. Und für die beiden Wärter. Ein Exklusiv-Konzert. Magazzano war, daran konnte kein Zweifel bestehen, ein wahrer Magier. Oder ein Derwisch. Er spielte auf dem schäbigen Piano, das Lurie wohl aus den Gemeinschaftsräumen hierher hatte transportieren lassen, wie ein Gott. Verwandelte das ordinäre Instrument in einen Zauberkasten. In eine Schatztruhe. Magazzano machte den vier einfachen Männern, die sich zu seiner Tötung eingefunden hatten und seinetwegen die Nacht mit ihm in hässlichen, finsteren Zellen hinbringen mussten, sein Recital zum Geschenk. Ließ sich von Howards Rülpsern und dem Gähnen seiner Leibwächter nicht aus der Fassung bringen. Rupert wünschte sich, Burt könnte mithören. Der würde aus dem Staunen gar nicht mehr herauskommen. Rupert untersagte sich den Impuls, erneut durchs Judasloch zu schauen, diesmal, um zu begreifen, wie dieser Mann hinter der Wand solche fulminanten Klänge fabrizierte. Doch hatte er die Botschaft auch so verstanden: Nur aufs Zuhören kam es an in dieser Nacht. Nicht auf Wissen oder Verstehen. Rupert kannte keines der Stücke, hatte keine Ahnung, ob das jetzt Sonaten waren oder Suiten, Intermezzi oder Fantasien, Impromptus, Präludien oder Etüden, Improvisationen oder Meisterwerke; sie gehörten alle in ein Reich, das ihm ein
Leben lang verschlossen geblieben war und in das sich Ruth ein paar Schritte vorgewagt hatte, wenn sie mit ihren Freundinnen die Abonnementkonzerte in der Free Trade Hall besuchte, ihre Klassikreihe. Konzerte, zu denen er nur ein einziges Mal mitgekommen war. In dieser Gefängnisnachtmusik, die keine Melodien zu kennen schien, kein Anfang und kein Ende, perlte und rauschte, strömte und glitzerte es. Es funkelte, es schimmerte, es leuchtete und es schillerte, es rumorte und es strahlte, nichts daran war greifbar. Es schluchzte und jubilierte, es trauerte und huldigte. Nichts daran glich Sprache oder Gelächter, Rufen oder Gewalt, jähen Wutanfällen oder einlullendem Märchenton, alles daran hatte sich von menschlichen Verstrickungen und Verlautbarungen gelöst, fühlte sich an wie ein in die Freiheit entlassener Vogel, der dem Horizont zustrebt, Meere und Berge unter sich zurücklassend. Alles an dieser erst grandiosen und dann wieder zarten Musik erzählte von einem anderen, sagenhaften Planeten, auf dem die Gedanken und Gefühle ungebundener waren als hier auf Erden. Rupert verstand nichts von dieser Tonkunst, doch sie erinnerte ihn an etwas lang Zurückliegendes, das er nicht benennen konnte, und er hätte noch stundenlang weiter zuhören mögen. Damit dieses Glitzern, dieses Leuchten einfach nie aufhörten. Dann trat schlagartig Stille ein. Howard und er vernahmen, schon weit nach Mitternacht, nach den letzten Kaskaden, Läufen und Akkorden, nur noch, wie der Italiener den Deckel zuklappte. Das unsichtbare Konzert war beendet. Wie ein gähnendes Loch tat sich eine große Leere auf. Eine Leere, mit der sie nichts anzufangen wussten. Melancholie überkam sie. Was für eine Talentverschwendung, dachte Rupert mit Bedauern, als er einschlief. Ausgerechnet diesem Teufelskerl, diesem Virtuosen das Leben nehmen zu müssen. Konnte man ihm sein Können, seine unglaublichen Fähigkeiten und seine Meisterschaft nicht vorher herauspräparieren, sie konservieren und im Labor rasch noch einem anderen, schuldlosen Menschen einpflanzen, der dann am morgigen Tag für ihn weiterspielen würde? Konnte man dieses Hirn und diese Empfindsamkeit nicht noch vor der Zerstörung retten? Ein, wie er wusste, absurder und dennoch wünschenswerter Gedanke. Aber nein,
träumen tat Rupert auch in dieser seltsamen und wundersamen Nacht nicht. Er verbat es sich.
Es gehörte zum Ritual in den Hochsicherheitstrakten britischer Gefängnisse, dass sich alle Anwesenden wenige Minuten vor neun Uhr morgens vor der Todeszelle einfanden. Was jetzt geschah, würde unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Keine Angehörigen der Opfer, die Rachegedanken hegen mochten, waren zugelassen und auch keine Angehörigen der Verurteilten, die imstande waren, verzweifelt oder hysterisch zu reagieren. Presseleute ebenso wenig. Lediglich ein Priester – aber nur, wenn der Delinquent das ausdrücklich wünschte – und die beiden Begleiter sowie ein Quartett aus Offiziellen: Gefängnisbeamter, Justizvertreter, Parlamentarier oder Ministeriumsangehöriger und Arzt. Von denen einer, im Anschluss an die Hängung, die ordnungsgemäße Vollstreckung des Urteils zu protokollieren und zu beglaubigen hatte. Totenstille herrschte im Trakt. Von der Straße drangen schrille Gesänge zur stummen Schar herauf; eine Handvoll aufgebrachter Hinrichtungsgegner standen dort unten vorm Tor, die ihre Friedenslieder und Protesthymnen angestimmt hatten und damit das ganze feierliche Ritual diskreditieren, stören und verhindern wollten. In die Vergeblichkeit ihres schaurigen Gesangs mischten sich Hartnäckigkeit und Stolz. Nun war es so weit. Nun nahte Rupert Beaufort, dicht gefolgt von Howard Phelps, und betrat die Bühne mit schnellem Schritt. Ohne auch nur einen kostbaren Moment zu verlieren, nickte er den Umstehenden kurz zu, riss die Zellentür auf und näherte sich dem Verlorenen, der bereits stehend auf ihn wartete. Hatte Rupert eine Frau vor sich, berührte er sie ganz sacht am Arm. Das genügte. Einem Mann legte er kurz freundschaftlich die Hand auf die rechte Schulter und drehte ihn damit bereits mit dem Gesicht zur Tür. Das wirkte. „Follow me!“ war das Einzige, was er zu ihm, was er zu ihr sagen würde, mit klarer Stimme, mit der gebotenen Festigkeit. Ohne Befehlston. Erst dann, wenn die anderen keinen Widerstand leisteten und sich zum Gehen anschickten, würde er sie für den Bruchteil einer Sekunde frontal anschauen. Würde sie mit seiner Mission konfrontieren. Ihnen den Auftrag der
Allgemeinheit, sie zu beseitigen verdeutlichen, den er stellvertretend für die Richter und Geschworenen, für die Ankläger und Verteidiger, für die grundlos Hingemeuchelten und Bestohlenen, für die Erschlagenen und Betrogenen verkörperte. Ihnen zeigen, dass es eine Moral gab, der niemand entrinnen konnte. Damit der oder die andere noch einmal einem Menschen aus Fleisch und Blut begegnete, einem Menschen wie Du und Ich, auch wenn dieser Mensch, den man Henker nannte, ihm oder ihr gleich das Liebste wegnehmen würde. Rupert würde alle Zuneigung, derer er fähig war, bei diesem Anschauen zum Ausdruck bringen. Und zu erkennen geben, dass er den Leib des anderen nicht anrühren und seine Seele unversehrt lassen würde. Dass er lediglich dazu da sei, um den Übergang vom Leben zum Tod herzustellen und den Schmerz zu lindern. Dem anderen sein Vertrauen schenken. Ihn bitten, sein Schicksal doch gefälligst in seine kundigen Hände zu legen. Ihn um sein Einverständnis ersuchen, ihn nebenan aus der Welt schaffen zu dürfen. Nahezu immer erhielt Rupert dieses Einverständnis auch. Und heute? Er schaute den Italiener, der genau so ruhig dastand, wie er gestern an seinem Tisch mit den Partituren gesessen hatte, direkt in die Augen. Was er darin las und sah, war das Erwartete: Der Pianist erteilte ihm die Erlaubnis. Bat ihn um Erlösung. Gab sich ihm hin.
Als sich ihre Blicke begegneten, durchfuhr ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Er hatte diesen Magazzano schon einmal gesehen. Und da wusste er, so wie man einfach weiß, dass es Sommer und Winter gibt, er wusste mit unumstößlicher Bestimmtheit: Dieser Mann war kein Verbrecher.
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Zwei Blicke – und die Liebe bricht aus
Immer wenn ich an diesen so besonderen Frühling denke, befällt es mich von Neuem: das überwältigende Bewusstsein der Befreiung. Diese Erleichterung, einem goldenen Käfig entkommen zu sein. Immer wenn ich mir diese Märztage in Erinnerung rufe, als ich allein in Paris sein durfte, als die Stadt mir und ich ihr gehörte und niemandem sonst, steigt es wieder in mir auf: dieses Gefühl, neugeboren zu sein. Neugeboren – das sagt sich so leicht dahin, das verwendet man oft, ohne es wirklich zu meinen. Aber auf mich traf es in vollem Umfang zu: Endlich, das erste Mal seit meiner Kindheit in Ligurien, das erste Mal seit meiner geraubten Jugend, das erste Mal seit meinen Studienjahren in Mailand und das erste Mal seit meiner Knechtschaft als Musiker und Künstler, war ich ganz allein. Wochenlang. Die reinste Wonne. Ja, allein. Nicht etwa einsam, verlassen oder verloren, sondern für mich. Nur für mich. Aus den Fängen eines besitzergreifenden, herrschsüchtigen Menschen befreit, der alles darangesetzt hatte, mich zu verunsichern, mich ans Klavier zu ketten und mir Unselbständigkeit einzureden. Aus den Klauen einer hartherzigen, ehrgeizigen Frau, die mich zuerst aufgebaut und zum Virtuosen gemacht, mir dann den eigenen Willen ausgetrieben, mich mit Disziplin traktiert und später nach Lust und Laune beeinflusst hatte. Bis zu diesem unvorhersehbaren Moment, in dem Brenda in unserem Pariser Hotel eine äußerst wichtige Nachricht erhielt und, ohne mich, überstürzt nach London zurückreisen musste, hatte ich es zugelassen, eine Existenz als ihr wohlhabender Sklave zu fristen. Als Vorzeigekünstler mit perfektem Anschlag und ohne echte Persönlichkeit. Auch als ihr Gatte: teilnahmslos und blass. Ein Gatte, der das in ihn investierte Geld wiedereinspielte und auch noch Gewinn machte, der sich nach Herzenslust auspressen ließ und ansonsten artig den Schnabel hielt. Von Luxus umgeben und unglücklich. Identitätslos. Von ihr, meiner Impresaria, eingeengt, voller Hemmungen. Auf einmal, es bedurfte lediglich einer Ausgangssituation, mit der vorher nicht zu rechnen war, auf einmal ging es eben doch. Es funktionierte: Ich erwachte, wie man aus einer Narkose erwacht. Ich erwachte und war sogleich voller Tatendurst. Ich erwachte, und ich kam zurecht. Ich gestaltete meinen Tagesablauf. Ich traf eigene Entscheidungen. Es war wie ein Aufbäumen. Ich entdeckte mich selbst. Ich war in der Lage, das Podium zu verlassen und wie ein
erwachsener Mann zu handeln. Ich war fähig, Glück zu empfinden, ohne gelotst zu werden. Ich wurde zu einem neuen, mir selbst unbekannten Sandro. Erlöst war ich, auf Zeit wenigstens. Auf mich selbst gestellt, unabhängig. Paris hatte mich wachgeküsst. Ich, der Wahl-Londoner Magazzano, der sich aus einem Leben in London nichts machte, auch wenn es ein Leben im Schlaraffenland war, konnte nicht genug bekommen von diesen zarten Küssen à la française. Ich, der Italiener im Exil, der den südlichen Teint und die braun gebrannte Haut meiner Kinderjahre gegen die vornehme Blässe Britanniens und die versnobte Farblosigkeit von Westminster und Covent Garden eingetauscht hatte, spürte, wie das Blut wieder in meine Adern schoss, sobald die Lippen von Paris meine Wange streiften. Ich stand, überglücklich, im Zentrum Frankreichs: Stand auf dem Pont des Arts inmitten von anderen Flaneuren, die wie ich mehrmals täglich über die Brücke spazierten, um auf das andere Flussufer zu gelangen, sah unter mir die Lastkähne auf der Seine vorbeiziehen, erblickte die beiden dicht besiedelten Inseln, den Strom der anten, historische Gebäude und Museen, gewahrte die Turmspitze der Sainte-Chapelle, die ausladenden Seitenflügel des Louvre sowie die Fassade der altehrwürdigen Kathedrale Notre-Dame – und war frei. Mir stand die Welt offen. Und was für eine Welt! Eine milde Märzsonne wärmte mir das Herz. Ich wurde von Aufbruchstimmung erfasst. Ich vermochte es, mich selbst zu überraschen. Und es war eine wunderbare Fügung, dass mir die Freiheit genau hier, in der schönsten Stadt, die ich je gesehen hatte, zuteil wurde. I Love Paris pfiffen 1953 die Spatzen von den Dächern, Cole Porters neuen Sehnsuchtssong, und ich summte mit. Stellte mir dieselbe Frage wie der Sänger des Liedes: „Why do I love Paris? Because my love is near.“ Die Antwort war schlicht, naheliegend, wundervoll. Die Antwort kam einem Versprechen gleich, einem Orakel. An dem vielleicht etwas dran war. Paris half mir auf die Sprünge: Das Schicksal hatte es so gewollt. Ich hatte schon in Sydney gastiert und in Budapest, in Chicago, Moskau und in Madrid. Ich war in Berlin aufgetreten und in Stockholm, in Marseille, in Tokio und in Warschau. In London, unserem ständigen Wohnsitz, wenn wir einmal nicht um den Planeten jetteten, besaß ich meine eigene Konzertreihe. Beim
Edinburgh Festival leitete ich seit mehreren Sommern eine Masterclass für angehende Tastenlöwen. Selbst hier in Paris hatte ich in den vergangenen Jahren bereits unzählige Recitals bestritten und dabei doch nie mehr zu sehen bekommen als Theater und Festsäle, Proberäume und Schnürbörden, Garderoben und Hotelzimmer, die Büros von Veranstaltern, die Werkstätten von Klavierbauern und das Interieur teurer Restaurants. Dabei zählte ich zu den internationalen Spezialisten für französische Klaviermusik. Vom wirklichen Leben in der Metropole hatte ich nur kurze Blicke aus dem Taxifenster erhaschen können, auf dem Weg zum Flughafen oder nach der Ankunft am Bahnhof. Flüchtige Eindrücke, nichts von Dauer. Keine Freunde, keine spontanen Bekanntschaften. Einem echten Franzosen, einer waschechten Pariserin war ich nie begegnet. Eine einheimische Geliebte hatte ich nie besessen. Jetzt endlich bekam ich meine Chance. Jetzt konnte ich, ohne kontrolliert zu werden, die großen Boulevards entlangbummeln, zum Montmartre hinaufsteigen, eine schöne Unbekannte ansprechen, den Chansonpoeten Boris Vian Jazztrompete spielen hören, ein Spielzeugschiffchen auf dem Wasserbecken des Jardin du Luxembourg auf die Reise schicken oder mich auf der Terrasse der „Rhumerie Martiniquaise“ in Saint-Germain niederlassen und mir einen raffiniert gemixten Antillen-Cocktail bestellen. Drei Soloabende in der Salle Pleyel – wo Debussy, Fauré und Satie auf dem Programm standen, wo das Publikum mir Ovationen darbrachte – lagen hinter mir, die Kritiken waren hymnisch ausgefallen. Ich war mit meiner Leistung hochzufrieden gewesen. Nun sollte ich im Studio Suiten und geistreiche musikalische Aphorismen von Poulenc für eine französische Plattenfirma einspielen. Und danach die Solowerke von Saint-Saëns. Möglichst beseelt, möglichst fehlerfrei. Jeden Morgen von neun bis halb zwölf. Und, am Nachmittag, von drei bis fünf dafür üben, im stillen Kämmerlein. Das war mein einziges Pflichtprogramm. Für ein Arbeitstier wie mich war das Entspannung pur. Wie Urlaub. Brendas Anrufe und Telegramme ließ ich unbeantwortet. Und ich rief sie auch nicht zurück. Kabelte ihr nicht. Ich hatte unbändige Lust, mich abzunabeln. Ihre Stimme am Telefon zu hören, ihre weinerliche und manipulierende Stimme, die sonst so energisch und schneidend, kalt und verletzend sein konnte, hätte ich jetzt nicht ertragen. Sie war fuchsteufelswild gewesen, mich in der französischen Hauptstadt zurücklassen zu müssen. Einem Wutanfall nahe, als sie ihren Koffer packte und keine Handhabe mehr hatte, mich wie gewohnt an die Leine zu
nehmen. Aber was konnte sie schon groß tun? Die Plattenaufnahmen gingen vor, die Sessions waren seit Langem geplant, und gegen die Wechselfälle des Lebens war kein Kraut gewachsen. Es war unhöflich und grausam von mir, ich wusste es nur zu genau, mich nicht regelmäßig zu erkundigen, wie es ihrem verwitweten Vater in der Zwischenzeit erging, dem von ihr angebeteten Mr Finnegan. Den vor wenigen Tagen in London ein schwerer Schlaganfall ereilt hatte. An dessen Krankenbett im noblen Belgravia Brenda jetzt stand und sich die Augen aus dem Kopf heulte. Seine Brenda, meine Brenda, die meinen Beistand bitter nötig gehabt hätte. Aber diesen Gefallen tat ich ihr nicht – ich verweigerte ihr und meinem Schwiegervater mein Mitgefühl. Sollten sie ruhig ohne mich leiden! Sollte seine Genesung ruhig den Vorrang haben! Meine Bedürfnisse hatten sie bislang auch nur einen feuchten Dreck geschert. In diesen Wochen, die einzig mir und meiner Affäre mit Paris vorbehalten waren, würde ich mich nicht gängeln lassen. Einen Stadtplan brauchte ich nicht. Ich wollte gern vom rechten Weg abkommen, mich im städtischen Dschungel verirren. In meinem kleinen Hotelzimmer in der Rue du Faubourg Saint-Honoré verlor ich nur wenig Zeit. Früh stand ich auf, schlüpfte in meine Kleider, machte nur kurze Toilette und sagte dem jungen Tag Bonjour. Schnell noch ein schwarzer Kaffee, ein Croissant, ein flüchtiger Blick in die International Herald Tribune, und dann hielt mich nichts mehr in Innenräumen: Ich vertraute mich der Lichterstadt an, der Ville Lumière. Ich fuhr Métro und aß einen Croque Monsieur in einem Bistro nahe der Opéra-Comique, ich erkundete zu Fuß den Père-Lachaise und die Buttes-Chaumont, ich pilgerte zu den Gräbern von Chopin, Berlioz und Oscar Wilde, ich durchstreifte die gigantischen Flohmärkte an der Peripherie, ich begab mich auf Entdeckungsreise. Und dann geschah, was geschehen musste: Ich verliebte mich in Paris. Ich hatte einen Tick zu lange hingeschaut, ich hatte mich einwickeln lassen, und jetzt war mir nicht mehr zu helfen: Ich betete Paris an. Jeden Tag ein wenig mehr. „Because my love is near.“ Was genau hier meine tiefen Gefühle auslöste, was genau an diesem Ort dafür verantwortlich war, dass meine Schwärmerei in Leidenschaft umschlug – ich konnte es nicht festmachen oder mit zwei, drei dürren Worten sagen. Womöglich die so besondere Luft von Paris. Die fabelhafte Architektur. Die ungeheure
Vielzahl der Perspektiven. Schneisen, Säulen, Obelisken, Mahnmale, Statuen. Der Atem der Geschichte. Die Anmut der Frauen aus den feinen Arrondissements und die grobe Erotik der Mädchen aus den Arbeitervierteln und Vorstädten. Die sympathische Arroganz der frechen, smarten SorbonneStudenten, die überall am linken Ufer in Grüppchen zusammenstanden, rauchten und die Welt neu erfanden. Die unnahbare Aura der ganz in Schwarz gekleideten, unentwegt rauchenden Existentialisten – die Gurus hielten in Cafés Hof, die nur Intellektuellen vorbehalten zu sein schienen, und ihre Jünger trugen enge Rollkragenpullover und Hornbrillen, diskutierten nonstop und gingen keiner geregelten Tätigkeit nach. Der hiesige Mix aus fremdartigen und dennoch anheimelnden Gerüchen. Das Aroma der Austern, Hummer und Miesmuscheln, die sich, auf gestoßenen Eisstücken lagernd, zu Dutzenden vor den Auslagen der Meeresfrüchterestaurants türmten. Die Anwesenheit der Menschen aus aller Herren Länder, darunter viele Laoten und Vietnamesen, Orientalen, Schwarze und Nordafrikaner. Das ständige Gewusel. Die faszinierenden Lichtverhältnisse während der Blauen Stunde – schon nicht mehr Dämmerung, noch nicht ganz Nacht. Der raue, kehlige Gesang der Straßenmusiker. Das Quietschen der Métrozüge. Die bunten Werbetafeln aus der Vorkriegszeit. Die Streikenden mit ihren Transparenten. Die blasierten Kellner in ihren schwarz-weißen Schürzen, die immer geflissentlich an einem vorbeischauten. Der Geschmack eines Pastis, den man um vier Uhr nachmittags am Panthéon zu sich nahm. Der Qualm der filterlosen Gitanes, der einem an vielen Straßenecken in die Nase stieg. Die Heerscharen von Tauben, die bei jedem Schritt durch die Tuilerien aufflatterten und sich, wie mattes Herbstlaub, woanders wieder niederließen. Der Anblick vieler kaputter Gestalten, Krüppel und Clochards, die aussahen, als würden sie ihr jämmerliches Leben jeden Moment aushauchen: in der Gosse gelandet durch zügellosen Absinthgenuss oder durch Mangel an Mitleid. Die Armut von Paris stank zum Himmel, doch es war ein Gestank, der meine Liebe zu dieser Stadt nicht schmälern konnte. „Because my love is near.“ Daran gewöhnt, von Brenda kurzgehalten zu werden – „eine gute Managerin ist strenger als eine Gouvernante“, pflegte sie zu sagen, „und du weißt, dass ich nur dein Bestes will“ –, kam ich mit wenigen Francs pro Tag aus. Ihr Pech, dass sie bei der Unterredung mit dem Direktor der Salle Pleyel in der Vorwoche darauf bestanden hatte, uns meine letzten Gagen in bar auszahlen zu lassen. Tant mieux – umso besser! Auf diese Weise war meine Brieftasche jetzt prallvoll, und sie konnte nichts dagegen unternehmen. Außerdem war Paris kein teures Pflaster. Aus üppigen Mahlzeiten machte ich mir nichts, die Zigaretten hatte meine Gebieterin mir schon vor Jahren abgewöhnt – „ein erstklassiger Pianist wie du
kann nicht mit gelben Fingern herumlaufen“ –, und selbst die Huren in den Elendsvierteln rund um die Rue Saint-Denis verlangten für ihre Dienste kaum mehr, als ein Mittagessen in einer Brasserie kostete. Schnell hatte ich heraus, wo die käuflichen Mädchen tagsüber herumlungerten, les putes, le puttane, und ebenso schnell waren meine Besuche bei ihnen auch wieder vorbei. Sie erregten mich nur für wenige Minuten und interessierten mich auch nicht wirklich, ich liebte sie mit der Glut des Südländers, heftig, stürmisch, rücksichtslos, und stieß sie gleich wieder von mir, gewährte ihnen keinen Kuss, keine Zärtlichkeiten, kein freundliches Wort, aber ich hatte es satt, dass Brenda mich seit Monaten am langen Arm verhungern ließ und ich, dank ihrer perfekten Nonstop-Beaufsichtigung, auch anderweitig nicht zum Zuge kam. Und ließ daher an den jungen Dingern, die gar nichts dafür konnten und selbst nichts zu lachen hatten, meine Frustration aus. Die leichten Mädchen hier nahmen meine Indifferenz und meine Brutalität nicht schwer. Den Typ Mann kannten sie: geil und emotionslos. Es war ein ehrlicher Deal: Ich brauchte ihre Umarmungen, ihre vorgetäuschte Hingabe, ihr einstudiertes Seufzen und Stöhnen, so wie sie nach dem Akt ihr hart verdientes Geld, eine Fluppe und einen „petit rouge“ benötigten. Eines der Flittchen – eine falsche Brünette mit spärlichem roten Schamhaar – entlarvte meine Herkunft, sprach Italienisch und erzählte mir, dass sie aus Taormina sei. Und Flavia heiße. Mir war das herzlich egal. Nie würde sie erfahren, dass sie ihren Körper soeben an Sandro Magazzano verkauft hatte. Für ein unromantisches, hitziges Viertelstündchen. „Was für ein hübscher Bursche!“, sagte sie anerkennend, als ich mir die Hose zuknöpfte und die Krawatte wieder umband, „che bel ragazzo che sei ... Was treibst du nur hier?“ Sie runzelte die Stirn und wies auf meinen Ehering: „Lässt Madame dich nicht ran?“ Sie angelte sich den großen, zerknitterten Franc-Schein, den ich auf dem Nachttisch deponiert hatte, und tätschelte mir den Rücken. Ich knurrte eine unverständliche Antwort, blaffte zurück und suchte das Weite. Es war schon gut so, dass ich mich mit Flavias Konkurrentinnen, den ordinären Französinnen, nicht unterhalten konnte: Ich sprach und verstand kein einziges
Wort. Dabei sollte Französisch doch die Sprache der Liebe sein! Charmant und romantisch fand ich aber vor allem diese Stadt, die Stadt der Städte, deren vielfältigen Geheimnissen ich jetzt auf den Grund gehen konnte. Ich hoffte, Colette oder wenigstens Cocteau in den Gärten des Palais-Royal zu begegnen. Ich wappnete mich, um für das Aufeinanderprallen mit TheaterErneuerern wie Beckett und Ionesco oder mit großen Denkern wie Sartre und Malraux gerüstet zu sein. In einem Café, im Dôme oder in La Rotonde. Ich hielt Ausschau nach den Surrealisten. Irgendwo in Montparnasse mussten sie doch herumspuken – nicht nur in Ateliers oder auf Vernissagen. Ich musste damit rechnen, all diesen tonangebenden Künstlern und Philosophen früher oder später über den Weg zu laufen … Ich ließ auf der Place du Tertre eine Karikatur von mir anfertigen, die obligatorischen Windmühlenflügel des Moulin Rouge bildeten den Hintergrund der ziemlich misslungenen Zeichnung. Ein ToulouseLautrec hätte das besser hingekriegt! Und ich vermied es tunlichst, mich mit Kollegen zu treffen. Aufs Fachsimpeln mit anderen Musikern oder gar mit dem eitlen Lyoner Dirigenten, der mich erst kürzlich auf einer England-Tournee begleitet hatte, konnte ich getrost verzichten. Nur auf einem Treffen mit dem großen Organisten und Komponisten Olivier Messiaen würde ich bestehen. Er improvisierte, Brenda selbst hatte es mir verraten, jeden Sonntagmorgen während der Messe in der Trinité-Kirche beim Bahnhof Saint-Lazare. Und manchmal auch nachmittags, ohne dass ihn ein Betender oder Andächtiger bei der Ausübung seines Metiers störte. Wuchtig und schwer verdaulich waren seine Improvisationen, dann wieder rätselhaft und verästelt, und jedes Mal so kompliziert und verwirrend, dass sie den Rahmen jedes Gottesdienstes sprengten. Messiaen vergrub sich tief in den Klangspektren exotischer Kulturen, baute zahllose Vogelrufe in seine Werke ein, brachte seine Orgel zum Strömen und zum Stöhnen, zum Explodieren und zum Abstürzen, förderte Unerhörtes zutage, blickte, mit den Fingern auf den Tasten, in Abgründe, tauchte seine Zuhörer in ein Wechselbad der Gefühle. Fügte ihnen Schmerzen zu, verwöhnte sie, ließ ihnen Wohltaten widerfahren. Es musste, da waren sich alle einig, die ihn erlebt hatten, eine Offenbarung sein. Auch ich würde für Messiaen untertauchen und mich treiben lassen. In einem Meer der Sinnlichkeit. In einem Ozean der Orientierungslosigkeit. Mit etwas Glück würde ich ihn sogar allein antreffen und ihm minutenlang zuhören können. Etwas über Klangfarben lernen und musikalische Meditation.
Ansprechen würde ich ihn und ihn bitten, auch mir bald zu lauschen. Das war ein echtes Genie. Das war ein Wilder. Das war ein Musiker, den nur Paris hervorbringen konnte. Rebellisch, unbequem. Ein Mann mit Spleen, so schien es mir, in einer Stadt mit Flair. Allein schon wegen dieses Messiaen, der Gott und Satan, Glückseligkeit und heillose Untiefen auf seinem Instrument heraufbeschwören konnte, genau wie ich allein kraft seiner Fingerfertigkeit und seines Tastenzaubers, lohnte es sich fremdzugehen, mit Paris Liebe zu machen. Allein seinetwegen lohnte es sich, Paris zu streicheln und sich von Paris streicheln zu lassen. Und London ganz bewusst ein wenig zu vernachlässigen.
Je länger ich vor meiner Frau und meinem gewohnten Leben davonlief, desto alberner wurde mein Verhalten: Es war schlicht unmöglich, mir vorzumachen, dass ich Brenda Finnegan nicht zu Dank verpflichtet war: Ich verdankte ihr sehr wohl sehr viel. Eigentlich fast alles. Brenda, mit ihrer unfehlbaren Spürnase und ihrer immensen Kultiviertheit, hatte mich bei einem Vorspiel in Turin entdeckt und unter ihre Fittiche genommen. Als ich vierzehn war. Brenda hatte meine armen, hinterwäldlerischen Eltern dazu gebracht, dass sie mich ziehen ließen, ohne auch nur in Ansätzen zu verstehen, wie aus ihrem Sandro, dem kleinen, ungeschickten Jungen aus ihrem Bergdorf, jemals eine internationale Berühmtheit werden konnte. Oder warum ihr sonderbares Kind, ihr Traumtänzer Sandro, auf einmal unbedingt eine exklusive Ausbildung benötigte und bald überall auf der Welt Kompositionen großer Meister interpretieren würde, deren Namen sie nicht einmal buchstabieren konnten. Als ich fünfzehn war. Brenda war eigens nach Apricale gereist und in unsere kümmerliche, baufällige Hütte gekommen, wo sie sich den Mund fusselig geredet hatte, bis Gennarino, mein Papa, und Serafina, meine Mama, ihr endlich vertrauten. Irgendwann war es ihr gelungen, mich ihnen für immer abzuluchsen. Sie von meiner außergewöhnlichen Begabung zu überzeugen. Ihnen einen Vertrag vorzulegen und mit ein paar Kreuzen unterzeichnen zu lassen, der für sie ein Buch mit sieben Siegeln blieb. Alle rechtlichen Fragen – Volljährigkeit, Zuständigkeit, Fürsorgepflicht – hatte Brenda dabei bravourös umschifft. Als ich siebzehn war. So als benötigte ich eine klügere, weltläufigere Adoptivmutter und nicht nur eine Managerin.
Sie hatte, als sie mich erst einmal eingesackt hatte, dann auch Wort gehalten und mich jahrelang unterstützt, mir in Wien und Zürich Schliff beigebracht und die teuersten, einflussreichsten Klavierlehrer Europas auf mich angesetzt. Auf Sendro. Immer sprach sie meinen Namen Seeennndro aus, mit langem, hartem e und ebenso langem n, nie nahm sie das weiche, sanfte und mediterrane a in den Mund, und so wurde ich in ihrer Darstellungsweise, noch bevor wir uns in London überhaupt häuslich niederließen, zu jemand anderem. Zu ihrer Kunstfigur. Sie bevormundete mich im Wortsinn. Ich wiederum hatte mich nicht lumpen lassen und mich ihres Vertrauens würdig erwiesen. Ich war bereit gewesen zu dieser Dressur, hatte alle Torturen über mich ergehen lassen und war seit einigen Jahren über mich hinausgewachsen. Ein weit besserer Konzertpianist geworden, als sie es sich je erträumen konnte. Ein weit selbstbewussterer Mann, als es ihr recht sein konnte. Ein Ehemann, der mittlerweile nicht mehr automatisch mit ihr schlief und wie ein Schoßhund sofort angesprungen kam, sobald sie mit den Fingern schnippte. Brenda betrachtete mich seit einiger Zeit mit großem Argwohn. Und bald darauf kam es so weit, dass nichts mehr zwischen uns lief. Zwischen meinem achtzehnten und fünfundzwanzigsten Lebensjahr waren wir – jedenfalls für Außenstehende – ein Liebespaar gewesen, ohne dass die Liebe Einzug in unsere Herzen gehalten hätte. Ohne dass wir einander wirklich begehrt hätten. Wir hatten uns in unserem lustlosen Londoner Dasein häuslich eingerichtet und kaum noch mit Veränderungen gerechnet. Einander skeptisch beäugend und wohl auch ein wenig angewidert saßen wir in derselben Falle. Nun, noch bevor mein Pariser Abenteuer auf mich wartete, war der Ofen endgültig aus. Wir hielten, schon um auf ihren Ruf und auf meine Reputation zu achten, seit einiger Zeit nur noch die Fassade aufrecht. Bestanden aber auf getrennten Betten. Getrennten Hotelzimmern. Brachten den Gutenachtkuss bereits vor den Türen unserer Suiten hinter uns. Damit unsere Entourage uns Glauben schenkte. Rührten einander jedoch nicht mehr an. Es hieß, dass sie mich seit Neuestem mit unserem Chauffeur betrog. Oder mit dem Pressemann unserer Konzertagentur. Oder eigentlich schon immer lesbisch gewesen sei. Ich glaubte weder das eine noch das andere und traute ihr doch beides zu. Es war mir vollkommen gleichgültig.
Nur Paris zählte jetzt. Nur meine eigenen Gefühle waren noch von Belang. In diesem unwirklich schönen Frühling, in dem ich meinen Hemdkragen öffnete und mich, so oft es nur ging, schwüler Montmartre-Luft, lindem Tabakduft, mit Rauschgift angereicherten Montparnasse-Aromen und kühlen Seine-Brisen aussetzte. Ich hatte keine Hemmungen mehr, zur Abwechslung mal richtig egoistisch zu sein. „Because my love is near.“
Das Tonstudio lag versteckt im Innenhof einer alten Manufaktur am Ende einer kleinen, baumlosen und ruhigen Straße abseits der Champs-Élysées. Über den Hädächern lugten zuweilen die Dachetage des Triumphbogens oder die mächtige Stahlkonstruktion des Eiffelturms hervor. Wie überall in dieser märchenhaft verwirrenden Stadt, dieser Metropole der Kontraste, standen auch in diesem kunterbunten und unorganisierten Arrondissement zwischen herrschaftlichen Hän und wahren Wohnpalästen noch kaputte kleine Unterkünfte und vom Krieg gezeichnete Mietskasernen, die Ruinen glichen, wechselten Weinläden, Bäckereien und Obststände mit verstaubten Buchhandlungen und Kaschemmen, in die seit der Jahrhundertwende kein Lichtstrahl gefallen zu sein schien. Dörfliches Ambiente, uralte Mülltonnen mit Einschusslöchern, Abfallberge und wild wuchernde Blumen im rissigen Asphalt, verwahrloste Hunde und streunende Katzen, Witwen in Morgenmänteln, die im Türrahmen lehnten, dickbäuchige Männer mit Baskenmützen, die ihre Baguettes in der Hand balancierten und nonchalant über die Straße trugen: Postkartenmotive allerorten, Paris-Klischees noch und nöcher. Aber irgendwie stimmte die Mischung einfach. Weil es eine wilde Mischung war. Genau wie die Klangkulisse – alle paar Meter spitzte ich die Ohren, um ein paar Takte Piaf, eine Strophe Gréco, einen Drehorgel-Refrain, den Beginn eines amerikanischen Jazzstandards oder die schunkelnden Akkordeon-Rhythmen einer Valse-Musette aufzusaugen. Nichts te zusammen, und doch war all das zusammengenommen Paris. Vielleicht zog mich genau dieses Sammelsurium, dieses Flickwerk aus scheinbar
unvereinbaren optischen und akustischen Eindrücken in seinen Bann – und dann über den Tisch. Das Nebeneinander von Chic und Misere, von Mondänität und himmelschreiender Ungerechtigkeit. Die Parallelwelten: La Vie en rose hier, Les Feuilles mortes dort. Zuckerrosen und welkes Laub. Koseworte und kruder Umgangston, Feinsinniges und Grobschlächtiges. War es da überhaupt noch notwendig, den vielgestaltigen Soundtrack der Großstadt mit meinen abgehobenen Klassikaufnahmen im Studio, die sich, nach der Pressung, bald auf den Plattentellern der Bürgerhaushalte drehen würden, zu vervollständigen und zu bereichern? Auf dem Weg dorthin, wo der Techniker schon auf mich wartete, begegnete mir jedenfalls auf Schritt und Tritt mein eigener Name – noch nicht abgenommene Plakate aus den Vorwochen, für die Konzertabende mit Sandro Magazzano in der Salle Pleyel, zierten zwischen Concorde, Place Vendôme und Élysée-Palast zahllose Häwände. Offenbar gehörte ich hier schon dazu, offenbar war mein Name bereits Teil des Paris-Mosaiks. Nur ich selbst musste das noch begreifen und akzeptieren.
Es war, als hätte man mir eine Augenbinde abgenommen. Und mich, nach Jahren vollständiger Blindheit oder vergeblichen Herumtastens in stockdunklen, fensterlosen Räumen, wieder ins Helle geführt und neu sehen gelehrt. Paris empfing mich mit gleißendem, blendendem Licht. Es tat ein wenig weh, aber es war prachtvoll. Alles, was ich hier erblicken durfte, war eine Augenweide. Als ich noch ein kleiner Junge und nie über die Dorfgrenzen von Apricale hinausgekommen war, hatten mir meine Eltern an einem Sonntagmorgen mit einem Stück Stoff die Augen verbunden. Um mich zu überraschen, um mir – damals vielleicht fünf oder sechs Jahre alt – eine Freude zu machen. Ganz vorsichtig verknoteten sie es hinten an meinem Kopf. Mehrere Stunden lang sollte ich, wie sie mir freundlich befahlen, still sitzen, artig sein und ja nicht versuchen, es herunterzureißen. Natürlich gehorchte ich. Was ich nicht wissen konnte, war, dass Gennarino und Serafina an diesem Junitag in den frühen Dreißigerjahren eine Reise mit mir vorhatten. Heute würde man sagen: einen kurzen Ausflug. Denn Bordighera, wohin die Fahrt gehen sollte, lag höchstens zwanzig Kilometer von uns entfernt im Süden. Aber an der Küste. Und wir Magazzani fuhren sonst nirgendwo hin. Wie alle Leute aus den
Bergen. Einmal war ich, angestiftet von zwei Rotzlöffeln, die im Nachbarhaus in der Via Fiume wohnten, heimlich immerhin bis an das am tiefsten gelegene Ende von Apricale gelaufen, unten im Tal, zur kleinen Wallfahrtskapelle Santa Maria degli Angeli. Wo Pilger, die an den Wochenenden von nah und fern anreisten, vor den bunten Bildern und Skulpturen Kerzen anzündeten und Münzen auf den Boden warfen. Mehrere Hundert Lire wollte ich für mich und meine Kameraden erbeuten. Doch dann, als ich Dreikäsehoch bergabgerannt und mir fast die Puste ausgegangen war, hatte ich mich vor den überlebensgroßen Figuren der Dämonen mit ihren dunklen Augen und Drohgebärden und vor den blutüberströmten Heiligen gegruselt und mich gleich wieder getrollt. Ohne das Geld aufzuheben, ohne irgendetwas zu klauen. Die Nachbarskinder hatten mich daraufhin verspottet, Serafina hatte mich ausgeschimpft. „Wir fahren deinen großen Bruder besuchen“, erklärte man mir. Was das mit meiner Vermummung zu tun, was die vollständige Einschränkung meines Blickfelds zu bedeuten hatte, erklärte man mir hingegen nicht. Seit einigen Monaten lag Umberto, der mittlere von uns drei Jungen und, wie ich erst später herausfand, an einer schweren Gehirnhautentzündung erkrankt, in einer Privatklinik an der Blumenriviera. Ich wusste damals nur, dass es ihm nicht gut ging und dass er nicht mehr daheim sein durfte. Fabrizio, der Älteste, half längst bei unserem Vater in der Schreinerei aus und fuhr zweimal die Woche mit dem Postbus in die Berufsschule nach Dolceacqua. Soweit ich verstanden hatte, war die Klinik sehr teuer, die Eltern konnten sich die Behandlung gar nicht leisten, und es bestand ansonsten keine Aussicht auf Heilung für Umberto. Selbst Vater Gennarino hatte ich ein paarmal weinen sehen, wenn am Tisch die Sprache auf den kranken Sohn kam oder der Hausarzt bei uns vorbeischaute und mit Grabesstimme davon sprach, dass wir uns wohl bald von dem Dahinsiechenden verabschieden müssten. Nur ein Wohltäter, so meinten alle, die uns kannten, hätte uns aus dieser verzweifelten Lage befreien können. Zwar gab es ein öffentliches Krankenhaus in Imperia, im Stadtteil Porto Maurizio, doch das war noch viel weiter weg, und außerdem wollte unser Vater auf keinen Fall etwas mit Mussolini und den Schwarzhemden zu schaffen haben, wie er sagte. Die Imperia allem Anschein nach fest im Griff hatten, denen man sich notfalls anbiedern müsste. „Nur über meine Leiche!“ Also schied diese Lösung von vornherein aus.
Irgendwann war dann aber eine Geldquelle gesprudelt, und zwei Pfleger hatten Umberto, der schon seit Monaten gefüttert werden musste, nicht richtig ansprechbar gewesen war und das Bett nicht mehr verlassen hatte, mit einem langen weißen Auto abgeholt, auf dessen Karosserie ein leuchtend rotes Kreuz gemalt war. Seitdem hatte ich nie wieder etwas von ihm oder über ihn gehört, und ich vermisste ihn jeden Tag ein bisschen weniger. Ich war böse auf ihn, weil er nicht mehr mit mir spielte und mich, so wie ich es gerne mochte, beim Würfeln und Murmelkullern gewinnen ließ. Nun saßen wir drei Magazzani auf der Ladefläche eines schlecht gefederten Erntefahrzeugs und rumpelten in die weite Welt hinaus. Es war heiß, laut, staubig und wahnsinnig unbequem, und je tiefer wir Sesshaften ins unbekannte Tal hinabfuhren, desto unerträglicher wurde die Hitze. In den kurzen Abschnitten zwischen den Haarnadelkurven setzte mir Mama Serafina eine Flasche mit lauwarmem Wasser an die Lippen, betete einen Rosenkranz nach dem anderen, und ich versuchte, durch den Stoff hindurch etwas von der neuen Umgebung zu erkennen: ein hoffnungsloses Unterfangen. Meine Haut brannte. Schließlich waren wir in Bordighera angekommen, jemand hob mich auf die Straße herunter. Ich roch Fisch, in Öl gebraten, fühlte einen Wind, der ein anderer Wind war, und eine Wärme, die ich noch nicht kannte. Mit der Zunge fuhr ich mir über den Mund. Schmeckte Salz. Ich hörte Verkehrslärm, lautes Hupen und knatternde Vespas, Marktgekeife und sirrende Geräusche, wie sie beim Messerschleifen entstehen. Hörte Menschen, die nicht unseren ligurischen Dialekt, sondern richtiges Italienisch sprachen, und merkwürdiges Vogelgeschrei. Und das alberne, nervöse Lachen der Eltern. Für die alles so neu war wie für mich, nur dass sie es wenigstens sehen und begreifen konnten. Sie zogen mir die Sandalen aus, denn wir waren noch zu früh dran, noch war keine Besuchszeit in der Klinik, sie packten mich an den Schultern und gaben mir den Befehl, vorwärts zu gehen. Ich spürte etwas Weiches und unangenehm Heißes unter meinen Füßen, das beim Laufen ein wenig nachgab. Ich lief wohl durch eine Art Pulver, das plötzlich von etwas Nassem abgelöst wurde. Ich war froh, dass ich nicht stürzte, dass ich nicht gegen ein für mich unsichtbares Objekt stieß.
Wohl hundert Meter war ich gelaufen. Da war mein Vater zur Stelle und riss mir das Tuch vom Kopf, so wie man ein Pflaster mit einem Ruck von einer schorfigen, schon fast verheilten Wunde wegreißt, um die Qual zu lindern und zu verhindern, dass kleine, am Streifen festklebende Härchen den Schmerz beim Ablösen in die Länge ziehen. „Ecco“, riefen meine beiden Erzeuger wie im Chor. Ein Jubelschrei. Da sah ich es endlich, das Meer. Sah es zum ersten Mal. Sah nichts als endloses, leicht bewegtes Blau. Sah ein durch den Horizont zweigeteiltes, in viele Schattierungen aufgefächertes Blau und Türkis. „Il mare.“ Es offenbarte sich mir. Da waren keine Berge und Dörfer mehr, keine Bäume oder Felsen, keine Bäche oder Wolken, keine Menschen oder Tiere, und es schien keine Grenzen zu kennen. Es dehnte sich in alle Richtungen aus. Das also war es, was Serafina und Gennarino mir zeigen, das war es, womit sie mich überraschen wollten. Sie waren wie verwandelt: So fröhlich und sorglos hatte ich sie noch nie erlebt. Sie kreischten vor Vergnügen und spritzten mich nass. Sie rannten, der Vater mit durchnässten Hosenbeinen, die Mutter mit gerafftem Rock, durch die kleinen Wellen, die sich kräuselten und um meine Knöchel schlängelten. Es fühlte sich seidig an, und es kitzelte. „Sandro, mach doch mit!“ Sie liefen umher wie spielende Kinder, jagten und verfolgten sich, bewarfen sich mit Sandklumpen, betrugen sich wie herumtollende Hundewelpen. Ich war noch ganz in den Anblick des gigantischen Blaus vertieft. Ich blieb stehen, als hätte ich einen Stock verschluckt. Meine Eltern ließen sich ins flache Wasser fallen und zogen mich zu sich herab. Es war überraschend lau. Abwechselnd umarmten sie sich und mich. Eine Woge schwappte über mich hinweg, ich bekam keine Luft. Nur für ein paar Sekunden. „Nicht schlucken, das ist salzig!“, warnten sie mich. Serafina weinte, keuchte und kicherte in einem fort, feuchte Strähnen klebten ihr am Kopf, ihr nackter Busen war ihr aus der Bluse gerutscht, sie ließ es geschehen, Gennarino küsste sie auf den Hals, küsste sie auch auf die
Brustwarze und mich auf beide Augen, wir ließen es geschehen, aber selbst ein Kind sah, dass meine Mutter schon lange nicht mehr so erleichtert gewesen war. So gelöst und so entspannt. Und selbst ein Kind verstand, dass ein Mann eine solche Frau einfach lieben und begehren musste. Auch wenn das womöglich schon lange her war. Das Bad am Strand hatte ihre Zuneigung wieder angefacht. Eine Zuneigung, der sie daheim in den Bergen, wenn sie sich im Alltag gegenseitig zur Schnecke machten, lediglich nachtrauern konnten. Das neckische Liebesspiel im seichten Gewässer hatte ihre Erinnerung an frühere Verführungsrituale wiederbelebt. Nicht nur mit Serafina und Gennarino, auch mit mir war eine grundlegende Veränderung vorgegangen: Jetzt hatte ich sehen gelernt. Ihr Plan war aufgegangen: Jetzt hatte ich eine Ahnung davon bekommen, was echte Schönheit war. Wir drei blieben noch den ganzen Tag in Bordighera. Und auch den nächsten. Danach dauerte es wieder Jahre, bis ich diese Küste erneut zu Gesicht bekam. Oder überhaupt irgendeinen Ozean oder Strand. Meine Emotionen vergaß ich aber auch zwischendurch nicht. Nicht das Blau und nicht das Glück. Das Blindekuh-Spiel war vorbei.
In Paris lernte ich meine zweite Lektion. Ich ließ mich aufs Neue verführen. Paris wurde zu meinem zweiten Meer. Im Studio nahm ich allmorgendlich an meinem Flügel Platz, einem bildschönen, uralten und bestens erhaltenen Érard. Und spielte stundenlang. So inspiriert wie selten. Wie jemand, der gerade erfahren hat, dass er für alle Zeit unverwundbar bleiben wird. „Wie ein junger Gott“, pries der Aufnahmeleiter mich und meine Interpretation. Fast immer, da stimmten er und ich überein, erwies sich der erste Take auch als der beste, der brauchbarste. Also nickten wir, hoben den Daumen als Zeichen der Zustimmung und wandten uns dem nächsten Stück zu. Ich fühlte mich federleicht. Alles gelang mir. Der Zufall wollte es, dass auch der Toningenieur Italiener war. Und hochgradig freundlich. Der bärtige und stämmige Enzo, ein paar Jahre älter als ich, lebte schon seit der Nachkriegszeit hier und hatte keinerlei Berührungsängste. Er war wohl an die Anwesenheit von Starpianisten gewöhnt und verlor während der
Aufnahmesessions in seinem Reich hinter der Glasscheibe kaum ein Wort über die Qualität meines Spiels. Für ihn verstand sich das von selbst. Unbeeindruckt von den Fachdiskussionen, die ich mit dem künstlerisch Verantwortlichen der Plattenfirma, dem Produzenten und den Werbeleuten führte, verrichtete er im Hintergrund schweigend seine Arbeit, drehte aber sofort auf, sobald die Mittagszeit nahte und die anderen Herren verschwunden waren. Enzo duzte mich, freute sich sehr, endlich einmal wieder für einen Landsmann die Mikrofone und Regler zu betätigen, lud mich mehrfach zum Mittagessen ein, in einem einfachen Arbeiterlokal beim Gemüsemarkt in der Rue Poncelet, und, was viel wichtiger war, er hatte mich, wie er unumwunden zugab, von den ersten Stunden an in sein Herz geschlossen. Wie ein Familienmitglied behandelte er mich und ging davon aus, dass auch ich ihm grenzenloses Vertrauen schenken würde. Kaum war ich bei ihm im Studio erschienen, ließ er, noch ein wenig übernächtigt, alles stehen und liegen, brachte mir Kaffee, erzählte mir von seiner Familie in Catania, die er selten sah, und von seiner Flamme, einer drallen und pausbäckigen Blonden. Von der er mir eine verblichene, an den Ecken eingerissene Fotografie zeigte und die, wie er vorgab, als zersägte Dame in einem Variété am Pigalle auftrat. Auch bei ihr, bei Nathalie, schien es sich um ein Phantom zu handeln, denn nie stellte er sie mir vor. Und in seine kleine, angeblich so gemütliche Wohnung im Marais bat er mich auch nicht. Lieber versorgte er mich mit Tratsch und Nachrichten. „Sandro, hast du eigentlich mitbekommen, dass gestern Stalin gestorben ist?“, rief er, schon bei unserer zweiten Begegnung, ganz aufgeregt und hielt mir die Titelseite des Figaro unter die Nase. Als er merkte, wie verdutzt ich ihn anschaute, weiteten sich auch seine Augen. „Und nicht nur das!“, ereiferte er sich. „Stell dir vor, auch Prokofjew ist tot! Beide am selben Tag!“ Darüber berichteten die Pariser Tageszeitungen wie Le Monde und Soir natürlich nur unter ferner liefen. Ich wusste auf die Schnelle kaum, welche Nachricht größere Besorgnis bei mir auslösen sollte. Aber wenn ein Komponist, dessen Werke ich verehrte und auch gerne öffentlich vortrug, das Zeitliche segnete, war das für meine empfindsame Pianistenseele immer eine beklagenswerte und auch unverständliche Nachricht.
Doch Enzo war kein Kind von Traurigkeit. Er fand, dass ich nicht die geringste Ahnung von Paris hatte. Was sich seiner Meinung nach schleunigst ändern musste. Und er und nur er, so hatte er bereits entschieden, ohne meine Einwilligung abzuwarten, würde dafür sorgen. Alles, was ich zu tun hatte, war, ihm zu folgen und mitzumachen – und darin war ich ja geübt. Jeden Abend fing er mich vor meinem Hotel ab und führte mich in die verborgensten Winkel seiner Lieblingsviertel. Bis in die frühen Morgenstunden waren wir unterwegs. Enzo nahm mich mit in Cabarets, Puffs, Billardhöhlen, Nachtschwärmer-Lokale und, wenn auch die dichtmachten, in stickige Kellerkneipen ohne Schild an der Eingangstür und ohne Klingel, in die man mithilfe eines bestimmten Klopfzeichens hereingelassen wurde und in denen schwarze US-Musiker bis zum Umfallen höllisch guten Bebop spielten. Dutzende von Paaren tanzten dort im Tabaknebel eng an eng auf zwanzig oder dreißig Quadratmetern, bei den langsamen Nummern auch Männer mit Männern und Frauen mit Frauen. Zu trinken gab es wenig, zu essen so gut wie nichts. Am Ende, wenn wir nicht links der Seine im „Tabou“ strandeten, landeten wir immer in der Rue de Lappe, gleich hinter der Bastille. Rechts vom Fluss. Dort, in der „Boule Rouge“, schenkte ein alter, gichtkranker Bretone Rum in klitzekleinen Gläsern und starken Kaffee in Blechbechern aus, ein Teller mit fettigen Würstchen wurde herumgereicht, aber niemand griff zu, Schnapsleichen lagen unter den Tischen, im Hinterzimmer spielten Lastwagenfahrer Poker, es roch nach Erbrochenem und der kalten Asche von Gauloises. Es war eine Reise in die Pariser Unterwelt. Nirgendwo zahlten wir Eintritt oder mussten anstehen; überall schien man uns zu erwarten. Von Nathalie gab es auch weiterhin keine Spur. Aber Enzo, mein heiterer Charon, hatte viele andere Freundinnen. In jeder Bar mindestens eine. Frauen ohne männliche Partner oder Begleiter. Gott weiß, womit er sie bestach oder sie sich gefügig machte. Manchmal sah ich Geldscheine von einer Hand in die andere wandern. Dann wieder in die Gegenrichtung. Drogen waren wohl nicht im Spiel. Nur konnte man sich da so sicher sein? Manchmal sah ich ihn mit einem der Mädchen im Labyrinth eines Untergeschosses verschwinden; eine halbe Stunde stand Enzo dann lachend und schwer atmend wieder vor mir. Nie verstand ich, was genau sich da abspielte. Nie sagte er mir, ob wir es mit
Huren zu tun hatten oder mit Künstlerinnen. Vielmehr, so war mein Eindruck, mit Lebenskünstlerinnen oder Überlebenskünstlerinnen. „Nimm sie dir“, war das Einzige, was er mir auftrug, wenn er bemerkte, wie ich einer von ihnen mit den Augen folgte. „Sie gehören uns beiden.“ Lange Zeit hörte ich gleich wieder weg, wenn er so daherredete. Und irgendwann, selten, manchmal, regelmäßig, griff ich tatsächlich zu. Es war ja nichts dabei. Einige von Enzos Freundinnen konnten tanzen oder singen, einige trugen nur einen Fummel, einige wussten seinen Namen nicht oder benutzten einen anderen. Anderen fehlten fast alle Zähne, andere hatten wunderschöne Porzellangesichter, andere trugen Perücken. Einige ignorierten mich, einige umschmeichelten mich, einige griffen mir noch auf der Straße in den Schritt und stießen mir ihren heißen Atem ins Gesicht, einige zerkratzten mir mit ihren langen, messerscharfen Fingernägeln den Rücken, wenn ich mich über sie warf und sie verzweifelt zu lieben versuchte. Keine von ihnen ahnte, dass sie sich von einem weltberühmten Pianisten beschlafen ließ, der ihr Paris mit dem Mittelmeer seiner Kindheit gleichsetzte. Keine von ihnen wollte Geld. Einige taten alles dafür, dass man sie gleich wieder vergaß, andere sah man nie wieder, und manche blieben einem im Gedächtnis haften wie eine besonders hohe Welle, ein gelungener Zweiunddreißigstel-Lauf oder ein bemerkenswertes Wort. Manche wollte man einfach nur minutenlang betrachten, so attraktiv und verträumt waren sie, so verschlagen und so unergründlich, und darauf warten, dass sie sich in einen verknallten. Tomber amoureux, sagten die Franzosen – in die Liebe hineinfallen, hineinstolpern, hinunterstürzen. Das hatte Enzo mir beigebracht. Und gleich hinterhergeschoben: „Fall ja nicht auf sie rein. Mach besser einen Rückzieher.“ Keine Fortsetzung! Wenige dieser Mädchen gab es, die keine Fallenstellerinnen waren. Die den Mut hatten, die Rollen zu tauschen und auch zurückzustarren. Die sich auf mich konzentrierten. Die in meinem Gesicht wie in einer aufgeschlagenen Partitur lasen, die unsere stummen Flirts wie mit einer inneren Kamera festhielten und darauf achteten, dass ich mich nicht außerhalb der Reichweite ihres Suchers befand. Die darauf spekulierten, dass unsere Blicke sich vereinigen und nie mehr aus ihrer Umklammerung lösen würden.
Die waren mir die liebsten. Und eine davon warst du, Géraldine.
3
Die Liste
Bevor Rupert Beaufort zunächst ein solider Handwerker des Todes wurde, dann ein Könner und hernach ein Künstler am Galgen, musste er erst einmal seine Berufung spüren. Musste, nicht allein bildlich gesprochen, Lehrjahre absolvieren und sich einer Gesellenprüfung unterziehen. Musste reifen und sich vervollkommnen, musste humane Züge entwickeln und Verluste verwinden, musste verzweifeln und herbe Rückschläge einstecken. Ein langer, mühseliger Prozess. Musste zu einem gewissenhaften Menschen ohne Gewissen werden, um an vielen Samstagen skrupellos und voller Überzeugung Straftäter hängen und an vielen Sonntagen wieder zur Tagesordnung übergehen zu können. Musste lernen, sich teilnahmslos zu verhalten und dennoch voller Anteilnahme zu agieren. Bevor er zunächst zum Jüngling wurde und dann zum erwachsenen Mann, hatte er erst einmal die Knabenjahre hinter sich zu bringen. Ein hartes Stück Arbeit. In Clayton, im Westen von Bradford, und später in Huddersfield, ein gutes Stück weiter südlich, wo er als einziger Junge zwischen zwei Schwestern aufwuchs, war diese Knabenzeit eine ziemlich trostlose Angelegenheit. Ein kleiner Knirps zu sein im ländlichen Yorkshire in den Jahren kurz vor dem Ersten Weltkrieg, wo Leeds eine Weltreise entfernt war, von York, Manchester oder Liverpool ganz zu schweigen, wo ein rauer Ton herrschte und die Armut groß war, hatten Kinder wenig zu lachen. Küsschen wurden nicht verteilt in seiner Familie, Küsse schon gar nicht, auch nicht an die Allerkleinsten, und Umarmungen waren so selten wie richtige Weihnachtsgeschenke. Sein Vater Matthew, mal unbeherrscht, dann wieder die Freundlichkeit in Person, war selten zu Hause, schwach auf der Brust, kränkelte ständig und wechselte die Jobs wie andere Männer seines Alters die Hemden, und in der Nachbarschaft galt als ausgemacht, dass er als notorischer Trinker niemals so richtig auf den grünen Zweig kommen würde. Auch ging er, vor allem, als Rupert noch ganz klein war, oft allein auf Reisen, ausnahmsweise fein gemacht und mit ernster Miene, worüber nie gesprochen wurde. Was genau er da trieb, war im selben Maße unklar wie seine Berufsbezeichnungen im Alltag: besser, man fragte nicht nach. Mutter Mary, eine zarte Person, war trotz ihrer Jugend eine verhärmte Gestalt, wirkte kraftlos und verblüht, rang in einem fort die Hände und hörte nie auf zu jammern, besonders wenn ihr Gatte nicht arbeiten ging und daheim Däumchen drehte. Die Nachbarsfrauen gingen ihr aus dem Weg, weil sie nichts als
Traurigkeit verbreitete und ausschließlich von ihren Sorgen sprach. Mary war keine Frau zum Pferdestehlen. Im Gegensatz zu ihrem unsteten, aber umgänglichen Mann, der wenigstens improvisieren konnte, wenn er eine Anstellung nach der anderen ausprobierte, war Mary unbeliebt. Rupert konnte angesichts ihrer Litaneien, bei denen er sich die Ohren zuhielt oder nach draußen rannte, fast verstehen, wenn sein alter Herr wieder einmal zur Flasche griff oder mit seinen Kumpanen an Samstagabenden um die Hä zog, um dann am Sonntagmorgen den Kirchgang auszulassen und seinen Rausch auszuschlafen. Wenn er schließlich verkatert vom durchgelegenen Sofa aufstand und sich die Augen rieb, war nicht gut Kirschen mit ihm essen. Dann verzogen sich seine drei Kinder in den Garten oder zu Spielkameraden, und Mary greinte. Noch auf der Straße hörte man die beiden zanken. Türen knallten, unflätige Ausdrücke hingen in der Luft. Weinerliche Tiraden wollten kein Ende nehmen. Rupert beneidete seine Mitschüler um ihre polternden, selbstbewussten Väter, Männer, die malochten und zu Hause mit der Faust auf den Tisch hauten. Männer, die das Sagen hatten und den Kurs vorgaben. Die ihre Frauen und Kinder im August in ein Ausflugslokal am Fluss ausführten. Die ihre Söhne mit ins Stadion nahmen, die Reifen ihrer Fahrräder flickten, mit ihnen paddeln oder angeln gingen und ihnen beibrachten, wie man eine Spielzeugdampfmaschine zum Zischen bringt. Schon damals schwor er sich, selbst später einmal ein anständiger, ein gestandener Mann zu werden. Und dafür zu sorgen, dass seine Familienkasse gefüllt sein würde, um nicht jeden Penny zweimal umdrehen zu müssen. Nicht dass er Matthew hasste oder verachtete: Er dauerte ihn nur. Und wenn er auch noch nicht in vollem Umfang wusste, was das Wort Verantwortung bedeutete, so ahnte er doch schon jetzt, dass das etwas war, was man ernst nehmen musste und was seinem Erzeuger, so sehr er sich auch anstrengen mochte, immer wieder durch die Hände glitt. Wie ein glitschiges Stück Seife. Er konnte wohl einfach nicht anders, dieser schmale, schwache Vater, er vermurkste alles, wirkte hilflos, verlor die Orientierung. Irgendwann hörten dann auch die mysteriösen Reisen auf, er wurde zunehmend unzufrieden und zuweilen jähzornig. Das knappe Geld wurde noch ein wenig knapper. „Du wirst noch zum Tagelöhner“, schimpfte die Mutter.
Und doch fühlten sich Rupert und seine Schwesterchen, wenn Matthew ihnen an einem der seltenen heiteren Tage ein Wassereis spendierte oder, einmal im Jahr, auf den Rummel ging und für sie mit dem Luftgewehr auf bewegliche Ziele schoss, bis sie alle drei einen Plüschbären mit nach Hause nehmen konnten, auf eine verquere Weise von ihm geliebt. Dad strengte sich so sehr an, gutmütig zu sein, gutherzig zu bleiben und auch Gutes zu tun, es gelang ihm nur einfach nicht so richtig. Dad gab nie auf, fand immer Arbeit, hielt es dann nur wenige Tage aus. Dann konnte er nicht mehr. Er zeigte oder erklärte seinen Kindern nichts und spielte nicht mit ihnen. Er funkte ihnen aber auch nie dazwischen, sah darüber hinweg, wenn sie Unsinn anstellten, nicht rechtzeitig zum Essen nach Hause kamen oder wenn sie herumtobten und in der Küche ein Glas zu Bruch ging oder eine Fensterscheibe beim Ballspiel. Es sprach für ihn, dass ihm so gut wie nie die Hand ausrutschte. Und Mary sorgte gerade einmal für das Nötigste. Vieles, was das Leben schön und erfreulich gemacht hätte, überforderte sie oder kam ihr gar nicht erst in den Sinn. Ruperts Eltern, da war nichts zu machen, waren alles andere als bösartig, aber sie standen sich selbst im Weg. Da waren die kurzen Wochenendausflüge und längeren Sommeraufenthalte im Hause von Onkel und Tante ein willkommener Lichtblick. Der von Frohsinn und guter Laune bestimmte Tagesablauf bei Matthews älterem Bruder und seiner Frau gab dem Jungen, im Vergleich zur dumpfen, stumpfsinnigen Zeitverschwendung zu Hause in Huddersfield, eine gute Vorstellung davon, wie das Dasein wirklich sein konnte, wenn man nur wollte. Nämlich ein Vergnügen. Der Kontrast war wie Tag und Nacht. Je älter er wurde, desto mehr sehnte sich Rupert danach. Uncle Theo und Aunt Mildred, die er insgeheim bald als seine „richtigen Eltern“ erachtete, wohnten nur ein Dutzend Tramstationen weiter nördlich, noch in der alten Heimat Clayton, aber schon näher an den Außenbezirken von Bradford, doch als ihn seine Eltern das erste Mal zu ihnen schickten, damit für etwas Abwechslung gesorgt war und wohl auch, damit sie einen hungrigen kleinen Burschen, der ihnen die Haare vom Kopf fraß, für ein paar Tage loswaren, ging ihm augenblicklich das Herz auf. Schon wie er begrüßt wurde! Seine Tante nahm ihn bei beiden Händen und strahlte ihn an, als hätte sie sich in ihrem ganzen Leben noch nie so gefreut wie jetzt, als sie ihn endlich erblicken und herzen durfte. „Unser Rupert!“, rief sie entzückt aus, und ihr Busen wogte.
„Unser“, so als gehörte er schon ihnen. Alles, was sie tat, tat sie mit Überschwang, versah es mit Ausrufezeichen. Und Theo, von früh bis spät im Overall, nach Heu oder Motorenöl riechend, begrüßte ihn ebenso herzlich, wuschelte ihm durchs Haar und schlug sofort etwas vor, eine Unternehmung oder einen Spaziergang. „Wollen wir zwei uns gleich mal auf den Weg machen?“, fragte er seinen Neffen, ohne die Antwort abzuwarten, „ich entführe dich – und nachher gibt es was Feines zu essen.“ Immer hatte er einen Plan, hatte etwas für ihn ausgeheckt oder eine Überraschung parat. Immer hatte er sich auf Ruperts Besuche vorbereitet. Theo schnappte ihn sich, zeigte ihm Felder und Tiere, hievte ihn auf einen Pflug, erklärte ihm die Apparate und Maschinen in der Baumwollmanufaktur, wo auch am Wochenende rund um die Uhr gearbeitet wurde und er als Fahrer beschäftigt war. Er sorgte dafür, dass „sein“ Rupert herzliche Bekanntschaft mit einem eigensinnigen und auch recht widerspenstigen Ziegenbock namens Joey schloss, und er stellte Rupert, mit dem er Hand in Hand durchs Dorf ging, mit Stolz seinen Nachbarn vor. Wie eine Trophäe präsentierte er ihn. Alle schienen sich zu freuen, ihn zu sehen, alle schienen glücklich, dass er da war. Und das hatte Rupert einfach noch nie erlebt. Uncle Theo kannte die große weite Welt und hatte Lust, sie seinem Neffen zu zeigen. Abenteuerlust trieb ihn an, genau das Richtige für Rupert. Vorn neben sich platzierte er ihn, auf der Sitzbank der Pferdekutsche, mit der er seine Auslieferungen erledigte und Waren zum Bahnhof transportierte. Rupert durfte auf dem Kutschbock hocken wie ein Alter, durfte die Zügel halten und lenken, beim Tragen von Kartons und Kisten helfen, bekam das Fachvokabular der Grossisten erklärt und jede Menge Kopfrechenaufgaben von seinem Onkel gestellt. Addition, Subtraktion, Multiplikation. Theo erklärte ihm, dass es im Leben ständig und überall auf Genauigkeit ankäme. „Die Dinge müssen stimmen“, konstatierte er mehrmals täglich. „Dann ist alles erträglich.“ Rupert schwirrte anfangs der Kopf vor lauter Zahlen und Eselsbrücken, aber nach ein paar Tagen blickte er schon ein bisschen besser durch. Er war glücklich,
wenn er die Pferde striegeln und ihnen Futter bringen konnte, wenn Theo ihn mit Botengängen zu kleineren Firmen in der Nachbarschaft beauftragte und ihn aufforderte: „Wenn sie dir ein Trinkgeld geben wollen, nimm es ruhig, wir haben es uns sauer verdient“, und wenn er abends, genauso schmutzig, verschwitzt und nach Pferdekot stinkend wie sein Onkel, nach Hause kam und sich, Seite an Seite mit ihm, kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Aunt Mildred wartete schon auf die beiden, hatte stets ein Glas frische Buttermilch oder eine Karaffe Ingwerbier anzubieten, hatte selbst gemachte Plätzchen oder ein Stück Pie vorrätig – all diese Köstlichkeiten schienen in Huddersfield nicht zu existieren; er kannte sie bislang nicht einmal dem Namen nach. „Der Junge muss was auf die Rippen kriegen“, sagte Theo zu seiner Frau, „sonst wird er noch so ein klappriges Gestell wie Matt.“ Und auch beim Abendessen ließ Rupert es sich schmecken, langte ordentlich zu. Mildred tätschelte ihm die Hand. „Fein, dass du hier bist, sweetheart“, rief sie aus. Und als er rot anlief, fügte sie lachend hinzu: „Du brauchst dich doch nicht vor uns zu genieren.“ Genieren tat er sich auch nicht, als er an diesen drückenden Sommersamstagnachmittagen, wenn die Sonne wie ein roter Ball am Himmel glühte und die Felder rings um Theos Häuschen zu versengen drohte, gleich nach seinem Onkel nackig in die Messingwanne stieg, die im Innenhof aufgestellt und von gackernden Hühnern umringt war. Ausgelassen planschte er im Badewasser, das nach Lavendel duftete. Alle paar Minuten goss seine Tante heißes Wasser aus einer großen Karaffe nach, und Theo schrubbte ihm mit einer Bürste den Rücken. Ganz schön grob, fand er, seine Haut brannte wie Feuer, genoss aber auch das Kitzeln, die gespielte Folter – eine richtige Abreibung – und das gegenseitige Nassspritzen. Gemeinsam wurde gejuchzt. Und dann, selbst von oben bis unten nass und in der Unterwäsche wie ein Wilder umherhüpfend, sang der Onkel unvermittelt. Warf sich in Pose und intonierte einen Shanty. Mit viel Gefühl. „Haben mir die Schauerleute in Liverpool beigebracht“, erklärte er, als Rupert ihn überrascht anschaute. Eine schöne Bassstimme hatte der Onkel. „Sing doch mal mit!“, forderte er ihn auf.
Anfangs eine holprige Angelegenheit. Nach drei Tagen beherrschte der Junge den Text, alle fünf Strophen. Noch fiepste er ein wenig, war ja gerade mal neun Jahre alt. „Das wird schon“, beruhigte ihn der Onkel, „wart’ erst mal ab, bis du in den Stimmbruch kommst. Dann duettieren wir.“ Das Auswendiglernen lag Rupert, und er liebte es, wenn sein kleiner Körper zum Resonanzraum wurde. Wenn alles in ihm vibrierte und wenn er den letzten Ton des Songs nachklingen lassen konnte, sodass er noch eine Weile in der Luft hing. Mildred summte mit, brutzelte schon wieder etwas in der Küche. Oder erschien mit einer Süßigkeit – als Zwischenmahlzeit. Einen Heidenspaß hatten die drei. Abends würfelten sie um die Wette. Zwanzig Kichererbsen waren der Einsatz für jeden Spieler, Rupert bekam noch eine Limonade vorm Schlafengehen, wenn er mal wieder gewonnen und nicht geschummelt hatte – noch merkte er nicht, dass ihn die beiden gewinnen ließen –, und als er schon im Bett lag, hörte er die Eheleute unten im Vorgarten, wo Theo sich allabendlich noch eine Pfeife ansteckte, lachen, bis sich die Balken bogen. Alle Zeit der Welt nahmen sie sich für Rupert. Gaben ihm das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Dass es auf ihn ankam, dass seine Anwesenheit zählte. Die Wochen vergingen wie im Fluge. Viel zu schnell war der Sommer um. Jedes Jahr würde er wiederkommen, nahm er sich fest vor, auch zwischendurch. Und so geschah es auch. Obwohl jetzt der Krieg ausbrach. Mary und Matthew hatten nichts dagegen. Sie wunderten sich nicht einmal, dass ihr Sohn, noch vor wenigen Wochen ein Dreikäsehoch in kurzen Hosen, auf einmal so kräftig geworden war. Und dass er, ausgerechnet im Sommer 1914, das Leben jetzt mit Inbrunst umarmte und einfach wunderschön fand. Der Ausruf „Unser Rupert“ blieb übrigens haften, verselbständigte sich. Der Junge war so etwas wie Theos und Mildreds Awählter. Unbewusst ging er davon aus, dass deren Ehe wohl kinderlos geblieben war, ob gewollt oder ungewollt, dass sie sich deshalb einen Sohn wünschten, den sie als den ihren, als ihr Eigentum ansehen konnten. Erst nach Jahren erfuhr er durch eine unbedachte Bemerkung seiner Mutter, die sich sogleich auf die Lippen biss, von der Existenz einer Tochter, die, wie er dann nach und nach erzählt bekam, sehr viel älter war als er, als schwierig und unberechenbar, als schwer erziehbar und regelrecht
gefährlich galt, zu Tobsuchtsanfällen neigte, mit einem Messer auf andere Kinder losgegangen war und deshalb weggesperrt werden musste. Schon vor Jahren hatten die Behörden sie, seine Cousine also, Theo und seiner Frau weggenommen. Für kurze Zeit, hatte es zuerst geheißen, danach war von einer Rückkehr bald nicht mehr die Rede. In einem Heim in Staffordshire, weit weg von zu Hause, war sie interniert, „eine Tragödie“, meinte der Vater, und Mildred erwähnte sie nie. Theo schon gar nicht. „Es war besser so für alle“, meinte Mary nur, wobei ihr Kinn ein wenig zitterte, „das Mädchen richtete nur Unheil an“, sie blickte zu Boden, dachte wohl an ihre unglückliche Schwägerin, und dann kam das Thema nie wieder zur Sprache. Und auch nicht der Name der Tochter. Rupert dachte an sie wie an ein Gespenst oder Phantom. Fasziniert blickte Rupert, mittlerweile in die Höhe geschossen und mehr denn je gern gesehen bei seinen Gasteltern, Mildred über die Schulter, wenn sie, an einem Bleistiftstummel kauend und die hübsche Stirn in Falten legend, jeden Nachmittag hochkonzentriert ihre Kreuzworträtsel löste. Kreuzworträtsel – das war damals, am Vorabend des Kriegs, der neueste Schrei. Irgendein komischer Vogel aus Liverpool hatte sie gerade erfunden, und die Leute waren verrückt danach. Jeden Tag nach dem Lunch nahm sie eins, schon am Morgen zuvor aus der Tageszeitung herausgetrennt, wo es sich eine der letzten Seiten mit Witzen und Horoskop teilte, und auf der Anrichte auf sie wartend, in Angriff. Brütete lange Minuten über den leeren Kästchen mit den schwarzen Pfeilen und den klein gedruckten Definitionen, zermarterte sich das Hirn, rechnete und radierte, fragte Theo um Rat, der nur unwirsch brummelte oder eine wegwerfende Handbewegung machte, und sie gab nicht auf, bis sie den Zettel mit den magischen Quadraten und aufreizend weißen Feldern vollständig ausgefüllt hatte. „Verdammt noch mal“, entfuhr es ihr alle paar Minuten, „wie knifflig das heute wieder ist!“ Dabei fluchte sie sonst nie. Rupert – den sie, nebenbei bemerkt, übrigens nie um Hilfe bat bei der mühseligen Wortklauberei – imponierten ihre Hartnäckigkeit und ihr Ehrgeiz: Sie ließ einfach nicht locker. Warum ihr an der Sucherei und dem Nachdenken, warum ihr an diesen kleinen Blättchen mit den komplizierten Aufgaben so viel lag, war ihm nicht klar, auch nicht, warum ihr konkrete Worte etwas bedeuteten,
die doch genauso gut durch andere ersetzt werden konnten, die gar nicht richtig anwesend waren und allein in ihrer Vorstellungskraft herumspukten, und es verblüffte ihn, dass sie so viel Zeit mit dem Herausfinden vergeudete, aber er begriff bald, dass es um etwas Größeres, Abstrakteres ging, er fand heraus, dass sie wie unter Zwang handelte und dass das Ergebnis etwas ungeheuer Zufriedenstellendes an sich haben musste. Die Macht eines Stücks bedruckten Papieres, in dem Befehle verborgen zu sein schienen, deren Ausführung keinen Aufschub duldete, die Macht eines unscheinbaren Dokuments, mit der eine Art Perfektionswahn bei jemandem ausgelöst wurde, der sich diese Aufforderungen und Kommandos zu eigen machte, war mit Händen zu greifen. Und die sofortige Erledigung besaß für manche Menschen wohl etwas Unwiderstehliches. Rupert, der mit dem Lesen und Schreiben anfangs auf Kriegsfuß stand und – da war er ganz der Vater – es in der Schule kaum aushielt, fürs Pauken und Formellernen keinerlei Begabung mitbrachte, der zappelig wurde und, lernunwillig und faul, die Lehrer mit seiner Sturheit auf die Palme brachte, sah sich die Rätsel immer dreimal pro Tag genau an – morgens, wenn sie noch unschuldig aufs Ausfüllen und Auffüllen warteten, mittags, wenn sie bereits ungeduldig nach Vervollständigung riefen und geradezu quengelten, und abends, wenn sie über und über mit langen und kurzen Worten bedeckt waren, eingetragen in Mildreds schöner, ebenmäßiger Schrift, wenn kaum noch Platz war und das Raten ein Ende hatte. Erstaunt und auch ein wenig verärgert sah er dann, wie Theo das vollendete Kunstwerk, denn das war es ja wohl, was Mildred beabsichtigt hatte, mit ihren eigenen Händen und ihrem eigenen Verstand etwas für sie Befriedigendes und Gelungenes herzustellen, wie er also das prächtige, verzierte Blatt vom Tisch nahm, zerknüllte und, mit einem niederträchtigen Grinsen, in den Ascheneimer beförderte. „Alberne Mode“, schnaubte er verächtlich, „dummer Papierkram. Kümmere dich lieber um die Wäsche.“ Dabei wusste er ganz genau, dass man Mildred in puncto Haushaltsführung rein gar nichts vorwerfen und erst recht keine Versäumnisse ankreiden konnte. Theo verhielt sich also bewusst ungerecht.
„Ja, wirf’s nur weg“, seine schlaue Frau ließ sich davon nicht provozieren, „morgen kommt ja wieder ein neues Rätsel.“ Sie blieb ganz ruhig. Wirkte überhaupt nicht wie jemand, mit dem man Mitleid haben musste. „Und du, Mister Beaufort“, sie schleuderte ihrem Mann einen selbstsicheren, ironischen Blick entgegen, „wirst mich nicht daran hindern, mich dranzusetzen“, versetzte sie, „du schon gar nicht.“ Rupert verstand sehr schnell, dass es in diesem seltsamen Spiel zwischen den beiden sonst so ausgeglichenen Erwachsenen um Gehorchen und Aufbegehren ging. Seine Tante erfüllte aufs Genaueste die Anforderungen des Rätsels, kam Geheimnissen auf die Spur und wurde dafür belohnt, weil sie, ohne aufzugeben, irgendwann die richtigen Antworten gefunden hatte; sein Onkel hielt es kaum aus, dass sie ihm damit vor Augen führte, wie sehr sie ihm überlegen war, und er konnte seine Lust, sie dafür zu bestrafen oder wenigstens zu triezen, kaum bezähmen. Doch dieses Hin und Her tat ihrer Liebe zueinander keinen Abbruch. Rupert nahm sich vor, von nun an auch im Schulunterricht einfach nur zu gehorchen, beim Morgenappell strammzustehen und sich nicht zu mucksen, in unangenehmen Situationen nicht weiter nachzudenken und auf Tugenden wie Ausdauer und Robustheit zu vertrauen – die Tugenden seiner Tante. Auf ihre Charakterfestigkeit. Darauf, wie sie die Fassung bewahrte. Und auf die Lieder seines Onkels natürlich, mit ihren langen und schwermütigen Texten. Mit ihren Reimen und Strophen, die so schön aufs Gemüt schlugen. Bei seinem fehlerlosen Aufsagen von Gedichten und historischen Quellen, was ihm gelang, ohne sich sonderlich anstrengen zu müssen, wurden seine Lehrer endlich einmal hellhörig. Da heimste er Lob ein und sammelte Pluspunkte.
Dann kam der Krieg, der eines Tages als The Great War bezeichnet werden würde und die ganze Welt ins Unglück stürzte. Eines Tages war er einfach da, überall, wie eine Seuche, gegen die man sich nicht impfen lassen kann, und die bloße Erwähnung des Wortes Krieg, Dutzende Male pro Tag, war imstande, Leben, Alltag und Gewohnheiten auf den Kopf zu stellen. So wie ein beim Rätselraten wiedergefundenes Wort, ausgefallen und hübsch anzusehen, Aunt
Mildred mit seinem Klang und seiner Einzigartigkeit in Ekstase versetzte und ein seliges Lächeln auf ihr Gesicht zauberte, verängstigte dieses neue und überaus mächtige Wort, das einen daran hinderte, es mir nichts dir nichts in den Papierkorb zu pfeffern, die Menschen in Huddersfield und in Clayton. Es besaß Überzeugungskraft. Es ließ sich nicht wegradieren. Von Stund an mussten alle den Gürtel enger schnallen, Obst und Gemüse wurden knapp, Dinge des täglichen Bedarfs waren gar nicht mehr zu haben oder nahezu unerschwinglich. Für ein Paar gebrauchte Schuhe, die schon fast auseinanderfielen, musste Rupert, von Mary losgeschickt, stundenlang bei der Bahnhofsmission anstehen und sie nehmen, auch wenn sie nicht richtig ten und voller Löcher waren, durch die das Regenwasser einsickerte. Die Erwachsenen redeten nur noch von ihren Sorgen und Nöten, setzten ernste, bedrückte Mienen auf, Ehefrauen erhielten Feldpostbriefe und wurden innerhalb weniger Monate zu Witwen, und einige von den jungen Lehrern verschwanden ohne vorherige Ankündigung, weil sie an die Front mussten. Sie wurden von pensionierten Pädagogen, von denen die ältesten den Unterricht mehr schlecht als recht fortsetzten, und auch von Frauen vertreten. Sein Dad, zu krank und zu sehr dem Whiskey verfallen, wurde ebenso wenig eingezogen wie Uncle Theo, damals bereits in seinen Vierzigern und neuerdings auch immer öfter von zu Hause abwesend, irgendwo in London oder in Somerset unterwegs zu wichtigen Aufträgen, die jedoch nichts mit seinem Job zu tun hatten. „Important business“, hieß es dann immer, und, sobald die Kinder neugierig nachhakten, wurden Mutter und Tante schmallippig und erbleichten; fragte ein Außenstehender, dem schwante, dass die Kurzreisen womöglich etwas mit der Landesverteidigung oder einem Ministerium zu tun haben könnten, dann verstummten Eltern, Verwandte und Nachbarn. Trotz alledem lief nicht alles schlecht bei den Beauforts, einiges geriet in Bewegung, so manches veränderte sich zum Besseren. Mutter Mary, die sich ohne Unterlass um ihren nach Kanada ausgewanderten Bruder Danny, wenig später einer der ersten Gefallenen in den Völkerschlachten Europas, sorgte, nahm einen Job in der Rüstungsfabrik an, wo sie bei der Produktion von Munition mithalf und Artilleriegranaten herstellte. Gar nicht so schlecht dotiert war diese Arbeit. Und Vater Matthew, obgleich ihm gerade erst wieder eine
Anstellung wegen schlechten Betragens und fortgesetzter Trunksucht durch die Lappen gegangen war, wurde zusehends munterer und lebendiger, strotzte seit Kurzem nur so vor Selbstvertrauen. Lag es daran, dass er einen lukrativen Posten im Gaswerk in Aussicht hatte, den ihm ein ehemaliger Kollege zuschustern wollte? Lag es daran, dass Mary, von Kummer um ihr Bruderherz Danny Boy zerfressen und dauernd im Schichtdienst, und er sich nun seltener sahen, daheim freundlicher miteinander umgingen und seither kaum noch aneinandergerieten? Lag es daran, dass in letzter Zeit vornehme Herren bei ihnen ein und aus gingen, die über Stunden hinweg hinter verschlossenen Türen die Köpfe zusammensteckten und palaverten? Kaum dass sie weg waren, steckte Ruperts Vater jedes Mal ein dickes Bündel Geldscheine in die Haushaltskasse, zog sich in den Schuppen hinter der Küche zurück und schrieb bis tief in die Nacht. Das ging nun schon seit mehreren Wochen so. Bei den Mahlzeiten wirkte er ganz aufgeregt und war ungewöhnlich redselig. Seinen elfjährigen Sprössling bedachte er jetzt unablässig mit aufmerksamen, liebevollen Blicken. Rupert war ratlos. Erst recht, wenn nun auch Matthew unvermittelt begann, am Abendbrottisch Bänkellieder zu singen, Evergreens und auch Folk Songs, mit einer fast ebenso raumgreifenden Stimme wie sein älterer Bruder. Rupert und seine Geschwister hatten gar nicht gewusst, dass ihr Dad so verführerisch wirken und so sinnlich sein konnte, dass er eine so dröhnende, virile Stimme besaß, dass er gar zum Entertainer taugte. Warum nur hatte er das früher nie getan? Nie hätten sie gedacht, dass er eine musikalische Ader besaß und sich auch noch gern vor Dritten produzierte. Mary war es nicht recht, wenn ihr Mann sich ihr mit theatralischen Gesten näherte und sie vor den Kindern zärtlich umfasste, während er von einer Schönheit namens Gwendolyn sang, die im irischen Hochmoor auf ihren Geliebten wartete, aber sie konnte sich ein glückliches Lachen nicht verkneifen und auch, in den immer so sentimentalen letzten Strophen, ihre Rührung nicht verbergen. Eher durch Zufall erfuhr wiederum Matthew von Theo, dass auch Rupert, noch immer eindeutig ein Knabensopran und kein Tenor, während der Sommerfrischen längst Gefallen am Singen, Vortragen und Gestalten gefunden
hatte. Kamen die drei, selten genug, in Huddersfield bei den kargen Familienmahlzeiten zusammen, schmetterten sie nun, sobald die dürftigen Bierund Schnapsvorräte zu Ende gegangen waren und die Männer sich notgedrungen vom Trinken aufs Musizieren verlegen mussten, gemeinsam um die Wette oder teilten die langen Strophenlieder untereinander auf. Waren die Fenster geöffnet, blieben anten auf der Straße stehen und applaudierten dem Terzett. „Ihr drei könnt bald im Variété auftreten“, kicherte Mary, „als Beaufort-Trio“, und Mildred, resolut wie eh und je, fügte schmeichelnd hinzu: „Unser Rupert“, mit vernehmlicher Betonung auf der ersten Silbe ihres Satzes, „unser Rupert hat noch etwas viel Besseres verdient. Ihn wollen wir im Konzertsaal hören!“ Im Sommer 1916 war das Gerücht um den Kriegstod des geliebten Uncle Danny, den keines der Beaufort-Kinder je zu Gesicht bekommen hatte, zur traurigen Gewissheit geworden. Zuweilen hatte Rupert früher einmal spaßeshalber im Gespräch mit seiner Tante eine Auswanderung nach Kanada erwogen und sich ein Leben in Saus und Braus, auf der anderen Seite des großen Teichs und von Danny auf Händen getragen, in leuchtenden Farben ausgemalt – was Mildred mit der tadelnden Bemerkung „Soso, du willst deinem englischen Onkel und mir also untreu werden!“ quittiert und ihm ein weiteres Stück Rhabarberkuchen auf den Teller geschoben hatte. Damit war dieses Hirngespinst gleich wieder vertrieben. Jetzt aber war Mary, die an ihrem exotischen Bruder sehr gehangen hatte, untröstlich und verbrachte ganze Wochenenden weinend in der Schlafkammer. Ihre Kinder schlichen niedergedrückt durchs Haus, nur ihr Dad war voller Elan und schrieb des Nachts wie ein Besessener. An einem Samstagmorgen stürzte Matthew, mit Ringen unter den Augen, doch so beschwingt wie selten, in die Küche, befahl Rupert, seine besten Sachen anzuziehen und lieferte auch gleich die Begründung nach: „Komm mit, wir müssen zum Bahnhof, dein Onkel Theo wartet auf uns!“ Die Vorfreude stand seinem Sohn ins Gesicht geschrieben: Rupert war Feuer und Flamme für diesen Ausflug. Konnte er bei dieser Gelegenheit doch auch gleich Joey Guten Tag sagen und sich von Mildred, die selbst in entbehrungsreichen Zeiten wie diesen immer etwas Schmackhaftes bereithielt, bewirten lassen. Auf dem Weg dorthin und während der Fahrt redete Matt in einer Tour: über die Situation an der europäischen Westfront, über die Schlacht an der Somme, über
die Offensive gegen die Deutschen. Völlig überdreht wirkte er. Kaum dass sie in Clayton angelangt waren und von Theo mit der Kutsche abgeholt wurden, verwickelte er seinen Bruder in ein ernstes Gespräch. Immer so unbestimmt, mit unverständlichen Fachausdrücken um sich werfend, dass Rupert ausgeschlossen blieb und bald das Interesse an ihrer Unterhaltung verlor. Die beiden Männer, eng zusammengerückt auf dem Kutschbock, tuschelten, es hatte zweifellos etwas mit den Geschäftsleuten zu tun, die seinem Vater zuletzt diese Unmengen von Geld zukommen ließen, und Rupert bemerkte sehr wohl, wie oft Uncle Theo seinem jüngeren Bruder entrüstet widersprach, wie er den Kopf schüttelte und immer grimmiger dreinschaute. Dann aber drehte sich für Rupert alles nur noch um Joey, der ihm durch den Vorgarten hinterhersprang und mit den Hörnern anstupste, um Mildred und ihre herrlich zuckrigen, goldgelben Muffins, deren Zutaten sie weiß der Himmel wo ergattert hatte, und um ihr neuestes, besonders schweres Kreuzworträtsel, bei dem noch mehr als ein Drittel der weißen Kästchen leer geblieben war. Zu ihrem großen Verdruss. Dann war schon wieder Zeit zum Aufbruch. Die Stimmung zwischen Vater und Onkel war gedrückt, sie hatten sich gestritten. Kein Wort fiel während der Rückfahrt, sie gaben sich schweigend die Hand, und erst als Matthew und Rupert wieder im Zug zurück saßen, ergriff sein Vater, der schon für ein paar Minuten nervös vor sich hingesummt hatte, auf der Suche nach dem richtigen Einstieg für die nun folgenden Vertraulichkeiten das Wort. Der Junge spürte, dass seinem Alten ganz feierlich zumute war. Und dass es in ihm rumorte. „Son, ich will dir mal eine Geschichte erzählen, die sich vor mehr als zehn Jahren in London zugetragen hat. Als ich mich um Edgar Edwards gekümmert habe, den Dreifachmörder, der auf dem Weg zum Schafott ‚Jesus, Lover of my Soul‘ rezitierte. Als ich, wie üblich, mit Jimmy Brocklebank vom Gefängnis durch die City zur St. Pancras Station lief, um den Zug zurück nach Manchester zu erwischen. Als wir, was ein schwerer Fehler war, uns zwischendurch noch den Crystal Palace anschauten und dann, auch keine gute Idee, in einem Pub eingekehrt sind. So weit ging alles glatt. Nur dass uns diesmal die Hooligans auflauerten. Oh, sie hatten es auf uns abgesehen. Hooligans – weißt du, was ich damit sagen will?“
Sie stiegen aus und bewegten sich auf die Tramstation zu. Rupert verstand rein gar nichts. Von Anfang an war er überfordert. Ein Schwall verwirrender, ungeordneter Informationen in Gestalt einer Abenteuergeschichte, hastig und atemlos vorgetragen, ging wie ein Wasserfall auf ihn nieder; er hatte größte Mühe zu folgen. Von Tausenden Schaulustigen wurde ihm berichtet, die sich draußen versammelt hätten, nur um seinen Dad und diesen Brocklebank, dessen Name Rupert gar nichts sagte, zu sehen, nicht aus Feindseligkeit, bloß aus Neugier. Leute, die glotzen wollten, was sonst, Nichtstuer, die nach Sensationen gierten. Von einer Flucht durch die Menschenmenge rund um das Wandsworth Gaol, um ja unerkannt zu bleiben. Von einer Frau mit schwarzem Schleier, die sich an sie heranpirschte, um in Erfahrung zu bringen, ob die Hängung korrekt ausgeführt wurde. Was sie bejaht hätten. Von Sightseeing in London hörte er und von einer üblen Attacke auf Matt und seinen Kumpel in einem Pub in Bahnhofsnähe. Typen, die sich, als sie am Tresen standen, von hinten an sie herangemacht hätten. Feige, fiese Schlägertypen. Von Messern, die gezückt wurden, von zersplitternden Gläsern, von Faustkämpfen und davon, wie sie die schweren Jungs überwältigt und fertiggemacht hätten. Mit Stühlen verprügelt, zu Boden geschmettert. Von einer Gruppe Geschäftsmänner erfuhr er, die sie zu ihrem Sieg über die Halbstarkenmeute beglückwünscht und bis zum Bahnsteig von St Pancras begleitet hätten. In einer Art Triumphzug. Davon, dass er, Dad, wie durch ein Wunder unversehrt geblieben war an jenem denkwürdigen Tag, während Brocklebank blaue Flecken davontrug, den Bruch einiger Rippen zu beklagen hatte und eine tiefe Schnittwunde im Gesicht. Je länger Matthew sprach, desto mehr überschlug sich seine Stimme, er schrie fast. Es sprudelte aus ihm heraus. Er vermochte seinen Erzählfluss nicht mehr zu kontrollieren, ein Damm war gebrochen. „Wir haben sie fertiggemacht, Junge“, rief er. „Wir haben die Hooligans nach Strich und Faden vermöbelt. Sie konnten uns nichts anhaben!“ Die Leute drehten sich auf der Straße nach dem aufgebrachten, brüllenden Mann um – für sie musste es sich anhören, als würde der dem Kind gleich eine Tracht Prügel veren. Und er packte Rupert immer wieder am Arm, bis es schmerzte; er schien mit jedem erneuten Zugreifen die Bedeutung seiner Worte unterstreichen zu wollen. Rupert schlug das Herz bis zum Hals. Was hatte es mit diesem Gefängnis fern
von Huddersfield auf sich, was mit dieser Hängung, was mit der Prügelei, was mit diesen Männern, die eine große Rolle im Leben seines Dads zu spielen schienen? Brocklebank, Edwards, wer um Himmels willen war das überhaupt? Warum setzte Matthew voraus, dass Rupert das alles wissen musste? Hatte er jahrelang die Vorgeschichte und die Hintergründe vert, vielleicht nicht richtig hingehört? Was trieb sein Dad in London? Was bedeutete „wie üblich“? Warum kamen ihm Worte wie Galgen, Strick und Schafott umstandslos über die Lippen? Das Einzige, was Rupert begriff, war, dass sich sein Vater eine Ermutigung von ihm erhoffte, ihn als Verbündeten gewinnen wollte. Nur wie er das tun sollte, jetzt, wo der Vorfall doch schon lange zurücklag, kapierte sein Sohnemann nicht. Rupert gewann den Eindruck, dass er Matthew im Nachhinein anfeuern sollte, dass Matthew dringend Bewunderung benötigte. „Ja, Dad“, stammelte er folgsam alle paar Minuten, und im selben Moment liefen ihm die Tränen übers Gesicht. Er konnte sich das nicht mehr weiter anhören. Ihm war, als hätte sein Vater so etwas wie ein zweites Leben geführt, von dem er nichts ahnte, und jetzt einen schweren, dicken Vorhang nur ein ganz klein wenig angehoben, nur ein paar Zentimeter, damit Rupert einen Einblick bekam – einen Einblick auf eine große Bühne, wo sich Unvorstellbares ereignet hatte. Von diesem Schock musste er sich erst einmal erholen. Auch von diesem Betrug, von diesem Vertrauensbruch. Wusste Mary, wussten seine Geschwister davon? Und Theo? Warum war er so wütend geworden, vorhin bei ihrem Besuch? Es raste in Ruperts Hirn. Widerstreitende Empfindungen rangen um Vorherrschaft. Er schluckte heftig. Sein Vater merkte indessen nicht einmal, dass er weinte. Vor einem Pub blieb Matthew stehen und schob Rupert vor einen Kiosk mit Zeitungsstand. „Ich genehmige mir schnell ein Ale“, entschied er. „Muss mit einem Kumpel sprechen. Du wartest hier auf mich.“
Sein Ton wurde schärfer. „Rühr dich nicht von der Stelle.“ Die Dämmerung setzte ein, in den Büschen jenseits des Flusses tanzten Glühwürmchen, ein junges Paar bog knutschend und lachend um die Straßenecke, Rollläden wurden heruntergelassen, und mehr als eine Stunde verging, ohne dass sein Dad sich wieder blicken ließ. In den Hän ringsum gingen langsam die Lichter an, winzige gelbe Rechtecke erleuchteten den dunkelblauen, bald schwarzen Sommerhimmel. „Na, Kleiner?“ Ganz freundlich wandte sich der Mann im Kiosk an ihn, was Rupert verdross, denn er wollte ja schließlich zu den Großen gehören. Kein Kid mehr sein. „Wir schließen bald – also falls du noch etwas brauchst …“ Wut stieg in Rupert auf. Wut auf diesen Verkäufer, Wut auf die Erwachsenen, die immer recht haben wollten und ihn wie einen dummen Jungen behandelten. Wut auf seinen Dad, der ihn erst förmlich verrückt machte mit seiner grotesken Story und ihn danach einfach auf der Straße stehen ließ wie einen nicht abgeholten Koffer. Dann, er konnte die Bilder und Buchstaben in der beginnenden Dunkelheit gerade noch ausmachen, fiel sein Blick auf die Schlagzeilen der lokalen Abendzeitung. Auf einem großen Foto schaute ein Mann mit Schnurrbart auf ihn herab. Jemand, der ihm bekannt vorkam. Rupert studierte die Abbildung, entzifferte die fett gedruckten Zeilen und ließ seine Augen so lange zwischen beiden hin und her wandern, bis sich eine weitere, zuvor unvorstellbare Neuigkeit in seinem Kopf zusammensetzte, die zu verstehen und zu akzeptieren er sich immer noch weigerte. Der Mann auf dem Foto war sein Vater Matthew Beaufort, und ihm stand die Krankheit ins Gesicht geschrieben. Rupert hatte sich, wie wohl alle es mit ihren Eltern tun, ein starres, unveränderbares Bild von ihm geschaffen, verlässlich und alterslos. Ein Bild, das er nicht weiter überprüfte, das jahrelang Bestand hatte. Ein Bild von einem noch jungen, unbekümmerten Mann, der ihn zur Vorschule brachte. Dieses Foto hier nun strafte solche Gewissheiten Lügen. Rupert sah, dass seinem Vater, obwohl er selbstsicher, augenzwinkernd und lächelnd wirkte und mit sichtlichem Vergnügen den Titelheld dieser Coverstory gab, ein nahes Ende bevorstand; er sah die Angst in seinem Blick, die Verunsicherung in den Mundwinkeln, die Trauer um den bevorstehenden
Abschied. Rupert war gleich wieder bereit, diesem alternden, traurigen Mann alles zu verzeihen. Sollte er doch weiterquasseln, ihm machte es schon nichts mehr aus – er würde die auf ihn abgeschossene Wortkanonade über sich ergehen lassen. Aber da war ja noch die Schlagzeile. Eine Artikelserie wurde angekündigt. Zwanzig Folgen mindestens. „Zehn Jahre Executioner: Mein Erfahrungsbericht. Von Matthew Beaufort, Henker im Ruhestand.“ Alles in Großbuchstaben und rot unterstrichen. Hätte in diesem Augenblick eine Bombe eingeschlagen, wäre Ruperts Reaktion nicht viel heftiger ausgefallen. Sein kleines Universum war binnen weniger Sekunden aus den Fugen geraten. Als der Sinn der Worte sich seines Verstandes zu bemächtigen begann und er allmählich wieder zu denken fähig war, dachte er nur eines: Er hat mich absichtlich hier allein gelassen. Vor diesem Zeitungsstand mit seinen Stapeln der Clayton’s Weekly News. Damit ich die Titelseite sehe. Und damit er es mir nicht selbst beichten muss. Rupert verstand jetzt noch nicht, aber würde es bald verstehen, woher urplötzlich das viele Geld gekommen war und der neu erwachte Lebensmut. Er würde die Strategie mit der komischen Geschichte aus London verstehen, die ihn behutsam auf die Detonation vorbereiten sollte. Würde auch den Unmut von Uncle Theo verstehen, der, so wie Rupert ihn kannte, seinem Bruder bestimmt von dem Schritt abgeraten hatte, Indiskretionen preiszugeben, sich von der Presse ködern zu lassen und mit seinem Tun zu prahlen. Und er würde Dads begreiflichen Widerstand ebenso nachvollziehen können – einfach, damit der diese Chance nutzen konnte, die sich einmal in seinem Leben bieten würde und danach nie wieder. Ein bisschen Berühmtheit, ein wenig Geld auf der hohen Kante, ein wenig Anerkennung. Einmal kosten von der Großartigkeit der Welt. Jetzt. Das hatte Dad sich verdient. In diesem Moment kam genau dieser Dad, sein Dad, aus dem Pub, umringt von zwei sympathischen älteren Männern, die ihn stützten. Er schwankte und stolperte, sein Blick war glasig. Er schien sich sehr zu freuen, Rupert wiederzusehen. Hatte er ihn denn zwischendurch vergessen? „Darf ich vorstellen? Das hier ist mein Filius“, verkündete er lallend und legte
Rupert stolz die Hand auf die Schulter, „unser Rupert“, zitierte er Mildred. „Und in weniger als zehn Jahren wird er meine Stelle als Henker einnehmen. Hiermit präsentiere ich Ihnen offiziell den künftigen Chief Executioner von England – einen Experten!“ Es klang aufrichtig, nicht angeberisch oder großkotzig und auch nicht nach einem Scherz. Die Männer lachten, doch sie lachten ihn nicht aus. Gebannt hatten sie der vollmundigen Prophezeiung gelauscht. Dann wandten sie sich seinem Jungen zu, ließen die großspurigen Worte noch einen Moment nachklingen. Jetzt ging es um ihn, seinen Nachfolger. Sie musterten ihn; sie prüften, ob sie ihm ein so gewichtiges Amt überhaupt zutrauen konnten. Rupert spürte das Gewicht der Hand seines Vaters nicht mehr, hob seine Schultern, straffte den Rücken und bemühte sich, seiner Stimme einen möglichst tiefen Klang zu verleihen. „Dad, darf ich nun auch endlich lange Hosen tragen?“ Matthew zog ihn noch ein wenig fester an sich heran, baute sich vor seinen Trinkkumpanen auf, so als posierte er, als sollte er mit seinem Sohn fotografiert werden, und versprach ihm, die Sache noch heute Abend mit Mary zu besprechen. Nickte den Zechbrüdern zum Abschied zu, winkte sogar übermütig. Ob er damit die langen Hosen meinte oder die fällige Stabübergabe, ließ er im Unklaren. Rupert hingegen sah zum ersten Mal eine begehrenswerte Zukunft vor sich, er fühlte sich bereits zehn Zentimeter größer, und ihm wurde leicht ums Herz. Vorbei an den Zeitungen mit der Schlagzeile, die gerade sein Leben verändert hatte, vorbei am Porträt seines Erzeugers, der vielleicht bald dahinsiechen würde, vorbei am Verkäufer, der ihnen amüsiert nachblickte, machten Vater und Sohn, einander haltend, suchend und tastend wie ein tanzendes Paar, das mit dem Gleichschritt nicht zurechtkommt, sich auf den Heimweg.
Von jenem Sommerabend an hatte Rupert ein Ziel vor Augen, das ihm nicht mehr aus dem Blick geraten würde. Eine Richtschnur, an der er sich über Jahre hinweg entlanghangeln konnte, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dieses Ziel jemals zu erreichen, aktuell noch in weiter Ferne lag. Andere Jungen hätten das Ansinnen ihrer Väter, in ihre Fußstapfen zu treten, um schuldig gewordenen Menschen auf Geheiß des Staates das Leben zu nehmen, entschieden zurückgewiesen, hätten energisch widersprochen und sich aufgelehnt. Andere Jungen hätten, Ohrfeigen und Schlimmeres in Kauf nehmend, ihren Vätern einen Vogel gezeigt oder sich bei Gleichaltrigen über sie lustig gemacht. Rupert aber nahm Matthew ernst. Er nahm den Umstand, dass sein Dad ihn nicht einmal nach seiner Bereitschaft gefragt hatte, dass er nicht an seiner Qualifikation zweifelte, dass es gar keine andere Option zu geben schien als einzuwilligen, als untrügliches Zeichen, dass er Treue und Loyalität voraussetzen durfte. Rupert empfand die Offerte seines Vaters als große Ehre. Überdies als Familienehre. Er war entschlossen, sich ihrer als würdig zu erweisen. Dass auch Uncle Theo zu den Verschworenen gehörte und sogar noch im Amt war, verriet man ihm erst einige Zeit später. Wundern tat Rupert das nicht. Es wirkte eher noch bestärkend. Nichts an diesem Metier erschien ihm finster, abstoßend oder abgründig, nichts widerte ihn an oder flößte ihm Furcht ein. Nichts daran bereitete ihm moralische Kopfschmerzen, nichts daran, dessen war er sich jetzt schon sicher, würde Gewissensbisse verursachen. Niemals, auch als Jüngling nicht, verwickelte er Dad in eine Diskussion über Sinn und Unsinn der Todesstrafe, nie befragte er ihn nach seinen persönlichen Empfindungen während des Tötungsaktes, nie urteilte einer von ihnen über die Schandtaten oder den Charakter der Delinquenten, die man ihnen zur Tötung präsentierte, nie äußerten sie eine Meinung oder Wertung über die Schwere der Verbrechen oder Perversionen, in der Mehrzahl verdammenswerte und bedauerliche Delikte, über die andere, kompetentere Menschen ja längst ihr Verdikt gefällt hatten. Insbesondere die Frage der potenziellen Abschreckung, die Laien regelmäßig ins
Feld führten, wenn irgendwo auf diesem Erdball Gefangene hingerichtet, gehängt, guillotiniert oder standrechtlich erschossen wurden, die entscheidende Frage, ob Exekutionen überhaupt „nützlich“ oder „effizient“ seien, stellten sie sich von vornherein nicht. Mit Spitzfindigkeiten oder Spekulationen gaben sie sich nicht ab. Für Matthew Beaufort und seinen Sohn Rupert, dem von nun an tatsächlich zu seiner großen Erleichterung gestattet war, nur noch lange Hosen zu tragen und endlich als junger Mann durch die Welt zu laufen, ging es um etwas viel Wichtigeres – um die Erfüllung einer heiligen Mission. Zwar war keiner von beiden ein überzeugter Christ oder gar abergläubisch, aber sie hatten sich – mittels ihrer inneren Einstellung, mittels ihrer Überzeugung, die man auch Glaube nennen konnte – dafür entschieden, einer höheren Macht zu dienen. Nun zählte nur noch eines: handeln, ausführen und sich möglichst nie verunsichern oder aus dem inneren Gleichgewicht bringen lassen. Um auf die berühmt-berüchtigte inoffizielle Liste von Personen zu geraten, die befugt waren, Hinrichtungen vorzunehmen. Dort, in einem geheimen Zirkel, seinen Namen vorzufinden und sich schließlich an die Spitze von „The List“ vorzuarbeiten, die einzusehen nur Eingeweihten vorbehalten war, um dann als begehrtester unter den Executioners gelten zu dürfen, auf dieses Fernziel waren alle seine Bestrebungen gerichtet. Diesem Fernziel ordnete er sämtliche anderen Bedürfnisse rücksichtslos unter. Von jenem Sommerabend an hatte der elfjährige Rupert noch eine lange, zweieinhalb Jahrzehnte währende Durststrecke vor sich – die Adoleszenz, weitere Umzüge, die ersten Jahre im Alltagsberufsleben, seine spontane Bewerbung bei der Prison Commission, Ausbildung und Training, die langen Jahre als Assistent. Erst mit sechsunddreißig Jahren und als verheirateter Mann würde er selbst, als Hauptverantwortlicher, Hand anlegen dürfen – einen Weltkrieg weiter. Erst einmal musste er die letzten Schuljahre durchstehen. Durch die immens populäre Artikelserie seines Vaters, der von den Nachbarn mal als Leibhaftiger verwünscht, mal als Held, der „an unserer Stelle die dreckige Arbeit verrichtet“, gepriesen wurde, haftete auch ihm ein besonderer Ruf an; die anderen Kinder hielten sich von ihm, einer Ausgeburt des Teufels, fern oder sahen, ohne es sich einzugestehen, zu ihm auf.
Einigen von ihnen lief ein Schauer über den Rücken, sobald er das Klassenzimmer betrat. Einige hielten ihn, obwohl er noch keiner Fliege ein Haar gekrümmt hatte, schon jetzt für den Inbegriff von Brutalität und Verschlagenheit. Nicht geheuer war er ihnen. Als er, wie seine Mitschüler vom Heaster Dickinson nach seinem Berufswunsch befragt, mit Kreide an die Tafel schrieb: „Nach meinem Abschluss möchte ich eines Tages Englands Official Executioner werden“ und, vom Direktor ermutigt, dann auch noch einen kleinen Aufsatz mit dem Titel „Meine Zukunft als Hangman“ verfasste, angespornt von Aunt Mildred und mit Informationen aus Dads Zeitungsberichten versorgt, war das Gejohle in der Klasse groß, und man zog ihn wochenlang damit auf. So ziemlich alle glaubten, er habe das nur geschrieben, um Matthew einen Gefallen zu tun. Aus Artigkeit. Mister Dickinson jedoch bezeichnete Rupert als großes Vorbild, als Hoffnungsträger und als zukünftigen Patrioten, zumal in schwierigen Zeiten wie diesen, wo stündlich neue und grauenerregende Vorfälle von den Weltkriegsfronten gemeldet wurden. „An Rupert solltet ihr euch Beispiel nehmen“, rief der Direktor am Tag der Zeugnisausgabe anlässlich einer kleinen Feierstunde aus und versuchte, einschüchternd zu wirken, „er hat sich schon jetzt für den Dienst an der Krone entschieden. Tapfere Männer wie er werden unsere Nation nicht im Stich lassen!“ Sein Appell verpuffte ungehört, nur ein Teil der Eltern applaudierte heftig, aber Matthew und Mary, die ebenfalls im Publikum saßen, warfen sich verstohlene Blicke zu und lächelten verlegen. Es dauerte nicht lange, bis auch anderen Erziehern die Kunde vom Nebenberuf von Matthew Beaufort zu Ohren kam und einer von ihnen – der Englischlehrer natürlich, Mister Pritchard – davon angeregt das Spiel vom Galgenmännchen in seinen Unterricht einbaute. Buchstabe für Buchstabe eines noch unbekannten Wortes mussten dabei von einem Kandidaten geraten werden, während der Spielleiter an der Tafel eine Strichmännchen-Zeichnung vom Galgen und vom Gehenkten anfertigte. Bis zur vollständigen Lösung. Je länger die Suche nach dem richtigen Begriff dauerte, desto größer wurde die Gefahr der Niederlage und somit auch der Hinrichtung. Nervenkitzel war
garantiert, Spannung programmiert. Denn derjenige, der sich das Wort ausgedacht und vorgegeben hatte, fügte mit seinem Stück Kreide dem zum Tode Verurteilten pro falsch geratenem Buchstaben so lange ein weiteres Element hinzu, bis er Strich um Strich „gewann“ und sich dadurch in einen Henker verwandelte. So wie der Ratende, der „verloren“ hatte, genau dann unweigerlich zum Getöteten wurde: Nach ungefähr elf Irrtümern war die Zeichnung komplett, konnte man Galgen und Männchen deutlich erkennen, wurde die Hängung vollzogen, und der Unterlegene baumelte am Strang. Ohne Mitleid oder Sinneswandel in letzter Minute. Das Rätsel blieb im schlimmsten Falle ungelöst und das Wort unerkannt – dem Opfer ging es an den Kragen, und dann war es binnen weniger Striche und Sekunden tot. Starker Tobak. Ruperts Mitschüler stießen Entsetzensschreie aus, sobald die Hängung nahte und das Lösungswort nicht erraten werden konnte – in ihrer Verzweiflung ähnelten sie Aunt Mildred, die ein Kreuzworträtsel abbrechen musste, weil ihr die richtigen Begriffe nicht einfielen. Rupert bereitete das Gegenteil Vergnügen: Je länger die Suche fortschritt, der Galgen komplettiert wurde und sich die symbolische Hinrichtung durch Pritchard abzuzeichnen begann, desto mehr Lust empfand er. Und er stellte sich vor, nicht allein mit Kreidestrichen, sondern in Wirklichkeit die Hängung vorzunehmen. Ihm konnte das Lösungswort gar nicht abwegig genug sein … Wenigstens lenkte die ganze Aufregung um Dads Erlebnisberichte, durch die, wenngleich sie so gut wie keine beklemmenden Einzelheiten oder ekelerregenden Anekdoten enthielten, er zu einer lokalen Berühmtheit aufstieg und zwischenzeitlich eine Menge Geld in Marys Haushaltskasse gespült wurde, von der ewigen, leidigen Diskussion um seinen Namen ab. Mit dem geschwollen klingenden Rupert, einem reichlich gestelzten Vornamen, der eher für einen reichen Erben aus der Upper Class als für jemanden wie ihn infrage zu kommen schien, über den sich so mancher Gleichaltriger in seiner Kindheit mokiert hatte, mit diesem Rupert hatte er längst seinen Frieden gemacht. Es blieb ihm ja auch gar nichts anderes übrig. Sein Nachname hatte die unfreiwillige Belustigung anderer Jugendlicher in der Vergangenheit nur noch verschlimmert – Beaufort, dieser seltsame, exotische Hugenottenname. Den man weder richtig französisch noch richtig englisch aussprechen durfte. Boooo oder Bju, Fort, Forrr oder Fört, immer kamen Nachfragen, immer wollte jemand eine Erläuterung, immer verdrehte jemand deshalb die Augen, Bohfort, Bjufert, Bofor, Bofört, Boofet, immerzu wurde der Name verstümmelt,
abgewandelt, parodiert. Eine entfernte Verwandte aus South Carolina, die einmal zu Besuch war bei ihnen in der Alten Welt, bestand partout auf Bjuforrr, auf einem Zwitterbegriff also – vorne „schön“ wie in „beautiful“ und hinten halt französisch. Sie schwor Stein und Bein, dass es bei ihr, im Südosten der Vereinigten Staaten, so und nur so richtig sei. Woraufhin die versammelte Verwandtschaft empört Einspruch erhob. Und dass die Leute hierzulande bei der Nennung dieses Namens an Beau Brummell, den legendären Lebemann und nach Frankreich geflohenen Dandy, denken mochten, hielten Rupert und die Seinen für nahezu ausgeschlossen. Und für weit hergeholt. Beaufort: Gab es nicht irgendwo Städte oder Dörfer, die so hießen? Eine Festung im Libanon? Eine Insel in der Antarktis? War das nicht auch eine Maßeinheit für Windstärken? Paul Abercrombie, ein besonders arroganter, aber auch schlauer Mitschüler, ein Neuankömmling aus Liverpool, der von Natur aus so begabt war, dass er, ohne einen Finger zu rühren, binnen weniger Monate zum Klassenprimus aufstieg, Paul Abercrombie hatte es sich angewöhnt, die Backen aufzublasen und bedrohliche Sturmgeräusche von sich zu geben, zu pfeifen und zu pusten, wenn Rupert in den Schulfluren an ihm vorbeiging. Und er erntete höhnisches Gelächter. Mit all diesen dämlichen Streichen und Verballhornungen war es dank seines Dad nun vorbei, die spektakulären Enthüllungen hatten entsprechende Wirkung gezeitigt, und jetzt war Rupert einzig und allein der Henkerssohn, ein Junge, den man besser mied. Am Ende schnappte der sich einen noch und brachte einen schnurstracks zum Galgen, wo der sadistische Vater, mit dämonischem Lachen, schon mit der Kapuze in der einen und der Schlinge in der anderen Hand wartete. Kinder aus der Nachbarschaft begegneten Rupert daher auch mit einer gewissen Ehrfurcht. Es kam nicht so weit, dass sie um seine Freundschaft buhlten, aber sie foppten ihn seltener, ließen seine Schwestern in Ruhe und grüßten mit Respekt. Ihm war klar, dass die Leute über ihn und seine Familie inzwischen ständig redeten. Mehr noch: Sie malten sich aus, wie sich das Leben bei den Beauforts abspielen mochte. Wie es wohl war, die Frau eines solchen Mannes zu sein. Oder das Kind. Und wahrscheinlich waren sie froh, dass es bei ihnen daheim
nicht so zuging. Auch wenn sie gar nichts über das Leben bei ihnen zu Hause wissen konnten. „Ihr“ Rupert zu werden, so wie er bei Aunt Mildred und Uncle Theo „unser“ Rupert war, dazu würde es nie kommen. Und dann, nach einem kurzen Zwischenspiel in der Holy-Trinity-Lehranstalt von Failsworth, wohin die Beaufort-Familie umgezogen war, machte er sowieso Schluss mit der Schule. Mit zwölfeinhalb Jahren, dem laut Gesetz frühestmöglichen Eintritt ins Arbeitsleben, sagte er Huddersfield, Mister Dickinson, Mister Pritchard, Paul Abercrombie und all den anderen Dickheads Auf Nimmerwiedersehen und dem Unterricht Goodbye. Niemand würde ihn mehr veräppeln können. Und weiterbilden konnte er sich auch allein. Failsworth lag bereits im Einzugsbereich von Manchester, was hieß, dass man am Wochenende und in der Freizeit Großstadtluft schnuppern konnte, Oldham mit seinen belebten Einkaufsstraßen und Lokalen war ebenfalls nur einen Steinwurf entfernt, und das Gute am Ortwechsel war nicht zuletzt auch, dass der Name Beaufort, zwei Jahre nach den Veröffentlichungen in den Weekly News in der Provinz, nur noch den wenigsten Einheimischen etwas sagte. Über die Sache mit den Henker-Storys war Gras gewachsen, selbst wenn man nun mit dem mühsamen Erklären des Nachnamens und seiner korrekten Aussprache von vorn beginnen musste. Teenager Rupert verschaffte sich einen Job als ungelernter Arbeiter in den Marlborough Mills; er nahm es in Kauf, dass die Frühschicht schon um sechs Uhr morgens begann, dass er nachmittags noch für zwei Pflichtstunden die Schulbank in der neuen Ortschaft drücken musste, bis er dreizehn wurde, und dass sein Wochenlohn sechs Shillings betrug, die er brav bei seiner Mutter ablieferte. Lediglich ein geringes Taschengeld behielt er für sich zurück. Die harte körperliche Arbeit in der Mühle war, so sein Plan, ohnehin nur etwas für den Übergang. Ihm schwebte vor, künftig wie sein Onkel als Kutscher tätig zu sein und Waren auszuliefern. Mit Menschen zusammenzukommen und Konversation zu betreiben. In bescheidenem Rahmen Karriere zu machen. Allseits geachtet zu sein und eher selten zur Flasche zu greifen. Wichtiger war ohne Frage noch: Er wollte sich so bald wie möglich in die Familientradition der Hangmen einreihen, unverzichtbarer Bestandteil der Beaufort-Dynastie werden, endlich zum Beaufort-Clan dazugehören.
Seinen Vater, der vom Whiskey nicht lassen konnte, hielt es aufgrund seiner Leberschäden und seiner Mutlosigkeit nur noch fünf Jahre auf dieser Erde, und auch von dem neuen Leben in den Vororten von Manchester hatte er nicht mehr viel gehabt. Das Honorar für die Artikelserie über seine Jahre als Chief Executioner hatte er durchgebracht, der Lebensstandard seiner Familie hatte sich nicht nennenswert verbessert. Als Matthew mit achtundvierzig Jahren starb, von Krankheiten und Alkoholabhängigkeit dahingerafft, war Rupert gerade erst siebzehn und fortan der Mann im Haus. Viel gab es – neben einem Paar arg beanspruchter Fußballschuhe, die ihm viel zu klein waren – nicht zu erben, doch Ruperts größter Schatz waren zwei dicke blaue Kladden aus der Feder seines Vaters, die nun ihm gehörten, auf Marys Veranlassung, und die all das enthielten, was es mit Matthew Beaufort und „The List“ auf sich gehabt hatte: Fein säuberlich hatte er, Jahr um Jahr, im stillen Kämmerlein in einem systematisch angelegten Verzeichnis den Namen, das Alter, die Größe und das Verbrechen seiner Delinquenten notiert, den Ort und das Datum der Hinrichtung sowie die genaue Berechnung des Long Drop für jeden einzelnen Verurteilten aufgeschrieben und eingetragen. Auch hatte er gekennzeichnet, ob er als Assistent oder als Chief eingesetzt worden war, Kürzel für das jeweilige Gefängnis und die anwesenden Offiziellen vermerkt; für die wenigen Frauen unter den Straftätern hatte er abweichende Symbole und Abkürzungen erfunden. Von größtem Interesse war indessen die Rubrik der „besonderen Vorkommnisse“ für seinen Sohn: die Zwischenfälle und Störungen, die Eigentümlichkeiten und wenigen Pannen, kurze Hinweise über das Wetter und die Unterbringung, Details der Hin- und Rückfahrt. Aufgrund all dieser Angaben sah sich Rupert in die Lage versetzt, jede einzelne Hängung wie einen Kurzfilm nachzuerleben. Seine Bewunderung für die Lebensleistung seines Dads, der doch für Außenstehende ein eher durchschnittliches, im Familienkreis zuletzt ein jämmerliches Bild abgegeben hatte, wuchs bei der Lektüre von Tag zu Tag. Die Kladden wurden zu seiner Bibel. Jede Episode verhieß Spannung. Alles Buchhalterische verwandelte sich in aussagekräftige Kurzgeschichten. Wie in einem Sammelband voller Krimis schmökerte er darin, verglich die skizzenhaften Eintragungen mit den blumig ausgeschmückten Schilderungen in den späteren Zeitungsepisoden – da schien jemand ordentlich nachgeholfen,
geflunkert und hinzuerfunden zu haben – und machte sich seinen Reim auf so manche kryptische Anmerkung in den Notizen. Mit Mary, die von diesem Metier rein gar nichts wissen wollte und auch keinen Überblick hatte, was Hintergründe betraf, konnte Rupert nicht darüber sprechen, schon gar keine Verständnisfragen stellen, aber auch aus Uncle Theo, der ja weiterhin fleißig für die britische Justiz unterwegs war und auf „The List“ den Familiennamen hochhielt, war kein Wort herauszubekommen: Er weigerte sich standhaft, auch nur die geringste Andeutung preiszugeben, was besonders schade war, da er ja viele Hinrichtungen in Tandem mit seinem Bruder durchgeführt hatte. Aus dem Nähkästchen plaudern? Fehlanzeige. Nicht mit ihm. „Ich halte mich an mein Gelübde, Junge“, war alles, was er dazu zu sagen hatte, „nimm’s mir nicht übel.“ Ernst blickte er drein. „Ich erledige meine Pflicht. So wie dein Dad das auch getan hat.“ Zum Glück schaltete sich Aunt Mildred ein. „Lass mich nur machen“, bemerkte sie halblaut und warf Rupert, wenn er gerade einmal wieder zu Gast war, einen verschwörerischen Blick zu. Mildred und auch Theodore waren zu jener Zeit überglücklich, denn ihre Tochter Alma war zu Beginn des Jahres 1923 völlig überraschend als geheilt aus der Anstalt entlassen worden und zu ihnen zurückgekehrt. Sie war stark übergewichtig, half im Haushalt mit, sprach nicht viel, wirkte verschlossen und blieb die meiste Zeit in ihrem Zimmer, einem kleinen Raum, in dem ihr Cousin früher immer genächtigt hatte. Wenn Rupert mit fast zwanzig, unübersehbar ein junger Mann, der nicht länger mit Joey spielen wollte, sondern sich mit Kollegen in der Webermühle angefreundet und auf das eine oder andere junge Mädchen in Oldham bereits ein Auge geworfen hatte, zu Besuch kam und nun auf der Wohnzimmercouch schlief, ließen sie alte Rituale wiederaufleben. Doch es war nicht mehr wie früher, die Gedanken von Onkel und Tante, eine Ecke älter geworden, kreisten mehr um Alma als um ihn, die Fröhlichkeit war dahin, und traf es sich einmal, dass Uncle Theo gerade für eine Hinrichtung verreist war, wenn Rupert vorbeischaute und Alma sich schon ins Obergeschoss zurückgezogen hatte,
schob Mildred ihm rasch das geheime Tagebuch ihres Mannes zum Lesen zu. Seinem fragenden Blick wich sie aus. „Ich weiß von nichts“, zwitscherte sie, bereitete ihm einen Mug mit heißer Schokolade zu und ließ ihn allein. Sie wusste, er brauchte sie jetzt nicht mehr, er hatte, was er brauchte, würde die ganze Nacht über darin lesen, mit heißen Wangen. Dass Rupert längst Feuer gefangen hatte, stand für sie außer Zweifel – warum ihm also mutwillig die Informationen vorenthalten, nach denen er lechzte? Das wäre doch lächerlich. So manches Mal stand sie anderntags auf, um in der Küche das Teewasser aufzusetzen und fand ihren Neffen eingeschlafen am Küchentisch vor, noch angezogen, den Kopf auf der Tischplatte, leise vor sich hin schnarchend, Theos Tagebuch aufgeschlagen. Und daneben viele Zettel voller Notate, voller Frageund Ausrufezeichen. Ein Bleistift war ihm aus den Fingern geglitten und zu Boden gerollt. Da hob sie ihn auf, lachte leise in sich hinein, weckte Rupert erst einmal nicht auf, sondern lauschte seinen regelmäßigen Atemzügen, setzte sich zu ihm und machte sich an ihr neues Rätsel. So wie in alten Tagen.
Was Rupert aus den Unterlagen seines dahingeschiedenen Vaters und seines noch aktiven Onkels herauslas, was er sich über Monate und Jahre hinweg zusammenreimte und was sich in seiner Vorstellungskraft zu einem stimmigen Puzzle zusammenfügte, bestätigte seine frühesten Ahnungen: Wie ihn selbst trieb beide Männer von Beginn an ein gesunder, ausgeprägter Gerechtigkeitssinn an und ein zur Kardinaltugend erklärtes Pflichtbewusstsein. Weder Vater noch Onkel waren angetreten, um zu strafen, sich zu rächen oder gar zu quälen: Die Strafe, über deren Berechtigung und Ausmaß sie nicht zu urteilen hatten und deren Sinn sie ignorierten, hatten andere verkündet, Rache war ihnen von Grund auf fremd, te einfach nicht zu ihrem Charakter, und nichts in ihrem Dasein bot eine Veranlassung dafür. Sie brauchten an niemandem Vergeltung zu üben. Sadistische Züge oder etwa pure Mordlust, die sich, auf verquere Weise, beim Hängen ein Ventil hätte verschaffen können, lagen bei keinem von beiden vor.
Es war auffällig und geradezu staunenswert, wie sich Matthew und Theo, unabhängig voneinander und ohne dass der eine von den Eintragungen und Notizen des anderen irgendetwas wissen konnte, jeglicher moralischen Wertung in ihren Kladden und Tagebüchern enthielten. Sie waren Zwillinge im Geiste. Sie machten ihren Job, nichts weiter als ihren Job; sie blieben mit ihren eigenen Gefühlen und ihrer eigenen Persönlichkeit im Hintergrund; sie verstauten ihre Alltagsexistenz für jeweils zwei Tage wie einen Trenchcoat im Schrank und tauschten ihn für die Dauer eines Vormittags gegen die Henkerskleidung ein, auch wenn sie in Wahrheit ihren Anzug nie ablegten. So konnte es gelingen, dass sie den letzten Momenten des Verurteilten damit den ihnen gebührenden Raum geben konnten. So kam es, dass sie keinen der Straftäter als Abschaum wahrnahmen, dass sie unterschiedslos verfuhren und keinen von ihnen schlechter oder besser behandelten – jeder der ihnen Anvertrauten war ihnen gleich viel wert. Jeder erfuhr, trotz der aussichtslosen, fatalen Umstände, dasselbe Minimum an Wärme, dieselbe humane Zuwendung. Wenn man Worte wie Wärme, Humanität und Zuwendung in diesem Zusammenhang überhaupt benutzen durfte. Rupert fand, dass man sich das sehr wohl erlauben konnte. Es war, und dieses Resultat seiner Überlegungen zählte vor allen anderen, es war schon sehr beruhigend für Rupert, dass er sich seine Blutsverwandten nicht als Monster vorzustellen brauchte, die fremde Menschen ohne mit der Wimper zu zucken dazu brachten, entehrt und besudelt in die Grube zu fahren. Rupert gefiel es, sich die beiden älteren Männer vielmehr als tröstende Begleiter vorzustellen, die möglichst schnell und möglichst schmerzlos mit den Delinquenten zu Werke gingen. Wie zwei fürsorgliche Pfleger, die eine erlösende Spritze verabreichten. Damit die Patienten, denn so konnte man die Hinzurichtenden doch auch bezeichnen, nicht lange leiden, nicht lange bereuen mussten. Das Einzige, was in der Darstellung des Vaters unklar blieb – und Matthew hatte sich, was das betraf, auch in seiner Artikelserie erfolgreich um Klarstellung und Eindeutigkeit gedrückt –, war der abrupte Abschluss seiner doch noch gar nicht so langen Karriere als Henker. Nach gerade einmal neun Jahren. Als er gerade einmal sechsunddreißig war und somit gut und gern noch eine Dekade weiter
seine Dienste hätte versehen können. Hatte es etwa ein unrühmliches Ende gegeben? War sein Dad in Ungnade gefallen? Hatte ihm – die Vermutung lag nahe – seine elende Sauferei das Kreuz gebrochen, war er unter der Woche zu einem Straßenköter geworden? Rupert mochte es kaum glauben und schon gar nicht wahrhaben. Gab es ein Geheimnis rund um seinen Rücktritt, das er nie zu lösen imstande sein würde? Wieder einmal war es Mildred, die mit ein paar eingestreuten Bemerkungen ein wenig Licht ins Dunkel brachte. Von despektierlichem Benehmen hatte sie Kenntnis und von unentschuldbarem Fehlverhalten ihres Schwagers, von einem Betragen, das mit dem ungeschriebenen Code der Henkerszunft nicht vereinbar gewesen sei. Von einem einzigen Vorfall sprach sie, der Matthew den Kopf gekostet habe – mit seinem Kollegen Ellis, einem Mann, mit dem er einfach nie zurechtgekommen war, immer ein Dorn im Auge, immer ein Pedant und rechthaberischer Quälgeist, wie auch Theo finde, mit diesem Ellis also sei er im Vorfeld einer Hinrichtung aneinandergeraten. Im Chelmsford Prison. Nicht mehr als eine Bagatelle. Und dieser Ellis, sein Assistent, ein Rivale, Emporkömmling und Besserwisser, habe wiederum die Gelegenheit genutzt, seinen begehrten Platz als Chief einzunehmen und daher seinen Dad angeschwärzt. Hinter dessen Rücken. Mit einem verleumderischen Schreiben. Von einem tätlichen Angriff auf sich gefaselt. Davon, dass Matthew die Beherrschung verloren und ihn, mit fahrigen Bewegungen gestikulierend, bedroht habe. Dass er schwer angesäuselt gewesen sei und mehrere Male zum Schlag gegen Ellis ausgeholt habe. Was natürlich alles erstunken und erlogen war. Anstatt sich reumütig und einsichtig zu zeigen, habe Matthew unnötigerweise dann noch einen unverschämten, trotzigen Brief an die Kommission geschrieben, angefüllt mit lauter missglückten Rechtfertigungsversuchen, und damit sei leider das Ende besiegelt gewesen. Er habe klein beigeben müssen. Es hatte ihn erwischt. Keine weiteren Einladungen und Befehle zu Hängungen trafen mehr bei ihm ein, und der Name Matthew Beaufort, so seine Tante, sei von der Liste gestrichen worden. Schon 1910 war Feierabend gewesen für ihn. Und der verhasste Ellis, nichts als ein Neider und Denunziant und nur darauf aus, seinen Posten einzunehmen, war kurz darauf an einer schweren Krankheit gestorben.
Schlimme Sache. Niemand hatte etwas von dem Disput und von Matts nachfolgender Eliminierung gehabt. Ein einziger Scherbenhaufen. So ungefähr stellte sich der Ablauf der Ereignisse dar, wie ihn Rupert aus Mildreds Andeutungen und fragmentarischen Informationen zusammensetzte. Er fragte nicht weiter nach. Ohne dass sie es eigens erwähnen musste, roch der kleine dumme Skandal nach zu viel Whiskey. Zu viel Whiskey im falschen Moment. Roch Rupert die Fahne seines Vaters, die ihm zum Verhängnis geworden sein musste. Wenigstens nicht eine verpfuschte Hängung, ein technisches Malheur oder ein professioneller Makel. Das nicht. Nur der Fusel und ein paar alberne Ressentiments. Ein Verstoß gegen die Regeln. Angetrunken bei einer Hinrichtung zu erscheinen – ein Unding. Eine Verfehlung. Aber wie auch immer: Der Sohn ahnte, dass der Ausschluss und das Verstummen der Behörden Matthew damals arg zugesetzt haben mussten, erst recht die mangelnde Wertschätzung. Rupert reichte es einstweilen, dass Uncle Theo auch weiterhin dem Geschäft nachging, dem Family Business, sich weiterhin um größtmögliche Anonymität bemühte und vor jeder seiner Missionen einen entschlossenen, zielstrebigen Eindruck hinterließ – offenkundig hatte es in seinem Fall noch keinen Anlass zu Beanstandungen gegeben. Ein Prahlhans war er nicht; im Dienst rührte er keinen Tropfen an. Und was Rupert selbst anging, so hatte er noch abzuwarten. Bis er das richtige Alter erreicht haben, die nötige Reife mitbringen würde. So gingen die Zwanzigerjahre für ihn ins Land – im Wartestand. Es galt, wachsam zu sein, auf der Lauer zu liegen, den richtigen Moment abzuen. Um dann zuzuschlagen und wie aus dem Nichts die Bühne zu stürmen. In London, im fernen Paris oder Berlin mochten The Roaring Twenties gefeiert werden, eine einzige Explosion der Künste und Sinne, ein rauschhafter Tanz auf dem Vulkan. In London mochten Exzentriker den Ton angeben, mochten schwarze Musiker aus den USA, die in Saxofone und Trompeten bliesen, die vergnügungssüchtigen Großstädter mit wilden, zuckenden Rhythmen und hinreißenden Tunes bezirzen. Der Rundfunk etablierte sich, die ersten Sender spielten Charleston, Ragtime und aufputschenden Jazz, die Leute äfften alles Amerikanische nach, halbstarke Jungs benahmen sich geckenhaft, waren nach der neuesten Mode gekleidet und klopften flotte Sprüche. Alles musste fortwährend chic sein, raffiniert und trendy.
Rupert tangierte das nicht; er bekam davon nur wenig mit. Außer dass sich allmählich etwas im Straßenbild veränderte, dass einige Frauen jetzt Hosenanzüge trugen oder Bubikopf, dass sie rauchten, eine kesse Lippe riskierten und vor der Ehe schon auf erotische Abenteuer aus waren. Er hielt sich aus allem heraus. Noch ging er nicht auf Brautschau, war der alten Mary ein braver Sohn. Sah geduldig zu, wie seine beiden Schwestern unter die Haube kamen und auszogen, blieb mit der Mutter allein im Haus, erledigte Einkäufe und Reparaturen, wechselte, wie erhofft, von der Mühle ins Transportunternehmen, tauschte die Plackerei gegen Fahrten mit Kutsche und Automobil ein. In der Zwischenzeit hatte er nämlich, als einer der ersten Männer seines Alters in Oldham, den Führerschein erworben. Nunmehr war er mit dem Wagen unterwegs, trug einen Anzug, schaffte sich zwei Hüte an, den einen für wochentags und den anderen für die Sonntage, und nahm sich beim Ausliefern stets Zeit für einen kleinen Plausch mit der Kundschaft. Nur der raubeinige Mister Harvey in seinem gemütlichen, gut sortierten Krämerladen in der Lord Street sah es gar nicht so gern, wenn Rupert zweimal pro Monat sich mit seiner Angestellten, der reizenden jungen Ruth Leonard, die entweder an der Kasse stand oder als Verkäuferin den Laden beaufsichtigte und Waren einsortierte, etwas länger als nötig unterhielt. Rupert hatte nie so genau verstanden, wie ein Flirt eigentlich ablief und was genau man da zu sagen oder zu tun hatte, Uncle Theo oder seine Kollegen mochte er nicht fragen, aber was er hier mit Miss Leonard zu besprechen hatte, war schon recht anregend. Und er fühlte sich mächtig wohl dabei. Was er ihr an Nettigkeiten sagte, dafür brauchte er sich, wie auch die junge Frau fand, nicht zu schämen. Er hielt sich für einen anständigen Kerl, kam aber immer gerne wieder in diesen traditionsreichen Grocery Store. Der jungen Dame wegen hauptsächlich. „An die Arbeit, Miss Leonard“, rief Mister Harvey dann, und es lagen Ärger und Ungeduld in der Stimme, wenn ihm das Geturtel zu viel wurde oder zu lange dauerte. „Die Kundschaft wartet schon, sehen Sie das denn nicht? Und Sie, Mister Beaufort, haben sicher noch alle Hände voll zu tun. See you soon – have a nice
day.“ Und er komplimentierte Rupert hinaus auf die Straße. Hinter ihm klimperte und bimmelte es, als sich die Ladentür wieder schloss und das Glöckchen dabei hin und her schwang. So schnell würde ihn der Meckerer nicht loswerden. Rupert nahm sich vor, schon nächste Woche unter einem Vorwand wiederzukommen. Ganz zufällig aufzukreuzen und ein paar schelmische Kommentare loszuwerden. Ruth stand drinnen an der Kasse und bediente, betrachtete ihn zwischendurch mit Wohlwollen und zwinkerte ihm durch die Scheibe zu. Er zog den Hut, deutete eine leichte Verbeugung an, warf einen Blick auf seine Taschenuhr, bestieg sein Automobil und fuhr weiter, zum nächsten Kunden. Als er an den Marlborough Mills vorbeigondelte, war er heilfroh, die jahrelange Knochenarbeit hinter sich gebracht zu haben. Seit einigen Wochen schmiedete er Pläne, denen zufolge er eine Korrespondenz mit dem Home Secretary in Whitehall führte, Umschläge mit wichtigen Schreiben erhielt und mit dem Zug von einer Stadt zur nächsten fuhr. Pläne, in denen er seinen Namen auf der Liste stehen sah, unterstrichen und fett gedruckt, an oberster Stelle. Pläne, in denen ein eigenes Häuschen auftauchte, kleine Kinder eher nicht, und in denen ab und zu bereits auch Ruth vorkam. Nicht im Kittel, sondern mit einer Schürze. Oder im Négligé. Die junge Miss Leonard. Wenn alles nach Plan lief: die frischgebackene Mrs Beaufort. Worauf er sich am meisten freute, waren die Reisen. London würde er kennenlernen, ganz bestimmt, sicher Birmingham, vielleicht auch Edinburgh und Glasgow. Bristol, Bath mit ein wenig Glück und, wer weiß, Southampton. Jedenfalls sämtlich Orte, an denen sich Haftanstalten mit Todeszellen und Schreckenskammern befanden. Brighton und Oxford? Wohl eher nicht. Mit Reisen war Prestige verbunden, Reisen bildete und befeuerte seine Einbildungskraft. Nach Reisen sehnte er sich. Herauskommen aus der Enge von Vorstadt und Job. Schon seinen Dad, wie er aus den Ausrufezeichen und Stichworten in dessen Eintragungen schloss, wenn er in eine besonders schöne Stadt oder Gegend gelangt war, hatten sie zusätzlich motiviert und Freude bereitet. Weiter als in den Norden Schottlands, nach Swansea in Wales und in den Südosten Englands, in die Gegend um Dover, war der Vater indessen nie
gekommen, ein Trip nach Jersey, für eine Hängung auf der Kanalinsel im Herbst 1908 – Matt hatte in der betreffenden Spalte „Blütenmeer! Palmen!“ vermerkt –, das Höchste der Gefühle gewesen. Und die Ausnahme geblieben. Rupert würde versuchen, seine Fühler noch weiter auszustrecken. Unabhängig von den Hinrichtungen. Mit seiner zukünftigen Frau Europa zu bereisen, Exkursionen ins Ausland. Städte und Kulturdenkmäler kennenzulernen. All das, wofür er bislang noch keine Muße gehabt hatte. Wenn das Geld reichte, würde er ein wenig davon zur Seite legen und sparen. Ausflüge machen. Was gönnte er sich denn schon groß? Sonntags ging er manchmal boxen oder spielte im Fußballclub seines Viertels, den die Kirchengemeinde unterstützte. Er war ein mittelmäßiger Spieler, zeichnete sich nicht durch Glanzleistungen aus. Seine Teamkameraden forderten ihn hinterher auf, mit ihnen doch einen trinken zu gehen, aber immer lehnte er dankend ab. Ein andermal. Junge Mädchen am Spielfeldrand, ganz verfroren in ihren dünnen Mänteln, feuerten sie mit schriller Stimme an. Und mit vulgärem Jargon. Abstoßend. Aber den Männern gefiel’s. Einige unter den weiblichen Fans ließen sich, wie er wusste, von seinen Kumpels abends gern zu einem Likör in den Pub einladen, beim Tanztee im Gemeindeclub zum Fox auffordern oder ins Kino ausführen. Wo gerade die ersten Talkies anliefen und wo man, im Schutze der Dunkelheit, ein wenig fummeln konnte. So hatte es ihn der Mittelstürmer, wie er ein Bursche Mitte zwanzig, unter der Dusche wissen lassen und ihm zugeraunt: „Die lassen mich ran.“ Stolz berichtete der Aufschneider von Anzüglichkeiten und benutzte derbe Ausdrücke. Rupert wandte sich instinktiv ab. „Ich brauche gar nicht lange zu bitten“, prahlte der andere. „Dich nehmen sie vielleicht auch, Bju“, er lachte dreckig, „musst nur wollen.“ Einer von denen, die nicht Booooh sagen mochten. „Sei nur nicht so schrecklich höflich“, setzte er noch hinzu und schlang sich ein Handtuch um die Hüften, bevor er in Richtung Schließfach entschwand, „sonst vermasselst du noch alles.“ Rupert hörte ihm schon gar nicht mehr zu. Er hatte sich längst entschieden – er würde keine von den kreischenden Frauen ansprechen. Er konnte warten. Aus Filmen machte er sich sowieso nichts. Nichts aus den lärmenden und nichts aus den stummen. Rollende Augen, verzerrte Münder in Großaufnahme, leidende
Geschöpfe, theatralische Gesten, ins Endlose gedehnte Handlung. Er wollte selbst etwas erleben. Wenn er eines Tages nach Liverpool reiste und nach Aberdeen, wenn er Verbrecher aufknüpfte und Übeltätern das Handwerk legte, würden die anderen längst daheim herumsitzen und ihre Pantoffeln am Kachelofen wärmen. Wenn für die schon alles zu Ende war, würde es bei ihm erst richtig losgehen. Sie würden die Langweiler und er der Abenteurer sein. Und hastige Küsse, hitziges Petting, ein Rendezvous mit vollbusigen, grell geschminkten Dirnen – das konnte er sich auch sparen. Er dachte lieber an Ruth, die nach frischem Gemüse roch und nach Minzbonbons, und hob sich für sie auf; er hörte die Türglocke des Store fröhlich bimmeln; er sah Aunt Mildred vor sich, die sich jetzt von Alma das Frühstück ans Bett bringen ließ, und Uncle Theo, wie er nach seiner Aktentasche griff und zum Bahnhof spazierte. Rupert konnte warten, und er wartete noch ein kleines Weilchen. Im April 1931, wenige Tage nach seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag, entschied er, dass er nun lange genug Däumchen gedreht hatte. Dass es ihm jetzt reichte, dass die Ungeduld sich Bahn brechen musste. Jetzt wartete er nicht mehr. Er besprach sich weder mit seiner Mutter noch mit Onkel und Tante, ging ganz allein mit seinem Gewissen ins Gericht, setzte sich hin, zu Hause in Failsworth in der guten Stube von Mary, und verfasste am Esstisch einen Brief an das Home Office in der fernen Hauptstadt. Sein Bewerbungsschreiben an die Prison Commission. Er benötigte nicht länger als zehn Minuten dafür. Den genauen Wortlaut hatte er jahrelang im Geiste durchgespielt. Vier, fünf Zeilen genügten. Mitsamt einigen Hinweisen, dass er sich in dem Metier bereits bestens auskannte. Er schloss mit der Floskel von der vorzüglichen Hochachtung und charakterierte sich ganz zuletzt als „your obedient servant“, Ihr gehorsamer Diener. Denn das war es, was er wirklich wollte und worauf er nun nicht länger verzichten mochte – Gehorsam leisten. Und damit etwas Großes vollbringen. Rupert Beaufort, ein lediger junger Mann, der sich noch nichts hatte zuschulden kommen lassen, ein Allerweltsgeschöpf ohne höhere Schulbildung und Angehöriger der Lower Class des Jahrgangs 1905, hatte sich heute besonders fein gemacht. Er klebte den Umschlag zu, frankierte ihn, verließ das Haus und
warf ihn auf seinem Weg im Auto zu Ruth in die Lord Street, in Harveys Geschäft, beim Postamt ein. Bei ihr war er eine Woche zu früh dran; der Brief hingegen würde genau zur richtigen Zeit im Innenministerium eingehen. Er vertraute einem untrüglichen Bauchgefühl: Seine Besessenheit würde ihm in London den Weg ebnen. Seine Demut auch. Und der Name Beaufort.
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Echte Gefühle, schlechtes Gewissen
Unser Vater war eigentlich kein verschrobener Mann. Er arbeitete vierzehn Stunden am Tag, kümmerte sich nicht um das, was rings um ihn im Dorf vorging, redete nur das Nötigste, verließ unter der Woche kaum einmal seine Schreinerwerkstatt. Wie es in unserer halb verfallenen Unterkunft, die man nur als Hütte bezeichnen konnte, ausschaute, war ihm schnuppe. Wenn Serafina ihn in Grund und Boden zu reden versuchte, stellte er sich taub. Er sorgte dafür, dass wir alle zu Essen und Trinken hatten und anständig gekleidet waren. Und er spielte selten mit uns drei Jungs. Aber er besaß eine eigentümliche Angewohnheit: Wenn er urplötzlich gute Laune bekam oder sich über etwas richtig freute, was höchstens zwei- oder dreimal im Jahr vorkam, trommelte er uns Söhne zusammen und legte sich der Länge nach auf eine ausrangierte, durchlöcherte und wackelige Gartenliege, die in einem Verschlag hinter unserem kleinen Dorfhaus stand und von der die Lehne zur Hälfte abgebrochen war. „So!“, rief er und streckte seine vier Glieder auf der schrottreifen Liege der Länge nach aus. „Es kann losgehen.“ Er mimte einen Toten. Gennarino ließ seinen Kopf über die Lehne baumeln, der daraufhin ein wenig nach hinten wegrutschte, schloss die Augen und bot ihn uns dar. „Jetzt könnt ihr alles damit anstellen, was ihr wollt“, sagte er vergnügt zu Fabrizio, Umberto und mir, „mein Kopf gehört euch. Ich bin jetzt euer Patient.“ Er befand sich in einer denkbar unbequemen Position, wie beim Zahnarzt, wie beim Barbier oder wie beim Friseur. Er gab die Kontrolle ab. Freiwillig. Wir Kinder zögerten zunächst, aber dann gingen wir auf sein Spiel ein, machten uns gern an seinem Kopf zu schaffen. Zu dritt. Gleichzeitig. Es bereitete ihm diebisches Vergnügen, willenlos zu sein und alles, was uns gerade einfiel, mit sich anstellen zu lassen. Und wir akzeptierten seine Schrulle. Wir taten so, als würden wir ihn rasieren oder ihm die Haare schneiden. Wir befingerten seine Koteletten und sein unrasiertes Kinn. Wir betasteten seine Augenlider und Schläfen, Wangen und Ohrläppchen, so als wären wir seine Ärzte. Wir legten die Hand auf seine Stirn, hielten ihm die Nase zu, kniffen ihn in den Hals, kratzten an seinem Adamsapfel herum, zerwuschelten ihm die schwarzen Locken, von denen einige schon leicht ergrauten, flüsterten ihm etwas Unanständiges ins Ohr oder schrien laut auf, um ihn zu erschrecken. Wir setzten ihm alle möglichen
Mützen und Hüte auf, die wir finden konnten und die dann gleich wieder herunterrutschten und zu Boden glitten. Wir legten ihm Steinchen und Murmeln auf die geschlossenen Augen. Wir kitzelten ihn minutenlang mit einer Feder oder stocherten mit Pinseln in seiner Ohrmuschel, wir schnippelten mit einer kleinen Schere an seinen Augenbrauen herum. Wir küssten sein Gesicht, das vom Blutstau schon rot angelaufen war. Küssten es ganz vorsichtig und auch nur ganz kurz, nie auf die Lippen; wir pickten dabei eher, als dass wir richtig küssten, so wie kleine Spatzen, die mit ihren Schnäbeln einen auf der Erde liegenden, viel zu großen Brotkrumen bearbeiten. Wir ließen unseren Vater an etwas riechen, was schon vermodert war. Wir versuchten, etwas zu finden, wovor er sich ekelte. Nichts davon schien Gennarino sonderlich zu beeindrucken. Nichts zu ärgern oder zu entsetzen. Er genoss es, uns ausgeliefert zu sein. Sicher wollte er unsere Fantasie anregen, sich überraschen lassen und herausfinden, auf welche Ideen wir wohl kommen würden. Er wollte wissen, wie weit wir gehen würden, vielleicht auch, ob wir dazu fähig wären, ihn zu quälen. Ob wir ihm die Kehle zudrücken oder abschnüren würden. Oder es lag ihm etwas daran, dass wir bei unseren Tastversuchen herausfanden, wie sich ein erwachsener Mann anfühlte – etwas, was uns später einmal bevorstand und momentan noch unvorstellbar war. Oder, das war das Wahrscheinlichste, er wollte seinen Kopf, den er uns so vertrauensselig hinhielt, einfach einmal leer bekommen. An nichts mehr denken müssen. Nur fühlen. iv sein. Er ließ sich also eine Art Dreifachmassage verabreichen, abwechslungsreich und unvorhersehbar. Ließ seine Söhne Hand anlegen. Wir dagegen achteten wie vorbildliche Chirurgen darauf, ihm keinen Schmerz zuzufügen. Ihn nie zu foltern. Auch als Umberto ihm einmal ein wenig Akazienhonig auf den Schädel träufelte und die Tropfen auf seinem Haaransatz verrieb, bis alles zu einer klebrigen Masse verschmiert war, oder als Fabrizio ihn mit einem Zahnstocher sacht in die Lippen pikste, widersprach er nicht. Schimpfte uns nicht aus. Wir durften ihm kaltes Wasser über den Schädel schütten, ihn anpusten, ihm ein Streichholz ins Nasenloch stecken, ihm einen schmutzigen Overall übers Gesicht legen. Er ließ uns gewähren. Also durften wir an ihm herumdoktern, durften zum Schein operieren. Wir taten all das, was man unter normalen Umständen niemals mit einem Vater tun würde. Das, was wir nie gewagt hätten, das, was sich nicht gehörte, was – wären es Streiche gewesen – streng bestraft werden musste. Diese
Regeln waren vorübergehend außer Kraft gesetzt: Wir würden für nichts gezüchtigt oder geohrfeigt werden. Auf diese Weise besaßen wir während dieses bizarren Patientenspiels etwas, was wir sonst nie hatten: Narrenfreiheit. Uns wurde Spielraum gegeben. Gennarino schenkte uns Vertrauen und ließ uns freie Hand. Stets richtete Gennarino es so ein, dass seine Frau nicht in der Nähe war, dass unsere Mutter nichts von diesem Ritual mitbekam. Was wir da trieben, war eindeutig Männersache. Serafina ertappte uns nie in flagranti, vermochte es nicht, uns am Schlafittchen zu packen. Ebenso war klar, dass der Rest seines Körpers uns nicht zur Verfügung stand. Ihn durften wir weder berühren noch traktieren: Er war tabu. Zwanzig, dreißig Minuten dauerten unsere Behandlungen. Ein Beobachter oder Voyeur hätte nie verstanden, was wir da anstellten. Wäre auf die seltsamsten Gedanken gekommen, hätte das Ganze völlig verkehrt eingeschätzt: Wenn die Söhne mit dem Vater … Oder als heidnisches Zeremoniell aufgefasst. Wir vier saßen jedoch im selben Boot: Er missbrauchte uns ebenso wenig wie wir ihn. Uns hätte man nichts vorwerfen, nichts Unanständiges nachsagen können. Wir waren uns keiner Schuld bewusst. Irgendwann kam dann sowieso der Punkt, an dem Gennarino genug hatte. Ohne Ankündigung sprang er auf, dehnte Arme und Beine, strich sich Hemd und Hose glatt, drehte im Hof die Pumpe auf und fuhr sich mit einem Waschlappen durchs Gesicht. Er wirkte verschlafen und zufrieden. Goss sich einen Schluck lauwarmes Bier ein, gähnte zwei- oder dreimal, zwinkerte seinen Sohnemännern zu und machte sich wieder an die Arbeit. Wie von den Toten auferstanden. Danach benahmen wir vier uns so, als hätte es unser Spiel nie gegeben. Das musste nicht extra verabredet werden.
Nach Umbertos Heilung und Rückkehr nach Apricale hätte eine neue Runde dieses Vergnügens angestanden, denn nie gab es wohl einen triftigeren Grund zur Freude und zum Feiern; Fabrizio und ich warteten nur auf das entsprechende Zeichen vom Vater. Doch der rührte sich nicht, da der Genesene noch viel zu schwach für solche Unternehmungen war. Umberto schlief von morgens bis abends. Der Ärmste musste sich noch schonen. Wir fassten ihn deshalb mit
Samthandschuhen an und senkten unsere Stimmen, wollten ihn nicht in seiner Ruhe stören. Also wurde die Liege vorerst nicht beansprucht, wurde Gennarino vorläufig nicht von uns der Kopf gewaschen. Zu zweit machte das Ganze keinen rechten Spaß, und die Eltern, sehr glücklich und auch sehr erschöpft, vernachlässigten uns zugunsten des Heimkehrers. Um den geschwächten Bruder nicht zu behelligen, ging Fabrizio nun immer öfter zu den anderen Jugendlichen im Unterdorf, die sich auf einer Bank vor der Kirche zum Rauchen trafen. Und ich spielte mit den Kindern meiner Altersgruppe, lieber aber ganz allein, auf dem großen Platz vor dem Castello della Lucertola. Während die anderen in den engen Gassen tobten, den steilen Dorfhügel hinaufkraxelten und sich in Hauseingängen oder Nischen versteckten, bis sie von ihren Verfolgern aufgespürt wurden und laut aufkreischten, blätterte ich in meinen vielen Bilderbüchern, die Serafina für mich gesammelt hatte, oder versuchte, Figuren aus Lehm zusammenzusetzen, für die ich mir Sketche und kleine Stücke ausdachte. Geschichten, die ich erfand und, mit verteilten Rollen und verstellter Stimme, vor mich hinsprach. „Nicht ganz richtig im Kopf“, sagten manche Nachbarn und zeigten dabei mit dem Finger auf mich. Meine Cousinen und Vettern hänselten mich, wenn sie aus dem noch höher gelegenen Perinaldo zu Besuch kamen. Serafinas beste Freundin, Lucia, die unverheiratete Tochter des Bürgermeisters, nannte mich einen Eigenbrötler und Sonderling, präsentierte mir indessen gern die Schätze ihrer Familienbibliothek, wenn sie mich auf einen Kakao in ihre gute Stube bat. Freilich stand momentan nicht ich im Zentrum des Interesses, sondern mein Bruderherz, das in Bordighera dem Tod von der Schippe gesprungen war: Dass Umberto wieder unter uns weilte, glich einem Wunder. Seine Heilung war den meisten Dorfbewohnern unheimlich. Was war da unten an der Küste nur vorgefallen? Hatte Gennarino Magazzano einen Seher aufgesucht oder eine weise Frau, um seinen Sohn zu retten? War dem Jungen am Meer der Teufel ausgetrieben worden? Ich selbst glaubte über Jahre daran, dass meine eigene Sinneserweckung an der Küste in direktem Zusammenhang mit Umbertos Wandlung und seinem unbegreiflichen Zugewinn an Kräften stand. Es konnte gar nicht anders sein! Wie man es auch drehte und wendete: Es war und blieb unerklärlich. Und bald ging mein Bruder wieder mit mir zum Lernen, ich war ja gerade erst eingeschult
worden, oder wurde von Gennarino mit leichten Aufgaben in der Schreinerei betraut. Die frühere Rangordnung wurde jetzt wieder eingehalten: Fabrizio war und blieb der Vernünftige, der in der Locanda als Kellner aushalf und eines Tages den väterlichen Betrieb übernehmen würde, Umberto, so hoffte Serafina, würde es später einmal, wenn er fleißig lernte, bis zum Lehrer oder Apotheker bringen, und ich blieb nach wie vor der kleine, liebenswerte und viel zu zarte Wirrkopf: ein Nachkömmling halt. Mit dem man auch noch fertigwerden würde.
Es musste in jenen ersten Monaten nach Umbertos Wiederauferstehung gewesen sein, dass Irina mitsamt ihrer Dienerschaft in den alten, seit Jahren leer stehenden Palazzo neben dem Castello einzog. Es geschah nicht eben oft, dass sich Menschen in unser unwirtliches, schwer zugängliches Dorf im tiefsten Hinterland, das nur aus Treppen, Stufen und Stiegen zu bestehen schien und das auf Postkarten und in Fremdenführern „Adlernest“ genannt wurde, verirrten oder gar in ihm niederließen – und schon gar nicht jetzt, in den Jahren des Faschismus. Ausländer konnte man in den Bergen Liguriens mit der Lupe suchen, und ihre Anwesenheit erregte prompt Verdacht. Hinzu kam, dass Irina Komarova Russin und Pianistin war. Reich und uralt, alleinstehend und gehbehindert noch dazu. Was in aller Welt konnte sie hier nur wollen? Es hieß, dass sie vorher in Neapel und Palermo residiert habe und mit schwerem Akzent spreche, dass sie auf Italienisch nur radebrechen könne und bereits mehrfach vom englischen König zu Privatkonzerten eingeladen worden sei. Am Tag ihres Einzugs hatten mehrere große Fuhrwerke und Planwagen auf dem Schlossplatz gestanden, von denen man sich kaum vorstellen konnte, dass sie, schwer beladen und von San Remo her kommend, die Fahrt bergan, über die schwindelerregend enge Landstraße von Dolceacqua, sicher bewältigt hatten. Dicke, muskulöse Männer, die beim Umzugsunternehmen aus Genua angestellt waren, hievten Unmengen von antiken Möbeln und gleich drei Klaviere in die oberen Stockwerke des Palastes. Zuletzt zauberten sie noch einen ausgewachsenen Konzertflügel aus Mahagoni aus den Untiefen des Lastwagens hervor und brachten auch dieses Ungetüm ins Hausinnere. Das ganze Dorf hielt Maulaffen feil.
Die Leute von Apricale waren sich schnell einig, dass die Russin geerbt haben musste – gut geerbt, denn in kürzester Zeit wurde ihr Palazzo instandgesetzt. Architekten, Restauratoren, Bauunternehmer und Handwerker gaben sich die Klinke in die Hand, ganze Arbeiterscharen nahmen sich, innen wie außen, des maroden Gebäudes an. Schon im nächsten Frühjahr erstrahlte es in neuem Glanz. Irina, auf einen Krückstock gestützt und in einen Nerzmantel gehüllt, stand jeden Morgen und jeden Abend oben auf ihrer Panoramaterrasse und ließ den Blick in die Ferne schweifen. Eine prächtige Aussicht musste sie von dort haben – bis Ventimiglia und Menton, wenn sie die Küste nach Südwesten entlang, nach Arma di Taggia und San Lorenzo, wenn sie nach Südosten schaute. Einige Zweiund Dreitausender mussten von dort zu sehen sein und, wenn sie sich Apricale zuwandte, dem Hier und Jetzt, ein kleiner Junge, der mit seinen Büchern und Lehmfiguren direkt unter ihr auf dem Boden saß und in sein einsames Spiel vertieft war: ich, der seltsame Sandro mit dem schmächtigen Kinderkörper und dem viel zu großen Kopf. Den ich hob und andächtig lauschte, sobald Irina Komarova, wie immer bei offenem Fenster, zu spielen begann. Stundenlang haute die alte Dame in die Tasten, es dröhnte, es wogte und krachte in den Tälern Liguriens, es schwebte, es tirilierte und klirrte in den Gassen von Apricale, es wirbelte und mäanderte durch die Schluchten der Seealpen. Irina malte Eiszapfen und Vogelschwärme, Gewitterwolken und Sagengestalten, Ritterburgen und orientalische Ornamente in die Luft, bis es mir ganz schwindlig wurde und ich mir wünschte, mich bei Mama Serafina ankuscheln zu können, und überall im Dorf öffneten die Bewohner weit ihre Läden, um Irinas sehnsüchtige, irrwitzige und verführerische Musik möglichst weit in ihre Behausungen hineinzulassen. Hypnotisiert waren wir alle von Irinas Kunst, beherrscht und gefangen genommen. An manchen Abenden, als es schon spät geworden war und die bescheidene Straßenbeleuchtung eingeschaltet wurde, mussten Fabrizio und Umberto mich von meinem Spielplatz zu Füßen des Palazzo loseisen und forttragen, sonst wäre ich nie mehr nach Hause gekommen. Sonst hätte ich Irinas Klangzauber nicht entrinnen können. Am nächsten Morgen saß ich schon wieder dort, schaute zu der alten, mächtigen Königin auf ihrer Terrasse herauf. Selbst wenn es regnete, war ich an meinem
Platz. Und eines Tages, nachdem sie eine kleine Ewigkeit lang so getan hatte, als bemerkte sie mich nicht, trat sie nach vorn an die Brüstung und fixierte mich. „Rrrrrrragazzzzzzzzo“, rief sie, und das harmlose Wort schien nur noch aus dämonischen, drohenden Konsonanten im Fortissimo zu bestehen; es klang wie der Furcht erweckende Beginn einer majestätischen Toccata. Ich lauschte seinem Echo, das talwärts donnerte, das die Steinmauern der uralten Hä zum Erzittern brachte und einfach nicht verhallen wollte. Zur selben Zeit öffnete sich unten das große, zweiflügelige Eingangsportal, und ein Butler trat heraus, der quer über die Piazza auf mich zulief, einen Gruß andeutete und mit großer Freundlichkeit zu mir sagte: „Komm ins Haus, Junge. Die Signora erwartet dich.“
***
Mehrere Tage lang hattest du mich zum Narren gehalten, Géraldine. Sicher ohne böse Absicht. Warst eines von vielen Mädchen in Enzos diffusem Schwarm. Warst, wie sie, ein echtes Pariser Nachtschattengewächs. Trugst, wie sie ein Sartre-Geschöpf und eine Philosophen-Nymphe, die existenzialistische Uniform – dunkle Klamotten, kreidebleich, schwarz umränderte Augen, jungenhafter Haarschnitt, knabenhafter Oberkörper, burschikos. Bliebst undurchschaubar, auch wenn du länger zu mir hinschautest als die anderen und mir im Vorübergehen ein schüchternes Lächeln schenktest. Es entging mir nicht, dass du eine Nuance leiser sprachst als die übrigen und nicht so übertrieben lachtest. Dass du, wenn du dich unbeobachtet wähntest, trauriger und nachdenklicher wirktest. Weniger gierig. Dass du dich nicht, wie die anderen, mit billigem Wein volllaufen lassen wolltest. Du warst für keinen Cocktail zu haben, dir gab niemand einen aus. Du warst nicht, wie die übrigen jungen Desmoiselles in der Rue de Lappe, auf amerikanische Strumpfhosen scharf, und du fingertest auch nicht suggestiv an deinem Strumpfhalter herum, wenn eine behaarte Männerhand in deiner Nähe es kaum abwarten konnte, dir unter den kurzen Rock zu fahren. An den Wochenenden trugst du hautenge Hosen und keine Petticoats. Du kamst
mit wenig Schminke aus, hattest deine Fingernägel nicht lackiert. Aber sonst schienen die geheimnisvollen Regeln im Harem auch für dich zu gelten: Du warst fremdbestimmt. Du zogst dich mit Enzo oder einem seiner Kumpane im Hinterzimmer der „Boule Rouge“ zurück, du hängtest dich so manchem Kraftmeier an den Hals, du schienst ständig Geld zu brauchen, du schienst nichts dabei zu finden, eine Existenz als Männerspielzeug zu führen, du hättest dich auch mit mir abgegeben, wenn mein Freund es von dir verlangt und dich mir auf einem Silbertablett angeboten hätte, du erschienst und verschwandest auf ein Zeichen von ihm. Nur wenn die Initiative von mir ausgegangen wäre, wärest du bestimmt nicht gleich darauf angesprungen. Du wiegtest dich nie in den Hüften, wolltest nie mit deinen Rivalinnen konkurrieren. Du bewegtest dich wie jemand, der schon seit vielen Jahren dazu verurteilt ist, zwischen Tür und Angel zu leben. Teilnahmslos nahmst du an allem teil. Warum ich dabei war, gerade dir zu verfallen, Géraldine, hätte ich dir nicht sagen, ja nicht einmal mir selbst erklären können. Warum es mir gerade deine Anziehungskraft angetan hatte, ebenso wenig. Du tatest doch alles dafür, mir zu widerstehen. Du konntest weder einen großen Busen noch üppige Hüften als Waffe oder Lockmittel einsetzen. Du machtest jedem Bewerber unmissverständlich klar, niemandem gehören zu wollen. Du gabst mir deutlich zu verstehen, nichts für mich übrig zu haben. Weder Zeit noch Liebe, weder Interesse noch Zärtlichkeit. Und ich – ich hätte dir aus der Hand gefressen. Mich vor dir, mich für dich erniedrigt. Jederzeit. Was mich bei Brenda um den Verstand brachte – ihr Hang, mich zu vereinnahmen, mich systematisch zu erdrücken und zu ersticken –, hätte ich mir von dir gern gefallen lassen. Hätte ich mir sogar ausdrücklich gewünscht! Ich hätte alles dafür gegeben. Mehrere Märztage lang war ich davon überzeugt, Luft für dich zu sein, Géraldine. Ich nahm an, dass ich dir bestenfalls leidtat. Ich litt sehr darunter, dass du in mir nur einen dezenten Begleiter sahst, einen Bubi womöglich, einen harmlosen Touristen und keinen Mann mit eigenen Wünschen und Begierden. Dass du mich nur als Anhängsel wahrnahmst und nicht einmal bemerktest, dass ich den im Flüsterton geführten Unterhaltungen im Pariser Argot nicht folgen konnte. Dass ich aus eurem Gerede nicht schlau wurde. Je weniger meine Ohren aufnahmen, desto mehr vertraute ich meinen anderen Sinnen und wurde dir hörig. Ja, dir, obwohl ich ja fast nichts von dir verstand
oder über dich herausfand. Ich wurde meiner Verzückung kaum noch Herr, meine Verzweiflung wuchs stündlich. Wie ein riesiger Ballon, der zu platzen droht. Aber dann setzten unsere stummen Blickduelle ein, konzertierten wir mit den Wimpern, forderten wir uns gegenseitig heraus. Auch wenn du gerade dabei warst, mit einem Freier oder Freund zu schmusen und dich dafür in eine schummerige Ecke zurückgezogen hattest, hieltest du den Kontakt zu mir aufrecht, testeten wir gemeinsam unseren Verstand und unsere Ausdauer. Wir starrten uns an, bis die Schmerzgrenze überschritten war. Wer von uns würde als Erster oder als Erste blinzeln, wer die Augen niederschlagen, wer sich wieder ins Schneckenhaus der Einsamkeit zurückziehen? Dann, im Eifer des Gefechts, wenn es ordentlich blitzte und funkte zwischen uns, wenn die Luft zwischen uns vor Spannung knisterte und wir, die Blicke ineinanderverkeilt, miteinander rangen, schöpfte ich Hoffnung. Dann war ich nicht länger ein Narr, nicht irgendein Typ, den man leicht übertölpeln konnte, sondern ein Kerl, der für dich in Betracht kommen konnte. Der dich auf Händen tragen würde. Für längere Zeit, für immer gar. Nicht nur für eine Nacht. Nur du konntest das noch nicht wissen. Mehrere Apriltage lang verschwiegst du mir deine wahre Existenz, Géraldine. Obwohl Enzo einmal, wie nebenbei, über dich die Bemerkung fallen ließ: „Auch eine Künstlerin. Wie du eine Besessene.“ Ich fragte nicht weiter nach. Schenkte der Aussage keine Beachtung. Bis ich dich, am helllichten Tag und kilometerweit von der Bastille entfernt, am Boulevard Raspail mit einem großen, unförmigen Instrumentenkoffer in der Hand wiedersah. Am Gang erkannte ich dich sofort, an der streichholzdünnen, eleganten Hose an deinen streichholzdünnen, eleganten Beinen, an deinem scharf geschnittenen, androgynen Profil und an der provokanten Art, wie du erst zu mir hersahst und gleich wieder wegschautest. Ich war erst vor wenigen Minuten aus Saint-Sulpice getreten, der mythischen Kirche mit der monumentalen Orgel, und hatte dort die weltbekannten Delacroix-Fresken studiert, biblische Gemälde, auf deren einem der spätere Erzvater Jakob so leidenschaftlich mit dem Engel kämpft. Auf dem Vorplatz hatte, als ich genug gesehen und wieder Lust aufs Pariser Getümmel bekommen hatte, ein in Würde gealtertes Paar, ganz in Schwarz,
diesen ungleichen Tanz der sagenhaften Gestalten aus dem Kircheninneren im Freien gleichsam nachgestellt, inbrünstig, mit einem stummen Tango. Ohne musikalische Begleitung, ohne wimmerndes Bandoneon. Zwei Liebestänze hintereinander, einer gemalt, einer gelebt, zwei Liebestänze, die Kämpfen glichen. Oder eben umgekehrt. Beim Ringen und Ineinanderschlingen, beim Wälzen, Niederdrücken und Wiederaufbäumen, beim Verschmelzen und Auseinanderdriften der Körper waren Zuneigung und Abstoßung kaum noch voneinander zu unterscheiden. Wie diese zwei mal zwei Kreaturen in ihren amourösen Choreografien umeinander herumschlichen und nicht voneinander lassen konnten, sich packten und wieder losließen, sich wehtaten und wieder besänftigten, sich umarmten und, wie vom Blitz getroffen, erneut auseinanderfuhren, das erinnerte mich an dich und mich, Géraldine. An uns beide im Idealfall: wie ich mir unser Zusammensein wünschte. Genau so sollten, müssten wir einander begehren. Genau so könnten, dürften wir um unsere Liebe streiten und uns dabei ruhig zerfleischen. Regen setzte ein. Ich lief dir nach wie ein junger Hund. Natürlich hattest du mich längst bemerkt, drehtest dich aber nicht ein einziges Mal nach mir um. Wir beschleunigten unsere Schritte. Du bogst in die Rue de la Chaise ein und machtest vor einem verhutzelten Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert halt, mit bröckelnder Fassade und kaputten Fensterscheiben. Es schien kurz vor dem Einsturz zu stehen. Wir rangen nach Atem, keuchten wie nach dem Liebesakt. Du wandtest dich mir zu, finalement, und zum ersten Mal sah ich dein Gesicht in seiner ganzen Hilflosigkeit und Anmut bei Tageslicht. Wie freundlich du sein konntest, wie offen und wie unendlich unvoreingenommen! „Viens“ war alles, was du zu mir sagtest, Géraldine, „komm“, weiter nichts, und du griffst nach meiner Hand. Im Hausinneren kletterten wir fünf Etagen hoch und staksten über Schutt, Scherben und Gerümpel in eine Wohnung, die über keine Eingangstür verfügte. Alle Räume darin waren mit Müll übersät, die Tapeten abgerissen, die Decken aufgeplatzt; im Flur hatten sich an durchgetretenen Stellen auf dem Linoleum kleine Pfützen gebildet. Auf einem verschlissenen gelben Sofa, das in der Mitte des ansonsten völlig leeren Salons stand, saß zu meinem Leidwesen bereits ein anderer Mann. Trotz der Kälte mit nacktem Oberkörper und rappeldürr, nur in Hosen und Halbschuhen ohne Strümpfe. Ein Jüngling noch, mit rabenschwarzem Haar und knochigem Gesicht. Abweisend und stumm.
„Henri“, stelltest du ihn vor, und dann mich: „Sandro. Un pianiste.“ Erstaunlich korrekt. Sandro ohne Akzent. Du kanntest mich besser, als ich je zu hoffen gewagt hätte. Kanntest auch mein Metier. Grüße wurden nicht ausgetauscht. „Wir wollen proben“, sagtest du noch, es klang wie ein Geständnis. Wie etwas, das man nur im Verborgenen tat. Etwas, wofür man diffamiert und denunziert werden konnte. Proben: Das kam mir bekannt vor. Und auch das französische Wort dafür kannte ich: répéter. Enzo hatte es mir beigebracht. Ihr batet mich, Platz zu nehmen. Ich schaute mich kurz um und fand einen Fleck auf dem verdreckten Parkett, der halbwegs vertrauenerweckend wirkte, sodass ich mich dort auf den Boden setzen und an die Wand lehnen konnte, Henri warf mir eine alte Zeitung zu, die ich als Unterlage benutzte. Du, Géraldine, öffnetest deinen Koffer und holtest eine Gitarre daraus hervor. Und begannst, auf der Sofakante hockend, zu spielen. Glutvoll und enthusiastisch, mit grandioser Fingerfertigkeit. Mit einem Eifer, als bekämst du es bezahlt. Auf Anhieb verstand ich: Das war es, wofür du branntest, was wirklich für dich zählte. Henri holte ebenfalls etwas hervor, einen Kontrabass aus dem Nebenraum nämlich, der dort auf dein und unser Eintreffen nur gewartet hatte, baute sich neben dir auf und fiel, zupfend, klampfend, auf dem Griffbrett auf und ab wandernd, in dein Spiel ein, ohne dass einer von euch einen Einsatz benötigt hätte. Ihr legtet beide ein Tempo vor, das mich schwindlig werden ließ. Jetzt fehlten eigentlich nur noch ein Schlagzeug und eine Quetschkommode, jetzt fehlten nur noch satte, schräge Dreiklänge und rasante Läufe auf einer Akkordeonklaviatur, und ihr hättet die Mauern zum Wackeln gebracht. Euer blindes Einverständnis rief meine Bewunderung hervor und auch meinen Neid. Ob das Jazz oder Swing war, was ihr hier für mich produziertet, hätte ich nicht zu sagen vermocht – da kannte ich mich nicht aus. Das improvisatorische Element dominierte. Ich ließ mich treiben. Ich gab mich euch hin. „Das ist fantastisch!“, wollte ich schon nach wenigen Takten ausrufen. Doch das war noch nicht alles: Du warfst deinen Kopf zurück, Géraldine, so als wärst du bei meinem Vater in Apricale in die Lehre gegangen, setzest deinen Kopf und dich den Vibrationen aus, die den Raum erfüllten und zum Schwingen
brachten, und legtest los. Hobst ab. Mit kehligem, schluchzendem Gesang. Nicht so derb, pathetisch und durchdringend wie die Piaf – aber mindestens ebenso markerschütternd und schneidend. Nicht so verhalten, feinsinnig und bezaubernd wie die Gréco – aber mindestens ebenso emotional und poetisch. Wild und guttural klang deine Stimme, und mir war rätselhaft, wie sie mit einem derartigen Volumen und solch unbezähmbarer Kraft aus deinem mir vom vielen Anschauen schon so vertrauten Körper dringen konnte. Der mir jetzt leider wieder etwas fremder wurde, weil ich kaum glauben mochte, dass diese Stimme, diese Urgewalt ebenso zu dir gehörte wie all die anderen Einzelheiten, die ich bereits kennenlernen durfte. Und noch etwas fiel mir auf: Du, Géraldine, warst mit deiner Gitarre wie verwachsen. Fünf, sechs Stücke botet ihr mir dar. Schmetterlingszart gehaucht ging die Schlusswendung deines Chansons zu Ende, mit einem in die Länge gezogenen Nasal, der sich in den Winkeln der Ruinenwohnung verlor. Ich genoss dieses kleine Konzert wie eine Privataudienz, auch wenn ich verwirrt war und restlos aufgewühlt. Die Texte deiner Lieder, die Poesie deiner Strophen und Refrains waren für mich ein Buch mit sieben Siegeln geblieben. Und ihr beide auch. Du sacktest zu Boden, als der letzte Ton verklungen war, alle Energie war aus deinem Gesicht und deinen Händen gewichen, und Henri verstaute seinen Bass wieder im Nebenzimmer, kehrte zurück, richtete dich auf, drückte dir einen Kuss auf den Mund und verließ, ohne sich von dir oder mir zu verabschieden, das Appartement. Wir hörten, wie er im Laufschritt das Treppenhaus erreichte. Wir blieben fünf Minuten schweigend sitzen. Oder auch zehn. Ich erhob mich. Wir schauten uns an, nahmen unseren alten Blickkampf wieder auf, aber es war nicht wie früher. Ich würde, so viel war jetzt klar, nicht ungeschoren aus Paris davonkommen. Mein Schutzschild hatte mir den Dienst versagt, ein musikalisches Trommelfeuer war auf mich niedergegangen, die Pfeile deines Gesanges hatten mich getroffen. Mitten ins Herz. Denn alles, was mir jetzt einfiel, war, einen Schritt auf dich zuzumachen und dich in die Arme zu schließen, Géraldine. Mit einem innigen Kuss den Kuss Henris zu ersetzen, ungeschehen zu machen. Mit meinem Kuss das Eis zu brechen und die Schleusen zu öffnen. Dir damit zu zeigen, dass du jetzt über mich und meinen weiteren Lebensweg verfügen konntest. Ich war entwaffnet. Du unternahmst nichts, um meine Umarmung und meinen Kuss abzuwehren und zu verkürzen. Doch du erwidertest meine Zärtlichkeiten auch nicht. Standst
abgeschlafft da. Hieltest mir nicht deinen Kopf hin, bewegtest deine Zunge nicht, schmiegtest deinen Körper, der noch ganz warm war vom Spielen und Singen, nicht an meinen. Ich spürte, dir erstmals so nah, wie ich dir schon seit Tagen gern gekommen wäre, wie dein Herz heftig klopfte, Géraldine. Oder war es meines? Unsere Nähe erregte mich. Ich versuchte, dich aufs Sofa zu ziehen, begann dich zu entkleiden. Da erst lockertest du unsere Umarmung, beendetest du die Unterredung unserer Augen. „Pas encore, Sandro“, sagtest du mit Bestimmtheit und nahmst meine Hände von deinem Leib. „Jetzt noch nicht.“ Du warst streng zu mir, weil du selbst nicht mehr weiter wusstest, weil du dich vor einer Zukunft mit mir fürchtetest. Wir erschraken beide über die Strenge, wir gehorchten deinen Sätzen. Wir entfernten uns voneinander. Wir vermieden jedes weitere Wort. Wir trotteten hintereinander die Stufen herunter, bis wir auf der Straße standen, und entfernten uns voneinander, in verschiedene Richtungen. In der kommenden Nacht würden wir uns wiedersehen, als Teil von Enzos Clique, als Fremde oder einander wieder Entfremdete, und diesen Nachmittag ausblenden. Bis dahin würde ich nichts Besseres zu tun haben, als mich mit nutzlosen Fragen zu löchern. War ich eine Nummer zu groß für dich? Fürchtetest du einen Klassenunterschied, der unüberwindbar sein könnte? War ich zu überheblich? Oder war es genau umgekehrt: Verachtetest du mich? Wirkte ich etwa bemitleidenswert auf dich oder gar bedürftig? Bevorzugtest du einen Fiesling? Oder wolltest du abwarten, bis der perfekte Moment für unsere körperliche Vereinigung kommen würde? Wann nur, wann würde ich bei dir bleiben dürfen? Du hattest unseren Kuss gekostet und entschieden, dass er unzulänglich war. Unangebracht und überflüssig. Ich genierte mich. Hasste mich dafür, so schutzlos und einfältig auf dich gewirkt zu haben. Es war närrisch gewesen zu glauben, dass ich dich einfach so herumkriegen würde. Du hattest mich in die Schranken weisen müssen. Du warst auch weiterhin nicht für mich bereit.
Es war Mitte April geworden. In den Parks sprangen die Knospen auf. Die Aufnahmesessions neigten sich dem Ende zu, meine Einspielungen waren im
Kasten. Die unbezahlbaren Stunden, die ich mich an den famosen Érard-Flügel klammern konnte und er widerspruchslos meinen Fingern gehorchte, meine Anschläge und facettenreichen Berührungen in berauschende Parfums und edle Klangvaleurs verwandelte, waren leider gezählt. Meine Frau saß noch immer in London fest. Im Studio herrschte eitel Sonnenschein. „Sie haben mich zu einem glücklichen Mann gemacht, Magazzano“, schwärmte der Produzent, „warten Sie ab, was Ihre Hörer erst sagen werden!“ Der Direktor meiner Plattenfirma schloss sich seinen Glückwünschen an: „Sie befinden sich auf der Höhe Ihrer Kunst, Sandro!“ Er schickte Enzo los, Champagner zu besorgen, und mein wie immer bestens aufgelegter, wohl noch nachtwandelnder Gefährte kam mit zwei Flaschen und vier Kristallgläsern wieder. „Die habe ich neulich aus deinem Hotelzimmer mitgehen lassen“, scherzte er, „setze sie einfach auf die Rechnung.“ Zum Abschluss hörten wir noch einmal die Tonbänder ab, „besser und authentischer geht es nun wirklich nicht“, da waren sich alle einig, und ich ließ es ausnahmsweise zu, dass alle minutenlang klatschten. „Bravo! Bravo! Keiner spielt diese Werke wie Sie!“ Bis ich errötete. Und „Vive la !“ rief. Denn wo wären wir denn jetzt alle in diesem kleinen, engen Raum ohne die Eingebungen und Geistesblitze der französischen Komponisten? Denen ich ja lediglich dienen durfte. Wo wären wir ohne diese Genies? Und wo ohne die hohe Kunst des Liebemachens, das ja für jeden großen Tonsetzer zum Handwerkszeug gehörte? Ich dachte an Irina – wie stolz sie jetzt auf mich wäre! Hätte sie diesen großen Augenblick doch nur miterleben können! Ich dachte an meine Eltern, an mein Dorf und an die gewaltige Kluft, die sich schon vor Jahren zwischen uns aufgetan hatte. An Brenda dachte ich lieber nicht, jedenfalls nicht jetzt. Und an dich, Géraldine, nur mit Unbehagen. Du warst die Instinktmusikerin von uns beiden, ich der Ästhet. Wie sollten wir da jemals eine Brücke schlagen können? Mir blieb, rein objektiv betrachtet, nicht mehr viel in Paris zu tun. Mein Verstand befahl mir, ohne zu zaudern den Zug nach Le Havre zu besteigen, auf der Nachtfähre den Ärmelkanal zu überqueren und mich daheim mit Mrs Magazzano-Finnegan zu versöhnen. Sofern das noch möglich war. Mais non! Meine Gemütsverfassung stand jeglicher Vernunft im Wege.
Enzo aber, um mir die Entscheidung zu erleichtern, spielte des Teufels Advokat und riet mir, meinem Impuls zu folgen und alles auf eine Karte setzen. „Jemand, der so wie du Satie und Poulenc zu spielen beherrscht, ist ein sinnlicher Mann! In England hast du nichts mehr verloren.“ „Und was ist mit Brenda? Müsste ich, wie jeder Ehemann an meiner Stelle, nicht ein furchtbar schlechtes Gewissen haben?“ „Hast du aber nicht. Hätte ich dir doch sofort angemerkt. Sonst wärst du ja nie mit mir mitgekommen, Abend für Abend. Und dein Gewissen lassen wir jetzt mal beiseite, das schließen wir hier so lange ein“, er klappte den Klavierdeckel zu und verriegelte den Flügel. „Lass deine Angetraute ruhig noch ein wenig schmoren. Sie wird es schon verkraften. Glaub mir: Sie wird es schlucken. Und dir verzeihen, wenn du wieder bei ihr bist und treuherzig um Vergebung bittest. Nur noch nicht jetzt. Écoute, Sandro: Lass mich dir helfen! Nutze diese eine Chance. Hör auf mich.“ Um seine verführerischen Worte zu bekräftigen, schlug er mir einen Spaziergang rund ums Odéon vor und schob mich, nach Kaffee und Sherry nahe der Orangerie du Sénat, quer durch den Luxembourg-Garten Richtung Montparnasse. In der Rue Vavin nahm er mich beim Arm und zeigte nach oben. Wo nichts als Dächer, Kamine und kleine Fenster zu sehen waren. Dann zückte er einen Schlüssel, nicht den kleinen silbernen, der zum Érard gehörte, sondern einen viel größeren und verrosteten, setzte eine Verschwörermiene auf und stieß mich in die Seite. „Damit geht’s unters Dach, in meine Garconnière.“ Und, als ich nicht gleich verstand: „Meine Junggesellenbude! Noch weitere Unklarheiten?“ Am nächsten Morgen machte ich Nägel mit Köpfen und checkte aus meinem Hotel aus. Brenda war bei meinem kurzen Anruf dermaßen überrumpelt gewesen, dass sie nur nach Luft schnappen konnte. Ich nahm an, sie hatte verschlafen, denn es war bereits nach neun Uhr, und sie ging erst beim fünften oder sechsten Klingeln an den Apparat. Ich sprach zu ihr im Telegrammstil: „Ich komme vorerst nicht nach London zurück! Sag bis Ende Mai alle Konzerte und Auftritte ab! Give my love to your Dad.“ Sie wollte zu einem vorwurfsvollen „But, Seeeennnnnnndro …“ ansetzen, aber da hatte ich den Hörer bereits auf die
Gabel geworfen. Enzo half mir beim Koffertragen. Mit Einrichten oder Einräumen hielten wir uns nicht lange auf: Das Nötigste war vorhanden, das Zimmer klein, sauber und hell. Ich lebte auf in meinem Provisorium. Brenda durfte nie herauskriegen, dass ich hierhergezogen war. Enzo würde schon dichthalten. Ich fühlte mich von ihm behütet. Ich gab ihm schnell zwei Küsse auf beide Wangen. Mein Freund hatte mir ein Stück von seinem Paris geschenkt. Comme ça, ohne lange zu überlegen. Womit hatte ich das verdient? „Darf ich dich zu einem Apéritif einladen?“, fragte ich und warf mich rücklings auf Enzos einladendes und auch sehr bequemes Bett, weil ich sonst vor Glück fast geflennt hätte. „Und was bin ich dir an Miete schuldig?“ Enzo, der am Fenster stand und sich im Geheimen darüber freute, wie sehr ich mich freuen konnte, klemmte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. „Rien! Vorerst mal gar nichts. Und deine Einladung hebst du dir für später am Abend auf. Ich habe noch eine kleine Überraschung für dich!“ Fünf Minuten später klopfte es. „Du kannst gleich liegen bleiben, mon ami“, sagte Enzo und öffnete die Tür. Vor der niemand andere als du standest, Géraldine. Wie in einer Schmierenkomödie. Und doch war ich hin und weg. Du, über beide Ohren strahlend. Ohne Gitarre, ohne Henri. Kaum geschminkt. Und diesmal wieder im Rock. „Ich geh dann mal, meine Lieben“, verabschiedete sich unser Kuppler. Sein Plan war geglückt. Darin war er unschlagbar. Mich hingegen machte diese Wendung perplex – war ich einer weiteren seiner Finten aufgesessen? Oder einer deiner Finten, Géraldine? Du und er, ihr wechseltet auf dem Treppenabsatz noch ein paar Worte, die ich nicht verstehen konnte. Die ich nicht verstehen sollte. Du zähltest sorgfältig die Scheine aus dem Bündel, das unser gemeinsamer Freund dir beim Herausgehen noch schnell zugesteckt hatte. Ohne falsche Scham. Legtest es auf den Couchtisch, setztest dich zu mir aufs Bettende, schnürtest mir die Schuhe auf. Begannst, mein eines Bein von der Wade an zu massieren und arbeitetest dich an Knie und Schenkel bis zu meiner Körpermitte
hinauf. Warst selig, dass ich so zuverlässig auf diese Zärtlichkeit reagierte. Summtest eines deiner eigenen Chansons, ich erkannte es wieder. Du versuchtest dich an einem unbeholfenen Lächeln. Wir waren allein.
5
Richten mit trockener Hand
OHMS prangte auf dem Umschlag, der Rupert sogleich ins Auge sprang, als er nach Feierabend den Living Room betrat und einen Schritt auf den Kamin zu machte. On Her Majesty’s Service. An ihn adressiert. Unfrankiert. Offiziell. Die Mutter wich seinem fragenden Blick aus. Die Katze machte einen Satz Richtung Küche. Er zögerte. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Erst der dritte Brief war der richtige, der ersehnte. Eine Einladung nach London, zur Ausbildung. Ins Pentonville Prison. Dorthin, wo schon Oscar Wilde eingesessen hatte, bevor er nach Wandsworth und Reading überstellt wurde. Dort würde Rupert beim Training all das lernen, was er längst wusste und kannte, was er seit Jahren verinnerlicht hatte. Dort würde er sich also verwirklichen. Dort, bei der theoretischen und methodischen Unterweisung, würde man ihm das Handwerkszeug vermitteln, ihn zum Gesellen erklären, bevor er in der Praxis brillieren und jedermann mit seiner Meisterschaft beeindrucken konnte. Dort würde er seiner Sehnsucht freien Lauf lassen. Er atmete hörbar auf. Denn im ersten Brief war sein spontaner Antrag abgelehnt worden. Ein echter Rückschlag. Derzeit kein Bedarf an Kandidaten. Kein Platz auf der Liste zu vergeben. Rupert hatte die Nachricht als Schmach empfunden, als persönliche Niederlage eines Beaufort-Bewerbers. Damals hatte er noch nicht wissen können, dass nur sehr wenige Namen auf der Liste standen, sich nicht vorstellen, wie selten einmal ein Nachrücker benötigt wurde. Fast war er schon geneigt gewesen, das harsche Nein als erneute Strafe für Matthews unrühmliches Aus aufzufassen. Beim zweiten Brief, der nach etlichen Monaten der Ungewissheit eintraf, als man ihn zum Vorstellungsgespräch nach Manchester einlud, ins Strangeways Prison, hatte er Mut gefasst. Ein bewährter Gehilfe, so las er, war seit Neuestem aus beruflichen Gründen des Öfteren verhindert und würde bald nicht länger für die Hängungen abkömmlich sein. Daher wurde jetzt ein neuer Mann gebraucht. Man hatte seinen Antrag also nicht vergessen. Dass er nur einer von zwölf Kandidaten war, die sich in Strangeways einem unangenehmen Kreuzverhör stellen würden, konnte er ebenfalls nicht ahnen. Was vielleicht ein Glück war. Rupert hatte einen Adrenalinstoß verspürt, als er die Einladung in den Händen hielt, einen Glücksschub und eine Erlösung. Zugleich aber auch eine Überwältigung. Die nicht allein von der Erschöpfung nach einer langen, harten Arbeitswoche mit Auslieferungen überall in der City und auf dem Land herrühren konnte.
Zunächst nahm ihn damals allerdings Mary in die Mangel. „Du bist drauf und dran, deinem Vater nachzueifern, stimmt’s?“, herrschte sie ihn an, und in ihrer Stimme lag Verzweiflung, als Rupert schwer schluckend nickte und keinen Ton herausbrachte. Und auch Furcht. „Ich wusste es. Hab es immer geahnt.“ Sie ließ sich in den Wohnzimmersessel fallen und zitterte am ganzen Körper. „Deinen Dad haben diese Fahrten umgebracht. Das Hängen hat ihn ins Unglück gestürzt. Das Töten war nichts für ihn. Nie“, und sie wiederholte das Wort mit Nachdruck, „nie hätte er dieser Pflicht nachkommen dürfen. Sie war Gift für ihn.“ Nur durch den Suff sei er mit der Belastung fertiggeworden. Rupert widersprach nicht sofort. Glaubte er doch, dass er seinen Vater, in dieser Hinsicht jedenfalls, weit besser kannte. Stattdessen legte er ihr seine ureigenen Beweggründe dar, sprach von der Echtheit seines Pflichtgefühls und von einem unbezwingbaren Bedürfnis, das Richtige zu tun. Sprach von Güte und von einem heiligen Auftrag. Versuchte ihr klarzumachen, dass es ihm überhaupt nicht um Nachahmung ging. Dass an den Hinrichtungen nichts Abstoßendes sei. Dass er tätig werden müsse, damit wieder ein Gleichgewicht hergestellt würde zwischen den Fehlbaren und der Gemeinschaft der Unbescholtenen, zwischen den Tätern – „Das könnten auch wir sein, Mutter!“, stieß er hervor, „das könnte jedem von uns zustoßen …“ – und den Menschen, die sich bislang noch nichts vorzuwerfen hatten. Die deswegen aber noch lange keinen Grund zur Selbstgerechtigkeit hatten. „Jemand muss es tun, und ich glaube, dass ich mich dafür in ganz besonderem Maße eigne.“ Rupert sah sich als jemand, der korrigierend eingriff. Damit alles wieder im Lot war. „Warum du? Warum nicht jemand anderer?“ Damit hätte Mary ihn am liebsten in die Enge getrieben. Sie schluckte diese Fragen noch rechtzeitig herunter. Sie wollte sich nicht als Inquisitorin aufspielen. Ihr war bewusst, dass sie ihren Sohn nicht umzustimmen vermochte, dass sein Entschluss unverrückbar war. Jahrelang hatte sie ihn in den Unterlagen seines Vaters blättern sehen, hatte ihn heimlich beobachtet, mit einem weinenden Auge. Hatte sich ihren Reim darauf gemacht. Bemerkt, dass er die Eintragungen auswendig lernte und die Storys dahinter in sich aufsog, so als erhielte er eine frische Blutzufuhr.
Doch sie berichtete ihm mit aller Deutlichkeit von den Ängsten, die sie jahrelang um Matthew ausgestanden habe, von ihrer Zerrissenheit und von dem fortwährenden Unbehagen, das sie jetzt noch plage. „Ist das nicht auch Mord, was ihr da tut? Versündigt ihr euch da nicht ohne Not? Wer richtet euch für eure Taten?“ Und dass sie so etwas nicht noch ein zweites Mal durchstehen könne. „Ich will doch nur dein Glück, Junge. Du wirst grübeln und irgendwann dein Tun infrage stellen. Das Töten wird dir keine Ruhe lassen. Und ich möchte nicht, dass auch du eines Tages noch mit dem Trinken anfängst.“ Mary fing an zu weinen. „Und dann vor die Hunde gehst.“ Sie versuchte, ihm ins Gewissen zu reden. Sie zeterte, sie flehte. Vergeblich. „Ich bin ein ganz anderer Mensch als er“, antwortete er gebetsmühlenartig auf jeden ihrer Einwände. Und wurde dabei immer ruhiger. „Lass mich tun, was ich für richtig halte. Bitte.“ Er nahm ihre Hände in die seinen und legte so etwas wie einen Eid ab. „Ich werde mein Bestes geben und mich nicht zu Dummheiten verleiten lassen.“ Mary starrte ins Leere. „Ich würde mir wünschen, dass du es dir anders überlegst. Mir zuliebe. Und auch dir selbst zuliebe.“ Und dann verstummte sie, sank resigniert in sich zusammen. Es war zwecklos. Am Ende dieser angespannten Unterredung ließ sie von ihm ab, denn im Grunde war sie ja selbst von Ruperts Charakterfestigkeit überzeugt. So wenig wie er ihr ihren Widerwillen und Ekel ausreden konnte, den für sie die morbide Nebenbeschäftigung ihres Mannes, ihres Schwagers und jetzt auch noch ihres Sohnes darstellte, würde sie ihn davon abhalten können, seiner inneren Stimme zu folgen und seinen eigenen Weg zu gehen. Er schien zu wissen, was er da vorhatte, wirkte stabil. Eine Verteidigungsrede hatte er nicht nötig. Dennoch war für sie die Vorstellung, dass sich die tödliche Spirale in ihrem Haus unaufhörlich weiterdrehen würde, bis an ihr Lebensende und vermutlich noch darüber hinaus, ein Grauen. „Es liegt ein Fluch über dieser Familie“, das waren ihre letzten Worte, am Abend der fruchtlosen Auseinandersetzung, zu dieser hassenswerten Tradition, die unter
den Beauforts wie ein Geschwür zu wuchern schien. Es waren sogar ihre allerletzten Worte zu diesem Thema. Nie würde sie ihn wieder zur Rede stellen. Ihre Seele würde sich wohl nicht mehr von den permanenten Angriffen erholen. Um ihren inneren Frieden war es geschehen. Rupert glaubte nicht an einen solchen Fluch. Im Gegenteil, er fand, dieser Hang zum Wiederherstellen von Gerechtigkeit, dieses Wettmachen von Schuld sei ihm in die Wiege gelegt geworden. Ihm lag, und das würde er auch Mary dereinst zu beweisen versuchen, das Hängen im Blut.
Im Vergleich zu der Kontroverse mit seiner Mutter war die Befragung im Wandsworth Prison beinahe ein Kinderspiel. Hier wollten schließlich alle, Prüfer wie Prüflinge, dasselbe: einen guten Job machen. Hier zogen, so zynisch das für Unbeteiligte auch klingen mochte, alle an einem Strang. An einem Samstagnachmittag im Dezember 1931 war er vorgeladen, um sechzehn Uhr. Zum ersten Mal in seinem Leben gewährte man ihm Einlass in ein Gefängnis. Ihm war ganz erhaben zumute. Ein Bräutigam, der zum Traualtar schritt, hätte nicht aufgeregter und siegesgewisser sein können. Die Atmosphäre – düster, farblos, abweisend – entsprach exakt seiner Vorstellung. Nichts daran erschien ihm einschüchternd oder abschreckend, ihm behagten die Grautöne und die eisige Stille. Es fühlte sich gut an, hier zu sein. Kurz bevor er an der Reihe war, öffnete sich eine Seitentür, und ein Mann Mitte dreißig in verschlissenem Anzug, der allem Anschein nach tief ins Glas geschaut hatte und merkwürdig gehetzt wirkte, torkelte heraus und lehnte sich einen Moment lang an die Wand, unsicher lächelnd. Fast strauchelte er, bevor er sich wieder in Bewegung setzte und Rupert zuwinkte. Was für ein Tölpel! Etwa auch ein Kandidat? Ein Angehöriger, der einem Verurteilten einen Besuch abgestattet hatte? Oder gar ein vorzeitig Entlassener? „Das war heute schon der zehnte“, schmunzelte der Wächter, dem Rupert seine Vorladung überreichte, „jetzt sind Sie dran. Viel Glück, junger Mann.“ Mit so vielen Konkurrenten hätte er nie gerechnet. Noch bevor er Gelegenheit
hatte, diesen verstörenden Anblick und diese niederschmetternde Auskunft zu verdauen, saß er bereits den Männern in der Kommission gegenüber, Justizbeamten mit fahlen Gesichtern, an einem langen Tisch mit Papierstapeln und Unterlagen in grauen Ordnern. Die Fenster des Sitzungssaals gingen auf einen geschlossenen Innenhof hinaus, aus dem Kommandos ertönten und das Echo vereinzelter Widerworte. An den Wänden klebte noch Tapete aus der Vorkriegszeit, kaum jemand sprach. Unwohl fühlte sich Rupert dennoch nicht. Der Vorsitzende, ein Mann in seinen Fünfzigern, dessen glatt rasiertes Gesicht von Pockennarben entstellt war, eröffnete die Prozedur, ratterte als Erstes die Personalien herunter und richtete dann das Wort an ihn. Weder freundlich noch unfreundlich. Ruperts Antworten kamen wie aus der Pistole geschossen. Nervosität war ihm nicht anzumerken, doch bemühte er sich, weder altklug, vorwitzig oder frech noch unterwürfig und kleinlaut zu wirken. Er ließ allerdings durchblicken, dass er bereits jede Menge von der Materie verstand und dass ihm das Fachvokabular geläufig war. Man sollte ihm schon anmerken, dass er über Grips verfügte. Mehrfach blickte der Ältere, der sich hin und wieder Notizen machte, etwas erstaunt in die Runde, die anderen Herren brummelten zustimmend. Dabei hatte er sie gar nichts gefragt. Nur ihn, Rupert. Nach seiner Motivation und seiner Eignung. Nach seinem Beruf und seinem Familienstand. Nach seinem Schulabbruch. Und dann, er hatte es kommen sehen, nach seinem Onkel. „Haben Sie ihn etwa schon von Ihrer Bewerbung unterrichtet, Beaufort?“, bellte der Vorsitzende ihn an. „Nein, bislang niemanden. Nur meine Mutter weiß Bescheid. Und das soll auch so bleiben. Erst einmal.“ „Warum?“ „Mein Geheimnis.“ Er erntete ein Kopfnicken. „Und Ihr Vater? Wussten Sie, dass er an Winston Churchill persönlich geschrieben hat, um seiner vorzeitigen Entlassung entgegenzuwirken?“ Das hörte Rupert zum ersten Mal. Ein Brief an den Innenminister: Wie
verzweifelt sein Dad gewesen sein musste! „Nein, Sir.“ Wie er es finde, nun schon als dritter Mann in der Familie diesen heiklen Job auszuüben? „Es wäre mir eine große Ehre, Sir. Es ist, glauben Sie mir, schon immer mein größter Wunsch gewesen.“ Daraufhin hielt ihm der Vorsitzende einen langen Vortrag über die Besonderheiten und Unannehmlichkeiten des Scharfrichter-Daseins, über die Gefahren und die vielen Reisen, die Strapazen und die dürftige Bezahlung – „eine Rente bekommen Sie von uns nicht!“ Ein Monolog, der einstudiert wirkte. Er las ihm eine Liste von Regeln vor, deren strengste Einhaltung unabdingbar sei. Ob Rupert wisse, was hier auf ihn zukomme, ob er glaube, den hohen moralischen Anforderungen seines Dienstes gewachsen zu sein? Immer wieder fiel dieses Wort, „service“. Rupert bejahte alles. Und er ließ sich auch nicht kirre machen, als der Vorsitzende sein Alter ansprach. „Sechsundzwanzig, Beaufort – sagen Sie mal, sind Sie nicht viel zu jung für so etwas?“ „Sir, mein Vater war genau in meinem Alter, als er bei Exekutionen assistierte“, entgegnete er, ohne sich in die Defensive drängen zu lassen. „Und kurz darauf Number One“, fügte er stolz hinzu. „Das ist unmöglich. Sind Sie sicher?“ „Wenn Sie in seinen Akten nachschauen, Sir, werden Sie feststellen, dass die Angaben stimmen.“ Rupert hoffte, dass das nicht zu naseweis klang. Nicht zu überheblich. Ob er wohl zu weit gegangen war und das Vorstellungsgespräch leichtfertig verpatzt hatte? Der Vorsitzende ließ sich nichts anmerken. Mit „very good“ quittierte er Ruperts
Antworten nun immer öfter. „Noch Fragen, Gentlemen?“ Anstelle einer Antwort klopften einige der Herren, allesamt Glatzköpfe, in die wieder etwas Leben gekommen war, mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Es klang wie Applaus. Und blickten ihn aufmunternd an, einer sogar mit großen Augen. Rupert musste mehrere Formulare ausfüllen und dann alles unterschreiben. „Wir werden den Gefängnisdirektor und das Justizministerium von Ihrer Bewerbung unterrichten“, beschied der Vorsitzende, stand auf und reichte ihm kurz die Hand. „Sie können nun gehen. Ich bin mir sicher, Sie werden in Kürze von uns hören.“ Mit einem Hochgefühl verließ Rupert den Sitzungssaal. Er konnte sich nicht vorstellen, dass die Befragung danebengegangen war. Keine dreißig Minuten hatte sie gedauert. Er hätte Bäume ausreißen können an jenem Dezemberabend. Als er vor das Gefängnistor trat, wurde es bereits dunkel, es war kurz vor Weihnachten. Ihn fröstelte. Er bedauerte es, seine Handschuhe zu Hause vergessen zu haben, und noch mehr, die Haftanstalt nun schon wieder verlassen zu müssen. Gerade erst hatte er sich an den Anblick der langen, lichtlosen Flure, der vergitterten Fenster und Schilder mit Ausrufezeichen, Warnungen und Verboten, an das unablässige Auf- und Abschließen der Türen und die klirrenden Schlüssel, an den rauen Ton des Wachpersonals und die dunkelgrünen Uniformen gewöhnt. An die Abwesenheit von Straßenlärm, von Vogelgezwitscher, von Musik. Erst jetzt fiel ihm auf, dass man ihm nicht einmal einen Tee angeboten hatte. In einem kleinen, schwach beleuchteten Laden an der Ecke stürzte er rasch einen Kaffee herunter, im Stehen, und verschlang ein Brötchen, drehte dem Tresen den Rücken zu und fixierte das Strangeways Prison, das in den winterlichen Nachthimmel hineinragte, auch weiterhin. Ließ es nicht aus den Augen. Diesen steinernen Koloss von majestätischer Traurigkeit. In dem so viele einsame Männer litten und jahrelange Haftstrafen verbüßten. In dem einige von ihnen seit Tagen und Wochen auf den Tod warteten. In dem er ziemlich bald, wenn das Glück ihm hold war, mit den Gefangenen kurzen Prozess machen, selbst Hand anlegen durfte. Der Kaffee war miserabel: dünn und wässrig. Aber er wärmte. Rupert zwang
sich, nicht daran zu denken, dass Uncle Theo, wie er von Mildred wusste, genau hier in Strangeways, in wenigen Stunden, den jungen Solomon Stein hinrichten würde, einen Mörder, der am Tag seiner Volljährigkeit eine weibliche Gelegenheitsbekanntschaft in einem schäbigen kleinen Hotel erdrosselt hatte. Die Zeitungen waren seit Wochen voll davon. Das Mädchen, nicht verliebt, sondern geldgierig, hatte Solomon, während er schlief, auszurauben versucht – obwohl er sie schon im Voraus bezahlt hatte – und wollte, als das Geburtstagskind sie dabei ertappte, dann nichts mehr von dem jungen Mann wissen. Zu ihrem nächsten Rendezvous aufbrechen. Das genügte, um bestraft und umgebracht zu werden. Diese beiden Irrtümer kosteten sie das Leben. Und Uncle Theo würde für die Wiedergutmachung seine ganze Kunst aufbieten. Seine Henkerskunst. Könnte er, Rupert, doch nur schon dabei sein! Damit diese Hotelnacht von Solomon Stein und seiner Hure wieder ungeschehen gemacht würde, um dieser Mordnacht den Rest zu geben. Damit es so war, als hätte es diesen unbeherrschten Jüngling und seine ehrlose Kurzzeitgefährtin einfach nie gegeben. Als wären sie vom Erdboden verschluckt. Damit wieder ausgleichende Gerechtigkeit hergestellt wurde. Strafe gegen Strafe. Angemaßte Strafe gegen verhängte Strafe. Unwürdige Abstrafung – Totschlag im Affekt – gegen gerechte Bestrafung. Hemmungsloses Wüten gegen würdevolles Hängen. Chaos gegen Ordnung. Und damit wieder Ruhe herrschte auf dieser Welt. Doch bald fügte sich alles in seinem Sinne. Gleich im Neuen Jahr erhielt er den Brief Nummer drei: von wegen Hiobsbotschaft! Es war so weit. Seine Eintrittskarte ins Reich der Hangmen konnte gelöst werden. Sein Sesam-öffnedich. Vordringen in jenen Zirkel von Berufenen, der ihm als echter Beaufort vorbestimmt war. Nun musste er nur noch seinen Chef davon überzeugen, ihm für die Trainingswoche in London eine Woche unbezahlten Urlaub zu gewähren. Leicht war es nicht, um diese ungewöhnlich lange Freistellung zu bitten. Er suchte um ein Gespräch nach, der Boss bestellte ihn zu sich. Rupert täuschte irgendeine Familienangelegenheit in der Hauptstadt vor. Und wusste, wie unglaubwürdig das klingen musste – wer in Failsworth oder Oldham hatte schon jemals so lange in London zu tun gehabt? Und weswegen? Wer blieb schon für eine Hochzeit oder Geburt, für eine Taufe oder Beerdigung geschlagene sechs Arbeitstage lang fern der Heimat? Und hatte Rupert überhaupt jemals Verwandtschaft da unten erwähnt?
Leichtsinnigerweise hatte er sich zuvor, in einem schwachen Moment, einem anderen Fahrer anvertraut, seinem Kollegen Morris. Einem Typen, mit dem er eigentlich gut auskam. Ihm den wahren Grund genannt. Und der hatte nichts Besseres zu tun gehabt, als die unglaubliche Neuigkeit, dass einer von ihnen sich zum Henker ausbilden lassen würde, dem Chef brühwarm weiterzuerzählen. Und wer weiß wem noch alles … Als Rupert zwei Tage vor seiner Abreise also abermals, diesmal jedoch zusammen mit Morris, ins Büro der Geschäftsleitung zitiert wurde, ahnte er gleich nichts Gutes. Gottlob gab sich der Chef aufgeräumt und einsichtig. Mit den Worten „Ich bin auf dem Laufenden!“ empfing er seine beiden Männer und zeigte auf Morris, der schuldbewusst zu Boden blickte. „Beaufort, das hätten Sie mir doch gleich sagen können. Wenn Sie genommen werden – und das hoffe ich für Sie –, dann schenken Sie mir in Zukunft reinen Wein ein. Wir werden schon eine Lösung finden.“ Er bemühte sich, Zuversicht zu verströmen. „Wie lange müssen Sie denn immer fortbleiben für Ihre kleinen Notoperationen?“, fragte er scherzend. „Nie länger als zwei Tage“, gab Rupert zur Auskunft. „Das sollte doch einzurichten sein. Solange Sie Ihre Arbeit bei uns nicht vernachlässigen. Oder hier am nächsten Tag übermüdet antanzen.“ Der Chef bedachte Morris, den Verräter, mit einem verächtlichen Seitenblick. Der schaute ziemlich verlegen aus der Wäsche. Rupert würde seine Gesellschaft in Zukunft meiden, würde die eigene Zunge im Zaum halten müssen. „Grüßen Sie mir Big Ben, Beaufort“, gab ihm der Chef mit auf den Weg, indem er ihm freundlich auf die Schulter klopfte. „Und lassen Sie uns wissen, wie es ausgegangen ist.“ Rupert fand, das war noch einmal gut gegangen. Und er war überrascht, fast gerührt gar von der Freundlichkeit und Kompromissbereitschaft seines Vorgesetzten. Er hatte sich nicht einmal aus der Affäre ziehen müssen. Dass er jetzt als Außenseiter gelten würde, nahm er in Kauf. Das war Teil seiner neuen Identität. Und auch, dass ihm nun jedes Mal sein Gehalt um die Fehltage gekürzt
würde. Das hatte er zu verschmerzen. Selbst Mutter Mary würde ihm keine Steine in den Weg legen. Dafür liebte er sie noch ein bisschen mehr.
Sie waren zu viert beim Lehrgang in Pentonville. Rupert, ein fast gleichaltriger Londoner namens Clifford Price, der hier in London zu Hause war, aus Fulham stammte und nahe einer Themse-Kurve direkt am Industriehafen lebte, ein älterer, melancholisch wirkender Typ aus Leicester, der sein rechtes Bein beim Gehen nachzog, und ein junger, gewöhnlich wirkender Bursche aus Northampton, den Otis, ihr strenger und verbissener Ausbilder, von Anfang an auf dem Kieker hatte. Weil dieser Bewerber am ersten Morgen unrasiert und nach Schweiß riechend zur Schulung erschienen war, weil er manchmal wagte, zu widersprechen oder im unenden Moment das Maul aufzureißen, wurde er von Otis, der von Geduld und Schonfrist nichts wissen wollte, mit besonderer Härte herumkommandiert. Otis ließ ihnen nichts durchgehen. „Hier stinkt’s“, polterte er. Oder giftete: „Sie sollten in Sack und Asche gehen.“ Jede Kleinigkeit beanstandete er. Verlangte, dass seine Schützlinge gewaschen, gekämmt und im Anzug erschienen, gewienerte Schuhe wie auch saubere Fingernägel vorweisen konnten, und erlaubte das Ablegen der Jacken nur, wenn sie mit dem Strohmann zugange waren. Oder unten in der Gruft, wenn sie den Dummy – mal schwerer, mal leichter – vorsichtig abnehmen und auf Bahren oder in Sargattrappen legen mussten. Gewährte nur zwei Zigarettenpausen pro Tag. Klatschte ungeduldig in die Hände, wenn einer der vier etwas nicht sofort kapierte oder ihn mit unsinnigen Fragen aufhielt. Zog sein Programm in aller Eile durch, sodass kaum Zeit zum Luftholen blieb. Vorträge über die Geschichte und Tradition des Hängens, genaue Anweisungen zum sekundenschnellen Fesseln der Hände und Beine der Delinquenten, Aufgaben zum Berechnen der Fallhöhe und immer wieder die Kontrolle von Bewegungsabläufen. Mit der Stoppuhr. „Tempo!“, schrie Otis ein ums andere Mal. „Macht schneller, ihr Schlafmützen! Sonst schlafen euch die Verurteilten noch ein, bevor ihr ihnen die Schlinge ums Kinn gelegt habt. Festzurren, nicht so zimperlich, festzurren!“
Otis brachte ihnen bei, wie man die weiße Kapuze, einem Einstecktuch gleich, korrekt faltete und in der Brusttasche verwahrte, damit sie mit einer einzigen Handbewegung hervorgezaubert werden konnte, so wie ein Magier ein Kaninchen aus dem Zylinder zutage fördert. Otis führte ihnen das Entsichern des Schutzriegels und das ruckartige Betätigen des Hebels vor, bis sie es im Schlaf beherrschten. Er erläuterte ihnen, wie mit den Offiziellen unter den Anwesenden innerhalb und außerhalb der Todeszelle umgegangen werden musste, wem man Respekt zu erweisen hatten und wen man ignorieren durfte. Das Quartett seiner Schüler akzeptierte, dass bei der Arbeit weder gesummt noch gepfiffen, weder geplaudert noch gelacht werden durfte. Und abends, wenn sie alle kaum noch gerade stehen konnten, war das Tagespensum noch lange nicht zu Ende: Dann fragte Otis das soeben Gelernte ab. Zweimal, dreimal, viermal hintereinander. Und wehe, einer von ihnen verhaspelte sich. Leistete sich eine Konzentrationsschwäche. Oder, schlimmer noch, wusste die richtige Antwort nicht. Dann wurde er ohne Umschweife zum Sündenbock akoren und sah sich am nächsten Morgen einer noch unbarmherzigeren Behandlung ausgesetzt. Widerworte ertrug der Ausbilder nicht. Es war nicht so, wie Rupert schon gleich zu Beginn auffiel, dass Otis Spaß am Schurigeln hatte, launenhaft agierte, willkürlich bestrafte oder sich in einem fort Schikanen ausdachte – nein, so war es wirklich nicht. Auch als Scharfmacher konnte man ihn nicht verteufeln. Diesem Coach ging es um absolute Präzision. Und um Disziplin. Eiserne Disziplin. Nach den ersten drei Tagen machten der Mann aus Leicester und der ungepflegte Jüngere schlapp. Dem Ersteren wurde speiübel, sobald er das laute Aufklappen der Falltür hörte und den brutalen Rumms wahrnahm, mit dem der Dummy nach unten sauste. Am Abend des zweiten Tages ging er in die Knie und musste sich übergeben, sobald er die Todeszelle betrat. Danach war er zu nichts mehr zu gebrauchen. „Für Weichlinge, die nichts können als herumstehen und kotzen, haben wir hier keine Verwendung“, wurde er von Otis unsanft verabschiedet. Der Letztere beschwerte sich über das Essen, meckerte über die irrsinnige Geschwindigkeit der Schulung, riss obszöne Witze und bemängelte das Tempo während der simulierten Hängungen, zu dem Otis ihn und seine Mitschüler anhielt. Wobei immer einer von ihnen als „Gefangener“ diente und den Verurteilten mimte, damit die anderen drei, mal Henker, mal Assistent, mal Beobachter, an einem richtigen Menschen das Herausleiten, Fesseln, Verhüllen und Zuziehen der Schlinge üben konnten.
„Vierundzwanzig Sekunden vom Betreten der Kammer bis zur Positionierung der Füße in der benachbarten Zelle?“, keifte Otis den Störenfried an. „Das ist ja lachhaft. Nicht akzeptabel! Viel zu langsam. Gleich noch mal.“ Vergebens: Der Junge schaffte es auch diesmal nicht. Er wurde laut, ließ während des Trainings gelegentlich einen fahren, was niemand außer ihm selbst witzig fand, und begehrte immer dann auf, wenn es brenzlig für ihn wurde. So grub er sich systematisch sein eigenes Grab. Bevor es Otis zu bunt wurde, und es fehlte wohl nicht mehr viel, bevor er ihn eigenhändig herausgeworfen hätte, verkündete der selbst ernannte Rebell von einer Sekunde auf die nächste, dass er aussteige. „Ich habe die Schnauze voll“, stieß er hervor, „und Sie“, er zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf Otis, „sind ein Menschenschinder. Ein ganz übler!“ Er wandte sich zum Ausgang und schlug die Metalltür hinter sich zu. „Goddamned!“ hörte man ihn noch aufheulen. Da waren sie nur noch zu zweit. Otis ließ seinen Blick, zum ersten Mal eher heiter als unnachgiebig, von einem verbleibenden Schüler zum anderen wandern, von Beaufort zu Price. „Na endlich“, schien dieser Blick zu sagen. „Einfach läppisch“, diese Einschätzung war hinter seiner Stirn zu lesen. Clifford und Rupert, genau die zwei, die sich schon von der ersten Stunde an am geschicktesten angestellt hatten, verbaten sich jeglichen Kommentar. In Gedanken stimmten sie ihm zu.
Clifford war kein Einzelgänger wie Rupert. Eher ein Hallodri, ein Gemütsmensch. Mit starkem Mitteilungsdrang. Er sagte viel, wenn der Tag lang war, und sparte nicht mit Eigenlob; er quatschte für sein Leben gern, und Rupert ließ ihn reden. Die beiden mochten sich, freundeten sich ein wenig miteinander an – sofern der grausame Lernrhythmus private Gefühle überhaupt zuließ. Die beiden waren wie Feuer und Wasser, was ja eben auch eine gewisse Anziehungskraft besaß. Price bezeichnete sich ohne falsche Bescheidenheit als schlauen Fuchs. Price schlug sogleich Ausflüge in die Kneipen von Fulham vor, kehrte den Großstädter heraus, erbot sich, ihm sein London zu zeigen, my city, wie er sagte, spielte sich als Kenner des Nachtlebens auf, aber Rupert, das Provinzei, ließ sich nicht so leicht breitschlagen. Stimmte einer Tour durch die Pubs nur ein einziges Mal zu. Und auch nur in der näheren Umgebung ihrer
Ausbildungsstätte. Price schüttete an diesem Abend, munter drauflosschwatzend, ein Bier nach dem anderen in sich hinein. Rupert nippte nur an einem Glas Limonade, verlor kein Wort über die aufgetakelten Mädchen am Tresen, deren Reize Clifford in höchsten Tönen pries, und bestand darauf, nicht erst den Zapfenstreich für den Rückweg nach Pentonville abzuwarten, sondern Vernunft walten zu lassen und schon gegen neun wieder ans Gefängnistor zu klopfen, um eine gute Mütze Schlaf zu bekommen. Oder spätestens gegen zehn. Schließlich waren die beiden bereits vor der Kneipentour wie benommen gewesen, bereits am späten Nachmittag bettreif. Erschöpft und genervt von Otis’ barschem Kommandoton. Im Stakkato. „Lederriemen, Kapuze, Schlaufe, Schlinge, Kinnriemen, Sicherheitsriegel, Hebel – und los!“ Immer wieder von vorn. Jedes Wort wie ein Hieb mit der Rute. Zwanzigmal pro Stunde. Hundertfach jeden Tag. Um da abends noch die nötige Energie zu verspüren, die erforderlich war, um die Haftanstalt zu verlassen und die Nacht zum Tag zu machen, hätte man zehn Jahre jünger sein müssen. Um die extreme Müdigkeit wegzustecken, gar fünfzehn. Das hätte übermenschliche Kräfte erfordert. Nun saßen sie trotzdem in dem verräucherten, lärmigen Lokal und konnten ihr eigenes Wort kaum verstehen. „Beaufort, na komm schon! Ein Glas noch“, lockte ihn Clifford und steckte sich eine weitere Zigarette an. Die zehnte, seitdem sie den Pub betreten hatten. Price sprach, wie Otis, Ruperts Namen mit zwei langen Ohhhhs aus. „Sei doch kein Frosch!“ Doch Rupert war entschlossen, spätestens um elf in der Falle zu liegen. Denn um sechs mussten sie ja wieder raus. Und vorher wollte er Uncle Theo unbedingt noch einen Brief schreiben, um ihn nun endlich wissen zu lassen, dass er gerade in London war und in Pentonville die Ausbildung absolvierte. Dass er an ihn dachte und alles dafür gab, um es ihm gleichzutun und auf die Liste zu gelangen. Und er verfasste den Brief auch, um Aunt Mildred aus dem Innersten des Kerkers herzlich grüßen zu lassen. Denn sie vermisste er ganz besonders. „Give her my love.“ Beiden wollte er also schreiben. Was er dann auch tat, in der Zelle, die Price und ihm als Gästezimmer diente, obwohl ihm beim Kritzeln, Zukleben und Frankieren längst die Augen zufielen. Obwohl er sich immer wieder einen Ruck
geben musste, um nicht mit dem Stift abzurutschen. Und obwohl Price, der sich auf die Pritsche neben dem Tisch fläzte und weiterqualmte, ihn, den Bodenständigen, dauernd aufzog. „Vergiss doch deine Leutchen. Wenigstens für eine Woche. Denk doch einfach mal an dich selbst. Schau dir lieber London an. Bleib am Wochenende noch hier, du Sturkopf. Kannst bei mir pennen. Ich führ dich rum.“ Rupert merkte, Clifford meinte es gut mit ihm. Schien eine ehrliche Haut zu sein. Dennoch ließ er sich nicht umstimmen. Er hatte gleich gemerkt, dass Cliffords London nicht sein London war. Und auch nie sein London sein würde. Ruperts London, das waren die berühmten Squares und Avenuen aus den MusicHall-Chansons seines Vaters und seines Onkels. Piccadilly, Trafalgar, Chelsea. Buckingham Palace und The Strand. St Paul’s Cathedral und die Themse-Ufer. Tower Bridge und Covent Garden. Schauplätze von Liebesliedern und traurigen Songs. Mythische Orte, deren Namen sich zuweilen reimten oder einen fremdländischen Klang hatten, wichtige Orte, an denen berühmte Männer ihre Spuren hinterlassen hatten, Feldherren, Generäle, Politiker, Dichter und Denker. Kreuzungen, an denen man Denkmäler aufstellte, um siegreicher Schlachten zu gedenken. Oder Erfindungen, Leistungen und Geistesblitzen. Orte mit appetitanregenden Namen, Orte, nach denen der menschliche Geist Hunger verspürte, Orte wie Gaumenkitzler. Rupert hatte sein London gleich am ersten Morgen erkundet, als er, wenige Stunden nur vor dem Training, nach der Ankunft mit dem Nachtzug aus Manchester schlaftrunken und staunend von einer Sehenswürdigkeit zur nächsten getaumelt war. Keiner seiner Kumpel hatte je seinen Fuß hierher gesetzt. Und er durfte hier sein! Anstatt zu frühstücken, war er wie berauscht durch die Straßen gezogen und nach Belieben umhergestreunt, hatte wiedererkannt, was er nur von Abbildungen und Postkarten her kennen konnte oder was andere ihm berichtet hatten. Hatte überall Neues entdeckt. Hatte Augen und Ohren aufgesperrt. Bis er sich gründlich verirrte. Und gezwungen war, einen Schutzmann anzusprechen, sich als Grünschnabel zu erkennen zu geben und um Hilfe zu bitten. „Ich habe mich verlaufen. Can you help me, please?“ Auf seine Ortsangabe Pentonville hatte der Bobby hingegen mit der Rückfrage
„The Ville, Sir?“ geantwortet, und Rupert, der mit diesem Londoner Kürzel für das berüchtigte Gefängnis nicht vertraut war, hatte gar nicht verstanden, was der Beamte, ausgerüstet mit Trillerpfeife und Schlagstock, bloß meinte. Erst dann hatte es dem Polizisten gedämmert, dass Rupert, ohne Zweifel ein unerfahrener und auch orientierungsloser Mann aus dem Norden, sich wohl genierte, weil er nicht zugeben mochte, dass er einen Verwandten oder Bekannten nach der Haftentlassung am Tor abzuholen beabsichtigte, und daher jede Festlegung auf das Zuchthaus vermied. „The Ville, Sir?“, insistierte er abermals und gab endlich, mit betont neutralem Gesichtsausdruck, die erlösende Auskunft. „Dann nehmen Sie den 42er-Bus. Die Haltestelle ist gegenüber, auf der anderen Straßenseite. Der hält direkt vorm Eingang.“ Tippte sich an die Mütze, schlug die Hacken zusammen und überließ Rupert, dem seit Stunden der Magen knurrte, seinem weiteren Schicksal.
Otis war in seinem Element, wenn er, der Aufmerksamkeit seiner beiden folgsamen Schüler gewiss, ausgiebig dozieren konnte. Kurz vor Feierabend, wenn die Lernphasen mit Dummy, Klapptür, Schlaufen und Fesseln vorüber waren, kam die Theorie dran. Und in der Geschichte des Hängens kannte Otis sich bestens aus. So verriet er, ausholend und mit Fakten um sich werfend, Beaufort und Price einiges über das Ethos der Henkerzunft – und dröselte Definitionen auf: Wer mit blutiger Hand richtete, schlug Verurteilten mit einer Axt den Kopf ab oder guillotinierte sie. Bedauernswerte Kollegen. Grausame, herzlose Individuen. Männer, an deren Fingern der Lebenssaft anderer für alle Zeit haften bleiben würde. Im Gegensatz seien sie jedoch, Clifford, Rupert und er selbst, die sie als Hangmen Menschen zum Galgen führten, Schlingen anlegten und Hebel betätigten, etwas weit Besseres und Feineres – sie richteten lediglich mit trockener Hand. Sie würden nie mit Mordwaffen in Berührung kommen, dem Sträfling keine Verletzungen zufügen und seinen Leib nicht verunstalten. Kein Schaden würde entstehen. Höchstens indirekt. Aus historischer Sicht und in der Perspektive berühmter Opfer freilich, so räumte Otis ein, hielt man es früher für ungleich nobler, geköpft als aufgehangen zu werden. Das habe sich mit den Methoden und Errungenschaften der Neuzeit
aber fundamental geändert. Das vorgeblich so ehrenhafte Köpfen und Guillotinieren habe, wie das einstige Strangulieren und qualvolle Baumeln, in aller Öffentlichkeit stattgefunden und weniger der Abschreckung als der Volksbelustigung gedient, sei ein entsetzliches Spektakel gewesen. Und eine einzige Folter. Das Hängen, wie sie nun dabei waren, es zu erlernen, vollziehe sich kurz und schmerzlos. Ohne Zuschauer und ohne hämische Begleitrufe oder Triumphgesänge. Otis’ gelehrige Eleven prägten sich die feinen Unterschiede an. Und Rupert, der auch jetzt schon, jeden Abend während der Schulung, Buch führte über die Ereignisse und Lektionen des Tages, notierte die wichtigsten Punkte: Es kam darauf an, Schnelligkeit walten zu lassen. Um den Todeskandidaten nicht unnötig zu peinigen und auf die Folter zu spannen, um ihm keine Gelegenheit zu geben, sein furchtbares Ende noch einmal zu durchdenken. In früheren Zeiten hatte man die Hängung auf unerträgliche Weise in die Länge gezogen – und in anderen Staaten wurde das auch heute noch so praktiziert –, indem man den Sträfling, der bereits vor dem Anlegen der Schlinge direkt am Schafott bereitstand, mehrere Minuten warten ließ, weil man ihm Urteilsverkündung und Strafmaß nochmals in aller Ausführlichkeit vorlas, weil man ihm eine Gelegenheit zu einer letzten persönlichen Stellungnahme einräumte, bevor er zur Hölle fahren durfte. „Kommt ihnen zu Hilfe, guys“, empfahl Otis. In drei Schritten: einer möglichen Todesangst zuvorkommen. Das rasche Ende beschleunigen. Die Qual abkürzen. „Macht es ihnen so leicht wie möglich. Erbarmt euch.“ Es kam ferner darauf an, als Henker keine Schwäche zu zeigen, emotionslos zu handeln und dem Delinquenten damit das Gefühl der Korrektheit und der Endgültigkeit zu vermitteln. Und es kam, last but not least, wie Otis bekräftigte, darauf an, das Mitleid für den Hinzurichtenden, das zu empfinden man ja gar nicht umhin konnte, schon vorher zu verinnerlichen und es im weiteren Verlauf zu verdrängen und vollständig auszublenden, damit es nicht im ungeeigneten Moment aufschimmerte, womit die gesamte Hängung zu einem peinlichen Akt geraten würde oder zu einer missratenen Ausführung führen könnte. „Human zu bleiben ist uns ein Ansporn“, mit diesen Worten schloss Otis, der sich gerade vom Antreiber zum Moralisten wandelte, seine Vorlesung,
„schreiben Sie sich das hinter die Ohren, meine Herren!“ Er legte Pathos in seine Stimme. Price und Beaufort wussten nicht so recht, was sie von dieser eigenartigen Feinfühligkeit ihres Ausbilders halten sollten, der sie zuvor über Stunden hinweg beschimpft und dabei mit Kraftausdrücken und Flüchen nicht gespart hatte. Als sich der Lehrgang seinem Ende zuneigte, waren Clifford und Rupert fast schon Routiniers – beim simulierten Töten. Hatten die Abläufe und Anschlüsse intus. Hatten leichtes Spiel mit den hier noch leblosen Eingekerkerten. Gingen mit den Dummys spielerisch um und ohne Komplexe. Wussten, wie die einzelnen Bewegungen ineinandergriffen. Hatten gelernt und verstanden, wie der Hase lief. Agierten im Team, vollzogen den Rollentausch. Insbesondere Rupert hatte den Bogen raus. Er würde sich auch im Umgang mit den Lebendigen bewähren, mit den echten Eingesperrten, die ja erst in den Zustand der Leblosigkeit versetzt werden mussten. Er war auch derjenige von den beiden, der über sein Selbstverständnis in ausreichendem Maße nachgedacht hatte: Die Bezeichnung Executioner, die Otis stets im Munde führte, wenn er von ihrer künftigen Tätigkeit sprach, gefiel ihm weit besser als Henker, Scharfrichter oder Galgenmann. Ein sauberes Metier, das nicht gleich martialische Assoziationen weckte. Er eignete sie sich an – Executioner wollte er sein und sonst nichts. Die abschließende Prüfung, in Anwesenheit des Gefängnisdirektors, des diensthabenden Arztes und einiger Beamten, deren genaue Funktion Clifford und ihm verborgen blieb, meisterten die beiden jungen Männer denn auch bravourös. Sowohl den praktischen Teil, eine ganze Reihe von Simulationen, die ihnen inzwischen regelrecht leicht fielen, als auch den theoretischen: die exakte Berechnung der Fallhöhe anhand von Angaben in Form von nackten Zahlen und von Fotos von Zuchthäuslern, die man ihnen als Beispiele vorlegte. Und das auswendige Aufsagen der vielen Regeln und Bestimmungen, von denen Verschwiegenheit und Zuverlässigkeit die wichtigsten, geringe Besoldung und sofortige Austauschbarkeit die enttäuschendsten und bedrohlichsten waren. Dann, nach einer guten Stunde gemeinsamer Bemühungen und einer penibel genauen Befragung jedes einzelnen Kandidaten, war alles vorüber. Der Direktor, den hier alle Governor nannten, schüttelte ihnen die Hände, und vom Gefängnisarzt war ein „Gut gemacht!“ zu hören. Nur Otis, den sie wohl nie
wiedersehen würden, konnte es irgendwie nicht über sich bringen, am Ende dieser bemerkenswerten Woche etwas Anerkennendes zu seinen Lehrlingen zu sagen. Nachdem die Offiziellen sie allein gelassen hatten und sie noch einen Augenblick unter sich waren, rief er aus: „Ihr habt euch ja nicht gerade mit Ruhm bekleckert!“ Und gab jedem von ihnen einen Klaps. Weg war er. Gehässig klang das nicht. Eher mokant, eher nach gekünstelter Boshaftigkeit. Der Coach konnte einfach nicht aus seiner Haut. Clifford, dessen theoretische Prüfung deutlich mehr Zeit in Anspruch genommen hatte als Ruperts, fand, das sei doch bereits ein großes Lob aus dem Munde des Coaches. Ein Riesenlob sogar. „Aber, wenn man’s genau nimmt, nur für dich bestimmt.“ Er begleitete Rupert ein Stück in Richtung Bahnhof und setzte, bevor die beiden sich an einer Straßenecke voneinander verabschiedeten, mit großer Ernsthaftigkeit noch hinzu: „Dir kann ich nicht das Wasser reichen. Das kann keiner, Beaufort.“ Belämmert wirkte er, einen Wimpernschlag lang, und irgendwie zerknirscht. Und noch bevor Rupert irgendetwas zu erwidern vermochte, was dann doch wieder nur wie Understatement wirken würde, war Price, dessen Miene sich gleich wieder aufgehellt hatte, schon mit einem fröhlichen „See you! Mach’s gut!“ verschwunden.
Welche Freude war größer? Das fragte sich Rupert oft, wenn er an die frühen Dreißiger und an den Ausgang des Abenteuers von Pentonville zurückdachte. Die Freude über Theos Antwort und Zustimmung – denn gleich nach seiner Rückkehr hatte er zu Hause eine Postkarte vorgefunden, auf die der Onkel, ohne viel Brimborium, Rupert zu seinem Entschluss beglückwünscht hatte. Er schrieb, dass er sich schon immer sicher gewesen sei, was die Einstellung seines Neffen betraf, und dass er davon ausgehe, dass sein Name bald auf der Liste stehen werde. Dass er ihm vorher nicht habe helfen können, dass Rupert diese Entscheidung allein zu treffen hatte. Dass er von jetzt an aber alles in seiner Kraft Stehende tun werde, damit sie gemeinsam Aufträge erledigen könnten. Die Freude über Aunt Mildreds stürmische Begrüßung, die noch eine Spur euphorischer ausfiel als sonst. „Mag Mary auch Trübsal blasen“, sagte die Tante,
ganz aus dem Häuschen, „was man ihr nicht verdenken kann – ich sehe das Ganze mit einem lachenden Auge! Mein Lieber, du hast eine glänzende Zukunft vor dir.“ Sie schloss ihn in die Arme, drückte ihn mit aller Kraft. Es war eine Umarmung zwischen Erwachsenen. Und natürlich die Freude über den Bescheid von der Kommission, der nur wenige Tage später eintraf. Rupert hatte es geschafft. Er würde nicht länger als Jungspund gelten, er war jetzt der dritte Beaufort in Folge auf der Liste der Prison Commission. Er hatte es schwarz auf weiß: Die größte Hürde war genommen. Die Beauforts feierten, trotz Wirtschaftskrise und Lebensmittelknappheit, die großartige Nachricht mit einem besonders üppigen, von Mildred ausgerichteten Festmahl, einem echten Schlemmeressen. Bei dem Mutter Mary durch Abwesenheit glänzte, Alma in ihrem besten Kleid erschien und Rupert sich dazu durchrang, Ruth einzuladen, sie zum ersten Mal zu einer Familienfeier mitzubringen und sie Uncle Theo als Mister Harveys rechte Hand vorzustellen. Und, er wand sich und druckste herum, als „eine gute Bekannte“. „Sag doch gleich, deine Verlobte“, meinte sein Onkel mit dröhnendem Lachen und musterte sie anerkennend. Mildred, die gleich doppelt beglückt wirkte, als sie merkte, wie sehr der künftige Hangman für Ruth entflammt war, spielte an Marys Stelle die Rolle der Schwiegermutter in spe ganz ausgezeichnet. Ging es doch heute mehr als je zuvor um die Aussichten und das Lebensglück ihres Neffen. „Unser Rupert“ hatte sein Examen bestanden und eine Frau gefunden, die zu ihm zu en schien. „Ihr Rupert“ hatte einfach alles richtig gemacht. Ein kleiner Dämpfer war die nicht zu umgehende Regel, dass jeder Neuling auf der Liste zunächst nur als Beobachter einer Hängung beiwohnen konnte, bevor er als Assistent fest engagiert wurde. Um zu prüfen, ob das Nervenkostüm auch wie angegossen saß. Eine allerletzte Vergewisserung. Eine wichtige, einmalige Tauglichkeitsprüfung. Rupert hatte sich also noch zu gedulden. Und dann dauerte es tatsächlich beinahe ein Vierteljahr, bis er die erste Einladung als Voyeur zu einer Hinrichtung erhielt, nach Liverpool, die zu allem Überfluss gleich wieder abgesagt wurde, weil eine Begnadigung erfolgt war. Die Verurteilte, eine noch ganz junge Frau aus gutem Hause, hatte viele Unterstützer,
die beim Innenminister ein ebenso gutes Wort für sie eingelegt hatten und den Politiker umzustimmen vermochten. Bei der zweiten Einladung machte ihm der Selbstmord des vorgesehenen Chief Executioner, keine achtundvierzig Stunden vor dem anberaumten Hängungstermin, einen Strich durch die Rechnung. Die Kommission schickte extra einen Telegrammboten, um Rupert noch rechtzeitig von dieser Tragödie zu informieren. Er war entsetzt, ja fassungslos. Wie konnte sich ein professioneller Hangman nur so gehen lassen? Und was würde nun aus ihm? Würde seine Premiere denn nie stattfinden können? „Mach dir nichts draus“, tröstete ihn Uncle Theo, weit weniger konsterniert. „Einer weniger von uns – das bedeutet doch, dass sie bald einen Nachrücker brauchen. Und dann wirst du ganz schnell vom Assistenten zum Boss befördert.“ Rupert war da nicht so optimistisch. Kurz darauf brachte ein Wink des Schicksals die schon nicht mehr erhoffte Wende. Diesmal nicht in Form eines offiziellen Schriftstücks, sondern als handgeschriebener Vorschlag von Theo. Im Mountjoy Prison zu Dublin stand die Hinrichtung eines Mittzwanzigers bevor, der seinen Bruder im vorangegangenen Herbst aus Habgier erschossen hatte, als die Erbstreitigkeiten zwischen den Geschwistern, im ländlichen Ballymurray, kein Ende nehmen sollten. Die Hängung des neidzerfressenen Farmers, der seine Tat bis zuletzt nicht gestehen mochte, stand gleich nach Weihnachten, an den drei letzten Tagen des alten Jahres, bevor, und der große Vorteil war, dass sich Uncle Theo bei Vollstreckungen in Irland weder an die Vorschrift zu halten brauchte, nur Assistenten zu beschäftigen, die sich zuvor schon als Beobachter bewährt hatten, noch auf einen von der Kommission vorgegebenen Gehilfen zurückgreifen musste: Auf der Nachbarinsel durfte er seinen Partner frei wählen. Selbstverständlich fiel seine Wahl auf Rupert, der sofort zusagte. So kam es, dass sich Onkel und Neffe nach den Feiertagen von der Victoria Station in Manchester auf den Weg an die walisische Küste machten, wo sie vom Hafenort Holyhead aus mit der Nachtfähre nach Westen reisten, mit dem Postboot, und in den frühen Morgenstunden irischen Boden betraten. Rupert hatte sich zuvor ordnungsgemäß bei seinem Chef abgemeldet, da die ganze Aktion einen Tag mehr als üblich beanspruchen würde, konnte sich aber
erwartungsgemäß auf dessen Flexibilität und Komplizenschaft verlassen. Seine erster standesgemäßer Einsatz, und gleich im fernen Dublin! Die Weihnachtstage konnten gar nicht schnell genug vorübergehen, er schlief unruhig. Hirn und Herz waren in Aufruhr. Für Rupert war es die erste Meeresüberquerung seines Lebens, auch wenn er davon bei der winterlichen Dunkelheit nicht allzu viel mitbekommen würde. Uncle Theo, der ihn in Failsworth abholen kam, verschwieg ihm nicht, dass Hinrichtungen in Irland stets mit Gefahr verbunden waren, mit hässlichen Szenen, Beschimpfungen und Anfeindungen, es ließ sich leider nicht ändern. Angriffe auf die Executioners waren an der Tagesordnung. Englische Hangmen genossen bei den Iren einen sehr schlechten Ruf; nicht selten kam es vor den Gefängnissen oder auch schon am Hafenquai, in direkter Nähe zur Anlegestelle, zu Handgreiflichkeiten, wenn sich der Zorn der Menge entlud und sie Jagd auf die Vollstrecker machte. „Sie hassen uns, son“, Theo hatte es öfter, als ihm lieb war, am eigenen Leib erlebt, „wir sind ein rotes Tuch für sie. Plattmachen wollen sie uns, zermalmen.“ Rupert hielt diese Informationen nicht für sonderlich besorgniserregend. Erst als sein Onkel eine kleine Pistole auspackte – „geladen ist sie nicht, keine Angst“ – und ihm auch die Munition präsentierte, die er in einem kleinen Ledersäckchen separat aufbewahrte, wurde ihm mulmig zumute. „Nur für alle Fälle“, sagte Theo und schaffte die Waffe rechtzeitig wieder außer Sichtweite. Mary zu beschwichtigen wäre ihnen beiden sehr viel schwerer gefallen. Rupert wusste auf einmal nicht mehr, in wessen Haut er bei diesem Dublin-Trip stecken würde: in der eines Buhmanns? Oder in der eines Draufgängers, Prügelknaben oder Revolverhelden? Es kam alles ganz anders. Seekrank wurden sie jedenfalls nicht. Rupert war mächtig beeindruckt, wie viele Männer, ob am Bahnhof, an beiden Häfen, auf dem Boot und auch später in Mountjoy, seinen Onkel zu kennen schienen, ihn grüßten und schätzten, registrierte die Weltgewandtheit, mit der Theo in allen Situationen während der Reise agierte, auch die Selbstverständlichkeit, mit der er die reservierte Schiffskabine betrat und seine Sachen verstaute, mit dem Personal umging, das sich vor ihm zu verneigen schien, und danach an der Bar Drinks für sie beide bestellte. Alle um sie herum begegneten ihm mit
Hochachtung. Es wunderte ihn dann schon gar nicht mehr, mit welcher Geschwindigkeit sie beide, von Theo veranlasst, mit einer Schar älterer, hochgebildeter katholischer Priester am Tresen Bekanntschaft schlossen, die bester Laune waren, bereits einige Biere konsumiert hatten und nun vorhatten, sich die Zeit der nächtlichen Überfahrt mit einem Gesangswettstreit zu vertreiben. Theos Angebot, sich daran zu beteiligen, wurde heftig akklamiert. Das Guinness löste die Zungen und ölte die Kehlen. Nicht allein geistliche Lieder und Folk Songs, nein, auch allerhand Schlüpfriges kam den gesetzten Herren aus Cambridge und Oxford über die Lippen, und sie schienen selbst mit den verwegensten Texten wohlvertraut. Theo und Rupert war es ihrerseits ein Leichtes, aus ihrem großen Repertoire zu schöpfen, wenngleich sie Matthew nicht mehr an ihrer Seite hatten, und sowohl Onkel als auch Neffe legten sich, im Duett oder solistisch, nach Kräften ins Zeug. Einige verführerische Jazznummern waren auch dabei. Uncle Theo, an dem ein echter Crooner verloren gegangen war und den Rupert noch nie so mitreißend erlebt hatte, gewann mit großem Vorsprung. Zu Recht. Die betagten, doch putzmunteren Geistlichen ließen ihn hochleben, und der Schiffspianist, ein hutzeliges, aber zähes Kerlchen mit staunenswerter Energie, nahm ihn auf seine Schultern und drehte eine Ehrenrunde auf dem Oberdeck, wo ihnen allen der eisige, böige Novemberwind Schneeregen auf Anzüge und Talare wehte und sie in Windeseile bis auf die Knochen durchnässt waren. Erst im Morgengrauen gelangten sie in ihre Kabine. So spät war Rupert noch nie zu Bett gegangen. „Nur gut, dass wir nach dem Landgang noch einen Extratag haben“, murmelte der Onkel beim Einschlafen. Es wurde eine kurze Nacht, gerade mal zwei Stunden. Getrunken hatten sie jedoch so gut wie nichts – gesündigt hatten allein die frommen Brüder. Es freute Rupert, dass Theo keine Gelegenheit ausließ, ihn den anderen Herren vorzustellen. Wo sie auch hinkamen. Im Gefängnis wie auf dem Boot reichte er ihn herum und wurde nicht müde, ihn als meinen Nachfolger, meinen Mitarbeiter, meinen Lieblingsneffen zu präsentieren. Unter Theos neuen Fans während des Gesangswettbewerbes war auch ein beleibter Rechtsanwalt aus Galway, wortgewandt und freundlich. Ihn hatte zu
später Stunde bereits Ruperts einfühlsamer Vortrag von The Rose of Tralee zu Tränen gerührt, und als Theo dann auch noch den populären Tune Makin’ Whoopee intonierte, mit frei erfundenen Strophen, die – allerdings nur für Eingeweihte – ziemlich drastisch auf das Metier des Hängens anspielten und voller schräger Wendungen waren, konnte der Dicke kaum noch an sich halten, klatschte sich die Finger wund und schrie erregt: „Weiter im Text! Zugabe!“, worauf die Beauforts sich nicht lange bitten ließen und, vom Anwalt natürlich, eine weitere Runde spendiert wurde. Beim Anlegen im Hafen von Dunleary indessen hatte sich eine wütende Meute aus Trunkenbolden, Englandhassern und Hinrichtungsgegnern zusammengerottet. Schon als das Boot in Sichtweite kam, reckten drei Dutzend Kerle und eine Handvoll Frauen die Fäuste in die Höhe und setzten zu Sprechchören an. „Beaufort, Beaufort!“, skandierten die Randalierer. „Dich schnappen wir uns! Du entkommst uns nicht!“ Einige schwenkten Zeitungen und Plakate, auf denen das Konterfei des Onkels deutlich zu erkennen war. Ihre grenzenlose Wut traf Rupert unvorbereitet. Im Gedränge neben der Gangway gelang es Theo gerade noch, unerkannt zu entwischen; mit schnellem Schritt ging er, Rupert vor sich hertreibend, auf die Tramstation zu, von wo aus die Vorortzüge mit dem Zentrum von Dublin verkehrten, in der Hoffnung, den Rabauken zu entkommen. Doch dann wurden es immer mehr Gewaltbereite und Rachsüchtige, an die hundert, die ihnen auf den Fersen waren. Streng genommen nur Theo, denn Rupert hatte ja noch niemand hier leibhaftig gesehen. Ihn würden sie wohl kaum identifizieren können. Seinem Onkel würde es an den Kragen gehen. Im Zug wäre er ihnen hilflos ausgeliefert, säße er in der Falle. Es schien aussichtslos: Er musste damit rechnen, zu Brei geschlagen zu werden. Und Rupert blühte dasselbe Los, sobald er ihn verteidigen würde. Schon waren sie umzingelt. Plötzlich hielt ein elegantes Automobil neben ihnen, der Schlag wurde geöffnet, der Chauffeur steckte seinen Kopf heraus und forderte sie auf, sofort einzusteigen. Er wies auf die Rücksitze. Sie gehorchten. Die Menge, die von dem kleinen Manöver nichts mitbekommen hatte, bewegte sich an ihnen vorbei weiter Richtung Bahnsteig. Stieß Drohgebärden aus. Drängelte von allen Seiten. Während sie sich auf ihren Sitzen duckten, ihre Gesichter im Mantelkragen
verbargen und sich hüteten, nach draußen zu schauen. Von Weitem hörten sie die Stimme des Anwalts, der, wie sie erst jetzt bemerkten, am Zugende auf die Protestler gewartet hatte. „Leute! Beaufort sitzt gar nicht in diesem Zug“, rief er den enttäuschten Demonstranten zu, „ich kenne ihn persönlich.“ Aufzuplustern brauchte sich der Dicke nicht, er verfügte über eine natürliche Autorität. Was er zu sagen hatte, wirkte überzeugend. Nicht wichtigtuerisch. Seine kurze Rede klang wie eine Predigt. Oder wie die Ansprache eines Parteibonzen bei einer politischen Kundgebung. Energisch. Einschüchternd. Alle Abteile, teilte er den Rowdys mit, habe er abgeklappert; er sei ebenfalls auf der Suche nach ihm. Der englische Henker müsse sich aber längst aus dem Staub gemacht haben. Da könne man wohl nichts machen. „Ihr habt hier nichts mehr verloren.“ Von einem Assistenten war ohnehin nicht die Rede. „Schaut nur nach, überzeugt euch selbst.“ Doch viele unter den Unruhestiftern, die eben nicht mit einem wortgewaltigen Rädelsführer aufwarten konnten, machten sich gar nicht mehr die Mühe, den Zug zu inspizieren; die ersten trollten sich bereits, murrend und fluchend, aber fügsam. Ihre unverhohlene Bereitschaft zur Brutalität: wie weggeblasen. Die Menge zerstreute sich, der Spuk dauerte nur wenige Minuten, und der Wagen mit den Beauforts blieb unbemerkt. Der Anwalt hatte mit ein paar einfachen Sätzen aus einer Horde von Krawallmachern und Möchtegern-Revolutionären eine harmlose Schafherde gemacht. Er hatte die Führungslosen dafür nicht einmal anlügen müssen – ein Beaufort hatte den Zug in der Tat nie bestiegen. Und Rupert ging erstmals auf, wie viel Macht ein Manipulator besaß. Ihr neuer Freund und Retter stieß ein paar Kilometer weiter zu ihnen, indem er von einem Cab, das seinen eigenen Wagen eingeholt hatte, umstieg und auf dem Vordersitz Platz nahm. Er drehte sich zu ihnen um, seine Wangen glühten, und er schnaufte. „Noch mal gut gegangen, was?“ Theo und Rupert nickten. Der Schock saß ihnen noch in den Gliedern. „Und jetzt verraten Sie mir bitte, werter Mister Beaufort, was Sie eigentlich so
treiben. Und warum alle Welt hinter Ihnen und Ihrem Neffen her ist.“ Dem Onkel blieb nichts anderes übrig, als die Wahrheit zu sagen. Er holte zu einer längeren Antwort aus, weniger eine Rechtfertigung als eine Erläuterung, und in der Zwischenzeit hatten sie sich der Innenstadt von Dublin bereits bis auf wenige Meilen genähert. Der Anwalt holte schweigend zu. „Ich verstehe.“ Dann fischte er eine Visitenkarte aus der Innentasche seines Jacketts und reichte sie Rupert. „Vielleicht laufen wir uns ja mal wieder über den Weg. Vor Gericht wohl eher nicht. Eher schon“, und er wies mit dem Daumen auf die Haftanstalt von Mountjoy, bei der sie soeben angelangt waren, „hier drin.“ Er legte eine Kunstpause ein. „Hoffen wir das Beste“, setzte er nachdenklich hinzu, und es war nicht ganz klar, wen oder was er damit meinte. „Sie beide möchte ich auf alle Fälle bald auf der Bühne sehen. Versprechen Sie mir das!“ Er dachte wohl an ihren Gesang, der ihn gestern Nacht so betört hatte. „Ich organisiere ein Orchester. Ich miete einen Konzertsaal. Ich besorge Blumen und Champagner. Ich zahle jeden Preis!“ Alle drei stiegen aus und verabschiedeten sich herzlich voneinander. Wie drei Bergsteiger, die die strapaziöse Eroberung eines eigentlich unbezwingbaren Gipfels glücklich hinter sich gebracht hatten. Als Theo ihrem großzügigen Redenschwinger Fahrtgeld anbot und sich nochmals überschwänglich bedankte, wollte der Anwalt nichts davon hören. „My treat.“ Es sei ihm ein Vergnügen gewesen. Die reinste Freude! Er gab seinem Chauffeur das Zeichen zur Weiterfahrt. Und dann war es auch schon Zeit für Ruperts Feuertaufe. Fast hatten Theo und er vergessen, warum sie eigentlich hier waren. Zwischen Gefängnistor und Haupteingang schippten zwei Sträflinge Schnee.
Im Innern des irischen Zuchthauses wichen sie bei keinem einzigen Handlungsschritt von den Prozeduren ab, die ihm Otis vor einigen Monaten eingetrichtert hatte. Mit dem Unterschied, dass Rupert dem Gefängnisdirektor vorgestellt wurde, dass ihr Dubliner Frühstück besser und appetitlicher angerichtet war als in Pentonville und dass sie nun einen lebendigen Menschen anstelle eines Sandsacks in die Hölle schickten. Und mit dem Unterschied, dass sie nun nicht mehr Hangman und Assistenten mimten, sondern echte Vollstrecker waren und der jeweils andere ein Familienmitglied und kein
Trainingskollege. Ritual und Routine: Blick durch das Judasauge, Berechnung der Fallhöhe, Simulation mit dem Dummy, Abendessen in der Schlafzelle, Übernachtung neben der Todeszelle, frühes Aufstehen, Hängung am anderen Morgen pünktlich um acht. Im Innern von Mountjoy war der ältere von beiden nicht länger Uncle Theo, sondern Theodore Beaufort, Chief Executioner, und der jüngere nicht länger sein Neffe, sondern sein Gehilfe. Das war alles. Ansonsten blieben sie sich treu. Rupert empfand nichts, was ihn nachhaltig verstört hätte, als sie am vorletzten Tag des Jahres in die Todeszelle gelangten, als sie ihrem Opfer von Angesicht zu Angesicht gegenübertraten, als er dem Brudermörder die Hände auf dem Rücken verband, sie zu dritt in die Schreckenskammer weiterschritten, vorbei an den Spalier stehenden Wärtern und Offiziellen, und der Sekundenzeiger weitertickte; er empfand noch immer nichts, was ihn beunruhigt oder verängstigt hätte, als er dem Verurteilten auch die Füße fesselte, nachdem er sie genau nebeneinander auf die beiden mit Kreide auf die Klapptüren gezeichneten X platziert hatte. Er bedauerte lediglich, dass er nicht ständig zu seinem Onkel hinschauen konnte. Er hatte gesehen, dass Theo sich in letzter Minute ein Zitronenbonbon in den Mund geschoben hatte und es so lange lutschen würde, bis der Kerl sich von ihnen verabschiedet hatte. Doch letztlich war der Mangel an Blickkontakt nicht von Bedeutung, denn die beiden vertrauten einander blind. Sie hatten Glück, dass der Mann in ihrer Obhut ihr tödliches Spiel perfekt mitspielte: Diesem Delinquenten wurden nicht die Knie weich, er leistete keinen Widerstand und zitterte nicht. „Ja, ich war’s, ich habe Bernie unschädlich gemacht“, sagte er überraschend und mit fester Stimme, als Theo ihm schon mit der Kapuze den Kopf verhüllt, die Schlinge umgelegt und den Lederriemen unter dem Kinn befestigt hatte. Genau in jenen zwei, drei Sekunden, die dem Onkel noch bis zum Entsichern des Riegels und zum Betätigen des Hebels blieben. So als hätte er gemeinsam mit ihnen trainiert. Das Echo seines Geständnisses, das er im Gerichtssaal nie hatte ablegen wollen, vermischte sich mit dem lauten Krachen der sich öffnenden Falltür und dem dumpfen Knall, den das jähe Herabsacken seines Körpers verursachte. Jetzt war es also iert: Rupert hatte seinen ersten Verurteilten getötet. Oder wenigstens dazu beigetragen. Es hatte sich gut angefühlt. Richtig. Korrekt.
Befriedigend. Rupert konnte, obschon er ja wusste, wie sehr es auf Geschwindigkeit und Effizienz ankam, kaum fassen, dass das Ganze nun schon wieder vorbei war. Drei Tage Aufwand für zwanzig Sekunden. Und Rupert, einmal warmgelaufen, bekam nicht wenig Lust, sich gleich den nächsten Kandidaten vorzuknöpfen. Theo und der Obduzent eilten derweil nach unten, wo der Tod des Gehängten festgestellt wurde. Und die Qualität der Hängung auf einem Formular verzeichnet. Erleichterung machte sich breit. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft verlor ein paar belanglose Bemerkungen, ein Justizbeamter erlaubte sich einen Jux – schließlich sei ja bald der Jahreswechsel, und er komme so langsam in Partystimmung. Ein Wärter, der schon die ganze Zeit bereitgestanden hatte, schwebte mit einem Tablett herbei, auf dem sich eine Flasche Whiskey und ein Dutzend kleiner Gläser befanden. Alle griffen zu, manche gossen sich nach, und selbst der Priester hielt sich schadlos, nur die beiden Hangmen lehnten dankend ab. Ließen sich auch nicht umstimmen. Der Governor dankte Theo, ergriff auch Ruperts Hand und beglückwünschte ihn zu seiner ersten Liquidierung. „Quite a success, young man!“ Während die anderen ihren Drink herunterstürzten und Banalitäten austauschten, wobei das Thema der soeben miterlebten Tötung sorgsam gemieden wurde, schwiegen die Beauforts und warteten weitere fünfzig Minuten, bis die Zeit zur Abnahme des Leichnams, seiner Reinigung und Bettung in den Sarg gekommen war. Schließlich wuschen sie sich ein weiteres Mal die Hände, packten ihre Siebensachen, unterzeichneten im Büro das Protokoll, in dem alle Angaben zur heutigen Hängung verzeichnet waren und Theo die von ihm festgelegte Fallhöhe mit dem Setzen eines Hakens bestätigen und absegnen musste. Der Governor spähte durch den Vorhang auf den Vorplatz, von dem Protestrufe zu vernehmen waren. Die Querulanten waren wieder zur Stelle. „Sie nehmen wohl besser den Seitenausgang“, empfahl er. Als die Beauforts sich zum Gehen wandten, kam noch der Gefängnispfarrer auf sie zugeeilt, ein untersetzter Greis mit teigigem Gesicht. „Wenn ich Sie noch eine Minute sprechen dürfte, meine Herren“, hob er an, „ich …“.
Theo würdigte den Geistlichen keines Blickes und schnitt ihm das Wort ab. „Pardon, wir haben es eilig. Unsere Fähre wartet nicht.“ Um kurz vor zehn standen Rupert und sein Onkel auf einer Seitenstraße. Sie blieben unbehelligt; niemand erkannte sie. „Hüte dich vor den Pfaffen, Junge“, zischte Theo, dem die letzte Szene in Mountjoy noch im Magen zu liegen schien. „Mit ihnen in unserer Freizeit singen und Spaß haben ist das eine, ihnen bei den Hängungen zu begegnen das andere. Sie sind nicht auf unserer Seite, machen uns die Arbeit kaputt. Wiegeln die Verurteilten auf mit ihrem ständigen Gerede von Seele und Gemüt, von Reue und Vergebung. Sie legen es darauf an, die Männer nervös zu machen, und drücken ordentlich auf die Tränendrüse. Danach haben wir dann ein Wrack vor uns. Und alles gerät durcheinander.“ Der Onkel legte Rupert den Arm um die Schulter und zog ihn an sich heran. „Ich war heute sehr zufrieden mit dir, Rupert. Sorry, unser Rupert.“ Beide lachten. Sie spazierten in Richtung Innenstadt, fuhren mit einem Taxi zum St. Stephen’s Green und erfreuten sich an den Weihnachtsdekorationen im Park. Sogar für einen kleinen Lunch nahe des Dublin Castle und den Besuch einer GuinnessBrauerei blieb noch Zeit. Rupert gingen die Augen über. Die große fremde Stadt gefiel ihm über die Maßen. Am liebsten wäre er noch geblieben oder hätte das Trinity College oder die St. Patrick’s Cathedral erkundet. Zusammen mit Ruth. Die beiden Verliebten hatten ja keinen Begriff davon, was es hieß, Urlaub zu haben. Oder zu fernen Zielen aufzubrechen. „Wir müssen allmählich los“, entschied Theo nach einem kurzen Blick auf die Kirchturmuhr. Als es dunkelte, bestiegen sie die Tram zurück nach Dunley. „Diesmal ist der Zug nun doch voller Beauforts“, witzelte Rupert, und auch Theo konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. „Wir haben großes Glück gehabt.“ Die Fähre war nur schwach beleuchtet und schien menschenleer. Kurz vor Silvester wollte wohl niemand von Irland nach Holyhead reisen. Sie hielten sich nicht lange mit der Begrüßung der Besatzung und der anderen agiere auf und begaben sich gleich in ihre Kabine. Diesmal suchten sie nicht die Bar auf und gingen zeitig zu Bett. Unmittelbar nach dem Ablegen. Und kaum dass Rupert das Licht gelöscht hatte und beide wie nachtblind in die undurchdringliche Schwärze starrten, merkten die beiden Männer, wie
aufgekratzt sie noch waren. Kein bisschen müde. Also begann Theo zu erzählen. Vertrauliches und Unerhörtes. Groteskes und Lachhaftes. Trauriges und Bestürzendes. Ins Dunkle hinein. All die Geschichten von Vollstreckungen, die er bislang noch nie jemandem mitteilen konnte. Durch das jahrzehntelang eingehaltene Schweigegelübde war ein riesiges Redebedürfnis entstanden, und nun platzte, ja sprudelte es am heutigen Abend aus ihm hervor. Ein Dammbruch. Keiner von beiden würde in den kommenden Stunden ein Auge zumachen. Anekdoten und Vorkommnisse reihte Theo in schneller Folge aneinander, die sich wie ein Sturzbach über Rupert ergossen – auch die Prügelszene von Matthew und Jimmy Brocklebank war darunter, die er natürlich nicht selbst erlebt hatte und die aus seinem Munde ganz anders klang und weniger heldenhaft. Manches an diesen Berichten, besonders wenn es makaber oder absurd wurde, kam Rupert wie fein gesponnenes Seemannsgarn vor, kaum glaubhaft oder maßlos übertrieben, andere Details waren Furcht einflößend und zuweilen auch ekelhaft. Rupert war sich ziemlich sicher, dass auch dieses Dezemberende in und um Dublin den Anekdotenschatz seines Onkels bereichern würde. Und Theo, dass er nie wieder einen aufmerksameren Zuhörer finden würde, jemanden, der so viel mit all diesen Informationen anfangen konnte und regelrecht nach ihnen gierte: Rupert war ganz Ohr. Vom sachten Wellengang begleitet, fütterte der Ältere seinen Neffen mit all dem Mitteilenswerten, das er vor dem Vergessen retten wollte. So schnell versiegte der Redefluss nicht. Und wieder wurde es eine durchwachte Nacht für den Novizen und den Routinier. Am nächsten Morgen, der das Ende des Jahres 1932 einläutete, konnten nur hartgesottene Frühaufsteher beobachten, wie Theo und Rupert todmüde durch die leeren Straßen von Failsworth zu Mary nach Hause wankten. An Kreuzungen und Häecken türmte sich Schneematsch. Seine Mutter nahm sie am Gartenzaun in Empfang, mit geröteten Augen, und erkundigte sich einzig und allein nach den Umständen der Überfahrt. Theo würde ihr bei Ham & Eggs noch ein Stündchen Gesellschaft leisten, bevor er zu Mildred und Alma weiterfuhr, aber Rupert hatte keine Zeit mehr zu verlieren, wenn er pünktlich zur Arbeit erscheinen wollte. Im Stehen aß er einen Happen, eilte in die Küche, wo er sich am Ausguss ein wenig kaltes Wasser ins
Gesicht spritzte. Im Flur kämmte er sich die Haare und überprüfte im Spiegel seine Aufmachung. „Schon gut, Rupert“, sagte sein Onkel und unterdrückte ein Gähnen. „Du siehst tadellos aus. Dir ist nichts anzumerken.“ Und als das Pfeifen des Teekessels immer lauter wurde und Mary erschrocken in die Küche lief, um ihn vom Herd zu nehmen, fiel Rupert nun auch etwas ein, was nur für die Ohren seines Partners bestimmt war: „Die Pistole haben wir gar nicht gebraucht.“ „Diesmal nicht. Aber das hätte auch danebengehen können“, wand Theo ein. „Die nächste Hängung in Irland kommt bestimmt.“ Die beiden Männer umarmten sich. Morris stand mit dem Auslieferungswagen schon unten auf der Straße, er hupte ungeduldig. Ein langer, beschwerlicher Arbeitstag lag vor Rupert. „Ich werde mir einen Revolver besorgen“, rief er so leise wie möglich und öffnete die Haustür. „Bald. Versprochen.“ Auf einmal war es ihm schnurzegal, ob seine Mutter oder die Nachbarn ihn hören konnten. „Happy New Year für euch drei.“ Das rief er jetzt schon viel lauter, rief es in den grauen, bitterkalten Morgen hinaus. Er hatte das Gefühl, ihm würden Flügel wachsen. Seinen schweren Gliedern zum Trotz. Heute Abend würde er erst einmal Ruth einen Besuch abstatten. Und mit ihr ins Neue Jahr hineinfeiern.
Auf den vielversprechenden Start folgte die große Ernüchterung. Die Dreißiger wurden zu einer zähen Angelegenheit, was die Zahl der anberaumten Hängungen betraf. Höchstens drei oder vier pro Jahr, und 1934 sah es besonders finster aus: Da wurden Ruperts und Theos Dienste sogar nur für eine einzige Hinrichtung benötigt. Schwierige Zeiten für die britischen Hangmen. Schwerer wog, dass der Jüngere in puncto Status – und das war für sein Ego und sein professionelles Selbstverständnis ja das wichtigste – einfach nicht vom Fleck kam. Die Exekutionen führten ihn, ausnahmslos an Theos Seite, nach Durham und nach Winson Green in Birmingham, nach Exeter und Walton, nach Bedford,
Belfast, Gloucester und Hull, doch nicht ein einziges Mal machte die Commission ihm den Vorschlag, als Chief zu agieren. Nicht ein einziges Mal luden sie ihn als Number One ein. Er zerbrach sich den Kopf, woran das nur liegen mochte – soweit er wusste, unterliefen ihm keine Fehler. Auch war er pünktlich, überpünktlich sogar, und hielt sich vom Whiskey fern. Ganz so, wie Otis und sein Onkel es ihm eingeschärft hatten: „Wenn du es nicht ohne die Zuhilfenahme von Alkohol schaffst, dann lass es lieber.“ So lautete ihr Rat. „Und wenn du dir hinterher jedes Mal gleich einen Drink genehmigen musst, taugst du nicht für dieses Metier.“ Kein Problem – er machte sich sowieso nichts aus dem harten Zeug. Lag es etwa am Gefängnispersonal? Sicher nicht, denn die Governors waren des Lobes voll und ließen ihn ihre Zufriedenheit spüren. Und Arroganz gegenüber Wärtern oder Obduzenten konnte man ihm ebenfalls nicht vorwerfen. Mit einem feinen Schnösel war er nun wirklich nicht zu verwechseln. War er zu lieb, zu perfekt, zu glatt? Wirkte er, so ohne Fehl und Tadel, wie ein Automat auf die Londoner Ministerialbeamten? Ihm fiel kein einziger plausibler Grund ein, warum man etwas gegen ihn vorbringen konnte, warum man seine große Begabung einfach nicht erkennen mochte, warum man ihn kontinuierlich übersah. Es lief auf eine Missachtung seiner Person heraus. Theo konnte sich ebenfalls keinen Reim auf die unverständliche Haltung der Officials machen. Aber es half alles nichts: Als Henker blieb Rupert bis in die frühen Jahre des Zweiten Weltkriegs hinein zweite Wahl. Auch beruflich, wirtschaftlich und politisch waren es harte Zeiten. Überall im Land und ganz besonders in Manchester und Oldham schossen die Arbeitslosenzahlen in die Höhe, schlossen die Betriebe, machten die Lokale dicht, wuchs die Armut. Grundnahrungsmittel waren manchmal schon zur Wochenmitte kaum noch aufzutreiben, die Leute standen Schlange vor den Lebensmittelläden, in deren Auslagen gähnende Leere herrschte. Selbst in Mister Harveys einst so florierendem Geschäft lief es nicht mehr wie früher; Ruth konnte froh sein, dass sie nicht entlassen wurde. Auch Ruperts Festanstellung im Fuhrbetrieb hing am seidenen Faden: Woche für Woche zählte er weniger Kollegen, wenn er sich am Freitagabend sein Gehalt auszahlen ließ. Glücklicherweise, so sagte er sich oft, stand er mit seinem Chef auf gutem Fuß.
Wegen der Hängungen hatte er bei ihm einen Stein im Brett; Morris, der alte Quassler und Ränkeschmied, war schon vor Monaten gefeuert worden. „Warum machst du Ruth nicht endlich einen Heiratsantrag?“ Seine Tante insistierte mit schöner Regelmäßigkeit, was ihm gehörig auf den Wecker ging. Und Mary nörgelte ununterbrochen an ihm herum. Was sonst gar nicht ihre Art war. „Willst du denn ewig Junggeselle bleiben?“ Seit er Ruth mit nach Hause gebracht hatte, kamen die beiden Frauen, die sich auf Anhieb gut verstanden hatten, hervorragend miteinander aus; Ruth – wahrlich kein junges Huhn mehr – ging bei Mary und ihm praktisch ein und aus. Und seine Mutter hatte nichts dagegen einzuwenden, wenn sie über Nacht blieb. Ihr Rupert war immerhin schon über dreißig! Auf der Tasche lag er ihr auch nicht, denn er brachte weiterhin brav seinen Lohn heim zu ihr und behielt kaum etwas für seine persönlichen Ausgaben zurück, sodass Theo von Zeit zu Zeit gezwungen war, seinen Neffen anzuraunzen: „Nun gönn dir doch auch mal etwas! Kauf Ruth ein schönes Kleid, führ sie zum Essen aus, geht ins Kino!“ Rupert war gar nicht auf Zerstreuungen und Entertainment erpicht. Und es hätte auch nicht zu seiner gedrückten Stimmung get, nicht zur Wirtschaftskrise und nicht zur angespannten Situation unter den jungen Leuten in ihrem Viertel, ausgerechnet jetzt dauernd auszugehen. Oder so zu tun, als sei alles in Butter. Rupert sah sich, angesichts einer so geringen Zahl von Hinrichtungen und entsprechend dürftigen Nebeneinkünften, außerstande, auch noch einen eigenen Hausstand zu gründen. Vorläufig jedenfalls. In Deutschland war Hitler an die Macht gekommen. Alles, was man von dort hörte, war Rupert unheimlich, schien nicht mit rechten Dingen zuzugehen. Juden wurden gejagt und interniert, Gegner rücksichtslos verfolgt und an den Pranger gestellt, ganze Völkerscharen, die diesem Hetzer Hitler nicht in dem Kram ten, sollten, wie es hieß, in Kürze von ihm und seinen Vasallen vernichtet werden. Es roch schon wieder nach Krieg auf dem Kontinent. Und hier in England fingen die Nazis nun auch an, ihr Unwesen zu treiben. Faschistische Gruppen und Kleinorganisationen schossen in London und in den anderen Großstädten des Vereinigten Königreichs wie Pilze aus dem Boden. Samt und sonders
troublemaker. Morris hatte in Oldham, vor Jahren, am selben Tag zwei mitreißende Reden von Oswald Mosley gehört, eine auf dem Rathausplatz und die andere in einer Fabrikhalle, vor Tausenden von Arbeitern. Damals hatte Mosley noch für die New Party geworben, jetzt führte er die British Union of Fascists an. Morris, von Mosley angestachelt und regelrecht in ihn und seine Redekunst vernarrt, hatte seinen tugendhaften Kollegen schon damals mehrfach aufgefordert, mitzumachen und beizutreten. Ohne Erfolg. Rupert war nicht anfällig für solch zerstörerisches, von Wahn, Narzissmus und Minderwertigkeitskomplexen gespeistes Gedankengut. Er konnte sich selbst anlässlich einer Rundfunksendung ein präzises Bild von Mosleys dubiosen Zielen machen, in der dieser Anführer von Schwarzhemden seine zersetzenden Parolen verkündete. Ohne dass ihn jemand an die Kandare nahm. Theo hielt ihn für ein Großmaul, Mildred befand: „Der führt nichts Gutes im Schilde. Ein Demagoge!“ Wohin man auch sah in Manchester, auf allen großen Boulevards patrouillierten Blackshirts, wurden die Schaufenster der Geschäfte ausländischer Mitbürger beschmiert oder mit Steinen eingeworfen. In Theatern und in Boxarenen störten Schlägertrupps die Vorstellungen und Sportkämpfe. Und auch nach Mosleys Internierung, seinem Hausarrest und dem Verbot seiner Faschisten-Partei kam England nicht zur Ruhe. Diesmal seitens des Staates. Denn schon wenige Tage nach dem deutschen Überfall auf Polen erklärte Großbritannien dem Reich den Krieg, schlidderte der halbe und bald auch der ganze Globus erneut in einen mörderischen Konflikt. Dass sich der Wind übergangslos gedreht hatte, merkte Rupert allein an der sprunghaft gestiegenen Zahl der Verurteilungen und Hinrichtungen in jüngster Zeit: 1940 rief man ihn neunmal an den Galgen, 1939 waren es gerade einmal zwei Hängungen gewesen. So kam wieder etwas mehr Geld in seine Kasse. Und es waren, erstmals in seiner Laufbahn als Hangman, auch politische Gefangene unter den Todeskandidaten. Spione und Verräter. Ausländer sogar. Deutsche zumeist. Aber selbst ein Inder. Verurteilte, die trotziger, fanatischer und zorniger wirkten als die üblichen Kriminellen, Verurteilte, die sich gegen ihre Einkerkerung und Behandlung, gegen das Strafmaß und gegen die bevorstehende Todesstrafe lautstark auflehnten. Intelligente und berechnende Individuen.
Bislang hatte Rupert es vornehmlich mit Raubmördern zu tun gehabt, mit Kindsmörderinnen – oft Ziehmütter, die ihre Schutzbefohlenen im Fluss ertränkten oder erstickten und dann im Wald vergruben –, mit heimtückischen Ehefrauen, die ihre Männer vergifteten, mit brutalen Kerlen, die aus Eifersucht ihre Frauen erdrosselten, ihre Nebenbuhler erschlugen, sich an einem Kollegen rächen wollten, sich an Minderjährigen vergingen oder, aus lauter Verzweiflung und weil sie sturzbetrunken waren, einem ihnen Unbekannten im Pub eine zerbrochene Flasche in den Leib rammten, sodass ihr Opfer verblutete. Mit geldgierigen Betrügern, mit listigen Bankräubern, bei deren Überfällen irgendetwas aus dem Ruder lief, wodurch sie sich ihren Rückzugsweg freischießen mussten, mit pathologischen Erbschleichern, mit Kinderschändern und mit gemeingefährlichen Serienmördern. Ganz überwiegend Menschen, die ein persönliches Motiv antrieb, die sich bereichern wollten, die ihren Perversionen keinen Einhalt zu gebieten vermochten oder die ihre furchtbaren Verbrechen aufgrund einer emotionalen Verwicklung, aus der sie nicht mehr herauskamen, begingen. Die Politischen waren anders. Sie handelten im Auftrag eines Staates oder einer Partei, ließen sich von einer Idee oder Ideologie leiten. Überzeugungstäter, keine armen Würstchen. Knapp ein Jahr nach Weltkriegsbeginn, im Juli 1940, assistierte Rupert erstmals bei der Hinrichtung eines solchen Überzeugungstäters. Eines Attentäters: Es handelte sich um einen Sikh, der für sehr lange zurückliegende, von Briten verübte Bluttaten im Punjab Rache nehmen wollte und deshalb, als Mitglied der indischen Befreiungsbewegung, bei einer öffentlichen Versammlung in London einen ehemaligen Gouverneur auf offener Bühne mit mehreren gezielten Schüssen aus nächster Nähe tötete. Eine spektakuläre Bluttat, die im Mutterland wie in Südostasien hohe Wellen schlug. Theo war anderweitig engagiert, und so wurde, aus unerfindlichen Gründen, für die Hängung in Pentonville Ruperts alter Trainingskollege Clifford Price zum Chief bestimmt. Sehr zum Verdruss Ruperts, denn Price galt innerhalb der Henkerszunft, aufgrund schwacher Leistungen in der Vergangenheit, als Wackelkandidat und besaß nicht annähernd dieselbe Erfahrung als Gehilfe wie Beaufort. Ihn nun gerade bei dieser politisch brisanten Exekution zu nominieren, ergab keinen Sinn.
Das Interesse der nationalen wie internationalen Presse war enorm, und schon am Vorabend der Hängung tummelten sich zahlreiche selbst ernannte Zeugen und offizielle Beobachter, Leute, die absolut nichts an einem solchen Ort zu suchen hatten, im Umfeld von Todeszelle und Schreckenskammer. Wie in einem Hühnerstall ging es zu. Was bei Clifford, der panisch zu flattern begann, zu Konfusion und zu einer fatalen Fehlkalkulation der Fallhöhe führte. Seine erste Angabe, noch vor der Simulation mit dem Strohmann, entsprach weder der Körpergröße noch dem Gewicht des feingliedrigen Mannes, der außerdem eine ungewöhnlich schmale Halspartie und einen ausgesprochen muskulösen Rücken aufwies. Als Price aufs Geratewohl die Maße verkündete, ging ein empörtes Raunen durch die Gruppe der anwesenden Gefängnisbeamten, doch niemand widersprach. „Hilf mir aus der Patsche“, flehte Clifford im Flüsterton und wandte sich Rupert zu, der, mit den Beinfesseln in der Hand, neben ihm stand und sich für Price schämte. „Lass mich nicht hängen. Bitte.“ Rupert wiegte den Kopf, brauchte nicht einmal nachzudenken und korrigierte die Anzahl der Inches deutlich nach oben. „Das müsste so stimmen.“ Am späten Abend aber, auf seinem Lager in der Zelle, kamen ihm weitere Zweifel. Er weckte Clifford. „Lass uns noch einmal nach unten gehen und unsere Einschätzung überprüfen. Der Bursche bereitet uns sonst Probleme.“ Und abermals ten sie Seillänge, Schlingendurchmesser, Position des Lederriemens und Fallhöhe den speziellen Bedingungen an, nachdem sie mitten in der Nacht den Dummy entsprechend bearbeitet und, damit er dem Sikh ähnelte, zurechtgestutzt hatten. Tags darauf ging alles ohne besondere Zwischenfälle über die Bühne. Es bereitete Price keinerlei Schwierigkeiten, dem Attentäter das letzte Geleit zu geben und den Hebel zu betätigen. Doch die finale Eintragung im Buch des Obduzenten, was die tatsächliche Fallhöhe anging, die zum Tod des Delinquenten geführt hatte, stimmte natürlich weder mit Cliffords erster noch mit Ruperts zweiter Angabe überein. Drei verschiedene Maße bei einer Hängung, das war dem Gefängnisarzt noch nie untergekommen. Price war geliefert. Er würde noch zu zwei, drei weiteren Engagements einbestellt und dann, ohne langes Federlesen, von der Liste gestrichen werden.
Clifford wusste nur zu gut, dass er die Hinrichtung versaut hatte, auch wenn die Hängung selbst korrekt abgelaufen war und nicht zu einer qualvollen Strangulation geführt hatte. Er saß da wie ein begossener Pudel, als er, in einer Kneipe in Fulham, einige Stunden später mit Rupert die ganze Aktion noch einmal Revue ieren ließ. „Du hast mich gerettet, Beaufort“, stieß er hervor. „Wenn du nicht gewesen wärst … Der arme Teufel. Nicht auszudenken.“ Dann schob er Rupert einen Umschlag hin. „Was ist das? Was soll ich damit?“ „Die Hälfte meiner Bezahlung. Los, nimm schon. Eigentlich müsstest du alles kriegen.“ Rupert protestierte, aber Price blieb hart. „Zier dich nicht, nimm die Scheine. Sonst gebe ich dir gleich den ganzen Sold.“ Clifford spendierte auch die Getränke und riss, als sie auseinandergingen, mit diesem besonderen Blickkontakt zwischen Männern, die nach einem unschönen Vorfall wissen, dass sie sich zum letzten Mal sehen und eigentlich doch sehr gemocht haben, Rupert in seine Arme. Nur ganz kurz. „Versprich mir, dass du dich nicht unterkriegen lässt. Du nicht! Von keinem Governor, von keinem Sträfling.“ Seine Stimme brach, er wurde von widerstreitenden Gefühlen übermannt. „Du hast uns allen gezeigt, wo’s langgeht, Rupert.“ Zum ersten Mal nannte er ihn beim Vornamen. „So long.“
Ein weiteres Jahr verging. Als Zuarbeiter seines Onkels stellte Hangman Rupert eine ganze Reihe weiterer Mörder und Verräter kalt, machte zwei Agenten unschädlich, von denen einer ein Überläufer war, und brachte auch, im Auftrag der Justiz, nacheinander zwei junge Straftäterinnen um. Die Blonde, eine Giftmischerin, die im Frühherbst von ihnen in Hull getötet wurde, zeterte und spuckte um sich; die Brünette, gefasst und beherrscht, erinnerte ihn an Ruth. Mit ihren tiefblauen Augen, ihrem Lippenschwung und ihrem sinnlichen
Gesichtsausdruck. Zum Sterben schön. Sie, die ihren Verlobten in einer Eifersuchtsszene mit einem Schürhaken erschlagen und grässlich verunstaltet hatte, musste kurz vor Weihnachten in Winston Green von dieser Welt abtreten. Er erlebte mit, wie ein besonders verzweifelter Gefangener in den Minuten vor seiner Hinrichtung so lange mit dem Kopf gegen die Wand der Todeszelle rannte, bis er blutüberströmt war, beinahe das Bewusstsein verlor und, schwankend, stöhnend und unter großen Schmerzen, gleich von vier Männern gestützt werden musste – er war nicht mehr in der Verfassung, selbst in die Schreckenskammer zu gehen oder geleitet zu werden, man trug ihn zum Galgen. Was die anschließende Hängung und die Versuche, ihn zum ruhigen Stehen zu bringen, zu einem schwierigen Unterfangen machte. Er erlebte mit, wie ein renitenter Delinquent in letzter Sekunde versuchte, durch starkes Schütteln seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen und den Lederriemen abzustreifen, sodass der ordnungsgemäße Fall mit anschließendem Genickbruch beinahe missriet – nur durch das beherzte Eingreifen von Theo und Rupert gelang es einigermaßen, den Kopf, kurz vor dem Drop, doch noch in die Ausgangsposition zurückzuschieben, um ein unfreiwilliges Köpfen zu verhindern. Er erlebte mit, wie ein Verurteilter am Vorabend mit kecker Stimme eine Dreifachportion Rührei zum Frühstück bestellte und sie dann auch bekam und mit großem Genuss verzehrte. „So eine feine Henkersmahlzeit lasse ich mir doch nicht entgehen“, waren seine skurrilen letzten Worte. Und ein anderer sang. Sang mit Strahlkraft, Fülle und bezauberndem Timbre, sang die ganze Nacht hindurch, sang im Morgengrauen, sang, während Onkel und Neffe im Nebenraum ihren Tee tranken, sang auf dem Weg zum Schafott, sang, während man ihm die Kapuze überstreifte und sang noch, als unter ihm schon die doppelte Falltür aufsprang. Rupert kannte jedes Lied und jede Strophe. Am liebsten hätte er mitgesungen. Am liebsten hätte er geweint, so schön und ergreifend sang dieser unglückliche Kandidat. Und den Moment, als dem Mann die Stimme erstarb, würde er so schnell nicht vergessen. Todesstille herrschte im Exekutionstrakt. „Seele und Körper gehören in die Hölle“, philosophierte der Obduzent im Untergeschoss, als Theo anschließend den Leichnam vom Strang nahm, mit
einem feuchten Schwamm vorsichtig abtupfte und ihn, assistiert von Rupert, in ein Leintuch hüllte, „aber diese Stimme gehört ins Paradies. Gott segne sie!“ Selbst der Onkel war ergriffen gewesen. Rupert fiel auf, dass der Ältere während der gesamten Rückfahrt kein einziges Wort sagte. Erst als sie schon vor Marys Haus standen, stimmte er die letzte Strophe an, diejenige, die der todesmutige Sänger nicht hatte vollenden können. Diejenige, die von einer hübschen, ungemein begehrenswerten Judy handelte, die erst Reißaus genommen und eines Tages wieder vor der Tür gestanden hatte, um ihrem Verehrer den Sonnenschein zum Geschenk zu machen. „Judy has come back.“ Rupert schloss sich ihm an. Gemeinsam brachten sie, auf dem Bürgersteig, den Song vom Glückspilz zu Ende. „She brought the sunshine home to me, she is my sunshine, lucky me.“ Sie erfüllten gewissermaßen den letzten Willen des Hingerichteten. „Den haben wir nicht etwa einen Kopf kürzer gemacht“, sprach Theo, als sie geendet und danach stumm nebeneinander ausgeharrt hatten, „den haben wir mundtot gemacht.“ Und Rupert schluckte einen Kloß hinunter. Über weiten Teilen des Landes tobte unterdessen der Luftkrieg, den die Zeitungsleute, die Politiker und bald auch die Zivilbevölkerung nur noch The Blitz nannten. Die Deutschen überzogen die großen Städte, allen voran London, aber auch Birmingham und Swindon, Liverpool und Manchester, mit einem verheerenden Bombenhagel. Ganze Industriequartiere wurden durch die fortgesetzten Luftangriffe in Schutt und Asche gelegt, Fabriken beim Feuersturm vernichtet und auch Wohnviertel dem Erdboden gleichgemacht. Die Docks traf es am schlimmsten. Eine Zerstörungswelle ohnegleichen. Die Krauts machten ernst. Nach nur wenigen Wochen war die Bevölkerung völlig demoralisiert, die Familien beweinten ihre vermissten und verwundeten Angehörigen, bestatteten die Bombenopfer, so gut es eben ging, und trauerten um die in Schutzkellern Verschütteten; Bürgermeister und Ärzte zählten die Kriegstoten. Auch die Schlacht von Dünkirchen war geschlagen. Der junge Beaufort, dem Einberufungsbefehle nichts anhaben konnten, marschierte im Oktober 1941 mitten in London durch eine gespenstische Kraterlandschaft. Wieder einmal ging es nach Pentonville für ihn, doch diesmal endlich als Chief Executioner. Diesmal hatte das OHMS auf dem Briefumschlag nämlich für eine gute, nein für die allerbeste Nachricht gestanden. Er war am Ziel. Mehr als
dreißig Jahre, nachdem man seinen Vater vom Henkersdienst suspendiert hatte, hieß man ihn in der Hauptstadt als Hauptverantwortlichen willkommen. Und fast zehn Jahre nach seiner Bewerbung. Mit einer Mir-gehört-die-Welt-Miene lief er zwei Monate durch die Welt und setzte seine Hoffnung darauf, dass nicht wieder etwas dazwischenkommen würde, dass nicht weniger als vier Begnadigungsgesuche abgelehnt würden. Sein Wunsch ging in Erfüllung: Der Hinrichtungstermin wurde von Mal zu Mal verschoben, doch aufrechterhalten. So kam es, dass er wie ein Eroberer Londoner Boden betrat und keine Augen hatte für das allgegenwärtige Elend auf den Straßen. Am Haupteingang begrüßte er seinen neuen, ihm zugeteilten Handlanger, einen vierschrötigen, linkisch wirkenden Mann namens Blade, registrierte das Strahlen auf dem Gesicht des Governors, als er, endlich in leitender Funktion, das Sprechzimmer betrat, registrierte auch, dass er mit seinen sechsunddreißig Lebensjahren bei dieser Hängung noch immer der Jüngste unter allen Beteiligten war, und er ließ sich auch nicht von der Fangfrage des für die Gerätschaften am Galgen zuständigen Technikers ins Bockshorn jagen. „Welche Fallhöhe, Sir?“, wurde Rupert gefragt, noch bevor er den Delinquenten überhaupt zu Gesicht bekommen hatte. „Ich schlage six foot four inches vor“, erdreistete sich der Techniker, „wenn Sie mich fragen.“ Ich frage dich aber nicht, dachte Rupert im Stillen. „Das entscheide ich heute Abend“, versetzte er mit fester Stimme. „Und notfalls nochmals morgen früh. Wenn ich den Verurteilten gesehen und den Strohmann seinen Maßen und seinem Gewicht anget habe.“ Und so geschah es auch. Rupert ließ den Sandsack über Nacht hängen, damit das Seil schön straff blieb, so wie Otis und Theo ihm empfohlen hatten, und wie so oft entschied er sich auch diesmal für den gebrauchten und gegen den nagelneuen Strick: ein alter Aberglauben unter Henkern. In der Nacht vor seinem ersten großen Tag träumte er natürlich nicht. Das jahrelange Warten hatte ihn nicht zermürben können. Zu seinem Debüt hätte ein lauter Trommelwirbel get. Und ein Tusch. Es war Schlag acht und mitten im Zweiten Weltkrieg, als Rupert Beaufort, assistiert von Blade, in der Haftanstalt von Pentonville, an einem Morgen im Spätherbst, das Leben von
Giuseppe Francini mit siegessicherem Blick und mit dem Betätigen des Hebels, gefolgt von lautem Getöse, beendete. Von der Vorgeschichte seines ersten Todeskandidaten wusste er nur so viel, dass es sich um einen Bandenkrieg in Soho gehandelt hatte, eine üble Messerstecherei unter Mitgliedern verfeindeter Gangs. Nachts, vor einem Tanzlokal, das schlecht beleumundet war. Mit gleich drei Todesopfern. Von den vier Angeklagten hatte man nur zwei dingfest machen können, und Francini, ein italienischstämmiger Londoner aus der zweiten Einwanderergeneration, war als Einziger zum Tod durch den Strang verurteilt worden. Er hatte die Quittung für die dunklen Machenschaften seiner Clangenossen bekommen, er hatte Pech gehabt; er allein war zur Rechenschaft gezogen worden. Rupert fand, dass der Nachtclubbesitzer Francini ein außerordentlich gut aussehender und selbstbewusster Mann war, Typ Frauenheld, elegant gekleidet und scheinbar ungerührt von dem ihm bevorstehenden Ende. Jemand, mit dem er sich hätte anfreunden mögen. Nicht zu eitel und nicht zu arrogant. Aber smart. Kein aufgewühlter, von Reue geplagter Täter. Sondern ein Mensch, dem es zur Gewohnheit geworden war, mit Feinden, Rivalen und Nebenbuhlern abzurechnen. Und jetzt rechneten sie eben mit ihm ab. So war es üblich. Das war der Deal. Beaufort tat nichts, was Mitglieder anderer Gangs nicht auch getan hätten. Francini atmete ruhig ein und aus. Die beiden lächelten sich zu. Auf Augenhöhe. Einer gelassener, ja vergnügter als der andere. Ein Duell ohne Waffen. Der Ausgang war bekannt. Also schritt Rupert zur Tat und richtete den Messerstecher mit trockener Hand. Francini rief noch „Cheerio!“, und dann verschwand er für immer. Keine zwölf Sekunden. Wie der Höhepunkt eines Liebesaktes. „Selbst Ihr Onkel ist nie schneller gewesen“, beeilte sich einer der Anwesenden zu sagen, „ganz ausgezeichnet.“ Noch als Rupert den Hebel berührte und fest im Griff hatte, als er eine Minute danach den vom Direktor angebotenen Drink ablehnte, als der scheinheilige Techniker und auch Blade ihm im Vorraum „Well done!“ zuriefen, als er die Nackenpartie des Gehenkten mit Kennerblick begutachtete, als er später Francinis leblosen Körper wie den Leib des Gekreuzigten eigenhändig vom Strick nahm, wusch und zur Ruhe bettete, war Rupert, das wusste er, auf der anderen Seite angelangt. Unwiderruflich. Fast erwartete er ein wenig Applaus.
War das muntere „Cheerio“ denn nicht ihm zugedacht gewesen? Jetzt noch Number One werden, jetzt nur nicht nachlassen. Jetzt erst recht. Er dachte an Theo, Mildred, Mary und Ruth, aber nur ganz kurz, an jeden unter den vieren mit großer Zärtlichkeit; er widmete sich, als er Francinis Blöße mit dem Leintuch verdeckte, lieber den Erinnerungen an seinen armen, wankelmütigen Vater. Seinen Kronzeugen. Den er nunmehr all seiner Schwächen entledigte. Der, im Nachhinein, von ihm geadelt wurde. Von seinem Vater benötigte er am dringendsten Lob. Und er bekam es auch: Der heldenhafte Matthew schaute ihm über die Schulter und sprach ihn selig, der tapfere Matthew reichte das Zepter an ihn weiter, der tugendhafte Matthew erhob sein randvolles Glas, um ihm zuzuprosten, führte es aber nicht zum Munde, sondern ließ es zu Boden fallen, um allen Lastern abzuschwören, der vorbildhafte, fragile Matthew war stolz auf ihn. Seinen robusten Sohn. Rupert schwebte. Soeben hatte er die höheren Weihen empfangen. Er ließ Pentonville hinter sich und lief, ja rannte fast an den zerbombten Londoner Mietshän vorbei zum Bahnhof, erwischte gerade noch den Abendzug Richtung Nordwesten, quetschte sich in ein Abteil voller Soldaten, schlief, völlig übermüdet im Stehen an einen Geschäftsmann gelehnt, der ihn verärgert alle paar Minuten wieder von sich wegschob, und setzte seinen Marathon bis in die Lord Street von Oldham fort. Erst in Harveys Laden kam er, außer Atem, zum Stillstand. Er packte Ruth ziemlich grob am Arm und bugsierte sie in einen Lagerraum. Dort, zwischen leeren Kartoffelkisten, ebenso leeren Obstkörben, Getränkekanistern und streng riechenden Wäschehaufen hielt er um ihre Hand an. Erkundigte sich, ob sie noch in diesem Jahr, noch in diesem Monat, noch in dieser Woche seine Frau werden wollte. Ließ ihr, jetzt, wo er den Ritterschlag erhalten hatte, praktisch keine Wahl. Für ein Ja, für ein „I do“ ging das alles ein bisschen schnell. Für eine Zusage hätte Ruth Leonard erst einmal ihre Gedanken ordnen müssen. Und ihre Überraschung, ihre klammheimliche, große Freude verbergen. Einen Satz brachte sie dann aber doch heraus. Für Rupert klang er bereits wie eine Zustimmung. Wie ein Einverständnis.
„Ich dachte schon“, brachte Ruth heraus, während er ihre Hände hingebungsvoll mit Küssen bedeckte und sie immer weiter ins Dunkle schob, in die hinterste Ecke des Depots, „ich dachte schon, du würdest nie fragen.“
6
Gestundete Zeit
Zu nichts zu gebrauchen!“ Gennarinos Meinung über mich stand schon seit meiner frühesten Kindheit fest, schien in Stein gemeißelt. Der Schreiner in ihm verzweifelte an mir. Seinem dünnbeinigen Spross, seinem zu früh geschlüpften Küken. Schwächlich fand er mich, träge und antriebslos. Sein Nachfolger würde ich wohl nie werden. „Dem ist nicht zu helfen. Ein Taugenichts.“ „Zwei linke Hände“, das war auch Fabrizios Überzeugung, wenn er mir dabei zusah, wie ich vergebens versuchte, die Schnürbänder meiner Winterschuhe zu verknoten oder mir vor dem Spiegel aus bunten Seidenfäden eine hübsche Schleife ans weinrote Sonntagshemd zu binden. Wie es bei uns im Dorf in den Erntemonaten Sitte war. In der Werkstatt stand ich nur unnütz herum, versagte bei der Nachahmung jedes noch so einfachen Handgriffs. Sehnte mich nach einer Unterhaltung, langweilte mich zu Tode. Sollte ich ein paar rohe Eier vom Hühnerstall der zahnlosen Nachbarin keine zwanzig Meter weit bis in unsere kleine dunkle Küche tragen, rutschten sie mir, ohne dass ich wusste warum, aus der Hand oder aus dem Bastkorb und landeten unweigerlich auf dem Kopfsteinpflaster der Via Castello: zerplatzt. Das Dotter rann über die Steine, versickerte im Erdreich am Gassenrand. Die Freundinnen meiner Mutter schlugen die Hände über dem Kopf zusammen. „Mamma mia!“ Oder lachten schadenfroh. „Was für ein Tollpatsch!“ „Noch viel zu verspielt“, seufzte Serafina, anstatt sich zu entschuldigen, zog mich an ihre Brust und küsste mich ab, weil sie mich so niedlich fand, „der Junge braucht Zeit. Komm her zu mir, tesoro mio.“ Meine Mutter hatte ihre liebe Not mit mir. Warum musste ihr Sandro nur immer so einzelgängerisch und grüblerisch sein? Weshalb suchte er sich keine Freunde, stellte allerhand Unfug an oder kickte den lieben langen Tag frohgemut Bälle, so wie die anderen Bambini? Gram konnte sie ihrem Jüngsten, konnte sie mir aber auch nicht sein. „Lasst ihn doch!“, knurrte Umberto, der mich gegen jeden Angriff verteidigte und es kaum aushalten konnte, wenn die anderen Familienmitglieder kein gutes Haar an mir ließen. Er brachte mir neue, verrückte Spiele bei, deren Regeln nur er und ich kannten und beherrschten, zog mich im Winter morgens an und band mir einen Schal um, organisierte nachmittags eine Tasse Kakao für mich, teilte die wenigen Süßigkeiten, die ihm ein Kumpel aus einer wohlhabenderen Familie zusteckte, mit mir und behandelte mich beinahe ehrfürchtig. Er und nicht
Serafina rubbelte mich mit einem alten, kratzigen Handtuch trocken, wenn ich vom einsamen Spielen im Regen triefnass nach Hause kam. Er kitzelte mich, bis ich vor Vergnügen quiekte. Er baute mir ein kleines Baumhaus im nahe gelegenen Wald, in dem ich ungestört in meinen Büchlein blättern konnte; er versteckte meine Figuren, damit Fabrizio sie nicht kaputtmachte oder wegwarf. Er ging dazwischen, wenn mich ein älterer Knabe schlagen oder auch nur kneifen wollte. Wenn sich jemand mit mir anlegte. Umberto war mein Beschützer. Und ich liebte ihn dafür. Wir beide steckten unter einer Decke. Konnten uns stundenlang miteinander die Zeit vertreiben. „Klein, aber oho“ war sein Standardspruch, wenn jemand einmal wieder über mich herzog oder sich über mich lustig machen wollte. Wenn ich bei einem Wettkampf mit anderen Jungen den Kürzeren zog. Wenn ich, wie so oft, der Gefoppte war. Was mir gar nichts ausmachte. „Sandro, der kann mehr als ihr alle zusammen!“, rief er in solchen, für mich beschämenden Momenten den Ungläubigen zu. „Von wegen Nichtsnutz – in Sandro steckt ein Künstler! Ihr werdet’s schon noch sehen.“ Und wenn dann nach Beweisen gefragt wurde, wenn jemand herablassende Bemerkungen machte, argwöhnisch nachforschte oder begann, Umbertos Aussagen ins Lächerliche zu ziehen, sagte er seelenruhig und beinahe siegesgewiss: „Wartet’s nur ab! Das ist ein Pfiffikus! Hört auf meine Worte.“ Mein Bruder, der Prophet. Umberto war es auch, der bei meinen Eltern durchsetzte, dass ich jetzt ganze Tage bei Irina bleiben und von ihr unterrichtet werden durfte. „Da gehört er doch hin. Das ist seine Bestimmung. Da fühlt er sich wohl.“ Und es funktionierte: Aus irgendeinem Grund gehorchten Gennarino und Serafina ihm, ihrem genesenen, fürsorglichen mittleren Sohn. Aus seinem Mund sprach die Stimme der Vernunft zu ihnen. Vielleicht waren sie aber auch einfach nur froh, mich den größten Teil der Woche los zu sein. Umberto brachte mich morgens hin zu meiner strengen, aber warmherzigen Russin und holte mich abends wieder bei ihr ab. Wie ein persönlicher Leibwächter. Umberto nahm sich im Alltag meiner an; Umberto ließ sich auf mich ein; Umberto war wie ein Vater zu mir. Auf der Schwelle zu Irinas Haus machte er halt. Weiter ging er nicht. Was im Inneren ihres Palastes geschah, war ihm heilig: Das hatte nur mit mir zu tun.
Eine Übergabe fand statt, an eine kompetente Musikerin und zugleich eine Autoritätsperson, der er instinktiv sein Vertrauen schenkte, und Umberto legte daher auch seine Verantwortung in ihre Hand. Erst reichte er mich an den vornehmen Butler weiter; danach, in den Privatgemächern, war eine winzige, übertrieben höfliche Zugehfrau für mich zuständig, die Signorina Pavone. Beide empfingen mich wie einen Königssohn. Umberto zog sich zurück und wartete abends wieder in der Eingangshalle. Wartete, auch wenn ich mich verspätete. Bot, als wir beide älter waren und Gennarino anfing, mein Klavierspiel als überkandidelt zu verunglimpfen, unserem Vater mutig die Stirn: „Wir haben nur einen Sandro in der Familie. Stolz solltest du auf ihn sein.“ Zahlen brauchten meine armen Eltern ja nichts für die exzellente, umfassende Ausbildung, wie sie die Signora Komarova mir angedeihen ließ. „Das können wir uns alles gar nicht leisten“, hatten die beiden zu Beginn meiner Stunden protestiert. Bis zu jenem Oktoberabend, an dem die große alte Pianistin, vor Anstrengung schnaufend und keuchend, vom Schlossplatz zu uns nach Hause die steilen Treppen hinabgestiegen war – eingehakt beim Butler und bei der Signorina, ihrem „Persönchen“, wie sie sagte. Serafina erstarrte, als sie Irina in ihrer Stube stehen sah, knickste, schob ihr einen Hocker hin, bot ihr ein Gläschen zuckersüßen Limoncello an. „Selbst gemacht“, flüsterte sie ehrerbietig. Die Komarova beachtete die Offerte kaum. Mit herrischer Miene stieß sie nach einem stark russisch gefärbten „Buonnna serrrra“ nur drei kurze Sätze hervor: „Der Unterricht wird Sie nichts kosten. Gern kümmere ich mich um Ihren Sohn. Es ist mir eine Ehre, ein solches Talent anvertraut zu bekommen.“ Sie griff nach meiner Hand, so als wollte sie mich ihnen wegnehmen, mich adoptieren. Als wollte sie meine Übermutter werden. „Ein Ausnahmetalent. Eine Begabung, wie man sie nur selten findet!“, dröhnte sie. Suchend sah sie sich in dem dunklen und unaufgeräumten Raum um und entschied: „Für ein Klavier ist hier gar kein Platz.“ Und, zu mir gewandt: „Du kommst also auch zum Üben zu mir. Fünf Tage in der Woche. Schreib dir das
hinter die Ohren!“ Widerrede schien, angesichts einer so dominanten Persönlichkeit und willensstarken Frau von Welt, unmöglich. Widerrede wäre zwecklos gewesen. Irina bestimmte einfach über den Kopf meiner Eltern hinweg, wie meine Zukunft auszusehen hatte. Und erst recht über meinen. Sie und ich, wir konnten nur noch zustimmen: Andere Optionen gab es gar nicht. „Grazie mille“, war alles, was Gennarino noch herausbrachte, „wir stehen tief in Ihrer Schuld, Signora.“ Von da an kam sie nie wieder zu uns nach Hause, und die Obstkörbe und Konfektschachteln, die ihr meine Eltern alljährlich zu Weihnachten, zu Ostern und zum Geburtstag vorbeibrachten, ließ sie jedes Mal zurückgehen. Ebenso die guten dicken Räucherschinken, die Gennarino extra aus Isolabona, unserem Nachbardorf, hatte kommen lassen. „Sag ihnen, dass ich keine Geschenke wünsche! Ich nehme keine Bestechungen an.“ Und, schon wieder etwas konzilianter: „Du bist mein Geschenk! Deine Fähigkeiten sind meine Pralinen! Die Zeit, die wir beide mit dem Studium der Partituren verbringen dürfen, die Zeit bis zu deiner Vervollkommnung ist mir Lohn genug.“ Als ich das erste Mal an ihrem imposanten Mahagoni-Konzertflügel saß, baumelten meine Beinchen noch vom Klavierschemel herunter, reichten meine Füße noch gar nicht bis zu den Pedalen. Bei diesem ersten Mal – und nur dann – durfte ich mich auf ihren Schoß setzen. Ich legte meine Händchen auf ihre runzligen Pianistenpranken und verfolgte aufmerksam, wie sich die routinierten Finger unter mir in Bewegung setzten, wie sie unablässig krabbelten, auf der Suche nach Schönheit zwischen den schwarzen und weißen Tasten herumkratzten, drückten, stocherten, summten, zuschlugen, hoch in die Luft flogen und sich wieder niederließen. Eine Pirsch im Elfenbeindickicht, gekonnt, gewandt und geschwind. Ich wollte mitjagen. Ich merkte, dass es auch mir gelingen würde. Dass es in mir vor Erwartung nur so kribbelte. Irina merkte es ebenfalls. Sie setzte mich neben ihrem Schemel ab, spielte weiter, vergaß eine Zeit lang, dass ich überhaupt da war, brach dann ab und sagte zu mir, so wie später die jungen Frauen in Mailand und London, wenn sie im Hotelzimmer das Laken zurückschlugen und sich mir in ihrer Nacktheit darboten, zu mir sagen würden: „Jetzt du.“ Sie überließ mir das Feld. Sie wollte, dass ich die Initiative ergriff.
Also wagte ich es, stellte mich vor die Tastatur und begann. Legte meine Fingerkuppen mal hierhin, mal dorthin, drückte vorsichtig zu, wanderte auf und ab, von links nach rechts, von oben nach unten. Ich genierte mich nicht. Ich hämmerte auch nicht stümperhaft auf das Instrument ein, ich quälte es nicht, ich gab mir Mühe mit ihm, wollte ihm zeigen, dass ich mich traute und dass ich ihm traute, ich streichelte es, liebkoste es, ich brachte meine Hände zum Tanzen, ich bändigte das Raubtier, entlockte dem Klavier die ersten zarten und berauschenden Töne. Das ging bestimmt eine Viertelstunde so. Ohne dass ich die leiseste Ahnung von Musik oder Instrumenten gehabt hätte. Dann blickte ich die Russin fragend an. „Va bene“, lobte sie mich sofort. Mich, das seltsame, unbeholfene Kind, das doch sonst nichts wusste und sonst nichts konnte. Das war einen Versuch wert. Das war der Anfang. Und die Entwicklung war unumkehrbar. Schon damals hielt mich Irina keineswegs für ein possierliches kleines Kerlchen, sondern für einen ernstzunehmenden Schüler mit Potenzial. Bei dem es keine Zeit zu verlieren gab. Ich machte Riesenfortschritte. Das Notenlernen dauerte keine drei Wochen, die ersten Fingerübungen bereiteten mir ebenso wenig Probleme. Das perfekte Abspulen noch der kompliziertesten Tonleitern, mit beiden Händen gleichzeitig, fiel mir in den Schoß. Ein Gefühl für Rhythmus und Metrik hatte ich, wie sich zeigte, mit der Muttermilch aufgesogen; Geläufigkeit stellte sich wie von selbst ein. Nach einem halben Jahr hatte ich solide Grundkenntnisse erworben. Ich begriff, dass Irina mir eine einmalige Gelegenheit bot, zu mir selbst zu finden. Ich hatte, wie mir erst jetzt bewusst wurde, so viel Energie in mir wie ein eingesperrter Tiger. Jetzt wurde ich freigelassen, auf die Musik losgelassen. Und ich holte sie mir. Griff nach ihr wie nach einer willigen Beute. Jeden Vormittag begannen wir mit Gehörbildung, danach übte ich sieben, acht Stunden lang alles, was ich bereits beherrschte, wie ein Berserker, nur von einem kleinen Imbiss unterbrochen, den uns das Persönchen servierte, und dann beendeten wir den Tag mit der Einstudierung einer ganz neuen Komposition. Einer Etüde, eines Präludiums, eines Sonatensatzes. Als ich zehn wurde und unter ihrer Anleitung Beethoven und Brahms spielte, Chopin, Schumann und auch schon ein wenig Rachmaninow, als ich elf war und mit ihr vierhändig Mozarts Klavierkonzerte, Verdi-Opernouvertüren und Offenbach-Potpourris durchackerte, sagte sie im Brustton der Überzeugung zu
mir: „Du bist der beste Schüler, den ich je hatte.“ Und umarmte mich kurz und heftig. „You’re a natural.“ Auf Englisch. Wohl die einzige englische Redewendung, die sie kannte – und die sie dann später auch anbringen würde, als sie mit Brenda zusammentraf und auf mich zu sprechen kam. „He’s a natural. Alles, was ich ihm beibringen konnte, habe ich getan. Alles, was in meiner Macht stand, mit ihm probiert. Anregungen habe ich gegeben, weiter nichts. Sandro hat sie aufgegriffen, hat meine Angebote genutzt und die Fäden weitergesponnen. Der Rest kam von allein. Ich konnte lediglich zuschauen. Ich habe keinen großen Anteil an seiner phänomenalen Kunst.“ Ihre Methode war immer dieselbe: Sie spielte mir ein neues Stück vor, temperamentvoll und „mit Seele“, befahl mir, die Partitur mitzulesen und, während sie sich daran abmühte, für sie die Seiten umzublättern. In einem nächsten Schritt erklärte Irina mir das Werk, analysierte es, erzählte von seinem Urheber, von der Zeit, in der es entstanden war, von seinem Ruhm und seiner Bedeutung. Von Liebeskummer, Sorgen und menschlichen Nöten, von Kriegen und verlorenen Skizzen, von einem schwer kranken Klavierspieler, der in einem eisigen Winter auf Mallorca heftig fror und daran zugrunde ging, von einem österreichischen Wunderkind, „so wie du eins bist“, mit drolliger Perücke auf dem Kopf und in ein Wams aus rotem Samt gezwängt, und von einsamen Männern, die in geistiger Umnachtung endeten, nachdem sie vorher bejubelt worden waren. Sie erläuterte mir die Tonart, in der das Werk stand, schilderte mir die Emotionen, die es früher ausgelöst hatte – und die es bald auch wieder, durch meine Finger und meinen Sachverstand zum Leben erweckt, auslösen würde. Kurz darauf ließ sie mich mit der Komposition allein, nachdem sie ihren eigenen, ihr zufolge „unfehlbaren“ Fingersatz mit einem gespitzten Bleistift in die Noten eingetragen hatte. Wartete ein paar Tage ab, bis ich alle Takte technisch beherrschte und fehlerfrei vortragen konnte. Auswendig selbstverständlich. Nun kam die Stunde der Interpretation. Ein Wort, das, wenn sie es aussprach, nur aus langen, felsigen n’s und kantigen r’s zu bestehen schien. „Innnnterrrprrretationnnnn.“ Aus Hürden und Hindernissen. Mit übertriebenen Gebärden durchquerte sie, während ich ihr das neu Einstudierte vortrug, erstaunlich behände den großen Musiksaal, zeichnete das Auf und Ab der Melodien und Phrasen gestisch nach, wurde von jedem vollgriffigen Akkord, den ich für sie anschlug, zum Erzittern gebracht. Irina bebte und schwebte.
Einen grotesken Tanz der Erregung und des Leidens, bei dem sie sich von jeder Stimmungsschwankung in der Musik davontragen ließ, vollführte sie, den Gefühlen, die auf sie einstürmten, schutzlos ausgeliefert. Dabei stieß sie kurze, spitze Schreie aus, gab Anweisungen, trieb mich Sitzenden an, erteilte Kommandos. „Schneller, Sandro, schneller! Sanfter! Ruhiger! Wilder! Beherrschter!“ Zwang mich dazu, hier ein Rubato einzubauen, dort ein Accelerando, vor der Coda das Tempo zu forcieren, nach einer Fortissimo-Explosion wieder leicht zurückzunehmen, brachte mich dazu, jedes Vorzeichen und jede Vortragsbezeichnung neu zu überdenken, Pianissimi nur zu hauchen, bei Legati nicht zu tricksen, Fermaten zu überdehnen und mich bei der Ausführung schwieriger Läufe nicht zu verkrampfen. „Perlen muss es, Sandro! Lass es perlen!“ Nur unterbrechen tat Irina mich nie. Abbrechen durfte auch ich nicht. „Weiter, immer weiter“, rief sie aufgeregt. „Bloß nicht stocken, nicht pausieren, nicht korrigieren. Wenn du auf dem Podium bist und die Leute dir zuhören, kannst du dir auch keine Schwachstellen erlauben. Und wenn du wirklich einmal einen Fehler machst, lass dir nichts anmerken, spiel’ die Töne auch in der Reprise genau so falsch. Wiederhole all das, was beim ersten Mal danebengegangen ist.“ Ich tat, wie mir geheißen. Nur äußerst selten überraschte ich sie einmal mit eigenen Vorschlägen zur Gestaltung. Woraufhin sie irritiert innehielt in ihrem ungestümen Interpretationstanz, mich zweifelnd ansah, nach kurzer Überlegung „So geht es natürlich auch …“ murmelte und sich, wie aus dem Takt gekommen, viel schwerfälliger als vorher weiterdrehte. Wenn ich endlich bis zum Doppelstrich des Schlusstaktes gekommen war, keuchte sie gebieterisch „Nicht nachlassen, Sandro!“ unter Aufbietung ihrer letzten Kräfte, und brach schweißgebadet auf dem Teppich zusammen, als hätte sie soeben einen Marathonlauf hinter sich gebracht. Obwohl sie sich kaum noch auf den Füßen halten konnte, hatte sie sich der Komposition an die Fersen geheftet und war mit letzter Kraft in die Zielgerade eingebogen; nun war es an mir, nachdem sie mir wie beim Staffellauf den Stab weitergereicht hatte, in unser beider Interesse das Rennen als strahlender Sieger zu beenden. Die Ideen des genialen Urhebers, ob es nun Bach oder Busoni, ob es Prokofjew oder Pachelbel war, in Bestform umzusetzen. „Finale, Sandro, Finale!
Jetzt musst du alle ziehen.“ So ging das mehrere Wochen lang. Es wurde an jedem Übergang gefeilt, an jeder Phrase der rechten und an jedem Begleitklang der linken Hand. Irina war unerbittlich, ihr entging nicht die geringste Unachtsamkeit. Schurigeln tat sie mich dennoch nicht, und abgekanzelt wurde ich auch nie. Lediglich ermutigt. Zu noch mehr Probenarbeit angehalten. „Wir dienen einzig und allein dem Werk, Sandro, vergiss das nie“, sagte sie, „wenn uns das Mühe bereiten sollte, so ist das ohne Belang. Nur die Komposition zählt.“ Lauwarmes Spiel vermochte sie nicht vom Hocker zu reißen, verschwenderische Gestaltungslust versetzte sie hingegen augenblicklich in Ekstase: Sobald ich mich verausgabte und alle Kraftreserven mobilisierte, war sie selig. Dann segnete sie mich. Und an ihr vorbei – sei es auch nur für eine kurze Taktfolge – eine ganz andere Sicht des Werkes und seiner Stimmung in meinen Vortrag einzuschmuggeln, wäre nutzlos gewesen: Irina war viel zu gewitzt, um solche Freiheiten, die man sich durch die Hintertür erlaubte, nicht zu bemerken. Mein Repertoire wuchs und wuchs, meine technischen Fertigkeiten konnten sich sehen und hören lassen. Die Schule war Nebensache, ich verbrachte ganze Monate am Stück in Irinas Palazzo, war nur noch zum Schlafen daheim. So verging meine Kindheit. Ich war kaum jemals an der frischen Luft und vermisste nichts. Lediglich die Komarova und ich schienen auf diesem Planeten zu existieren. Und Umberto natürlich. An den Wochenenden unterrichtete die unermüdliche Irina mich in Harmonielehre und Kontrapunkt, spornte mich zu weiteren Leistungen in Musiktheorie und Analyse an. In der kalten Jahreszeit folgten Lektionen in Geschichte, Philosophie und Literatur. Sie dozierte und legte sich auch auf diesem Gebiet keine Beschränkungen auf. Mir wurde vorgelesen: Tolstoi, Gorki, Dostojewski, Puschkin. Ich erfuhr, welches Gedankengut Schopenhauer und Voltaire der Menschheit hinterlassen hatten. Manchmal auf Italienisch, mit schnarrendem slawischen Akzent, an den ich mich längst gewohnt hatte, manchmal auch auf Französisch – Irina liebte Verlaine und Baudelaire –, zumeist aber auf Russisch. Da verstand ich so gut wie nichts, nur die Orts- und Figurennamen, die alle paar Sätze fielen, mochte jedoch den fremden Klang, ließ
mich vom Singsang der Vokale einlullen. Hinterher fasste meine Ausbilderin den Inhalt des Gelesenen anschaulich für mich zusammen, und ich bemühte mich, so gut es ging, mir das meiste davon einzuprägen. Es war unmöglich, Irinas Belesenheit und Kultiviertheit zu widerstehen. Ich konnte es kaum fassen, wie klug und gebildet sie war. Was sie alles wusste! Wen sie alles gekannt, wo sie überall gelebt hatte! Es war ein Privileg, dass sie all das, was sich in ihrem Verstand, ihrem Herz und ihrer Seele angesammelt und eingenistet hatte, exklusiv mit mir zu teilen bereit war. Ihr Erfahrungsschatz war unermesslich. Mit dem Füllhorn schüttete sie sämtliche Einzelheiten vor mir und für mich aus. Der Butler legte Holz im Kamin nach und heizte ordentlich ein, Signorina Pavone brachte Tee, und wenn ausnahmsweise mal keiner von uns beiden übte oder vorspielte, präsentierte die Komarova mir ihr Grammofon und ihre große Sammlung von Schellackplatten, führte mich durch ihre Bibliothek, wies auf die vielen Ölgemälde an den Wänden und auf die verstaubten Porträts, die in den ungeheizten Zimmern überwinterten. Dicke Alben holte sie aus den Wandschränken, beschrieb die darin befindlichen Fotos, kommentierte die Zeitungsausschnitte und gesammelten Kritiken und begann, wenn der Erinnerungsstrom allmählich versiegte und zu einem Rinnsal der Nostalgie wurde, auch zu fabulieren und zu rezitieren. Sprach zunächst von ihrer Kindheit im Zarenreich, von ihren Studien am Petersburger Konservatorium, von den unzähligen Konzerten, die sie auf der ganzen Welt gegeben hatte, von den Wettbewerben, die sie gewonnen, und den Preisen, die sie eingeheimst hatte, von ihren Privatsalons in Genua und Genf, in die sie illustre Zeitgenossen eingeladen hatte, von den Höhepunkten ihrer Laufbahn in Florenz und Hamburg, in Barcelona und Stockholm, schwärmte, später am Abend, von den vielen, fast unwahrscheinlichen Begegnungen mit berühmten Tonsetzern und von all den legendären Opernsängern, die sie begleitet hatte. Zuletzt klang alles, was sie sagte, wie Lyrik, mischten sich Erfundenes und Märchenhaftes mit echten Vorkommnissen in ihren Monologen. Wie ein Teppichhändler, der wortgewaltig seine kostbare Ware vor einem aufmerksamen Kunden ausbreitet, breitete sie ihre historischen, literarischen und musikalischen Souvenirs vor mir aus. Sandro, dem gelehrigen Kind. Und ich ließ mir alles
zeigen, drehte und wendete jeden Stoff, den sie mir darbot. Staunte und staunte. Das alles gehörte jetzt mir. Ich sollte, nein würde es ihr nachtun. Das versprach sie mir bei jeder Gelegenheit. Und es fiel mir bald nicht schwer, an solche Vorhersagen auch zu glauben. In der kleinen, engen Welt meiner Eltern und Brüder waren Worte Mangelware gewesen, erst recht prägnante und verzaubernde Worte. Wofür sie nichts konnten, woran sie keine Schuld trugen. In ihrem Umfeld gab es nun einmal keine gelungenen Formulierungen, keine brillanten Aperçus, nicht einmal den Wunsch, sich das Leben schönzureden. Kein Wunder, dass Irinas Universum einen so großen Eindruck auf mich machte, mir die Bindungen an andere Menschen ersetzte. Auf diese Weise wurde ich auch von der Pubertät nicht einmal gestreift. Kaum jemals verspürte ich körperliche Bedürfnisse, sehnte mich eigentlich nie nach Zuneigung in Form von Streicheleinheiten, nach Berührungen durch einen Menschen meines Alters – Zuneigung widerfuhr mir ja jeden Tag am Klavier, beim Studium der Partituren, beim Austausch mit meiner großzügigen Lehrmeisterin. Ich hatte damals kein Interesse an Mädchen und sie nicht an mir. Nur Lucia versuchte mit mir zu flirten, wenn sie mir in den Gassen begegnete, und behauptete, genau unterscheiden zu können, ob ich oder Irina Klavier spielte, wenn sie uns auf dem Vorplatz des Palazzo zuhörte. „Du bist wohl so etwas wie ein kleines Genie“, meinte sie einmal, als sie gerade aus der Bäckerei trat und ich mit Umberto auf dem Rückweg zum Elternhaus war. „Lange bleiben wirst du hier nicht“, spann sie ihren Gedanken weiter, „du musst hinaus in die Großstädte, vor ein Publikum. Wenn bloß erst einmal der Krieg vorbei wäre!“ Doch der hatte gerade erst begonnen. Dass dunkle Wolken am europäischen Himmel aufgezogen waren, merkte ich in erster Linie daran, dass Fabrizio eingezogen und Umberto ausgemustert wurde, dass die Männer aus dem Straßenbild verschwanden und dass Frauen vor Sorgen fast vergingen, dass zu Hause kaum noch etwas zu essen da war und Gennarino keine Aufträge mehr bekam. Selbst Irina konnte nicht mehr auf so großem Fuß leben wie vorher. Und erst in zweiter Linie, dass die Menschen überall auf dem Kontinent von großen Sorgen geplagt wurden, dass Hunger herrschte, dass Unschuldige vertrieben, verfolgt und auf bestialische Weise ermordet wurden, weil von solchen
schrecklichen Nachrichten aus Deutschland, Russland und von der Front nur sehr wenig nach Apricale durchsickerte. Weil die Informationslage unbefriedigend war und eher vage Gerüchte die Runde machten, die wenig Gutes verhießen. Weil von Deportationen gemunkelt wurde, ohne dass man Genaues wusste. Die Komarova stöhnte auf, wann immer im Radio oder in den Zeitungen von Gefallenen und Kriegsopfern die Rede war: „Ich habe das alles schon hinter mir.“ Mit schmerzverzerrtem Gesicht schaute sie zu Boden, ballte die Fäuste. „Und ich habe es so satt!“ Schnell wechselte sie dann das Thema. Wir flüchteten uns wieder in eine Skrjabin-Etüde, studierten Tschaikowskys Klavierkonzert ein, schotteten uns ab gegen die Realität. Verschrieben uns unserer Kunst, die die Zeitläufte hoffentlich überstehen würde. Verbarrikadierten uns. Von mir aus hätte es ewig so weitergehen können. Musik, nichts als Musik. Musik, die sich jedem Störfaktor widersetzte. Musik, damit man vergessen, Musik, damit man sich einigeln konnte. Ansonsten hatte sich für mich mit dreizehn, vierzehn Jahren nichts Grundlegendes geändert. Ich war bereits im Begriff, ein Tastengott zu werden, mich in den Virtuosen-Olymp emporzuschwingen. Ich gehörte Irina und den vielen Hundert Komponisten, die in der Vergangenheit die Welt mit ihren Erfindungen bereichert hatten, und alle zusammen gehörten mir. Und auf Dauer nahm meine Knabenseele, die noch lange nicht die Seele eines jungen Mannes war, die Farben der Gedanken und Empfindungen an, die ich mit ihr und ihnen nun schon so lange teilte und der die von uns in die ligurische Bergluft hinausgeschleuderten Töne erst ihre richtige Intensität verliehen.
***
Wir waren untergetaucht. Paris hatte uns freigegeben. Wir hatten uns sang- und klanglos von der Außenwelt verabschiedet. In unserem Kokon in der Rue Vavin sorgten wir dafür, dass das richtige Leben für Tage und Wochen ins Wasser fiel. Wie eine Veranstaltung, die abgesagt wird oder im letzten Moment nicht zustande kommt. Wir hatten Besseres vor: Wir schenkten uns gegenseitig unsere
Körper, wir konfrontierten uns mit unserer Zerbrechlichkeit. Zärtlichkeit stand auf dem Programm. Pläne hatten wir keine. Erstmals gelang es mir, mich nicht länger zu erniedrigen, wenn ich dich, Géraldine, Stunde um Stunde noch ein wenig mehr verherrlichte. Und dir, mich nicht vollständig zu entmündigen. Auch wenn ich dir meine Schwäche zeigte. Es gelang uns beiden für die Dauer dieser Amour fou sogar, nie in Bedrängnis zu geraten. Wir würden uns nicht zugrunde richten. Und wir trotzten den Ansprüchen, die andere, vernünftigere Menschen in unserer Umgebung an uns stellten. Wir hatten beschlossen, uns wie Kinder zu verstecken und so zu tun, als drehte sich die Welt ohne uns weiter. Wir liebten drauflos. Wir wussten, dass das nicht ewig gut gehen konnte, dass wir tiefer, immer tiefer in den Schlamassel gerieten. Wir würden uns nicht mehr herauslavieren können. In gewisser Weise waren wir verloren. Wir hatten kein Alibi, unser romantischer Ausbruchsversuch stand unter keinem guten Stern. Und die Konsequenzen unseres Handelns würden uns demnächst einholen. Der Himmel über uns würde sich verdüstern. Darauf hätten wir Gift nehmen können. Was wir natürlich nicht taten. „Et alors?“, sagtest du nur. Was machte das schon? Wir redeten uns also ein, hart im Nehmen zu sein. Wir nahmen uns vor, unseren Lebenswandel und meine Liebesbesoffenheit nicht genauer unter die Lupe zu nehmen. Wir gaukelten einander Abgebrühtheit vor. Wir liebten uns rund um die Uhr. Oder bildete ich mir das nur ein? Zuerst wie schüchterne Anfänger, die nichts falsch machen wollen und Verletzungen fürchten, später mit Ungestüm und Vehemenz, wie von einem starken Überlebenswillen getrieben. Doch nie routiniert. Wir schliefen kaum und fielen im Morgengrauen gleich wieder übereinander her, wie ausgehungert. Nachts machten wir weiter. Wir ließen nicht zu, dass sich eine Lücke auftat, dass unsere Leiber zur Ruhe kamen. Wir hatten keine Schwierigkeiten, auch nach der zehnten Liebesnacht wieder in Stimmung zu kommen. Was mich selbst betraf, so war ich wie ausgewechselt. Himmelhochjauchzend. Warum sollte ich da mich, warum sollte ich dich also schonen? Oder gar die Bremse anziehen? Bestimmt sahen wir müde und mitgenommen aus. Wahrscheinlich wirkten wir wie Geschundene auf die Leute da draußen. Gewiss merkte man uns an, dass wir einer unheilbaren Sucht verfallen waren. Der Leidenschaft. Aber wir sahen ja kaum jemals jemanden. Nicht einmal Henri oder unseren Gönner.
Wir verließen Enzos Zimmer nur in den frühen Abendstunden, Géraldine. Um, bevor alle Geschäfte schlossen, noch schnell eine Flasche billigen Wein zu besorgen, ein Fläschchen Rum, der uns vor der Kälte in der Mansardenkammer schützen sollte, ein Stück Käse oder Pastete, ein Baguette, Kekse, etwas Obst oder ein Éclair aus der Pâtisserie gegenüber. Mit hellem Karamellüberzug, wie du es gerne mochtest. Oder mit dunkler Schokolade gefüllt, wie es mir am besten schmeckte. Wir zogen uns nur ungern an, um auf die Straße zu gehen und etwas einzukaufen oder im Eckcafé für eine Fünfminutenpause einzukehren; wenn es zu spät geworden war, hatte nur noch ein tunesischer Épicier in der Rue Delambre geöffnet, der seinen lausigen Bordeaux und seine orientalischen Süßigkeiten zu Wucherpreisen verkaufte. Wir bereiteten uns keine Mahlzeiten zu. Wir naschten bloß, wir zehrten von unseren Umarmungen. Fraßen einander auf. Wir wuschen uns nur notdürftig, wir waren ungeduldig. Wir gefielen uns in unserer Nacktheit. Dir fehlte deine Gitarre, Géraldine, mir mein Klavier. Du summtest deine Chansons, ich machte Trockenübungen, indem meine Hände die Läufe und Akkorde auf der Bettkante oder auf deinem Rücken probten, wenn du bäuchlings auf Kissen und Laken lagst und dich wohlig unter den Berührungen meiner Finger räkeltest. Wir trainierten unsere Zungen. Ich rasierte mich nicht mehr. Du drücktest deine Glimmstängel auf der Fensterbank aus. Wir redeten kaum. Wir verließen uns auf die bewährte Überzeugungskraft und Mitteilsamkeit unserer Blickkontakte. Wir schoben Worte und Sätze beiseite, um Platz zu schaffen, und wühlten uns ineinander, gaben unserer Haut die Gelegenheit, für uns zu sprechen. Die Maßstäbe verrutschten und auch die Perspektiven. In unserem verschwiegenen Schlafgemach kehrten wir das Unterste nach oben. Du brachtest mir die eine oder andere Vokabel bei; mich hörtest du am liebsten etwas auf Englisch sagen. Weil du das nicht verstehen konntest oder musstest. Wenn wir den Entschluss fassten, kurz aus dem Haus zu gehen, genügten Gesten. Wenn wir uns für etwas Essbares entscheiden mussten oder für Getränkenachschub, waren wir uns auch so einig. Wir verstanden uns wortlos. Wir stellten keine Fragen in diesem verrückten Monat Mai. Nicht nach dem, was war oder kommen würde, und auch nicht nach unseren Vorleben. Enzo hatte dir wohl mitgeteilt, Géraldine, dass ich wie ein Feigling vor meiner Frau davongelaufen war – meine Unruhe verriet mich. Und ob du dich zu Henri oder Enzo hingezogen fühltest oder zu Männern, deren Namen ich nie kennen würde,
ob du gar bezahlt wurdest, damit ich italienischer Jüngling diesen Pariser Frühling wie einen Jungbrunnen erleben durfte, das blieb dein Geheimnis. Das Schweigen war uns heilig. Wer die Sprache seines geliebten Gegenübers nicht beherrscht, bleibt unwissend und unschuldig. Uns machte es nichts aus, wenn wir uns gegenseitig zum Besten hielten. Für uns war diese Verständnislosigkeit sehr bequem. Bald war es warm genug, um nachts länger draußen zu bleiben. Wir mieden die Terrassen der beliebten Cafés auf den Boulevards von Montparnasse und Alésia, um weiterhin ganz für uns zu sein – ich scheute die Menge, weil ich niemandem aus der Musikbranche begegnen mochte und weil ich die Annäherungsversuche von Fans fürchtete, du, Géraldine, wolltest inkognito bleiben, um keinen Freunden aus deinem Pariser Alltag in die Arme zu laufen. Du kanntest eine Stelle an der Südwestseite des prächtigen Jardin du Luxembourg, nur wenige Schritte von unserer Garconnière entfernt, wo die Gitterstäbe gerade so weit auseinandergebogen waren, dass man sich hindurchzwängen und an Büschen, plätschernden Brunnen, Pflanzungen und Beeten vorbei in den völlig leeren Park gelangen konnte. Dort saßen wir unter Baumwipfeln oder erfreuten uns am mondbeschienenen Blumenmeer, liefen, uns an den Händen haltend, zum imposanten steinernen Bassin in der Gartenmitte oder liebten uns mitten auf einer Wiese, an der tagsüber Tausende von Flaneuren und Müßiggängern vorbeidefilierten. Danach blickten wir, nebeneinander liegend und eingelullt vom fernen Verkehrslärm ringsherum, in den Sternenhimmel, glücklich, nicht wie sonst an die Zimmerdecke starren zu müssen. Und wir schwiegen, um nicht etwas Ungeheuerliches aussprechen zu müssen. Große Worte für große Gefühle lagen mir auf der Zunge. Ich brachte sie nicht heraus. Und welche unserer drei Sprachen hätte ich auch dafür wählen sollen? Einmal, der Tag war gerade erst angebrochen, und unser letzter Liebesakt lag erst wenige Minuten zurück, einmal nahmst du mich mit an die Place DenfertRochereau, die der steinerne Löwe von Belfort mit majestätischer Ruhe bewacht. Dort befindet sich der Eingang zu den Pariser Katakomben, die du mir unbedingt zeigen wolltest, Géraldine. Der Gedanke an Vergänglichkeit und Sterblichkeit, so hattest du mir zuvor mit einem tristen Chanson bedeutet, das von Tod und Verlassensein handelte und das du mir seit Tagen ständig vorsangst, ging dir
wohl nicht mehr aus dem Kopf. Die Heiterkeit war dir schlagartig abhandengekommen, deine Stimme war belegt. Um weiteres Unheil abzuwenden, Unheil, das jederzeit auf uns zukommen konnte, und damit wir uns wieder lebendig fühlen konnten, mussten wir daher wie zwei Abergläubige in aller Eile eine Stätte aufsuchen, wo das Ende menschlicher Existenz allgegenwärtig ist. Überdies gleich zehn- oder hunderttausendfach, denn an den Seitenwänden der dunklen, glitschigen Flure, in den Sackgassen und überall entlang der nur unzureichend beleuchteten Steinmauern in dieser labyrinthischen Gruft türmten sich unzählige Schädel und Gebeine, fein säuberlich aufgeschichtet. Wir waren die einzigen oder wenigstens die ersten Besucher. Treppab begaben wir uns in die Düsternis. Unser Spaziergang durch das unterirdische Reich jahrhundertealter Skelette und Knochen geriet zu einer schaurigen Angelegenheit. Noch ganz schlaftrunken schlotterten wir vor Kälte auf diesen feuchten, leergefegten Pfaden, stolperten in Pfützen, die man mit bloßem Auge kaum erkennen konnte, glitten zweimal auf dem matschigen Boden aus. Wir waren beide gezeichnet vom Liebemachen, und an den Resten der namenlosen Toten in dieser lichtlosen Einsamkeit haftete bereits seit Langem die Patina des Vergessenseins und der Endlichkeit. Nur wenige Meter über uns brodelte das Leben, bevölkerten Pariser Sonnenanbeter die Terrassen der Brasserien – und wir schlichen, marschierten, rannten orientierungslos im Gewirr dieser Einbahnstraßen der Leblosigkeit umher, wenn wir den Hauptweg der Katakomben nicht mehr wiederfanden und uns durch finstere Tunnel und an tropfenden Wänden entlang allmählich zu ihm zurücktasten mussten. Was immer aufs Neue misslang. Aus den tiefschwarzen Augenhöhlen starrten uns hingemeuchelte Revolutionäre und in Duellen zu Tode gekommene Ehrenmänner, in Schimpf und Schande gefallene Ehebrecherinnen und an schwerer Krankheit verstorbene Durchschnittsbürger so ausdruckslos wie vorwurfsvoll an. Wohl weil man auf den kleinen Pfarrfriedhöfen der Arrondissements und Vorstädte Platz benötigte, hatte man sie aus allen Vierteln von Paris hier zusammengekarrt und wahllos übereinandergetürmt. Nur wenige Millimeter trennten Gescheiterte und Glückliche voneinander. Ohne Bezug zueinander, vom Zufall zusammengewürfelt und trotzdem so dicht Totenkopf an Totenkopf, wie sich manche lebendige Paare nicht kommen. Ein seltsamer Ausflug für zwei Liebesleute und dennoch eine Unternehmung,
wie sie nur dir, meiner einzigartigen Géraldine, in den Sinn kommen konnte. Mehr als eine Stunde lang scheuchtest du mich durch die Unterwelt, als wolltest du meine Belastbarkeit testen. Oder du hattest erwartet, dass ich angesichts der dekorativen Schädelstapel in Tränen ausbrechen, mich an dich klammern und um deinen Beistand flehen würde. Ich aber sagte nichts, ließ mich auch nicht gehen in diesem Beinhaus, empfand nur eine große innere Leere. Ich revanchierte mich, indem ich dich in die ebenso ausgestorbene Salle Pleyel mitnahm, wo du, als einzige Zuhörerin in den rot gepolsterten Stuhlreihen, endlich die Gelegenheit bekamst, mir beim Spielen zuzuhören. Mich bei meiner Arbeit am Flügel betrachten zu können. Ein vielseitiges kleines Programm hatte ich ausgearbeitet, was mir an jedem normalen Konzertabend leicht von der Hand gegangen wäre. Womit ich das anspruchsvollste Klassikpublikum des Planeten mühelos zufriedengestellt hätte. Bekanntes und Rares hatte ich gemischt; eine Dreiviertelstunde sollte mein Recital dauern. Das ich dir widmen wollte. Das ich dir auch erläuterte – zwischen die einzelnen Nummern schob ich Kommentare und Erklärungen, wobei du, wie peinlich berührt, zu Boden schautest. Doch in deiner Gegenwart war ich unkonzentriert, verkrampfte mich und fand nicht zu meiner üblichen Souveränität beim Interpretieren, und selbst Enzo, der von der Seitenbühne dem Gespenster-Solo lauschte, meinte, so schlecht vorbereitet, so nervös und uninspiriert hätte er mich noch nie erlebt. „Was ist nur in dich gefahren, amico mio?“ Diese von mir so heißgeliebte Musik, so wie sie heute unter meinen Händen erklang, wirkte sinnentleert und bedeutungslos auf mich. Mitten in einer Arabesque von Debussy brach ich meinen Vortrag ab. Wollte mich bei dir entschuldigen. Du hattest dich längst erhoben und wartetest am Ausgang auf mich. Gabst vor, nicht zu bemerken, wie sehr ich mich schämte und wie niedergeschlagen ich war. Dann, kaum wusste ich, wie mir geschah, legtest du den Schalter um: Küsstest mich und umschlangst mich auch, mit einer Wildheit und Brutalität, die ich dir selbst nach unseren intensiven Flitterwochen nicht zugetraut hätte. Warfst dich auf mich wie eine Furie. Legtest deine Hand auf mein Geschlecht und meine an deine Brust. Eine Berührung mehr, und wir hätten uns hier, mitten im Foyer, entkleidet und vereinigt, mit Enzo als unfreiwilligem Voyeur. Platziertest deine Lippen auf meinem Hals und atmetest schwer. Wir mussten an uns halten. Begleitetest mich zum Konzertflügel zurück, legtest dich der Länge nach aufs Podium, ohne mich auch nur für eine Sekunde aus den Augen zu lassen, und batest mich, noch einmal von vorn anzufangen. Und dann funktionierte es. Mein Formtief war vergessen. Ich spielte wie mit
heruntergelassener Hose. Wie ein Mann, der den Liebesakt endlich vollziehen und nicht länger hinauszögern will. Voller Erregung, voller Wut. Ich war wieder im Einklang mit mir selbst. Du richtetest dich auf, klatschtest minutenlang, und Enzo wusste nicht, was er sagen sollte. An jenem Abend gingen wir drei essen, in einem Bistro an der Métrostation Miromesnil, das du empfohlen hattest, und danach kehrten wir, das Trio Infernal dieser Maiabenteuer, auch gemeinsam zurück in die Rue Vavin. Enzo blieb über Nacht, und zu vier Händen verschafften wir dir Lust, Géraldine. Und uns natürlich auch. Vielleicht war es das, was du dir immer erträumt hattest. Wir hatten dich beim Wickel. Mir machte es nichts aus, Enzo als Zeugen unserer Begierde um mich zu wissen. Ihn zum Mittäter werden zu lassen. Und ihm nichts, wenn ich vor seinen Augen Besitz von dir nahm und wir beide, zwei Liebende, die mittlerweile bei der gegenseitigen Erkundung ihrer Körper jeden Millimeter genauestens vermessen hatten, in seinem Bett langsam vor Glück vergingen. Du und ich: erschöpft, befriedigt, satt. Anschließend kam er an die Reihe, machte sich an dir zu schaffen, und ich studierte deine Züge. Ich hätte schwören können, dass es keinen Unterschied machte, ob er dich liebte oder ich.
Wir waren wieder allein. Du schliefst. Zeit, Bilanz zu ziehen. Ich sah dir an, dass du mich wirklich begehrtest, dass es dich zu mir drängte. Und spürte es auch, mit jeder Faser meines Körpers. Die Art, wie du mich umklammertest und gar nicht mehr loslassen wolltest. Die Art, wie du mich küsstest, wie du vor ungezügelter Lust beinahe explodiertest. Ich bemerkte, Géraldine, dass du vor dem Künstler in mir größten Respekt hattest und dass die Schwingungen meiner Musikerseele in deiner Empfindungswelt einen dankbaren Resonanzraum fanden: Das war eine Ebene, auf der du besonders gut auf mich reagieren und meine Bedürfnisse erwidern konntest. Ich ahnte, dass du mich zwar körperlich liebtest – darüber hatte ich sozusagen Buch geführt –, aber noch immer nicht in mich verliebt warst. Es womöglich nie sein würdest. Immer wenn es um die ganz großen Gefühle ging, wenn unsere gesättigten Leiber sich voneinander lösten und eine wichtige, feierliche Erklärung unseres Zustandes im Raum stand, wichst du davor aus. Ich war wohl nur für dich da –
und du für mich –, damit wir, jeder für sich, unsere Traurigkeit ausloten konnten. „Je t’aime bien“, das hattest du mir nun schon mehrfach, mit nahezu tonloser Stimme, gesagt, „ich habe dich gern, ich habe dich lieb“, ohne jeglichen Ausdruck echten Entflammtseins, „je te désire aussi, Sandro“ noch als Dreingabe geschenkt, ja, auch die Begierde war weiterhin bei dir vorhanden, deine Lust auf mich, sie war sogar stärker denn je zuvor, „mais je ne t’aime pas“, so endete stets dein Bekenntnis, ohne Bedauern und grundehrlich, „lieben tue ich dich nicht“. Du konntest mich einfach nicht lieben. Nicht mit Haut und Haar. Nicht so, wie ich nun einmal war. Das ging mir an die Nieren. Am nächsten Morgen war ich es, der bis in die Puppen schlief, und als ich erwachte, warst du verschwunden. Auf dem Holztisch vor dem Fenster lag ein Zettel, auf dem du die Worte Pardonne-moi hinterlassen hattest. Für die ich keine Übersetzung brauchte. Und daneben ein großer Stapel Geldscheine, was mich rätseln ließ, warum du die vielen Tausend Francs nicht Enzo direkt zurückgegeben oder einfach behalten hattest. Verdient hattest du sie dir ja. Und mir schuldetest du nichts. Ohne lange nachzudenken rannte ich auf die Straße hinunter. Ich wollte dich einholen, dir nachjagen. Ich suchte dich in Montparnasse und Saint-Germain, ich harrte vor den einschlägigen Lokalen in der Rue de Lappe aus, ich suchte unsere so besonderen Orte auf, den Park, das kaputte Haus, meinen Konzertsaal, den Eingang zur Unterwelt, ich erkundigte mich nach Henri und nach deinen anderen Lieben und Vorlieben, hinterließ Nachrichten im Studio und in meinem früheren Hotel, und als ich dich einfach nirgends finden konnte, als ich am liebsten ein Wutgeheul angestimmt und vor lauter Verzweiflung meinen herrlichen Érard-Flügel mit ein paar Axthieben zertrümmert hätte, stellte ich Enzo bei einem seiner Nachtbummel zur Rede. Enzo, wen sonst, der weder zu wissen schien, wo du wirklich wohntest, noch was es mit der fetten Beute auf sich hatte. Du hattest dich aus dem Staub gemacht, Géraldine, du hattest dein Urteil über mich gefällt, du hattest den Austausch unserer Lust jäh gestoppt und unsere Komplizenschaft zum Versiegen gebracht. Du hattest mich in die Irre geführt, beschlossen, mich zum unglücklichsten Mann auf Erden zu machen, dich als hartherzige Egoistin entpuppt. Du hattest die Absicht, mich zu verleugnen. Dir war daran gelegen, die Erinnerung an unsere Liebesnächte auszulöschen und alle Spuren zu tilgen, die ich auf deinem Körper und in seinem Inneren hinterlassen
hatte. Du bliebst unauffindbar. Du hegtest die Hoffnung, dass ich dich fortan hassen und schließlich vergessen würde. Da hattest du dich getäuscht. Du hattest deine Wirkung auf mich unterschätzt. Dir waren die Reichweite deines Charmes und der Radius deiner Ausstrahlung nicht bewusst. Ich wusste, dass ich dich bald verlieren würde, Géraldine. Wenn ich dich nicht schon längst verloren hatte! Aber ich war felsenfest davon überzeugt, dass ich um unsere Gefühle kämpfen musste. Dass Panik jetzt nicht angezeigt war. Dass noch ein langer Weg vor uns lag. Paris war innerhalb weniger Stunden ergraut. Von der Bastille marschierte ich, quer durch die Viertel des Rive Gauche, am späten Abend zur Rue Vavin zurück. Dabei hatte ich keinerlei Bedürfnis nach einer einsamen Nacht. Ich schloss die Haustür auf, erklomm die Stiegen im Halbdunkel. Als ich im vorletzten Stockwerk angekommen war, knipste ich das Flurlicht an. Oben, auf dem Treppenabsatz, stand Brenda, ganz in Schwarz. Sie trug Trauer. Sie hatte abgenommen. Sie war mit ihren Nerven am Ende. In ihrer Stimme lag kein Vorwurf, als sie „About time, darling!“ zu mir sagte. Und mir ihre Wange hinhielt. „Indeed, my love“, erwiderte ich, ließ sie vor der Tür warten und begann, meinen kleinen Koffer zu packen. Sie hatte recht: Es wurde Zeit, nach London zurückzukommen.
7
Finsterer Geselle
Er musste außerhalb der Gefängnismauern bleiben wie der lahme Junge in Hameln, dem man den Eintritt ins Kinderparadies verweigerte, weil er zu spät gekommen war.
Patti Smith, M Train
Mitten im Krieg in den Hafen der Ehe einzulaufen und sein Glück zur Schau zu stellen, hatte etwas Befremdliches für das harmonische Beaufort-Paar. Als Ruth und Rupert, die so viel mehr miteinander verband als nur die ersten beiden gemeinsamen Buchstaben ihrer Vornamen, im August 1943 in der All Saints Church von Newton Heath vor hundertfünfzig anwesenden Gästen durchs Kirchenschiff schritten und vor den Traualtar traten, um endlich als Mann und Frau durchs Leben gehen zu können, hatten die schweren vorangegangenen Jahre bereits ihren Tribut gefordert: Ruperts ältere Schwester Nancy, die als Krankenschwester in einem Lazarett tätig war, in dem verwundete Luftwaffenoffiziere gepflegt wurden, war an Erschöpfung gestorben, seine geistesgestörte Cousine Alma, die einen schweren Rückfall erlitten hatte, an den Spätfolgen von viel zu starken Elektroschocks, die man ihr in einer psychiatrischen Anstalt verabreicht hatte, und für seine gramgebeugte Mutter Mary, erst in ihren Sechzigern, hatte in den Tagen nach Ostern wohl einfach die Stunde geschlagen: Sie hatte sich aus ihrem freudlosen Dasein davongeschlichen. Und der unvermeidliche Morris, mit dem Rupert, ohne Ranküne, noch immer den einen oder anderen Samstagabend verbracht hatte, war, wie Ruths jüngerer Bruder, an der Front tödlich verwundet worden. Fünf Trauerfälle in wenigen Monaten – da hatten sich die beiden Verliebten noch ein wenig gedulden müssen. Aunt Mildred, mit einem mühlradgroßen Hut, einer Boa und Glacéhandschuhen ausstaffiert, und Mister Harvey, im vornehmen Zweireiher mit Weste und Monokel, heute die Güte selbst, waren ihre Trauzeugen. Sie hielten launige Reden während der ausgelassenen Feier, bei der eine Kapelle zum Tanz aufspielte. Dixieland, Foxtrott, Swing. Besonders Mildred brachte mit ihren Pointen und einigen scharfzüngigen Bemerkungen das Publikum zum Lachen. Dem frugalen Speiseangebot zum Trotz wurden Trauung und Party, wie erhofft, zu einem rauschenden Fest. Das Bier floss in Strömen: trinken statt essen. Rupert hatte keine Kosten und Mühen gescheut. Selbst Uncle Theo, mittlerweile auch im Alltag auf einen Stock angewiesen, legte eine kesse Sohle aufs Parkett – unvermutet grazil. Der Bräutigam tat sich nachher noch mit mehreren Gesangssoli hervor, der Leadsänger der Kapelle versuchte sich zu vorgerückter Stunde als Bluesinterpret, und am Ende wurde die Nationalhymne angestimmt. In diesen bösen, finsteren Kriegsjahren hatten viele nah am Wasser gebaut, auch die Männer, und kaum dass man, nach dem feierlichen Vorspiel der Trompeten und Posaunen, bis „God save …“ gekommen war, wurde hemmungslos geheult.
Für die Flitterwochen reisten die Frischvermählten ein paar Tage ins sommerliche Blackpool. Sie entdeckten einander noch einmal ganz neu. Sie schenkten sich gegenseitig die Sicherheit ihrer starken Gefühle füreinander sowie ein durch nichts zu erschütterndes Vertrauen, wo um sie herum Welten zusammenbrachen. Was wertvoller war als teure Geschenke, eine solide Aussteuer oder die zukunftsträchtige Ausstattung für ein neues Heim. In der Zwischenzeit hatte Rupert eine erkleckliche Summe beiseitelegen können, mit der er ganz allein die Ausrichtung und Kosten der Hochzeit bestritt – Geld, das er sich etwa mit der Hinrichtung von Saboteuren, der Liquidierung eines sudetendeutschen Agenten und auch der Hängung eines pathologischen Frauenmörders verdient hatte, eines jungen, kerngesunden Mannes aus Avebury, der seinen wehrlosen Opfern während der Ausgangssperre in finsteren Hauseingängen auflauerte und sich dabei den Blackout zunutze machte, bevor er sie vergewaltigte, erwürgte, nach Hause schleppte, zerstückelte und ihre sterblichen Überreste in einem Säurebad entsorgte. Vergeblich plädierte dieser harmlos wirkende Killer, im Volksmund Wiltshire Ripper genannt, auf Geisteskrankheit und Unzurechenbarkeit, faselte vor den Geschworenen gar von Liebeswahn – an der Todesstrafe für ihn, der als Acid Bath Murderer neun Frauen unter dreißig auf dem Gewissen hatte, war nicht zu rütteln. Rupert vollstreckte sie in Leicester. Nur noch selten benötigte man seine Dienste als Assistent; die Exkursionen wie Exekutionen mit dem Onkel wurden zur Ausnahme; in der überwiegenden Zahl der Fälle versah er sein Amt nunmehr als Chief. Mit den Hängungen ging es Schlag auf Schlag, er war nun ständig auf Tour. Seit seiner Beförderung zwei Dutzend Mal in zwei Jahren. Er bildete, auf Wunsch der Behörden in Dublin, selbst einen irischen Bewerber zum Henker aus und stellte dabei fest, wie schnell auch er zu einem unduldsamen Otis werden konnte, weil er es hier mit einem für die professionellen Tötungen gänzlich ungeeigneten, fahrigen Mann zu tun hatte. Rupert vollstreckte außerdem von amerikanischen Kriegsgerichten verhängte Todesurteile gegen US-Soldaten im Land – zumeist aufgrund von Vergewaltigungsdelikten, tödlichen Streitigkeiten mit britischen Vorgesetzten und im Suff begangenen Morden. Die politischen Gefangenen hatten den Bankräubern und Eifersüchtigen, den Sexualstraftätern und Gewaltverbrechern, den Lustmolchen und Rachsüchtigen den Rang abgelaufen. Auf jeden Raubmord kamen zwei Verratsdelikte. Die Beaufort-Männer hatten, jeder für sich und fast nie mehr zu zweit, gut zu tun.
Was Rupert an den amerikanischen Exekutionen missfiel, war der Zeitpunkt der Hängung – stets um ein Uhr nachts –, die unflexible und somit grausame Handhabung der Fallhöhe und das ewige, vollkommen unnötige und qualvoll hinausgezögerte Warten der Verurteilten, bereits mit den Füßen auf den Falltüren positioniert, auf ihren Tod, hervorgerufen durch fünf- bis zehnminütiges Verlesen von Strafmaß und Urteilsbegründung, in Anwesenheit des Scharfrichters. Eine Tortur für alle Beteiligten sowie eine ultimative, durch nichts zu rechtfertigende Demütigung für die Delinquenten. Mit denen sich Rupert, je öfter er tätig wurde, immer mehr identifizierte. Wenn es um ihre Würde und ihr Befinden in den letzten Lebensminuten ging. Nur in dieser Hinsicht. Umso mehr genoss er die raren Gaumenfreuden, denn ihm und seinem Assistenten wurden, jeweils am Vorabend, erlesene Speisen in rauen Mengen vorgesetzt, sodass sie sich endlich einmal richtig satt essen konnten – in jenen Monaten, wo landesweit alle Bürger darben mussten, ein ganz besonderes Privileg. Selbst Schaumwein wurde kredenzt. Manchmal auch Sherry. Somit kamen sie in den Genuss einer der wenigen Vergünstigungen im Alltag eines Henkers zu Kriegszeiten. In die späten Kriegsjahre fielen auch die spektakulärsten Zwischenfälle. Rupert war dabei, als ein wütender Straftäter im Liverpooler Walton Prison einem der unbeteiligten, abseits stehenden Wärter aus heiterem Himmel einen Faustschlag ins Gesicht versetzte, was einen Nasenbruch zur Folge hatte sowie chaotische Szenen in der Schreckenskammer. Ein andermal führten das unmäßige Zittern und die extreme Nervosität eines labilen Gefangenen dazu, dass es weder Rupert noch einem der anwesenden Beamten zunächst gelingen wollte, dem Flatterhaften Hände und Beine vorschriftsmäßig zu verbinden. Wodurch wertvolle Sekunden verplempert wurden. Aller heiklen Situationen sind drei: Gordon Hill, ein italienischer Spion mit falschem englischen Namen, zog in Oxford alle der Querköpfigkeit, indem er unausgesetzt in seiner Muttersprache fluchte, Rupert und seinen Assistenten Jonathan Merryman mehrfach anspuckte, noch vor der Fesselung gezielte und auch schmerzhafte Karatehiebe austeilte, um alsdann, kurz vor der Vollstreckung des Urteils durch Betätigung des Hebels, am Galgen mit zusammengebundenen Füßen in die Höhe zu hüpfen. Fünfmal, sechsmal hintereinander hüpfte er mit angezogenen Beinen, berührte dabei zuletzt kaum mehr den Boden. Versuchte, beim Hopsen das Gesetz der Schwerkraft Lügen zu strafen und seinem Henker eins auszuwischen. Erstaunlich gelenkig und widerständig war dieser Mailänder. Ein echter Akrobat.
Dabei verrutschten Schlinge wie Kapuze, löste sich der Riemen vom Kinn und schob sich – es war zu spät, um noch korrigierend einzugreifen – kurz vor dem Fall unter die Nase des hinzurichtenden Agenten. Fast komisch sah das aus, aber in Wahrheit war es einfach nur schrecklich. Und schmählich. Eine Katastrophe. Der Obduzent konnte dessen ungeachtet bei der Begutachtung der gebrochenen Halswirbel eine korrekt ausgeführte Hängung bestätigen: Auch Hill hatte, seiner Proteste zum Trotz, nicht eine Sekunde länger leiden müssen als alle seine von Rupert getöteten Vorgänger oder Nachfolger. Keine Strangulation, keine Qualen. Er war nicht wie ein wildes Tier in der Falle verendet. Sein Hüpfen wurde gottlob auch nicht im Abschlussbericht vermerkt, da diese noch nie dagewesene Störung sich Beauforts Kontrolle entzogen hatte und ihm somit nicht angekreidet werden konnte. Dann, im Frühling 1944, erhielt Rupert erstmals ein Telegramm und keinen zugeklebten Umschlag. Ein Telegramm, das ein Eilbote spät am Abend vorbeibrachte und von Ruth in Empfang genommen wurde. Rupert wartete, bis sie den Raum verlassen hatte. Wozu sie freilich anfangs keine Anstalten machte. Das Home Office benötigte, wie er las, seine Dienste diesmal im fernen Gibraltar, im Süden Spaniens. Und zwar sofort. Er rieb sich die Augen, im Pyjama am Kaminsims stehend, doch da stand es: Gibraltar. Er hatte sich nicht getäuscht. Wieder zwei Saboteure. Er würde, so der ausdrückliche Wille des Innen- und Justizministeriums, dafür mehrere Tage mit dem Flugzeug unterwegs sein. Und mehr als ein sauberes Hemd im Handgepäck mit sich führen müssen. Einen zweiten Anzug auch, nebst einem extra dicken Wintermantel für den Flug. Obendrein wartete damit eine gefährliche Mission auf ihn. Was bedeutete, dass er Ruth eine Erklärung schuldig war. Aus gleich mehreren Gründen. Ob er nun wollte oder nicht. Womit er sich so lange schwergetan hatte. Ohnehin war ja längst der Zeitpunkt gekommen, wo er sich nicht mehr in Ausreden flüchten und ihr Vertrauen in ihn missbrauchen durfte. Die Heimlichtuerei hatte er satt. Einstweilen ließ er das geöffnete Telegramm einige Stunden, mit der Schrift nach oben, auf dem Küchentisch liegen. Ruth sagte nichts. Von dort wanderte es auf den Geschirrständer neben der Spüle, auf ihre Schminkkommode und schließlich auf ihren Nachttisch und auf ihr Kopfkissen. Er ließ nicht locker: um sie mit der Nase daraufzustoßen. Als sie die Nachricht am folgenden Abend noch immer nicht angesprochen oder kommentiert hatte, fasste er sich ein Herz. Es war ihre übliche Zeit zum Schlafengehen. „Hast du das Telegramm gelesen?“,
fragte er und stellte sich direkt hinter sie, die vor dem Badezimmerspiegel stand und ihre abgearbeiteten Hände ins Waschbecken tauchte, in das sie zuvor linderndes Lavendelwasser gegeben hatte. Er umfasste sie an den Hüften, schaute ein wenig an ihr vorbei, ihre Gesichter berührten sich, im Spiegel schienen sie gar zu einem einzigen Antlitz zu verschmelzen. Vier weit geöffnete Augen starrten Ruth und Rupert an. Es waren ihre eigenen. Gemeinsam betrachteten sie sie so genau, als hätten sie sich noch nie zuvor angesehen. Suchten ihre Züge ab wie zwei Scheinwerfer, die in der Dunkelheit nach einem Entflohenen Ausschau halten und ihn schließlich einkreisen. Es war immer noch einfacher, als sich gegenübersitzend anzuschauen. „Warum sollte ich?“ ließ sich Ruth, nach einer kleinen Ewigkeit, vernehmen. Ihre Stimme blieb ruhig. Sie hörte nicht auf, ihre Hände einzuseifen und aneinanderzureiben. Rupert erklärte ihr alles. Hals über Kopf entschloss er sich zu einer umfassenden Beichte. „Du musst wissen, dass ich vielleicht nicht wiederkommen werde.“ „Du lebst mit einem Mann zusammen, der Dutzende Menschen beseitigt hat.“ „Du liebst einen Executioner.“ „Du darfst mich nicht für einen Mörder halten.“ „Du sollst nicht schlecht von mir denken.“ Sätze wie diese hatte er sich seit Monaten zurechtgelegt. Und wollte schon zu einer langen Rechtfertigungsrede ansetzen, als seine Frau ihn unterbrach, indem sie einen Finger auf seine Lippen legte. „Das weiß ich doch alles längst.“ Und ihn küsste. Mit einem innigen, leidenschaftlichen Kuss, der keinen Widerspruch duldete und ihn mehrere Minuten lang am Weitersprechen hinderte. Dann war sie an der Reihe mit Bekenntnissen. Seit sie ihn das erste Mal gesehen habe, so Ruth, habe sie Bescheid gewusst. Instinktiv geahnt, dass er etwas im Schilde führe. Dass es etwas Ehrenwertes sein müsse, aber auch irgendwie riskant und unaussprechlich. „Und gleich danach haben es mir die Leute zugesteckt.“ Im Geschäft, im Kino, auf der Straße. Hinter vorgehaltener Hand oder ganz offen. Sich die Mäuler darüber zerrissen, dass sie mit einem Scharfrichter ausging. „Meinst du etwa, so etwas bleibt unbemerkt, darling?“, lachte sie auf. „Bei deinem ausgefallenen Namen!“ Es klang höhnischer, als sie beabsichtigt hatte. Mister Harvey, der bei ihrer Hochzeit so salbungsvoll gesprochen hatte, habe es am ärgsten getrieben mit der Stichelei und der üblen Nachrede. Man könne nie wissen, habe er geunkt, wie sich ein solcher Mann daheim aufführe, zu welchen Gewalttaten er auch im Alltag fähig sei. Fortwährend kritisiert habe er sie, sie
gefragt, ob sie sich denn gar nicht schäme: „Liebe Miss, denken Sie doch nur an Ihren guten Ruf.“ In solch eine Familie einzuheiraten, wo schon der Vater … und auch der Onkel … Viel hätte nicht gefehlt, und das Wort Schande wäre gefallen. „Suchen Sie sich lieber einen anderen Mann zum Ausgehen. Einen anständigen.“ Zuletzt habe sie ihrem Chef rundheraus das Wort verboten. Ihn angeherrscht. „Was erlauben Sie sich?“ Daraufhin habe er ein paar Tage Ruhe gegeben. Bis zu Ruperts nächster Stippvisite im Laden. Dann sei alles wieder von vorn losgegangen. Das Seufzen ihrer besten Freundinnen, das bedeutungsvolle Kopfschütteln der Kundinnen, die vulgären Ausdrücke hinter ihrem Rücken. „Henkersliebchen“ habe man sie genannt. Wieder und wieder habe man den Teufel an die Wand gemalt. Und benannt: ihren Rupert-Teufel eben. „All das Gerede und Gemecker“, besänftigte sie jetzt ihren Mann, der kaum seinen Ohren trauen mochte, „hat mir nichts ausgemacht.“ Von alldem hatte er nichts mitbekommen. „Und tut es auch jetzt nicht. Ich schere mich nicht um das Geläster. Oder um die anonymen Briefe“, ergänzte sie nachdrücklich. „Niemand hat dich dazu gezwungen, das weiß ich. Du tust das freiwillig.“ Sie umschlang ihn aufs Neue, drückte ihn fest an sich. „Wir lassen uns nicht beirren. Und momentan schon gar nicht. Wenn nur der verfluchte Krieg ein Ende nehmen würde!“ Sie zog Rupert in Richtung Schlafzimmer und erklärte mit einem gehauchten „ bloß auf dich auf!“ die Aussprache für beendet. Es war Ruperts erster Flug. Und er war der einzige agier. Seine Aufregung kannte keine Grenzen. Zum allerersten Mal in seinem Leben erhob er sich in die Lüfte, durfte die Welt von oben betrachten, eine unschuldige Spielzeugwelt mit bunten Miniaturhän, hellen Städten, die zu grauen Flecken schrumpften, hässlichen Ballungszentren, lieblichen Wäldern und Feldern im Schachbrettmuster, in die Luft gesprengten Fabriken, kaputten Kirchtürmen, Bombenkratern, die in Windeseile zu schwarzen Pünktchen wurden, klitzekleinen Motorrädern und winzigen Panzern. Er sah das Gewimmel der arbeitenden, laufenden, radelnden, kämpfenden Menschen unter sich und wurde nicht schlau aus ihren konfusen, ameisenhaften
Bewegungen und – mit Abstand betrachtet – sinnentleerten Aktivitäten. Wie viele von ihnen würden den heutigen Abend nicht erleben, nicht überleben? Wie viele noch vor Mitternacht Liebe machen? Wie viele ein Gewaltverbrechen begehen, wie viele ihren Kindern einen Kuss auf die Stirn drücken, wie viele ein Buch lesen, wie viele in Zorn geraten oder vor Freude weinen? Wie viele wünschten sich genau in diesen Momenten, als sich sein Flugzeug beschleunigte, auf die Startbahn zurollte und von ihr abhob, so wie er einfach aus ihrem Kriegsalltag davonfliegen und ihr Heimatland zurücklassen zu können? Und zugleich auch ihrer Todesangst zu entfliehen? Von einem auf einer länglichen Waldlichtung gut versteckten Aerodrom nahe Bristol startete die kleine Militärmaschine, und Rupert verlor, ebenfalls zum ersten Mal, die Bodenhaftung. Sein Herz zog sich zusammen, aber furchtsam war er nicht. England war irgendwo da unten verschwunden. Betraf ihn schon gar nicht mehr. Nichts war von Belang, solange er zwischen Himmel und Erde schwebte. Gen Süden. Nichts hatte mehr Bestand. Rupert genoss dieses Gefühl. „Ich wollte dich immer aus allem heraushalten“, hatte er noch am Morgen beteuert, beim Abschied von seiner Frau, unter Küssen, bevor er zum Bahnhof aufgebrochen war. Kannst du ja gar nicht, schien Ruths gespielt gekränkter Gesichtsausdruck zu sagen, das würde doch nie funktionieren. „Und ich wollte, dass du es mir sagst“, wies sie ihn zurecht. „Auch wenn du noch jahrelang wie eine Katze um den heißen Brei geschlichen wärst.“ Jetzt lagen die Karten offen auf dem Tisch. Sie brauchten sich nichts mehr vorzumachen. Dieser Gedanke beruhigte ihn. Ob der Pilot wohl auch eine so einfühlsame, verständige und couragierte Frau hatte wie er?, fragte sich Rupert. Wie viele Einsätze hatte er schon überstanden, wie viele Bomben abgeworfen? Wie oft einen Absturz verhindert? Wie viele Feinde vernichtet? Es war ihm nicht anzusehen. Ein unsichtbar Handelnder, so wie er selbst. Der junge Mann – eigentlich ein Kampfflieger, wie er stolz betonte – forderte Rupert auf, neben ihm auf dem Copilotensitz Platz zu nehmen. Im Cockpit. „Wir sind gezwungen, viele Umwege zu machen“, erklärte er, „ich habe keine Lust, mich abschießen zu lassen“, nannte Ortsnamen in Frankreich, Portugal und Spanien, die man wegen des ohrenbetäubenden Motorenlärms kaum verstehen konnte und von denen Rupert noch nie etwas gehört hatte, „Sie sicher auch nicht“, und fuchtelte mit der linken Hand unbestimmt in mehrere Richtungen. Die rechte betätigte mit routinierten Gesten den Steuerknüppel.
Rupert musste unweigerlich an seine Hebel denken. An die Tötungshebel, von denen der nächste irgendwo in Gibraltar bereits seiner harrte. Ein Ruck, und zwei Menschen schwangen sich empor, purzelten durch die Luft, stiegen in ungeahnte Höhen hinauf, gelangten von einem Land ins andere. Ein Ruck, und ein anderer Mensch starb, wurde zu Fall gebracht, stieß mit den Füßen zuerst in die Tiefe vor, bezahlte für seine Vergehen. Am liebsten hätte Rupert seinem gestikulierenden Sitznachbarn vorgeschlagen, doch einmal die Plätze zu tauschen. Und die Hebel. Im Zickzackkurs überflogen sie nun den Ärmelkanal. Von der Küstenlinie Cornwalls wurden unablässig Artilleriegeschosse in den Nachmittagshimmel gefeuert, es blitzte und funkelte, Rauchsäulen stiegen auf, Detonationen waren zu hören, Salven ertönten. „Friendly fire“, kicherte der Jüngling und flog, wie um ihm zu beweisen, was für ein Draufgänger er war, eine halsbrecherische Kurve nach der anderen. „Ist ja ein Spaziergang heute.“ Über dem offenen Meer hatten sie mit Turbulenzen zu kämpfen. Sie hielten respektvollen Abstand zur französischen Atlantikküste, kamen auch den nordspanischen Gestaden nicht zu nahe und steuerten Lissabon für eine kurze Zwischenlandung an. Einen neutralen Flughafen, auf dem auch feindliche Maschinen haltmachten, auftankten und abhoben – ein gutes Dutzend italienische, wie Rupert schon von der Landebahn aus durch das verschmutzte Fenster sah, und sogar einige mit dem deutschen Hakenkreuz. „Über Lissabon kommen sie alle“, berichtete der Pilot, „Nazis und Agenten, Unterhändler, Spione und hochrangige Politiker. Und heute eben auch ein Henker. Hier wird schon mal jemand, der sich nicht an die Spielregeln hält, auf dem Rollfeld abgeknallt.“ Der eitle Knabe schnalzte genießerisch mit der Zunge. „Auch Offiziere hat es schon erwischt. Einen haben sie auf dem Weg zum Hangar abgemurkst. Weil er nicht auf das Kommando eines Sicherheitsbeamten gehört hatte.“ Er erging sich in einem Vortrag über ideale Tarnfarben von Tragflächen, der niemand außer ihn selbst interessierte, kam dann aber wieder auf seine Erfolgserlebnisse zurück. „Neulich war Mrs Churchill bei mir zu Gast, ich habe sie nach Casablanca kutschiert. Ist ja nicht weit von hier. Genau hier, auf Ihrem Sitz. Nette Lady. Morgen, wer weiß, fliege ich ihren Gatten nach Stalingrad.“ Er lachte, ein wenig
zu angeberisch. „Ein Beaufort war noch nicht dabei. Habe die Ehre.“ Rupert antwortete nicht. Lächelte nicht einmal. Verweigerte dem Jüngeren die gewünschte Verbrüderung. Er fand, dass er überhaupt nicht in diese kuriose Aufzählung te. Beim Weiterflug nach Südosten Richtung Mittelmeer wurde es noch einmal richtig brenzlig. Weil der Pilot Slalom flog, wieder viel zu dicht an der Küste entlang, mit dem Feuer spielend und den Attacken gerade noch ausweichend. Als wäre ihr Trip ein großer Jux oder eine Fahrt mit der Achterbahn. Alle paar Kilometer loderte und knallte es direkt unter ihnen, der Flugkapitän jauchzte. Wie ein Irrer. Als legte dieser Luftikus es beim Pirouettendrehen darauf an, sie beide auf direktem Wege in die Hölle zu befördern. Rupert hätte alles dafür gegeben, den Idioten zum Mond schießen zu können – anstatt ihm hier auf Gedeih und Verderb ausgeliefert zu sein und selbst dauernd in die Schusslinie zu geraten. Dabei war er gar kein Angsthase. Gibraltar erreichten sie im Morgengrauen. Die Luft war mild und weich, der Himmel färbte sich rosa und gelb. Die meisten Hä waren weiß gekalkt, standen in ungeordneten kleinen Haufen herum und hatten flache Dächer. Alles schien eingestaubt. Feiner Sand wirbelte umher. So hatte sich Rupert den Orient vorgestellt und die Wüste. Ungefähr so. Es roch nach unbekannten Gewürzen, kaum jemand war auf den Beinen. Nur eine Handvoll Uniformierter und gähnender Soldaten säumte im schwachen Licht des Tagesanbruchs die Straßen, halbe Kinder noch, denen man die griffbereiten Maschinengewehre wie Spielzeugwaffen umgehängt hatte. Sie machten nicht den Eindruck, als hätten sie Lust, jemanden damit zur Strecke zu bringen. Als wüssten sie, wie man sie im Notfall betätigte. Oder was es hieß, im Krieg zu überleben. Hier wurde der Stillstand verwaltet. Trägheit schien sich dieses unwirtlichen Ortes bemächtigt zu haben. An mehreren Fahnenstangen hing der Union Jack, aber auch weiß-rot gestreifte Flaggen mit einem Burgmotiv waren zu sehen. Die Männer um ihn herum warfen sich abgehackte Sätze auf Spanisch zu, auf Englisch gebrüllte Befehle wirkten seltsam deplatziert, die wenigen Reklametafeln waren denen in Manchester ähnlich. Auf dem Weg vom Flugplatz – sie fuhren mit offenem Verdeck – erhaschte Rupert einen Blick auf den berühmten Affenfelsen. Genau in diesem Moment ging die Sonne auf, das Meer glitzerte. Er starrte die feindseligen, gar nicht
putzigen Tiere an, die zu Hunderten reglos auf den Vorsprüngen hockten, und sie starrten zurück. Mit zusammengekniffenen Augen. Ein absurdes Bild. Womöglich schliefen auch sie noch. Doch Rupert kam es so vor, als bohrten sich die Blicke der Affen in sein Gesicht und in seinen Körper. Wie giftige Pfeile. Die Hinrichtung fand dann im Moorish Castle statt, das hoch über der Halbinsel thronte und eine großartige Aussicht aufs Mittelmeer bot; der Festungskommandant, in Eile und eher unliebenswürdig, bestand darauf, dass Rupert die beiden jungen Männer im Innenhof hängte. Im Freien also, mit einer Menge Zeugen. Ein Verfahren, dem keiner der Beauforts je etwas hatte abgewinnen können. Sein Assistent, ein Spanier, der auf Ruperts englischsprachige Anweisungen nicht automatisch reagierte, sondern energisch in die Pflicht genommen werden musste, war ein Grobian und wäre in der Heimat niemals in die engere Wahl gekommen. Auch sonst lief nichts nach Plan. Es war viel zu wenig Zeit für die Begutachtung, zu wenig Zeit auch zum Kalkulieren und Simulieren; selbst die Zellen lagen nicht nebeneinander, und die Mahlzeit, die man ihnen servierte, war scheußlich. Ihm brannte die Kehle vor Durst. Ein Teil des Geländes starrte vor Dreck. Die Gerätschaften schienen veraltet und machten keinen sonderlich vertrauenserweckenden Eindruck. Die Sandsäcke waren zu nichts zu gebrauchen, die Stricke mürbe. Er entschied sich aus Zeitmangel für identische Fallhöhen. Eine heikle Sache. Die beiden Burschen, halbe Teenager noch, schlotterten vor Angst, als man sie auf den Richtplatz führte. Da war es schon viel zu spät am Morgen, beinahe Mittag, und der Weg dorthin war endlos. Fliegen umschwirrten die Todeskandidaten. Die weißen, viel zu knappen Tücher, mit denen er ihnen als Ersatz für die Kapuzen die Köpfe verdeckte, waren schmutzig und voller Löcher. Rupert, dem die Müdigkeit und die Strapazen der Nachtflüge in den Knochen steckten, nahm zwar alles, was hier im Moorish Castle nicht stimmte und einfach nicht in Ordnung war, äußerlich klaglos hin und riss sich zusammen, aber in seinem Inneren braute sich Wut zusammen, keimte Widerstandsgeist auf. Die ganze Prozedur lief viel zu improvisiert, viel zu hastig ab. Was hier ablief und ierte, entzog sich seiner Kontrolle. Hier entfaltete sich kein Ritual. Was hier geschah, war hässlich und menschenunwürdig. Was man hier von ihm verlangte, war keine Kunst. Geschah ohne korrekte Haltung.
Er schämte sich, dass diese beiden Saboteure auf so unwürdige Weise ihr Leben beenden mussten. Durch seine Hand. Die es doch viel besser wusste. Die doch viel sorgfältiger und viel liebevoller zu agieren verstand. Rupert verspürte Zorn und Ekel. Und er war mehr als froh, als das Gejammere der Verurteilten ein Ende hatte, als die Bedauernswerten in die Grube sausten und wenig später alles vorbei und auch die Obduktion zufriedenstellend war. Er war nicht stolz auf sich. Er wurde das Gefühl nicht los, zwei junge Menschen, die mehr Respekt und anständigere Rahmenbedingungen verdient gehabt hätten, ausgemerzt zu haben. Und zerquetscht. Hatten sie überhaupt einen fairen Prozess gehabt? Achtlos hatte er gehandelt, hatte er handeln müssen, und jetzt war er selbst wie ausgepumpt. Die Einladung des Kommandanten, mit ihm im Offizierskasino zu Mittag zu essen, schlug er aus. Die Glückwünsche ignorierte er und hüllte sich in Schweigen. Auf eine kleine Stadtführung, die ihm ein hoch dekorierter Landsmann anbot, verzichtete er. „Sorry, I’m too tired.“ Von seinem Assistenten verabschiedete er sich lediglich mit einem knappen „Bye“. Man stellte ihm Tee und Wasser hin, er rührte beides nicht an. Lehnte wie immer die obligatorischen Drinks ab und die Teilnahme an einer kleinen Feier. Er ließ sich stattdessen zum Flugplatz zurückfahren, obschon seine Maschine, wieder via Lissabon, erst am frühen Abend gehen würde. Dort saß er im Schatten vor der kleinen Abflughalle, mit knurrendem Magen, trockenem Gaumen und geballten Fäusten. Stundenlang. Er wollte nur noch weg. Kein Wort mehr mit dem hirnverbrannten Piloten wechseln müssen. Dabei gehörte ihm heute die Welt, und diese Welt war schön. Wunderschön sogar. Vor seinen Augen streckte und räkelte sie sich. War warm und friedlich, war südlich und freundlich. Direkt vor ihm lag Afrika, lag Marokko. Direkt vor ihm, jenseits der palmenbestandenen Küste, gewahrte er einen tiefblauen Horizont, sah Militärdampfer und Schiffe vorübergleiten. Sah schneeweiße Möwen ihre Kreise ziehen, sah elegante Frauen in leichten Röcken auf der Uferpromenade auf und ab spazieren. Kein Beaufort war jemals so weit gekommen. Er hätte nur die Hand ausstrecken müssen, um auf der anderen Seite der Meerenge Tanger zu berühren. Oder die Silhouetten dieser flanierenden Frauen zu streicheln und ihre Anordnung vorsichtig zu verschieben. Wie in einem Schattentheater. Diese Farben, diese Wärme und Stille kamen seiner Vorstellung
vom Paradies sehr nahe. Die Ruhe, die von der Szene ausging, auch. Eigentlich hätte er vom Lebensglück überströmt sein müssen. Eigentlich hätte er jubeln können. Eigentlich hätte er diese traumhaften Landschaften, diese Panoramen der Sinnlichkeit, die sich ihm hier darboten, in vollen Zügen genießen dürfen. Eigentlich hätte er sich eine Postkarte besorgen sollen. „Best regards from the Mediterranean.“ An Aunt Mildred hätte er sie adressiert. Nur die Umstände und Voraussetzungen stimmten nicht. Er war nicht im Urlaub, es herrschte immer noch Krieg. Man hatte ihn zu unprofessionellem Handeln angestiftet, und er hatte nicht widersprochen. Hatte mitgemacht. Er war sich nicht wohl in seiner Haut. Er fühlte sich benutzt. Auf dem gesamten Rückflug hielt der freche Bursche die Klappe. Endlich. Unterließ auch die abenteuerlichen Schlenker. Schien zu ahnen, dass Rupert nicht in Stimmung war. Und dass es in ihm kochte. Der Henker neben dem Piloten saß, wie beide nur zu gut wussten, auf einem Schleudersitz. Rupert war an diesem Mittelmeerabend, der sein erster und letzter sein würde, fest entschlossen, sich aus dem, was ihm lieb und teuer war, nicht herauskatapultieren zu lassen. Nicht aus seinen Prinzipien und Grundsätzen. Nicht aus seiner Ehre.
Keine zwei Jahre später sitzt Rupert Beaufort wieder in einem Militärflugzeug. Besser ausgestattet als die Vorgängermaschine und diesmal zum Glück von einem diskreten, professionellen und angenehm schweigsamen Piloten gesteuert. Es ist um die Mittagszeit an einem Dezemberdienstag, in der Vorweihnachtszeit des Jahres 1945, von Northolt, einem Stützpunkt der Royal Air Force im Nordwesten Londons, gestartet und hat Kurs auf den Norden Deutschlands genommen. Auf einen kleinen Ort in Niedersachsen. Bückeburg im Weserbergland befindet sich inmitten der britischen Besatzungszone, das Nazireich hat kapituliert und seit sieben Monaten aufgehört zu existieren. Ganze Landstriche liegen in Trümmern. Ein gescheiterter, ein zerrütteter Staat. Ein zersplittertes Reich, ein von Diktatur und Unrechtsregime befreites Territorium ohne wirkliche Perspektive. Millionen Überlebende verzehren sich nach Freiheit. Millionen Tote warten darauf, dass der an ihnen begangene Frevel gesühnt wird. Advent feiert hier niemand. Noch auf dem Rollfeld wartet ein Jeep eigens auf ihn, denn wieder ist Beaufort
als Very Important Person unterwegs, auf ehemals feindlichem Boden. Rupert wird von einem Major begrüßt, es regnet in Strömen. Beide sind unverzüglich bereit zur Weiterfahrt. „Nach Hamelin, Sir. Die Deutschen sagen Hameln.“ Mit langem a und ohne i. Er spricht es sich im Geiste vor, übt es ein. Zwei Silben, die sein Leben verändern werden. Zwei Silben: sein Schicksal. Eine Unterhaltung mit dem Major ist freilich nicht möglich, zu laut ist das Unwetter und zu groß der Krach, den ihr fahrbarer Untersatz verursacht. Denn der Jeep hat schon bessere Tage gesehen, die frühere Landstraße ist von Schlaglöchern übersät. Rupert wird ordentlich durchgeschüttelt. Schon nach wenigen Minuten ist es stockdunkel und er bis auf die Haut durchnässt. Die Kälte ist unbeschreiblich. Eine Dreiviertelstunde dauert die Fahrt durch trostloses, windgepeitschtes Gelände. Wo man hinsieht, klaffen Kriegswunden. Die wenigen Menschen, die um die finsteren Häecken huschen, sind bettelarm und in Lumpen gehüllt. Das gelbe Licht der Autoscheinwerfer streift Männer an Krücken, spindeldürre Frauen, verhungert wirkende Kinder, blendet streunende Hunde, Jungen, die der Volkssturm verschont hat, kleine Mädchen mit blonden Zöpfen und Alte, die sich an Müllbergen zu schaffen machen. Sobald Ruperts Jeep um die Ecke biegt, halten sie sich den Arm vors Gesicht. Aus Scham, aus Schutz vor dem grellen Licht und aus Angst, bei irgendeiner Verzweiflungstat ertappt zu werden. Aus Furcht vor Strafe und Gewalt. So also schauen Verlierer aus, denkt Rupert, dabei ist es um viele Gegenden in England kaum besser bestellt. Der Jeep kommt mit quietschenden Reifen vor einem großen, nur schwach beleuchteten Gebäudekomplex am Flussufer zum Stehen. Eine Delegation empfängt ihn, es wird salutiert. Im Hintergrund zeichnet sich eine Brücke ab. Und es ragt dort auch ein größerer Hügel auf, wohl der Hausberg der Kleinstadt, von der Rupert bei der Durchfahrt nicht viel zu sehen bekommen hat. Zwei große Kirchtürme, halb zerstörte Getreidespeicher, Industriemühlen, ein paar längliche Straßen mit alten, geduckten Fachwerkhän. Mehr nicht. Leere Geschäfte, nackte Fassaden, ausgeweidete Schaufenster. Nirgends ein Zeichen von bescheidenem Wohlstand. Schlimme Angriffe scheinen ihr immerhin erspart geblieben zu sein. Alles Leben ist aus ihr gewichen, Gassen und Plätze sind menschenleer. Und grau. Nur hier, wo er jetzt endlich aussteigen darf, halten sich zu später Stunde noch viele uniformierte Männer auf, ausnahmslos Briten. Höfliche, zuvorkommende Beamte und Offiziere. Machen ihm die Aufwartung. „Zuchthaus Hameln“ prangt in Großbuchstaben auf der Vorderseite des
rechteckigen Baus. O’Sullivan wird ihm tags darauf erklären, dass es sich hier um die örtliche Strafvollzugsanstalt handelt, die die britische Militärjustiz kurzerhand in ein Hochsicherheitsgefängnis für Kriegsverbrecher umgewandelt hat. Kriegsverbrecher, die aus anderen Teilen des Landes hierhergekommen sind zum Absitzen ihrer Strafen und in Erwartung ihrer Hinrichtung. Kriegsverbrecher, denen ganz woanders der Prozess gemacht wurde und die dann nach Hameln verbracht worden sind. Mehrere Dutzend bis an die Zähne bewaffnete Wächter patrouillieren an den Außenmauern auf und ab. Stacheldraht, Gewehre im Anschlag, Schäferhunde, Taschenlampen. Und mannshohe Barrieren zwischen Innen- und Außenmauern. Kein Zweifel, hier geht es zur Sache. Und die heimische Presse ist auch da. Wie auf Kommando stürzen sich wild gewordene Schreiberlinge und Fotografen auf ihn. „Beaufort, Beaufort!“, rufen die englischen Journalisten so enthusiastisch, als hätten sie soeben einen Massenmörder entlarvt. Ein Blitzlichtgewitter entlädt sich. „Sind Sie für morgen bereit?“ „Wie fühlt es sich an, mehr als ein Dutzend von den Nazi-Bestien zu hängen?“ „Sind Sie stolz auf Ihre Aufgabe?“ „Was hat der Feldmarschall Ihnen mit auf den Weg gegeben?“ Ein Reporter spricht ihn ganz unterwürfig als Lieutenant Colonel Beaufort an, denn diesen militärischen Ehrentitel hat man ihm am Vortag, noch in London, verliehen. Rupert hat sich noch gar nicht richtig daran gewöhnt. Werden sie ihn hochleben lassen oder lynchen? Wollen sie ihn in die Enge treiben oder in den Olymp heben? Möchten sie über seine bevorstehenden Ruhmestaten berichten oder seinen Namen in den Dreck ziehen? Er hält sich den nassen Hut vor die Augen, ringt nach Atem, gerät ins Straucheln. „Kommen Sie mit, Sir“, hört er eine tiefe, freundliche Stimme zu ihm sagen. „Hier entlang.“ Jemand nimmt ihn am Arm und zieht ihn weg von der Meute der Berichterstatter und Fotografen. In einen Seiteneingang. Hinter ihnen fällt die Tür ins Schloss, sie sind allein. „Gestatten, Regimental Sergeant Major O’Sullivan“, stellt sich dieser Jemand mit derselben freundlichen Stimme vor.
Rupert erfährt wenige Tage später, dass der hilfsbereite Mann Patrick mit Vornamen heißt. Für ihn, den Chief Executioner, wird dieser Patrick für die Dauer der nächsten Tage und Stunden, der kommenden Wochen und Monate ganz offiziell O’Sullivan bleiben. Ein feiner Kerl, das merkt Rupert sofort. Ein Mann mit Klasse. Den man ihm für die Dauer der Hängungen als Begleiter zugeteilt hat. Der, wie er gleich freimütig zugibt, noch nie einer Hinrichtung beigewohnt hat und dennoch fortan Ruperts Gehilfe sein wird. Weil das eben so entschieden worden ist. Der, wie sich bald herausstellt, fließend Deutsch spricht und Rupert damit so manches Mal aus der Verlegenheit helfen wird. Der, immer wenn Rupert jetzt nach Hamelin oder Hameln kommt, nicht von seiner Seite weichen wird. O’Sullivan, Ende zwanzig, gute Züge, sorgfältig rasiertes Kinn, gute Umgangsformen, pechschwarzes Haar, tadellose Uniform. Auf O’Sullivan ist Verlass. Wenigstens das. Rupert gestattet sich ein Lächeln. „Sehr erfreut, Major. Und jetzt zeigen Sie mir bitte die Zellen und den Gefangenentrakt.“ Patrick schickt sich an, ihm vorauszugehen, hält aber inne. „Keinen Kaffee, Sir? Keinen Tee zum Aufwärmen?“ Rupert schält sich aus seinem klitschnassen Trenchcoat und wirft ihn sich über die Schulter, reibt sich unternehmungslustig die Hände. „Jetzt noch nicht. Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Dass er heute hier Major O’Sullivan dicht auf den Fersen ist und tropfend, frierend, abgehetzt und wild entschlossen die kahlen Gänge des Hamelner Zuchthauses entlangschreitet, hat er einer spektakulären Entscheidung des populären Generalfeldmarschalls Montgomery zu verdanken. Der Volksheld, inzwischen Oberbefehlshaber der britischen Besatzungstruppen, residiert, als wichtiges Mitglied im Alliierten Kontrollrat, im westfälischen Lübbecke und hat sich vor wenigen Tagen mit Rupert telefonisch verbinden lassen. Dem ist in seinem Pub beinahe der Hörer aus der Hand gefallen, als kein Geringerer als der große Montgomery sich bei ihm meldet, ihn mit der Hängung der Kriegsverbrecher beauftragt, als handle es sich um eine kleine Gefälligkeit, und mit dröhnendem Lachen ausruft: „Beaufort, Sie sind unser Mann! Sie und kein anderer!“ Zu viel der Ehre, hätte Rupert, wie vom Donner gerührt, am liebsten
ausgerufen. Doch es ist schon zu spät. „Es kommt viel Arbeit auf Sie zu. Wir wissen, dass wir uns auf Sie verlassen können. England braucht Sie. Machen Sie Ihre Sache gut. Good luck“, und die kurze Unterredung ist beendet. Eine Begegnung mit Montgomery ist dann für die nächsten Tage, an Ort und Stelle, anberaumt worden. Gleich nach den Hängungen. Und er hat nur noch Ja und Amen sagen können. Schwerer wiegt, dass der Generalfeldmarschall unmittelbar nach Ruperts Zusage die Presse verständigt hat. Damit ist das heilige Diskretionsgebot, auf das Rupert einst alle Eide der Welt geschworen hat, mit einem Fingerschnipp hinfällig geworden. Nun ist ganz England auf dem Laufenden. Und er kommt sich vor, als hätte man ihn auf offener Straße entkleidet.
Das Ende des Krieges hat sein Leben bislang nicht sonderlich verändert. Natürlich ist er im Frühjahr mehr als erleichtert gewesen, dass die zerstörerischen Luftangriffe endlich der Vergangenheit angehören, dass das Hitler-Regime in die Knie gezwungen wurde, dass im Mai die gesamte Welt vom Nazi-Terror erlöst worden ist, die grausame Judenverfolgung gestoppt werden konnte und auf den internationalen Konferenzen von den Vertretern der vier Siegermächte eine neue Weltordnung in die Wege geleitet wurde. Und er ist beklommen gewesen, als er im Hochsommer vom Abwurf der amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki erfahren hat. Elend, übermenschliches Elend hat vor keinem Kontinent haltgemacht, kaum einen Erdenbürger ausgespart. Elend, wohin man sieht und hört. Im Übrigen hält er sich aus der Politik heraus und redet auch nur ungern über die aktuelle Entwicklung. Ansonsten ist somit alles beim Alten geblieben oder hat sich sogar etwas zum Besseren gewendet für den Publican Rupert. Sein Struggler erfreut sich weiterhin großer Beliebtheit, die Leute entdecken ihre angestammten Pubs neu, gehen, nach Jahren der Ausgangssperre und aufgezwungenen Enthaltsamkeit, wieder aus und haben Gefallen am Zechen gefunden, Lebensfreude kommt auf, und so haben Ruth und er alle Hände voll zu tun. Eine viel größere Zäsur stellt für ihn die Hängung des dreißigjährigen Felipe Rodriguez in Shepton Mallet dar, im Juni, kurz nach dem offiziellen Ende der
Feindseligkeiten. Rodriguez hat bei einem vereitelten Überfall einen Raubmord an einer alten Dame begangen, die er zuvor auch noch vergewaltigt hat. Die Geschworenen führen diesen Angeklagten, ohne sich von seiner Zerknirschung beeindrucken zu lassen, mitleidlos dem Strang zu. Doch der Fall selbst spielt nicht die entscheidende Rolle bei diesem Sommertermin, es geht um das symbolische Timing: Es ist nämlich nicht nur die letzte Hinrichtung, die Rupert als Assistent durchführt – von nun an wird er, inzwischen vierzig geworden, ausschließlich als Chief engagiert werden –, es ist auch das letzte Mal, dass er gemeinsam mit Uncle Theo bei einer Urteilsvollstreckung Hand anlegt. Damit geht für die beiden Männer eine Ära zu Ende. Ein trauriger, ein bedeutsamer Tag. Und, es lässt sich nicht leugnen, der Onkel ist ganz schön in die Jahre gekommen. Das Gehen bereitet ihm große Mühe, er ist wackelig auf den Beinen, hat Schmerzen in Knien und Ellenbogen und wirkt zuweilen etwas unsicher. Seine Gesten lassen die nötige Präzision vermissen. Mit Mitte siebzig hat Theo als Executioner sein Soll mehr als erfüllt. Mit fast dreihundert Hängungen und einer Karriere, die vier Jahrzehnte und zwei Weltkriege überdauert hat, zählt er zu den Veteranen in seinem Metier. Höchste Zeit, dass er das Feld räumt. Den Verantwortlichen ist außerdem aufgefallen, dass es um Theos Augenlicht nicht mehr allzu gut bestellt ist, dass er zunehmend rabiat agiert und einen rauen Ton anschlägt, die Militärgeistlichen bei jeder sich bietenden Gelegenheit abkanzelt, ärger noch als früher, und es mit dem Tempo bei seinen Hinrichtungen schon seit geraumer Zeit etwas übertreibt. Intern kursieren Berichte über seine mangelnde Zuverlässigkeit und Brauchbarkeit. Wird der Wunsch nach frischem Wind laut. Muss die Liste gründlich überarbeitet und aktualisiert werden. Also lässt man den Alten nur noch selten ran. Ohne dass er es anfangs merkt. Bald ist der Zeitenwechsel indessen unübersehbar: Die Aufträge kommen nur noch im Vierteljahresabstand, dann bleiben die behördlichen Briefe ganz aus, ist der Kaminsims verwaist. Theos Zeit ist abgelaufen, jetzt gehört er zum alten Eisen. Die Prison Commission lässt ihn nicht etwa wissen, dass sie seine Dienste nun nicht mehr benötigt, dass sie darauf verzichten wird. Auch gibt es keine Verabschiedung. Nein, er selbst muss es sich zusammenreimen, dass er seine Schuldigkeit getan hat und die Zukunft ausschließlich seinem Neffen offensteht. Theo weiß sein Erbe in guten Händen. Rupert ist der Garant der Familienehre. Rupert rafft sich auf und ergreift den Stab, setzt die Tradition fort und ist sich seiner Verantwortung bewusst. Und
Rupert, dem alles Politische ebenso zuwider ist wie Rachegedanken oder das Bedürfnis nach öffentlicher Vergeltung, sobald die Zeitgeschichte ins Spiel kommt und nicht länger das Private ausschlaggebend ist, Rupert hat von den Vernichtungslagern in Deutschland und in den deutschen Ostgebieten gehört. So wie jeder andere auch. Er konnte gar nicht umhin. Und hat das Ausmaß des Grauens, das von den Nazis, den Kommandanten und ihren Schergen dort verübt worden ist, jahrelang, ungestraft, sich nicht annähernd vorstellen, einfach nicht begreifen können. So wie jeder andere auch. Dass die Opferzahlen in die Millionen gingen: unfassbar. Dass es Gaskammern gab: entsetzlich und unentschuldbar. Dass die planmäßige Folterung und Tötung von so vielen Unschuldigen auf staatlichen Beschlüssen und Entscheidungen beruhte: für ihn und wohl jeden anderen Engländer das Schlimmste, das moralisch Verwerflichste, das ihm je zu Ohren gekommen ist. Dass die Alliierten erst viel zu spät eingeschritten sind, dass die Schienenwege zu den KZs nicht bombardiert wurden, hat bei ihm Kopfschütteln hervorgerufen. Und maßlose Traurigkeit. Mit Ruth hat er die Bilder von der Befreiung im Kino gesehen, in der Wochenschau. Die Bilder von den Leichenbergen, von den riesigen Haufen aus Brillen, Schuhen, Goldzähnen. Hat sich mit Ortsnamen vertraut gemacht, von denen er zuvor noch nie gehört hatte – Auschwitz, Dachau, Buchenwald. Ist von Begriffen überrascht gewesen, die die Berichterstatter wieder und wieder verwendeten: Begriffe wie Selektion, Gasdusche, Menschenversuche, Krematorium. Hat mit ansehen müssen, wie die ausgemergelten, kahl geschorenen Häftlinge, die monatelang schlimmste Qualen durchlitten, unsägliches Leid erduldet und ihre menschliche Würde längst verloren hatten, mit stummem Vorwurf in die Kameras der sowjetischen und amerikanischen Befreier schauten, mit leerem Blick. Manche mit mattem, schwachem Lächeln. Wenige nur. Diejenigen, die überhaupt noch schauen konnten, die noch in der Lage waren, sich aufzurichten, sich zu bewegen, die Mundwinkel nach oben zu ziehen. Ruth hat ein Würgen nicht unterdrücken können, ist aus dem Vorführraum gerannt und hat sich auf der Straße übergeben müssen; sie war nicht fähig, den Anblick dieses namenlosen Elends noch länger zu ertragen. „Zu was Menschen fähig sind!“ Rupert hat ihr hinterher erklärt, solche Szenen müsse man aushalten können. Eben darum: um zur Kenntnis zu nehmen und einzusehen, zu was Menschen fähig sind. Ganz bewusst hat er ihre Formulierung aufgegriffen. Eingebrannt haben sich ihm diese Szenen. Unscharfe Momentaufnahmen in
Schwarz-Weiß. Dokumente des Unheils. Amateuraufnahmen von Knochen, Totenschädeln und anderen Überresten. Schnappschüsse von leeren Pritschen und vollen Massengräbern. Und er ist mit seinem Latein am Ende, als seine Frau ihn fragt, was mit solchen Folterknechten und Sadisten zu geschehen habe. Wie man hier verfahren solle. Wie man die Massenmörder zur Rechenschaft ziehen könne. Oder ob, nach moralischen Maßstäben, eine angemessene Strafe für sie und ihre monströsen Verbrechen existiere. Ob nicht eigentlich jegliche Bestrafung zu schwach sei, zu klein ausfalle. Das Wort „Bestie“ nehmen sie beide nicht in den Mund. Aber es fällt ihnen schwer, es nicht zu denken. Nun, hier in Hameln, obliegt es ihm, die Toten zu sühnen. Ihm und keinem anderen. Die an Abertausenden von Juden, Homosexuellen, politischen Gefangenen, Geisteskranken, Querdenkern, Widerständlern, Verschleppten, Zwangsarbeitern, Zigeunern und fahrendem Volk verübten Missetaten zu ahnden. Dem gigantischen Terror durch Todesstrafe etwas entgegenzusetzen, und sei es noch so unzulänglich. Auch auf die Gefahr hin, dass mit Unrecht auf Unrecht reagiert wird. Nach Ansicht der allermeisten aufgeklärten Menschen in dieser Zeit haben die Schinder und ihre Handlanger ihr Recht auf Weiterleben jedenfalls verwirkt, und es ist an Rupert, neuem Recht Geltung zu verschaffen. Wie eine Jungfrau zum Kind ist Rupert zu diesem seltsamen Privileg gelangt, nur weil der Generalfeldmarschall von seinen herausragenden Leistungen und Tugenden überzeugt gewesen ist. Weil ihm der Ruf als Perfektionist und humaner Henker vorauseilt. Diese zweifelhafte Ehre erwischt ihn auf dem falschen Fuß. „In Lüneburg, gar nicht so weit von hier“, eröffnet ihm O’Sullivan noch während ihres Rundgangs durch das triste Gebäude, „hat man sich die Täter von BergenBelsen vorgeknöpft, einem Konzentrationslager in der Heide. Die Schlimmsten der Schlimmen. Die Blutrünstigsten und die Gewissenlosesten. Zwei Monate hat der Prozess gedauert. Ein Militärgericht, von unseren Leuten abgehalten, hat die Urteile gesprochen. Sämtlich Todesurteile. Erst vor vier Wochen sind sie verkündet worden, in einer Turnhalle. Elf an der Zahl. Und noch zwei weitere. Zusammengenommen dreizehn. Begnadigungen gibt es keine.“ Und auch kein Erbarmen, denkt Rupert. Hameln wurde ausgewählt, erfährt er noch vorm Zubettgehen, weil es sich um keinen prominenten Schauplatz handelt. Weil die Gefahr von Störaktionen relativ gering ist, weil sich dieses Zuchthaus, was Lage und räumliche
Gegebenheiten betrifft, für die Durchführung der Massenhinrichtungen gut eignet und weil die Weserstadt, unauffällig und auch kein wichtiger Industriestandort, weit genug von Lüneburg und Bergen-Belsen entfernt liegt. Und ihn, Beaufort, hat man ausgewählt, weil schlampig ausgeführte Erschießungen wie bei früheren Exekutionen sich nicht wiederholen sollten. Die Richter wollen keine Dilettanten, keine Erschießungskommandos mehr, bevorzugen saubere Hängungen. Abgewickelt vom Saubermann höchstpersönlich. Rupert müsste sich eigentlich gebauchpinselt fühlen. Doch er verbringt eine unruhige Nacht, kann nicht auf Anhieb einschlafen, wälzt sich hin und her. Er verspürt einen Hustenreiz und erwacht mit verstopfter Nase. Sein Körper schmerzt, er fühlt sich wie zerschlagen – vielleicht hat er sich bei der langen Jeepfahrt durch den Regen doch erkältet. Oder die nervenaufreibende Aufgabe, die seiner harrt, bereitet ihm mehr Kopfzerbrechen, als er sich eingestehen mag. Am nächsten Morgen schreiten Patrick und er erneut durch die langen Flure. Diesmal nehmen sie die Häftlinge in Augenschein, die ihnen in aneinandergereihten Zellen durch die Gitterstäbe entgegenstarren. Öffentlich und nicht heimlich. Denn diesmal kommt ihnen kein Judasloch zu Hilfe, sie selbst müssen den Blicken der so erbärmlichen wie erbarmungswürdigen Todeskandidaten standhalten. Menschen, die gern und ausgiebig getötet haben, betrachten stumm Menschen, die sich zum mehrfachen, unumgänglichen Töten entschieden haben. Gewissenlose betrachten Gewissenhafte. Menschen, die sich ihre Opfer aufgrund ihrer Macht und ihrer Befugnisse aussuchen konnten, fixieren Menschen, denen man ihre Opfer, auf einmal „Verurteilte“ genannt, zugeteilt hat. Willkürlich Mordende stehen hier vorsätzlich Mordenden gegenüber. Lustmörder begegnen Pflichtmördern. Befehlsempfänger werden mit Befehlsempfängern konfrontiert. Ein makabrer Vorgang. Wie ein Besuch im Zoo. Nur dass hier den Kreaturen auf beiden Seiten der Gitterstäbe kein Ausweg zur Verfügung steht, keinerlei Fluchtmöglichkeit eröffnet wird. O’Sullivan, der mit den Vor- und Nachnamen der Insassen vertraut ist, zeigt Rupert den Lagerkommandanten Huber, einen Vierzigjährigen mit buschigen Augenbrauen und Inbegriff der Grausamkeit, den durchgeistigt wirkenden Arzt
Ellermann, der über Jahre hinweg tödliche Experimente an wehrlosen Häftlingen durchgeführt, Kindern Gift injiziert und Gesunde mit Krankheitskeimen infiziert hat, und jene drei plumpen Frauen, die ihre Schäferhunde auf KZ-Insassen gehetzt, Polen wie Russen gleich zu Dutzenden umgebracht und Zwangsarbeiter wahllos mit Genickschüssen niedergestreckt haben. Frauen, die trotzig dreinblicken und kein bisschen schuldbewusst wirken. Johanna Volkmann, Dorothea Grewe, Hedwig Pötzing. Anfang zwanzig. Junge Mütter könnten sie sein oder Landarbeiterinnen. Aber sie haben, sooft sich die Gelegenheit bot, ihre Peitschen auf die Rücken geschwächter Inhaftierter niedersausen lassen und dabei lauthals gelacht. Jetzt ähneln sie leblosen Schaufensterpuppen. Ihre Schmach ist unsichtbar. Ein Horrorkabinett der Sonderklasse, sollte man meinen. Das personifizierte Böse. Und doch unendlich banal. Menschen ohne besondere Merkmale. Menschen wie du und ich. O’Sullivan nennt ihre Namen ein zweites Mal. Hart klingende, nichtssagende Namen. Namen durchschnittlicher Deutscher, die sich an ihren Häftlingen vergangen haben und sich, wann immer ihnen der Sinn danach stand, zu unsagbaren Verbrechen gegen die Menschlichkeit haben verführen lassen. Von einem Regime, das ihnen zum Foltern und Quälen Tür und Tor öffnete. Jetzt hat der ewige Missbrauch ein Ende, jetzt sind sie selbst Häftlinge. In die Enge Getriebene, die vor Todesangst zittern und winseln. Auch wenn sie es sich nicht anmerken lassen möchten. Und Rupert versucht sich vorzustellen, wie ihre einstigen Häftlinge vor ihnen gezittert und gewinselt haben. Um Gnade gebettelt und gefleht. Es will ihm nicht gelingen. „Selten“, zu dieser persönlichen Bemerkung lässt er sich anschließend hinreißen, „habe ich so jammernswerte Angeklagte gesehen. In meiner gesamten Laufbahn.“ „Ihr Mitleid würde sich in Grenzen halten“, entgegnet ihm der britische Oberbefehlshaber, mit dem er am späten Vormittag zum Kaffeetrinken im Verwaltungstrakt des Zuchthauses zusammengekommen ist, schroff, aber bestimmt, „wenn Sie bei der Öffnung der Lager persönlich dabei gewesen wären. Und erst recht in den Jahren davor, wenn Sie in Belsen unter ihnen zu leiden gehabt hätten. Tag für Tag, Stunde um Stunde. Glauben Sie mir, Mitgefühl ist hier fehl am Platz. Wie nur selten.“
Rupert erwidert nichts, da er weiß, dass es sich um keine Zurechtweisung gehalten hat und auch um keinen Tadel, sondern wahrscheinlich um die bittere Wahrheit. Er selbst ist kurz angebunden, hat keine Lust auf Small Talk und Geplauder. Zum gegenwärtigen Wetter in Manchester hat er nichts Erhellendes oder Amüsantes zu sagen, Nachfragen zum Thema Pierrepoint-Dynastie sind ihm sowieso stets peinlich. Auch eine spontane Beschwerde, die er ursprünglich vortragen wollte – im Innenhof des Gefängnisses werden, mit einem Heidenlärm von Spaten und Schaufeln, gerade frische Gräber ausgehoben, was eine unnötige akustische Peinigung für die Verurteilten bedeutetet –, schluckt er um des lieben Friedens willen herunter. Obwohl er dieses lautstarke Scharren, Umgraben und Schürfen, dieses ewige Herumkratzen und Geschepper, wenn Metall auf Stein und festgefrorenen Boden trifft, den todgeweihten KZ-Tätern und ihrer gewiss ausgeprägten Einbildungskraft gerne erspart hätte. Lieber bittet er um Bedenkzeit, zieht sich für eine Stunde zurück und präsentiert gegen vierzehn Uhr seinen Plan für den genauen Ablauf der Massenhängung. Das Mittagessen lässt er sausen. Muss er sich doch erst an den Gedanken gewöhnen, erstmals in seiner Laufbahn mehr als zwei Unselige an einem Tag zu eliminieren. Und darauf zu achten, dass ihm dabei nicht der geringste Fehler unterläuft.
Die Frauen zuerst – dann die Männer. So lautet sein erster Beschluss. Die Frauen einzeln – danach die Männer in Zweiergruppen. Und so sein zweiter. Aus Rücksichtnahme auf die weiblichen Gefangenen. Damit wenigstens sie, durch die dünnen Zellwände nur notdürftig abgeschirmt, nicht von dumpfen Lauten, hervorgerufen durch das Herabsacken ihrer Vorgänger in nur wenigen Metern Entfernung, zusätzlich gepeinigt werden. Damit sie das Herunterkrachen ihrer früheren Kollegen und jetzigen Leidensgenossen nicht schon vor ihrer eigenen Exekution in den hellen Wahnsinn treibt. Damit sie nicht lange warten müssen, damit die gesamte Aktion möglichst schnell vorbei ist. „Wieder viel zu viel Feingefühl“, moniert der anwesende Gefängnisarzt, „das hier sind doch keine Damen!“ Die Männer hingegen, so befindet Rupert, haben das quälende Abwarten und die akustische Tortur eben auszuhalten. Sowie den Umstand, dass
sie nicht exklusiv getötet, sondern im Doppelpack entsorgt werden. Die Zellen, das ist bei der Inspektion sofort deutlich geworden, sind zu klein und zu eng, um die Verurteilten einzeln herauszuholen und zum Schafott zu geleiten, so wie es sonst üblich ist. Hier nun wird man sie herausrufen und ihnen auf dem Flur die Handfesseln anlegen müssen. Bevor sie einen recht weiten Weg zurückzulegen haben. Ein einziger, äußerst breiter Galgen, errichtet nach britischen Plänen, reicht aus, auch für die Doppelhängungen. Er ist in der Vorwoche im westlichen Seitenflügel des Zuchthauses aufgebaut worden, mit der Besonderheit, dass unter ihm zwei direkt nebeneinander befindliche Falltüren angebracht sind. Und es wird, wie es die Tradition doch eigentlich will, nach dem Eintritt des Todes auch keine oder keiner der Hingerichteten eine ganze Stunde weiterbaumeln können, Rupert hat dafür eine Zeitspanne von höchstens zwanzig Minuten angesetzt. So ist gewährleistet, dass die gesamte Serie von Tötungen innerhalb eines einzigen Tages vonstattengehen kann. Im Schnelldurchgang. Doch zuerst, am Vortag, gilt es ein für beide Seiten peinliches Verfahren durchzustehen, das Rupert in der Vergangenheit stets die Gefängnismediziner abgenommen haben, vor seiner Ankunft in der Strafanstalt: Die Sträflinge müssen einzeln gemessen und gewogen werden, auch kommt es, zwecks Feststellung und Überprüfung der Personalien, bei jeder und jedem zu einem kurzen Kreuzverhör. Mit ihm. „Name?“ „Alter?“ „Beruf?“ „Geburtsort?“ „Parteimitglied?“ Ein denkwürdiges Defilee. In aller Öffentlichkeit. Noch nie zuvor sind alle an einer Hinrichtung Beteiligten vierundzwanzig Stunden vorher in einem Raum versammelt gewesen. Noch nie zuvor hat Rupert den Todeskandidaten so oft und so unmittelbar Auge in Auge gegenübergestanden. Oder mit ihnen eine Unterredung geführt. Noch nie zuvor sind die schuldig Gesprochenen auf ihn zugetreten, hat die Gelegenheit zum gegenseitigen Mustern bestanden. Er muss an ein Theaterstück denken, und der dafür hergerichtete Hamelner Saal ähnelt einer Bühne. Und die ganze Veranstaltung einer Zeremonie oder Generalprobe. Für den morgigen Ernstfall. Personal steht an den Waagen und Messvorrichtungen bereit. Er selbst nimmt an einem länglichen Tisch Platz, mit einem Stapel Papier und einem Füllfederhalter
vor sich, und ruft die Verurteilten in der Reihenfolge ihrer morgigen Hängung zu sich, O’Sullivan übernimmt die Übersetzungen. Auf Fragen nach der Religionszugehörigkeit antworten nur drei von den dreizehn, die anderen schweigen, aber niemand von ihnen sagt: „Keine“. Rupert wird diese Merkwürdigkeit später in seinem Tagebuch verzeichnen. Rupert fällt auf, dass ihn Huber und Ellermann im Laufe der kurzen Dialoge mit großer Gelassenheit anschauen, so als hätten sie ihresgleichen vor sich. So als sprächen sie zu einem Ebenbürtigen. Sie sind sich ihres Ranges sicher, geben sich unantastbar. Und sie scheinen auch gespannt auf ihn zu sein, ein wenig neugierig. Die übrigen Männer, zumeist niedere Befehlsempfänger und nicht allzu intelligente Mitläufer, die als aktive Mörder und Totschläger jedoch so einiges auf dem Kerbholz haben, wirken eher demütig und verzagt, heben kaum die Augen. Ihnen steht das bevorstehende Ende schon ins Gesicht geschrieben, womöglich auch die Einsicht, dass sie es verdient haben. Ganz anders die Frauen. Dreist wirken sie, fast aufsässig. Ein spöttisches Lächeln umspielt ihre Lippen, aus ihren Augen spricht Hohn. Rupert sucht ihre Mienen und Gesten nach Empfindungen wie Angst und Bedauern, Panik und Schuldeingeständnis ab – und findet so gut wie nichts davon. Auch keine Reue. Bestenfalls Koketterie und Geringschätzung. Keiner der Gefangenen nutzt die Gelegenheit zu einem Kommentar oder einer Aussage, keine der Frauen bricht in Tränen aus oder erleidet einen Schwächeanfall. Eine zwinkert ihm sogar zu. Nur die jüngste von ihnen, Hedwig Pötzing, deren Grausamkeit in Belsen gefürchtet war, die einer Unschuld vom Lande gleicht und die ihn jetzt angrinst, als hätte sie noch ein Hühnchen mit ihm zu rupfen, presst ein ungeduldiges „Schnell! Machen Sie schnell!“ hervor, als er ihre Gewichtsangaben nicht rasch genug notiert und noch nach einer Frage sucht, die er ihr stellen könnte. O’Sullivan braucht ihm ihren Einwurf nicht extra zu übersetzen. „Ich werde mir Mühe geben“, antwortet er im Stillen und bewegt dabei nicht die Lippen, „es wird im Nu vorüber sein.“ Für sie, für ihn und für alle Anwesenden. Dieses stumme Versprechen will er gern ablegen. Er nickt Hedwig zu, doch sie hat schon auf dem Absatz kehrtgemacht.
Mittlerweile wundert ihn nicht mehr, dass sie alle auf „Nicht schuldig“ plädiert haben. Sie fühlten sich im Recht. Nun sind sie beleidigt, dass es auf einmal nicht mehr gelten soll. O’Sullivan bedeutet Rupert, dass die Untersuchungen abgeschlossen sind. Methodisch füllt Letzterer einen Bogen nach dem anderen aus. Rechnet und rechnet. Vergleicht und beurteilt. Rupert erschreckt die Leere, die von diesem traurigen Dutzend ausgeht. Und die Nacktheit, die es umgibt. Die körperlichen Hüllen dieser Männer und Frauen wollen nicht zu ihrer Vorgeschichte en. Und ihre aschfahlen Antlitze auch nicht. Er kann keinen Bezug erkennen zwischen den schlimmen Vorwürfen, deretwegen sie hier einsitzen und auf ihren Tod warten, und den trivialen Personen, die er soeben gemessen, gewogen und befragt hat. Haben sich ihre Untaten schon wieder verflüchtigt, haben sich ihre Gräueltaten in Luft aufgelöst? Ist diesen Folterknechten, Aufsehern, Medizinern und Lagerleitern mit bürgerlichem Recht nicht beizukommen? Entziehen sich ihre in einer Diktatur verübten Delikte einer demokratischen Beurteilung und Bestrafung? Ist das, was sie getan haben, zu „politisch“ und zu allgemein, um persönlich gesühnt werden zu können? Die Straftäter, mit denen er bislang in Berührung gekommen ist, schienen ihre Morde und Diebstähle, ihre Eifersucht und ihren Neid, ihre Raffgier und ihre Leidenschaft verinnerlicht zu haben, sie identifizierten sich mit ihren Verbrechen. Überdeutlich. Sie lebten diese Verbrechen weiter, standen im Einklang mit den Dramen, die sich abgespielt hatten, und den verwerflichen Handlungen, die unterdessen Teil ihrer Person und ihrer Persönlichkeit geworden waren. Alles an ihnen legte Zeugnis ab von ihrer Verstrickung und ihren vorangegangenen Abenteuern und Missgeschicken. Gramgebeugt hockten sie in ihren Todeszellen. Sodass die Hinrichtung fast wie eine logische Konsequenz ihres Tuns wirkte, wie dessen befriedigender Abschluss, wie dessen notwendige Vollendung. Wie eine Bürde, die Rupert ihnen abnahm. Wie eine einzige unausgesprochene Beichte. Nichts dergleichen in Hameln. Auch am Tag der Hängung selbst, bei der prominente Vertreter des Wandsworth und des Strangeways Prison zugegen sind, auch einige Sanitätsoffiziere und Pflichtzeugen, findet er dieselbe Reglosigkeit vor, dieselbe Gleichgültigkeit wie schon bei den Messungen. Wie Roboter
bewegen sich diese Verurteilten nun auf die Falltüren zu, wie ferngesteuerte Marionetten. Als er Lagerleiter Huber und Dr. Ellermann am 13. Dezember von dieser Welt verabschiedet, müsste sich eigentlich ein Gefühl der Genugtuung bei ihm einstellen, dass solche Menschenschlächter und Menschenverachter nun kein weiteres Unheil mehr anrichten können. Und der Befreiung. Rupert hingegen empfindet nichts. Für ihn sind die Verurteilten bereits tot gewesen, bevor er sie aus ihren Zellen gerufen hat. Hedwig Pötzing ist, wie angekündigt, fast gerannt, als er sie zu sich bestellte, hat gar nicht geschwind genug exekutiert werden können. Rupert hat ihr den Gefallen getan. Zack, zack! Achselzuckend ist sie dieser Welt abhandengekommen, achselzuckend macht er sich an die nächsten Todeskandidaten. Sie und er sind quitt. Ihn schmerzt es ganz besonders, dass, nachdem er sich der drei Frauen entledigt hat, nun jeweils einer von zwei Männern immer eine halbe Minute warten muss am Schafott, mit verhülltem Kopf, bis man den anderen dazugeholt und ebenfalls in Position gebracht hat. Rupert und Patrick haben, wie schon tags zuvor, ganze Arbeit geleistet. Die Simulationen haben sich bewährt, das Material ist auf Tauglichkeit und Belastbarkeit überprüft worden. Und hat dem Hinrichtungsmarathon standgehalten. Am Vormittag sind, genau wie er es sich überlegt und entschieden hat, die Wächterinnen und Aufseherinnen dran, zwischen neun und zehn Uhr dreißig. Alle zwanzig Minuten eilen Henker, Assistent und Obduzent nach unten. Zur Abnahme und zum Verfrachten in die einfachen, rasch zusammengezimmerten Spanplattensärge. Nach einer kleinen Frühstückspause wird ein zweiter Strick hinzugefügt, und es folgen die Männer. Paarweise. Beaufort und sein gelehriger neuer Gehilfe töten wie am Fließband, leisten Schwerstarbeit. „Ich hätte nicht geglaubt, dass Hängen so anstrengend ist“, hat der Jüngere bereits am Vorabend eingestanden, als der Ältere ihn anwies, ja nicht die vielen Papiere mit den notierten Angaben durcheinanderzubringen oder etwa die Fallhöhen zu verwechseln. Am späten Nachmittag des zweiten, entscheidenden Tages, die getöteten Gefangenen Nummer zwölf und dreizehn haben soeben ihre Anstandsfrist hinter sich, stehen sie beide verschwitzt und mit aufgekrempelten Hemdsärmeln in der
Grube. Wie sich herausstellt, sind den Hamelner Behörden die Särge ausgegangen; für die letzten Leichen – die sterblichen Überreste von Otto Scharch, Hauptscharführer, und Ludwig Schmittenstedt, stellvertretender Lagerkommandant – sind nur noch Leintücher übrig. Mottenzerfressen und unsauber. Ohne schützende Hülle werden die beiden draußen im Innenhof in wenigen Minuten verscharrt werden. „Skandalös“, schimpft Rupert, „erbärmlich“, und er macht seinem Unmut mit ein paar deftigen Flüchen Luft. Der Totenarzt konstatiert kaltschnäuzig: „Die werden doch ohnehin nachher alle in einen Topf geworfen. Und vergessen Sie nicht, was dieses Pack seinen Opfern angetan hat.“ Für Rupert aber ist dieser letzte Schritt, das Abnehmen, Reinigen und Wegschaffen der gehängten Menschen, ebenso wichtig wie alle vorangegangenen. Schlampig ausgeführte Arbeit mag er nicht gutheißen, auch wenn er in diesem Fall selbst nichts dafür kann. Lediglich O’Sullivans Verhalten bereitet ihm Freude. „Sie sind ein Naturtalent. So jemanden wie Sie könnte ich auch in England immer gebrauchen!“, lässt er ihn anerkennend wissen, „wollen Sie nicht mein Adlatus werden?“ Beide Männer lachen, wohl wissend, dass O’Sullivans Platz derzeit in Hameln ist und er, als Berufssoldat, im Alltag ja der Besatzungsmacht zuarbeitet, dass Patricks Name auch gar nicht auf der offiziellen Liste der Henker steht. Es ist ein Lachen der Erleichterung und des Einverständnisses, und zugleich ist es ein verzweifeltes Lachen, weil sie beide am Ende ihrer Kräfte sind. Spät am Abend nehmen sie, indem sie sich einen ordentlichen Ruck geben und weil sich das hier wohl so gehört, an einer Feier teil, die britische Besatzungsoffiziere für sie ausgerichtet haben, im Verwaltungstrakt des Zuchthauses. Es handelt sich um einen Stehempfang mit erlesenen Spirituosen. Zwei Stellvertreter von Montgomery geben sich die Ehre. Viele von den Militärs stehen stramm, als Henker und Gehilfe den Raum betreten. Und auch drei hohe Richter aus Lüneburg sind anwesend. Diesmal akzeptiert selbst Rupert, der vor Müdigkeit fast umfällt, ein Gläschen.
Kippt den süßen Wein in einem Zug herunter. Nimmt sich auch noch ein zweites und drittes Glas. Lässt sich eine Zigarre reichen. Ein hochdekorierter Soldat bringt einen Toast auf ihn aus und nimmt dabei Worte wie „Rächer“ und „Geschmeiß“, „Befreier“ und „Schlächter“ in den Mund, spricht vom „glücklichen Ende einer fatalen Heimsuchung“ und von „erfolgreicher Ausmerzung“. Es hagelt nur so Komplimente. „Sie haben uns von einer Plage befreit!“, ruft er aus. „Dank Ihnen sind Deutschland und das deutsche Volk die Ratten und das Ungeziefer los.“ Eine einzige Lobeshymne. Und natürlich eine Anspielung auf die weltberühmte Legende, die seit Jahrhunderten den zweifelhaften Ruf der mittelalterlichen Bürger Hamelns in die Welt hinausgetragen hat. Doch Rupert findet, der Mann hat sich völlig im Ton vergriffen. Ist das nicht beinahe dasselbe verheerende Vokabular, mit dem die Nazis sich an die Ausgrenzung und Auslöschung der ihnen verhassten Menschen gemacht haben? Dieselbe Hetze? Verabscheuungswürdiges Gerede über vermeintlich verabscheuungswürdige Mitbürger? Ist es schon wieder so weit oder geht es einfach wieder von vorne los? Dreht sich die Spirale der Diskriminierung von Neuem weiter? Oder hat sie etwa nie aufgehört, sich zu drehen? Sind in Wahrheit nur andere rechthaberischere Befehlshaber am Ruder? Sind lediglich die Seiten getauscht worden? Donnernder Applaus ertönt, vierzig Männerhände bearbeiten Ruperts rechte Schulter. Klopfen sie weich. „Great chap“, „Hero“, „We ire you“, bekommt er gleichzeitig und dann wieder zeitversetzt dutzendmal zu hören. Forderungen werden laut: „Einen Orden für Beaufort!“ Auf der Stelle müsse er ausgezeichnet werden. „Eine Verdienstmedaille!“ Auch er, so wünschen es sich die stolzen Besatzer, soll jetzt etwas sagen. Soll ihren Vernichtungsfuror, mit dem sie sich unbewusst fast auf dieselbe Stufe stellen wie die einstigen Machthaber, mit einer kleinen, solidarischen Ansprache absegnen. Ihnen ein gutes Gefühl vermitteln. Bescheiden winkt er ab. „Ich war und bin kein großer Redenschwinger. Mache nur meine Arbeit.“ Aber er lobt O’Sullivan. In den höchsten Tönen. Lässt ihm den Vortritt. Aus dem Stegreif improvisiert der Jüngere dann eine rhetorisch geschliffene Ansprache. Auch er würdigt Ruperts Verdienste. Doch mit einem feinen, weitaus
humaneren Vokabular. O’Sullivan, ganz der feinfühlige Philosoph, hat sofort kapiert, worauf es Beaufort seit Jahren ankommt: die Delinquenten nie schmoren zu lassen. Dafür zu sorgen, dass die Verurteilten nicht noch weitere, unnötige Unannehmlichkeiten über sich ergehen lassen müssen. Sie mit der nötigen Achtung zu behandeln und diese Achtung – vor dem kostbaren Leben, vor der menschlichen Seele – nie zu verlieren. Dazu beitragen, dass die Grausamkeit der Strafe stets viel geringer ausfällt als die Grausamkeit der begangenen Verbrechen. Dass auch dem Straftäter Würde und Respekt zustehe. Das alles sagt er und noch viel mehr Richtiges, Wichtiges und Schönes. Ruperts Adlatus kann Gefühle und Anschauungen ebenso gut übersetzen wie fremde Sprachen … Ein wackerer Geselle, ein Ausbund an Redlichkeit. Die anderen Männer schweigen. Ihre Missbilligung ist mit Händen greifbar – über den „party pooper“ und Spielverderber. Freude und Ausgelassenheit sind mit einem Schlag darin. Betretenheit macht sich breit. Beaufort aber genießt Patricks Redefluss. Hört ihm zu wie einem persönlichen Bauchredner. Genau so, wie O’Sullivan es formuliert, sieht er seine Berufung. Fühlt sich verstanden. Genau so hätte er alles selbst gern in Worte fassen mögen. Am nächsten Morgen lauern am Vorplatz des Gefängnisses und am Bückeburger Flugplatz erneut die Reporter. „Sie sind unser Rattenfänger!“, rufen sie, „our pied piper! Nationalheld!“ Zwischen Hangar und parkenden Flugzeugen ist der Teufel los. „Elendes Journalistenpack“, schimpft sein Fahrer, „lästige Meute!“ Rupert schiebt sie von sich weg. Es hilft nichts – es werden immer mehr. Sie vervielfachen sich. „Wie hat es sich angefühlt, Huber zu hängen? Hat er ‚Heil Hitler‘ gerufen? Hat er protestiert?“ Wie ein Bienenschwarm umschwirren sie ihn, dröhnen ihn zu mit ihren hässlichen und unbequemen, bösen und bohrenden Fragen. Ihre Notizblöcke und Kameras versperren ihm die Sicht, rauben ihm fast den Verstand. Sind sie nicht die Ratten, die man beseitigen sollte?, denkt Rupert. Ein Gedanke, der ihn jäh durchzuckt. Und schämt sich sofort dafür. Widerwärtige, pelzige Nager, die sich quiekend an seinen Nerven zu schaffen machen, die beißen und knabbern, die ihm zusetzen, seinen Seelenfrieden vergiften und die er ohne zu zögern ertränken könnte. Müsste man sie nicht loswerden, ihrem schändlichen Treiben Einhalt gebieten? (Von solchen Gedanken, sagt er sich später, ist niemand frei. Vor solchen Überlegungen ist niemand gefeit. Niemand darf behaupten, er sei zu solchen Vergleichen nicht imstande.)
Hier endlich hat er gelernt, was es bedeutet, für andere hassenswert zu sein. Hier in Hameln. Von den Berichterstattern. Von den Nazi-Schergen. Hat es lernen müssen. Und er selbst hasst sich für das verzerrte Bild von sich selbst, was durch seine Vernichtung elender Kreaturen, zu der man ihn gezwungen hat, entstanden ist. In seinen Eingeweiden rumort es. Er reißt sich los von den Fragenstellern, hastet zu seiner Maschine. Noch im Cockpit hält er sich die Ohren zu, obwohl ihn die durchsichtige Kunststoffscheibe und sein Helm ja vor dem Heidenlärm schützen, gibt auch nach dem Weiterflug, bei einem ersten Zwischenstopp in Ostfriesland und einem weiteren bei Dover, keinerlei Stellungnahmen ab. Er sehnt sich längst wieder nach England und ganz normalen Verbrechern. Sehnt sich nach einfachen Männern, die sich von menschlichen Gefühlen wie rasender Eifersucht und heimtückischer Habgier, von Rivalität, Zorn und Minderwertigkeitsgefühlen leiten lassen. Die stehlen, zuschlagen und morden, weil ein persönliches Bedürfnis sie antreibt. Ein unerklärbarer, doch im Moment der Tat irgendwie gesunder Hunger auf Gewalt, der augenblicklich gestillt werden muss. Mit solchen Unholden möchte er wieder zu tun haben. Mit authentischen Tätern. Liebend gern. Die britische Justiz tut ihm den Gefallen und holt ihn für gleich vier Hinrichtungen noch vor Jahresende nach Wandsworth und Pentonville. Vertrautes Terrain, lieb gewonnene Routine. Doch ehe er sich’s versieht, ist er schon wieder in Hameln. Bereits im März wird er ein weiteres Mal nach Niedersachsen einbestellt. Acht Kriegsverbrecher warten dort auf ihn und O’Sullivan. Und siebzehn im Mai, nochmals sechzehn im Juli. Die Todeszellen von London oder Manchester, Bath oder Liverpool müssen monatelang ohne seine Dienste auskommen. Bis zu einem Dutzend oder sogar noch mehr Todesurteile pro Tag auf deutschem Boden zu vollstrecken, ist für ihn bald der Normalfall. Und er füllt sich damit seine Taschen. Die Beauforts werden langsam aber sicher wohlhabend, weil er so viel ackert. 1947 schließlich kommt er kaum noch zum Luftholen – das Zuchthaus an der Weser wird durch ihn zu einem wahren Mekka verblendeten Hinrichtungseifers: Fast siebzigmal betätigt er den Hebel. Bis zum Ende dieses dritten Nachkriegsherbstes hat er in der Rattenfängerstadt bereits mehr Hängungen ausgeführt als zuvor in seiner gesamten
Henkerstätigkeit. Es werden, nicht nur scheinbar, wohl immer mehr Prozesse. Immer mehr Todesurteile. Immer mehr Folterknechte und Nazi-Sadisten, die getötet werden müssen. Wie die Ratten, schreibt die britische Boulevardpresse, kommen sie aus ihren Löchern gekrochen und werden – peng! – von Beaufort, dem Meisterhenker, abgefertigt. Eliminiert! Rupert fragt nicht nach, was sie verübt haben. Zieht die Schwere ihrer Schuld, das Ausmaß ihrer Vergehen nicht in Zweifel. Beschwert sich nicht. Zunehmend fatalistisch und bald auch ein wenig resigniert kommt er seiner Aufgabe nach. Als meistbeschäftigter Henker seines Landes. Als Star. Auf der Straße erkennt man ihm, will man ihm die Hand schütteln, bittet man ihn um ein Autogramm. Er fühlt sich zu Unrecht an den Pranger gestellt, an den Beliebtheits-Pranger. Findet, dass ihm viel zu viel Aufmerksamkeit zuteilwird – für die Verurteilten sollten sich die Leute interessieren! Die Reportagen indessen beschäftigen sich fast nur noch mit seiner Person. Rupert mag nicht mit anderen Prominenten in einen Topf geworfen werden. Will nicht als Hochleistungskünstler gelten, nicht im Scheinwerferlicht der Zirkusarena stehen. Er ist kurz davor, dass ihm alles zu viel wird. Dass er nicht mehr mag. Im Akkord töten – das hat nur wenig mit dem zu tun, für das er sich früher beworben hat. Im Akkord töten – das ist schlechter Stil. Unsauber. Würdelos. „Du könntest ruhig auch Nein sagen“, belehrt ihn Ruth, „du kannst ja auch ab und zu mal ablehnen.“ Ruth, der natürlich aufgefallen ist, wie deprimiert Rupert allmählich geworden ist. Wie ausgelaugt er wirkt. Wie es ihn aufregt, wenn in den Zeitungen aufgerechnet wird: hingeschlachtete Kriegsopfer gegen getötete Kriegsverbrecher. Oder wenn man in Statistiken festhält, mit wie vielen „Schweinehunden“ er inzwischen schon abgerechnet habe. Wie schwer es ihm fällt, im Pub die Fassade aufrechtzuerhalten, wie aufgesetzt seine sprichwörtliche Munterkeit inzwischen ist. „Du musst versuchen, wieder ausgeglichener zu werden.“ Leichter ausgesprochen als getan … Nun, ein Beaufort sagt eben nicht Nein. Auch wenn er der Belastung kaum noch Herr wird. Ein Beaufort weigert sich nicht. Und schließlich: Wenn er nun tatsächlich nicht nach Hameln reisen würde – wer käme denn sonst noch für diese wichtige Aufgabe infrage? Wer außer ihm wäre dazu überhaupt in der Lage? Wem nur sollte, wem nur könnte man diesen außerordentlichen Job anvertrauen? Da ist niemand. Es gibt nur ihn. Den Chief Executioner. Die Nummer eins. Den Spitzenmann.
Hat er es nicht selbst so gewollt? (Nein, das hier hat er nicht gewollt.) Fühlte er sich seine gesamte Jugend lang nicht zu Höherem berufen? (Da darf man sich jetzt nicht die Rosinen herauspicken und die Drecksarbeit geringschätzen.) Hat er nicht immer gewusst, dass in weiten Teilen der Gesellschaft ein ganz primitives Rachebedürfnis vorhanden ist, das von Zeit zu Zeit befriedigt werden will? (Da kann man gerade jetzt, nach dem gewonnenen Krieg nicht so tun, als wäre man sich für die Erledigung der Hamelner Aufträge zu fein. Als würde man die Überlegenheitsstimmung eines Siegervolkes über eine gedemütigte Nation verachten.) Nein, Hochnäsigkeit ist in den späten Vierzigern unangebracht! Mitgehangen, mitgefangen. So zynisch das auch klingen mag. Es hilft alles nichts, Rupert muss einfach bei der Stange bleiben. So ist er nun auch noch zum Fachmann für das unentwegte Töten geworden. Zum Zeremonienmeister einer Nachkriegsordnung, in der sogar die freiheitsliebenden, demokratischen Länder nicht ohne den Drang nach Vergeltung auszukommen vermögen.
Als er zwischen Spätherbst 1947 und Spätsommer 1948 eine weitere Hinrichtungsorgie in Norddeutschland zu verantworten hat und mehrfach im Monatsabstand nach Hameln gerufen wird, besorgt sich Ruth, der die Stabilität von Ruperts Seelenheil ein wichtiges Anliegen ist, in den Stadtbibliotheken von Hollinwood und Oldham ein paar Bücher mit den schönsten deutschen Sagen und Märchen. Vertieft sich an ihren einsamen Abenden in die Lektüre und macht sich Notizen. Bemerkt, dass es viele verschiedene und voneinander abweichende Fassungen der berühmten alten Geschichte gibt. Und beginnt, ihrem geplagten und erschöpften Mann – wenn er wieder daheim ist und sich beide am Spätnachmittag für den langen Abend im Pub umkleiden – daraus vorzulesen. Und sich mit ihm über den oft rätselhaften Inhalt auszutauschen. Lebhaft zu diskutieren. Was beiden zuerst auffällt, ist der sprechende Name des begabten Verführers von Tieren und Menschen in der Originalsprache. Rattenfänger: Damit ist eigentlich schon alles gesagt. „Wir hier nennen den Flötenspieler ‚pied piper‘. Von den
ekligen Nagern ist gar nicht die Rede.“ „Pied piper, als wenn sein wichtigstes Merkmal sein bunt geschecktes Gewand wäre.“ „Ein Exot. Einer, der schon durch seine seltsame Art sich zu kleiden auffällt.“ „Ein bunter Vogel halt“, kommentiert Rupert. „Ein Außenseiter. Etwas schräg. Und man weiß nicht, woher er kommt. Oder was er eigentlich genau will.“ „Wie ein Jägersmann sieht er aus. Die Leute misstrauen ihm. Und bewundern ihn gleichzeitig. Für seine Begabung und seine Hypnotisierungskunst.“ „Er jagt ihnen Angst ein. Keine Familie, keine Frau, keine Kinder. Herkunft unbekannt. Ein Magier vielleicht, vielleicht auch ein Verbrecher. Ein krummer Hund. Aber sie sind auf seine Fähigkeiten angewiesen.“ „‚Mit schrecklichem Angesicht‘, steht hier“, bestätigt Ruth. „‚Mit roter Kappe.‘ Wunderlich. Zwielichtig. Einem großen Hahn gleich, mit geschwollenem Kamm. Mit großen Schritten schleicht er durch die Stadt, plustert sich auf, bohrt seine Krallen in das Kopfsteinpflaster, lässt hie und da ein paar Flötentöne erklingen. Die Leute sind auf der Hut.“ „Sie irren sich. Er gibt ja ein Versprechen ab und hält es auch. Er erweist sich als ihr Lebensretter. Er holt für sie die Kastanien aus dem Feuer.“ „Ohne seine Dienste wäre die Stadt untergegangen. Überall Unrat. Elend. Seuchen. Hunger. Ihm gelingt es, mit seiner Melodie alle Ratten aus den Hän hervorzuholen. Aus ihren Löchern zu locken. Sie mit seinem Flötenspiel zu betören. Und, als er sie alle um sich geschart hat, ans Flussufer zu führen, wo sie sich ins Wasser stürzen. Er hat das Ungeziefer ertränkt.“ „Was für eine Leistung!“ „Wie das Wunder eines Heiligen. Ein bisschen so wie in der Bibel. Spukhaft.“ „Eine Befreiung, fast so wie nach dem Ende eines schrecklichen Krieges. Oder das schon nicht mehr für möglich gehaltene Ende einer jahrelangen Belagerung.“
„Die Erleichterung muss ungeheuer gewesen sein.“ Was Rupert empört, ist der anschließende Wortbruch. Der Verrat durch die Stadtväter. „Sie haben sich nicht an ihren Teil des Versprechens gehalten! Wollen ihn einfach nicht ausbezahlen. Der Bürgermeister und die Stadtoberen. Jetzt, wo sie die Plage glücklich überstanden haben, reden sie die Kunst des finsteren Gesellen klein. Und betrügen ihn um seinen gerechten Lohn.“ Kleingeist und Geiz anstatt Freude und Dankbarkeit. Es ist kaum zu fassen, findet er. „Sie sind die wahren Unholde. Nicht der seltsame Gockel.“ „Kein Wunder, dass er sich geprellt fühlt. Dass er sich an den Alteingesessenen und Dünkelhaften rächen will – nachvollziehbar und verständlich.“ „Er nimmt ihnen das, was ihnen am liebsten ist. Was ihnen am meisten bedeutet: ihre Kinder. Lässt seine Pfeife erneut ertönen und führt die Kleinen, immer weiterspielend, zum Stadttor hinaus. Lockt sie von ihren angestammten Spielplätzen ins Ungewisse. Führt sie zu einem Berg, der sich hinter ihnen schließt. Oder vielleicht in eine Höhle. Am heiligen Sonntag. Wo er die Stadt für sich allein hat, weil alle Erwachsenen beim Gottesdienst sind. Und alle Minderjährigen ohne Aufsicht.“ „Schrecklich. ‚Als die Eltern vom Kirchgang nach Hause kamen, waren alle Kinder verschwunden‘“, zitiert Ruth aus einer schon ganz zerlesenen Ausgabe voller Flecken und Eselsohren. „‚Sie suchten und riefen sie, sie weinten und flehten, sie jammerten und heulten. Doch alles Wehklagen war vergeblich.‘ Und der Schmerz über ihren Verlust unerträglich.“ In der Haut dieser Eltern möchten sie und Rupert nicht stecken. „Keines ist wiedergekommen, keines hat man je wiedergesehen. Sie haben keine Spuren hinterlassen. Erschütternd. Danach durfte in Hameln nie wieder fröhliche Musik in den Gassen erklingen. Jahrhundertelang herrschte Schweigen, wurde getrauert.“ Rupert denkt an die Totenstille bei seiner ersten Ankunft in Hameln. Grausig. Nur zwei oder drei Kinder sollen, erinnert sich Ruth, den Exodus überlebt haben. Der Überlieferung nach. „Ein kleiner Junge soll umgekehrt sein, um seinen Mantel zu holen, und sich verspätet haben. An anderer Stelle steht, er sei lahm gewesen. Zu schwerfällig. Und habe daher mit dem Kinderzug nicht Schritt halten können. Er ist der Entführung mit knapper Not entgangen. Ob er wirklich
Glück gehabt hat? Denn jetzt muss er ja ganz allein auf der Straße spielen, ohne Gefährten … Ein blindes Mädchen hat die Orientierung verloren. Und ist nicht imstande zu zeigen, wohin der Flötist die anderen mitgenommen hat. Ein drittes Kind war angeblich wohl stumm – und hat es nicht vermocht, Auskunft zu geben, was sich in Hameln wirklich zugetragen hat. Tragisch. Und zum Haareraufen.“ „Wem, findest du, ähnele ich am meisten?“, fragt Rupert unvermittelt, legt seine Hosenträger an und stopft sein Oberhemd in den engen Zwischenraum zwischen Trikot und Gürtel. Er hat sich in Rage geredet. Und dann auch noch unliebsame Parallelen entdeckt. „Dem Rattenfänger oder dem Kindermörder? Sag es mir ehrlich! Obwohl“, wendet er ein, „man ja nicht genau weiß, ob er den Kindern etwas angetan, sie gequält oder umgebracht hat. Oder sie anderweitig beseitigt hat. Vielleicht ertränkt – wie die Ratten. Vielleicht ist er aber auch sehr gut zu ihnen gewesen. Fürsorglich. Womöglich haben sie danach an einem viel schöneren Ort leben dürfen. In einem Paradies, in das ihre Eltern nicht hineindurften. Das sie nicht einmal von Weitem sehen konnten.“ Ein Bild, das Rupert ungleich besser gefällt. Mit dieser Ausprägung eines Menschenfreundes fühlt er sich seelenverwandt. Andere, die in der Klemme stecken, zu befreien und ihnen anderswo Schutz zu bieten, sie Güte spüren zu lassen: Genau das ist seine Mission. Seine Vorstellung davon, wie man in das Schicksal Schutzbefohlener einzugreifen hat. Wer will es ihm verdenken? Ruth antwortet lange nicht, legt die Stirn in Falten und seufzt. Betrachtet sich und Rupert im Schminkspiegel. Sie legt noch etwas Rouge auf und zieht die Augenbrauen hoch, um den Lidschatten besser auftragen zu können. „Um deinen Lohn bist du ja nicht gebracht worden. Im Gegenteil, du verdienst so viel wie nie zuvor.“ „Manchmal beschleicht mich der Verdacht, es sei schmutziges Geld. Manchmal befürchte ich, es sei von Grund auf unanständig, fürs Töten etwas anzunehmen. Sich für Gewalt bezahlen zu lassen.“ Auch wenn es sich um indirekte Gewalt handelt. Auch wenn er die Verurteilten, bevor er sie ins Totenreich lockt, kaum berührt. So gut zu ihnen ist, wie er eben kann. „Das war der Deal. Von Anfang an. Das hast du so gewollt. Dich gern darauf eingelassen. Du hast keinen Grund gehabt, dich zu beschweren. Und vergiss nicht den Stolz auf deine Leistungen: Darauf mochtest du auch nie verzichten. Du brennst doch für deine Arbeit.“
„Meinen Kopf muss aber ich hinhalten. Die anderen sind fein raus.“ „Nicht erst in Deutschland. Das hast du auch schon vorher getan. Hast nie gemerkt, wie sehr sie dich ausnutzen. Und wie oft.“ Es wurmt ihn, geht es Ruth durch den Kopf, dass die Richter und Staatsanwälte ihre Hände in Unschuld waschen und er für ihre Urteile und Justizirrtümer geradestehen muss. Das wurmt ihn ganz besonders jetzt, weil er durch seinen Dauerdienst in Hameln erstmals so richtig hinter die Kulissen zu blicken vermag. Und weil er diese Gruppe von Delinquenten nicht leiden kann. Sich für sie nicht zuständig fühlt. Weil das monotone, geschäftsmäßige Hinrichten dort für ihn ohne Sinn und Verstand erfolgt, weder Emotion noch Identifikation erlaubt – und dadurch arg an seiner Ehre kratzt. „Alles, was ich mir immer gewünscht habe, ist doch nur, Werkzeug zu sein. Mich und mein Gewissen aus den einzelnen Fällen und Vorgeschichten außen vor zu lassen. Als verlängerten Arm der Justiz sehe ich mich. Nicht als Sündenbock, der den Scherbenhaufen der Politiker zusammenkehren muss. Und die Versäumnisse der Alliierten wettmachen soll.“ Zuletzt hat ihn eine bleierne Schläfrigkeit überkommen, wenn er nur an das nächste Dutzend Kriegsverbrecher dachte, das in seinen Zellen an der Weser schon seiner harrt. Und jetzt ist er todmüde und antriebslos. So müde wie selten zuvor. Der bloße Gedanke an den nächsten Flug lähmt ihn bereits heute. „Soll ich Schluss damit machen, Ruth? Soll ich sagen, dass ich nur noch für Hängungen in England zur Verfügung stehe?“ „Das habe ich dir schon vor Monaten geraten. Und du hast erwidert, dass so eine halbherzige Entscheidung in London nie akzeptiert werden würde. Dass die Generäle deine Weigerung als Affront auffassen würden. Wahrscheinlich hast du damit auch recht gehabt.“ Sie überlegt und fährt fort: „Nun ist die Lage aber eine andere. Du kannst nicht mehr. Du bist kurz davor durchzudrehen, darling. Das weiß ich nur zu gut. Folge deinem Instinkt. Höre nicht auf mich oder sonst jemanden. Denk an deine Leidenschaft. An das, was dir am wichtigsten ist. Lass dir Zeit, geh in dich. Tu, was du für richtig hältst.“ „Dann riskiere ich, dass sie mich von der Liste streichen werden.“ Rupert überlegt laut. Er macht sich nichts vor: Wenn er den Behörden Schwierigkeiten
bereiten sollte, würden sie ihn wie eine heiße Kartoffel fallen lassen. Dann würde das Kartenhaus, durch einen unbedachten Impuls, in sich zusammenstürzen. Ein schwacher Luftzug, und alles wäre vorbei. Alles, was er mühsam errichtet hat, seine ganze zerbrechliche Lebenskonstruktion. Und mit seinem Ehrgefühl wäre es auch nach diesem Rückzug nicht mehr weither. Seine ganze Existenz – mit einem Schlag vernichtet. Ist es das wert? „Einmal fliege ich noch dorthin.“ Er besinnt sich eines Besseren. „Oder zweimal. Höchstens.“ Das kann ja nicht mehr ewig dauern, mit diesen britischen Prozessen auf deutschem Boden. Irgendwann müssen sie ja mal alle Missetäter geschnappt haben. Irgendwann wird auch die Besatzungszeit zu Ende gehen. Im Radio hat er schon davon gehört, dass es bald ein freies, selbstbestimmtes Deutschland geben wird. Ein Deutschland, das der Pesthauch des Völkermordes nicht mehr streifen wird. Ein Deutschland oder sogar zwei. Absurd: zwei Staaten statt einem. Auferstanden aus Ruinen. Ein Ende der Knechtschaft ist für den Kriegsverlierer bald in Sicht. Ohne Konzentrationslager, ohne Auspeitschungen und Vergasungen. Und dann ist auch seine Mission beendet. Kann er sich zu guter Letzt wieder auf die guten alten Engländer konzentrieren. Und auch auf die Schotten, Waliser und Iren, seinetwegen. „Was meinst du, Ruth? Einmal noch?“ Ist das ein Zeichen von Schwäche oder Stärke? Ruth kennt ihn ja durch und durch. Seine Selbstzweifel und eben auch seinen Sinneswandel. Sie tut so, als hätte sie keine Veränderung in seiner Stimme bemerkt. Als hätte sie das neu erwachte, trotzige Selbstbewusstsein nicht aus seinen letzten Sätzen herausgehört. Sie riskiert, dass seine Frage in der Luft hängen bleibt. Sie lässt zu, dass Rupert noch eine Weile unschlüssig bleiben muss. Sie vertraut darauf, dass er die richtige Antwort ganz von allein findet. Also lenkt sie ihn ab und kommt, als sie die Treppe zum Lokal hinabsteigen, wieder auf das Faszinosum Hameln zu sprechen. Und zieht ihn am Arm, für einen letzten Wortwechsel, nach draußen auf den Bürgersteig, wo beide ohne Mäntel in der Kälte ausharren und Rupert sich eine Zigarre anzündet. „Wenn du mich doch nur mal mit dorthin nehmen könntest!“, stößt sie hervor, während er sie zärtlich auf den Hals küsst. „Wir beide auf Spurensuche – das stelle ich mir
spannend vor. Die Stelle, wo die armen Ratten in den Fluss gerannt sind, würde ich zu gerne selbst einmal sehen. Betört von fremdartiger Musik. Mir die Schalmei anschauen, mit der der Gefiederte alle verzaubert hat. Und den mysteriösen Berg, in dessen Zentrum die unschuldigen Kinder verschwunden sein sollen. Wie Jonas, vom Wal verschluckt.“ Ruth und Rupert sind an einem Punkt in ihrem Gespräch angelangt, von dem es kein Zurück mehr gibt. Inzwischen ist Ruth davon überzeugt, dass er demnächst doch wieder nach Deutschland fliegen wird. Und auch die Verantwortung für die nächste Hinrichtungsserie übernimmt. Ohne dass er sich einreden muss, einen Judaslohn annehmen zu müssen – schließlich wird er niemanden verraten! Die Würfel sind also gefallen. „Dieses Ostertor – weißt du eigentlich, wo genau das ist? Und was bedeutet Bungelosen?“ Ihr Mann klimpert mit dem Schlüsselbund und wirft seine nur halb aufgerauchte Zigarre in die Gosse, tritt die Glut aus und drückt dann seinen Rücken durch. Der Pub ruft. Ein langer Abend und eine kurze Nacht warten auf sie beide. Er kneift sie in die Wange, gibt ihr einen Klaps auf den Allerwertesten. Setzt ein neckisches Grinsen auf. Dann versteinert seine Miene wieder. Er hat eine Lösung parat. „Ich werde O’Sullivan fragen. Der weiß so ziemlich alles. Und mit der Hamelner Sage ist er garantiert auch vertraut. Bestimmt kennt er die Orte und Schauplätze wie seine Westentasche.“
Als Rupert die letzten vier Male das Weserbergland aufsucht, inzwischen ist das Jahr 1949 angebrochen, setzt er diese Idee um. Nimmt sich jeweils eine Auszeit und lässt sich von Patrick in einem Privatfahrzeug herumfahren. Ohne Militärkennzeichen. „Tun Sie so, als wäre ich ein Tourist und Sie mein persönlicher Guide. Als wären wir zu unserem Vergnügen hier. Lassen Sie Ihre Uniform einfach im Schrank.“ Nun steht nur noch jeweils eine Hinrichtung bevor, die Massenexekutionen sind vorüber. Was ihnen für ihre Unternehmungen genügend Zeit verschafft. Wie nicht anders zu erwarten, hat O’Sullivan, wunschgemäß nun in Zivil, sich mit Gegend und Legende ausführlich beschäftigt. Die beiden Männer, mit einer
Thermoskanne und etwas Proviant auf dem Hintersitz, klappern die Gebirgszüge rund um die Weserstadt ab, fahren zum Süntel und zum Deister, wandern zum Klüt, zum Riepen und zum Bückeberg. Bei jedem Aufenthalt Ruperts stecken sie sich andere, neue Ziele. Einen Gipfel nach dem anderen suchen sie ab, kehren am Finkenborn ein, machen am Ith und am Ohrberg halt, am Basberg und an der Hohen Egge. In der Innenstadt besichtigen sie das Münster, betrachten das prunkvolle Hochzeitshaus aus der Zeit der Renaissance mit seiner im Krieg zerstörten Uhr, erkunden die vernachlässigten Seitenstraßen, schlendern die Wälle und die Weserufer entlang, begeben sich an die Standorte der ehemaligen Stadttore, umrunden die großen Mühlen und werfen einen Blick auf das Wehr, die einzige Staustufe weit und breit: gewissermaßen ein winziger künstlicher Wasserfall mit einer Art Schwelle, an der die Leichen der erst hypnotisierten und dann ertrunkenen Ratten vor fast siebenhundert Jahren flussabwärts vorbeigetrieben sein müssen. Der Adlatus erläutert seinem Henker die verschiedenen Theorien, die zur Legendenbildung geführt haben könnten – vom Kinderkreuzzug bis zum Kinderauszug. „Gesichert ist wohl, dass Werber deutsche Siedler für die Ostgebiete zu gewinnen versucht haben“, erklärt O’Sullivan. „Eine Art Kolonisierung hat stattgefunden, vermutlich im dreizehnten Jahrhundert. Die Kinder stehen, wenn das zutreffen sollte, stellvertretend für Tausende von verarmten Auswanderern, die in weiter Ferne ihr Glück versucht haben.“ Nicht weit von hier sollen damals heidnische Tänze aufgeführt und eigenwillige religiöse Riten praktiziert worden sein, auch ein nicht näher benannter Sektenführer könnte genau hier sein Unwesen getrieben haben: weitere plausible Hintergründe. Der sich öffnende und schließende Berg – wahrscheinlich ein Erdrutsch. Oder es wurden Jugendliche, immerhin der eigene Nachwuchs, in einem aussichtslosen Feldzug als Kindersoldaten verheizt – dieses Bauernopfer, das irgendein Regent oder Fürst sie zu bringen gezwungen hatte, musste verdrängt werden. Aus der Erinnerung der Menschen verbannt. So wurde vielleicht der Verlust einer ganzen Generation literarisch verschleiert. Wurden Schmerzensschreie zum Verstummen gebracht. Und die Rattenplage samt wundersamer Beseitigung? Patrick zuckt mit den Schultern. „Lässt sich nicht so richtig belegen. Hat möglicherweise etwas mit
der Pest zu tun. Obschon die erst einige Jahrzehnte später wütete und nicht genau hier. Ferner weiß man auch nicht, ob die schlauen Tierchen tatsächlich auf Frequenzen aus Blasinstrumenten reagieren. Oder sich aufgrund einer bestimmten Tonfolge oder einschmeichelnden Weise ins tödliche Nass stürzen.“ In der Bungelosenstraße sei, um das Andenken der entführten Kinder zu ehren, ein Trommel- und Musizierverbot erlassen worden. Das heutzutage weiterhin Bestand habe. Und der restliche Altstadtkern sei im Wesentlichen noch so erhalten, wie ihn der bunt gescheckte Pfeifer seinerzeit kennengelernt und durchstreift haben muss. Meinen die Historiker. „Das meiste wird sich wohl nie klären lassen.“ Die beiden Henker beenden ihren Rundgang wieder vor dem Gefängnistor. Zwei Reporter stürmen heran und wollen wissen, warum Beaufort diesmal eine Displaced Person hänge – also einen harmlosen Polen, der als inzwischen „staatenloser Ausländer“ lediglich geklaut und einen Polizisten dabei eher aus Versehen umgelegt habe. Der in Notwehr gehandelt habe. Und der eben kein KZ-Aufseher gewesen war, kein Herrenmensch. Rupert will nichts davon hören. Und schon gar keine Erklärungen abgeben müssen oder Rechtfertigungen. Er hat große Lust auf eine Tasse heißen Tee. Patrick folgt ihm in die kleine, kümmerliche Kantine, die im Alltag für das Gefängnispersonal reserviert ist. Sie sitzen sich gegenüber, reichen sich gegenseitig Milchkännchen und Zuckerstreuer und debattieren weiter. Es dauert nicht lange und O’Sullivan hat durchschaut, warum sich der Chief Executioner auf einmal so sehr für die Stadt und die Sage interessiert. Warum der „pied piper“ für Beaufort zu einer Obsession geworden ist. Weshalb er wie ein Detektiv, der zu Beginn seiner Ermittlungen noch völlig im Dunkeln tappt, sich jede Kleinigkeit erzählen, jede Vermutung begründen lässt. Bestimmt nicht nur, weil seine Frau, wie er vorgibt, eine echte Leseratte ist. „Keine Angst, Sir, Sie haben mit einem Rattenfänger auch nicht das Geringste gemein. Falls das Ihre Befürchtung sein sollte. Bei Ihnen ist keine Magie am Werk, keine Zauberkraft im Spiel. Don’t you worry: In Ihrem Metier geht alles mit rechten Dingen zu.“ „Mich erstaunt, dass mich nie ein Deutscher anspricht“, grübelt Rupert und schnappt sich einen trockenen Keks. „Dass mich nie einer wüst beschimpft oder mir zu schmeicheln versucht. Dass es keine Reaktionen von Einheimischen gibt. Irgendwo müssen sie doch sein, die Menschen, die große Befriedigung über mein Tun hier empfinden. Oder die uns“, er blickt O’Sullivan an und verbessert
sich rasch, „die mich für meine Einsätze aus tiefstem Herzen verabscheuen. Angehörige, denen ich ihre Liebsten geraubt habe. Deren Hass ich durch die Hängungen genährt habe. Wie Eltern, denen man ihre Kinder wegnimmt – oder sie entführt. Sie müssten doch zu allem fähig sein. Sie müssten doch zumindest bestrebt sein, meinen Ruf zu beschädigen. Alles dafür tun, um an meinem Lack zu kratzen.“ „Die Leute hier sind noch viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, Beaufort. Und ihre Scham hindert sie am Handeln. Sie liegen am Boden. Nach allem, was ihre Landsleute unzähligen Opfern im In- und Ausland angetan haben. Da ist man zu schwach, um zu protestieren und aufzubegehren. Was hier im Zuchthaus geschieht, gehört noch immer in den Bereich der Politik. Und die“, Patrick greift sich an den Hals und zieht mit der Hand auf Höhe seines Mundes einen Strich durch die Luft, „steht den Menschen bis hier! Davon wollen sie momentan nichts hören. Diese Leute müssen erst einmal lernen, Verantwortung zu übernehmen. Was es heißt, aktiv mitgemacht oder aus Feigheit die Augen zugemacht zu haben. Verantwortung für das, was im Krieg und in den Lagern alles an Schrecklichem iert ist. Für die Taten der anderen – auch dafür.“ „Was ist mit meiner Verantwortung?“, gibt Rupert zurück. „Bin ich sie denn nach erfolgter Bezahlung gleich wieder los? Kann ich mich von meinen Taten reinwaschen?“ „Sie haben Schuld auf sich geladen, Sir. Schwere Schuld. Das kann Ihnen niemand abnehmen. Da hat sich einiges angehäuft. Da ist viel zusammengekommen. Damit werden Sie weiterleben müssen. Ich übrigens auch …“ Am Nikolaustag, einen Tag nach diesem Austausch, laden Rupert und Patrick weitere Schuld auf sich. Indem sie Marek Czerwinski hinrichten, einen Zweiundzwanzigjährigen aus Warschau. Einen jungen Mann, der als Teenager von den Deutschen in ein Lager in Lodz verschleppt wurde, wo man seine Mutter vor seinen Augen hinmeuchelte, und dann in ein anderes bei Breslau, wo man ihn monatelang in einem Steinbruch schuften ließ. Er überlebte seinen Weitertransport nach Bergen-Belsen, überlebte Todesmärsche, Hunger und Folter. Und die Befreiung durch die Alliierten. Kaum zu Kräften gekommen, heiratete er nach Kriegsende eine Deutsche, zeugte ein Kind, geriet als Mittelloser wieder in ein Lager, diesmal im Harz, wo er als entwurzelter Zwangsarbeiter hauste und, um seine Not zu lindern, kriminellen
Machenschaften nachging. Zwischen den Wahlmöglichkeiten Hungernmüssen und Überlebenwollen entschied er sich für Diebstahl, besorgte sich eine Waffe und erschoss, auf frischer Tat ertappt, bei einem Handgemenge einen deutschen Ordnungshüter. Um seine nackte Haut zu retten. Als DP, als Displaced Person, wurde Czerwinski nicht von deutschen Gerichten, sondern von denen der britischen Besatzer angeklagt und verurteilt. Inzwischen haben sich die Westdeutschen eine neue Verfassung gegeben: Seit Ende Mai ist sie in Kraft. Die Todesstrafe ist abgeschafft – laut diesem Grundgesetz. Doch für Marek gilt die neue Regelung nicht. Er wird seinem staatenlosen Status entsprechend nach Alliiertenrecht verurteilt. Sein Fluchtversuch aus einem Gefängnis in Lüneburg wird vereitelt, sein Gnadengesuch, das er im Sommer in Hameln stellt, abgelehnt. Dabei hatte er 1944 zwei englische Soldaten, Fallschirmspringer, die versehentlich in der Nähe seines KZs landeten, durch eine mutige Intervention vor der Ermordung durch SS-Schergen bewahrt. Seine Heldentat wird nicht berücksichtigt, kein Brite legt ein gutes Wort für ihn ein, kein Deutscher verteidigt ihn. Seine siebenjährige Odyssee – ein Parcours ohne den geringsten Lichtblick, ein Parcours des Leidens und der Entbehrungen – endet in der Todeszelle an der Weser, wo sich Beaufort und O’Sullivan das letzte Mal wortlos verständigen, kooperieren, in perfekter Harmonie die Tötung ausführen. Von seiner Vorgeschichte haben sie praktisch nichts mitbekommen. Somit wird Czerwinski, eine tragische Figur, ohne sein Zutun auch zum allerletzten Menschen, der in Niedersachsen gehängt wird. Zu einem Phänomen für Statistiker: Der letzte zum Tode Verurteilte, dessen Strafe auch wirklich vollzogen wird. Der letzte Gefangene, der im Weserbergland sein Leben aufgrund der Entscheidung einer ausländischen Macht einbüßt. Der letzte Hamelner Todeskandidat. Auch für Patrick und Rupert ist die Stunde des Abschiednehmens gekommen. Rupert wird seinen Fuß nie mehr auf deutschen Boden setzen, nie wieder – abgesehen von einer Dreifach-Hinrichtung in Ägypten, Anfang der Fünfzigerjahre – eine Fließbandhängung vornehmen müssen. Etwas Schönes hält dieser grausame, traurige Tag dann doch noch für alle bereit: O’Sullivan bekommt, auf Ruperts Initiative hin, die Auszeichnung, die er für sich selbst immer erneut abgelehnt hat. Der Jüngere nimmt sie sichtlich gerührt an. Der Ältere, Lieutenant Colonel auf Zeit, heftet sie ihm ans Revers; die Offiziere spenden Beifall. Beaufort gibt seinen militärischen Rang auf und bricht ein
letztes Mal nach Bückeburg auf. Die beiden scheiden als Freunde. Die Hamelner Episode hätte eine Sternstunde sein können auf Ruperts langem Lebensweg als Henker. So etwas wie die Krönung seiner Ambitionen. Nun ist ihm klar, dass er hier nichts vollbracht hat, womit man angeben kann. Oder worauf er übermäßig stolz sein sollte. Aber auch nichts, dessen er sich wirklich schämen müsste. Wenngleich er seinen Prinzipien zuwidergehandelt hat. Kein Werkzeug hat er hier sein dürfen, sondern einfach Mittel zum Zweck sein müssen. Ein vergleichsweise billiger Auftragskiller ist er gewesen. Es wird nicht wieder vorkommen. Und einen Berufenen hat er immerhin entdeckt: den anhänglichen O’Sullivan. Der ihn, bei seinen knapp fünfundzwanzig Gastspielen in Hameln, an die zweihundert Mal am Schafott mustergültig unterstützt hat. Der ihm nie zum Munde reden musste, der ihm nie in den Rücken gefallen ist. Der, Verkörperung einer treuen Seele, ihn noch bis aufs Rollfeld begleitet. „Ich habe viel von Ihnen gelernt, Sir“, sagt Patrick, reicht Rupert die Hand, die er lange nicht loslässt, und bemüht sich, seine Bewegung zu verbergen. „Aber eines haben Sie mir nicht verraten: Wer wird uns eines Tages richten? Wem werden wir beide Rechenschaft ablegen?“ „Wenn ich es herausfinde, melde ich mich sofort bei Ihnen“, verspricht der Ältere. Er ahnt schon, kaum dass sich die Worte in seinem Mund zu formen beginnen, dass es auf diese delikate Frage nie eine abschließende Erwiderung geben wird. Auf diese Frage aller Fragen. „Vorher statten Sie mir aber bitte in meinem Pub einen Besuch ab. Alles, was Sie dann bestellen, geht natürlich aufs Haus.“ Adressen tauschen sie nicht. „Farewell, mein Lieber.“ Das hat er noch zu niemandem gesagt.
Die kleine Maschine dreht noch eine Ehrenrunde. Der Pilot hat ihm versprochen, über Hameln wegzufliegen, ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk an ihn, den beflissenen Henker, und so nimmt Rupert an diesem Dezembermorgen noch einmal das Zuchthaus in den Blick, die Brücken und das Wehr, die Pfortmühle und die Weserufer. Seine Wirkungsstätte. Er späht herab. Wo sind sie nur hin, seine vielen Toten, diese brutalen, abgestumpften Menschen, deren Lebensreisen er in den letzten vier Jahren
abrupt verkürzt hat? Wo haben sie sich versteckt, die Kinder des Pfeifenspielers, diese Arglosen, die einst einer irisierenden Melodie auf den Leim gingen? Wo haben sie einen Unterschlupf gefunden, die flinken, grässlichen Tierchen, diese Ungeliebten, von denen sich einst alle angewidert abgewendet haben? Er nimmt die Landschaft in den Blick, die sanft abfallenden Hügel, die Kurven des Wasserlaufs. Im Bauch welchen Berges, in den Untiefen welchen Waldes, im Bett welchen Flusses verbergen sie sich? Alle Spuren scheinen verwischt. Er ignoriert den Motorenlärm, blendet ihn einfach aus und sperrt die Ohren auf. Und es zeigt sich auch hier: Keine Kreatur klagt ihn an. Kein Trauender erhebt Einspruch. Kein Vorwurf bringt ihn aus der Flugbahn. Es ist kaum zu glauben. Er horcht noch ein wenig genauer hin: Er hat sich nicht geirrt. Es ist still. Kein Flötenton klingt durch die klirrend kalte Winterluft zu ihm hinauf.
8
Wie ein müdes Kind
In jenen Kriegswochen, in denen Irina sich mit dem Gedanken trug, mich bei einem internationalen Vorspiel in Turin anzumelden, damit ich mich an einem Wettbewerb für Nachwuchspianisten beteiligte, damit ich mich endlich zeigen und der ganzen Welt beweisen konnte, was alles in mir steckte, endete unser märchenhaftes Kammerspiel, bei dem uns so lange niemand gestört hatte. In jenem Frühsommer 1942 hatte sie mich bereits verloren. Da war der in ihrer Schloss-Enklave von Apricale gemeinsam geträumte Traum, war unsere außergewöhnliche Zweisamkeit schon wieder vorbei. Schützte uns kein Baldachin aus Wünschen und Hoffnungen mehr. Wissen konnten sie und ich das noch nicht. Allein die Vorstellung von der weiten und beschwerlichen Anreise, die Küste entlang über Albenga und Savona bis ins Piemont, brachte Irina zur Verzweiflung. Von früh bis spät jammerte sie mir die Ohren voll. „Alles nur deinetwegen, Sandro! In meinem Alter … In meinem Zustand …“ Der Termin rückte immer näher, unsere Aufregung wuchs, und schließlich war meine Teilnahme beschlossene Sache. Sie und ich machten uns auf. Die Fahrt, mit Zug, Taxi und Privatwagen, verlief dann vergleichsweise glimpflich. Einmal vor Ort, war Irina jedoch sofort wieder die alte, welterfahrene Komarova. Eine Autorität. Ich erlebte sie im Gespräch mit Kollegen, Musikerfreunden und mutigen Jurymitgliedern, die es trotz Reisebeschränkungen und Grenzsperrungen irgendwie geschafft hatten, aus den verwüsteten Großstädten Europas ins schöne, in rechtwinkligen Rastern angelegte Turin zu gelangen. Niemand, der sie hier agieren oder parlieren sah, wäre auf die Idee gekommen, dass sie sich in einem kleinen ligurischen Bergdorf wie in einem Schneckenhaus zurückgezogen und sich jahrein, jahraus um die Begabung eines kleinen Jungen gekümmert hatte. Eines kleinen Jungen, der unterdessen vierzehn war und jederzeit in der Lage, ihr die Schau zu stehlen. Hier, zwischen den einzelnen Runden des Wettbewerbs, sprach sie nun mit anderen Pianisten ihrer Altersgruppe über Strawinsky und Schönberg, über Schostakowitsch, Honegger und Hindemith, als wäre sie diesen fünf zeitgenössischen Meistern erst vor wenigen Tagen zum letzten Mal begegnet, navigierte zielsicher durch die wenigen Restaurants der Stadt, die in diesen schweren Zeiten noch geöffnet hatten, besuchte mit mir den Palazzo Madama,
humpelte den Corso Vittorio Emanuele entlang und stellte mich den Großen ihrer Zunft vor – als zweiten Rubinstein oder neuen Lipatti. „Sein Spiel ist zum Niederknien, sein Ausdrucksvermögen enorm.“ Sie jonglierte mit Superlativen, strotzte vor Selbstbewusstsein und Siegesgewissheit. „Und seine technischen Fähigkeiten sind über jeden Zweifel erhaben.“ Ich ließ mich vorführen. Ich hielt es aus, dass Irina mich wie einen dressierten Hund behandelte. Wie eine Attraktion im Zirkus. Ich wollte, dass sie zu Recht stolz auf mich sein konnte. Ich durfte sie nicht enttäuschen. „Deine erste Talentprobe! Du weißt ja, was auf dem Spiel steht …“ Die Skepsis war groß in Turin, man erkannte den Provinzler in mir. Sah nur ein ungehobeltes Kind, ein Kasperle aus den Bergen. Konnte mich leicht mit einem Aufschneider verwechseln, mit einem unreifen Debütanten. „Besser unterschätzt als überschätzt“, bekam ich von Irina zu hören, „denk beim Vortrag an nichts Besonderes – nur an das, was du und ich abgesprochen haben!“ Unbeirrt von Vorurteilen, Unterstellungen und großstädtischer Hochnäsigkeit hielt ich mich also an mein Programm, machte Irina alle Ehre. Gab alles. Runde für Runde arbeitete ich mich voran, kam weiter, spielte meine Mitbewerber gegen die Wand – und gewann. Setzte mich gegen ältere Jugendliche und junge Erwachsene aus Rom und Madrid, aus Oslo und Edinburgh durch. Mit Schumanns Kinderszenen, zwei Scarlatti-Sonaten und einer Ungarischen Rhapsodie von Liszt. Wildfremde Menschen erhoben sich von ihren Sitzen und spendeten mir Beifall. Als Clown hatte ich die Bühne betreten, als Gaukler und Kuriosum, und als Sieger verließ ich sie wieder. Als Held. Eine Urkunde bekam ich auch und einen Blumenstrauß. Irina war außer sich vor Freude und heimste die Ovationen für mich ein. Und dirigierte die Reporter, kaufte mir rasch einen dunklen Anzug, band mir die Fliege, zog mir den Scheitel, antwortete für mich. Die Fachleute griffen ihre Schlagworte und Formulierungen dankbar auf. „Die größte pianistische Hoffnung auf unserem krisengebeutelten Kontinent!“, so stand es wenige Stunden darauf in der Konzertkritik eines Schweizer Journalisten – ich brachte die Ausgabe der Zürcher Tageszeitung meinen Eltern mit und las ihnen daraus vor. Betreten schwiegen sie. „Brillanz in Reinkultur“, telegrafierte ein
amerikanischer Fachmann nach Übersee. Überhaupt klang alles, was man mir in jenen Tagen sagte oder zurief, nach Überschwang und Bewunderung, nach Anerkennung und Triumph. Ich verstand nicht wirklich, was um mich herum vorging. Bislang war ich Irinas Spielball gewesen, der nun in einer anderen Ecke des weiten Feldes, das sich internationaler Konzertbetrieb nannte, aufschlug. Offenbar weiter, höher, spektakulärer als erhofft oder erwartet. Sie blieb zurück. Wie eine Trainerin, für die man nun keine rechte Verwendung mehr hat. Ich wurde herumgereicht. Professoren aus Mailand und Rom wollten mich hören. Mit mir wurde spekuliert. Mein Kurswert stieg von Woche zu Woche. Niemand nannte mich mehr Sandro, jetzt sprach man von mir nur noch als „dem jungen Magazzano“. Jedes zweite Wort, mit dem man mich in Zusammenhang brachte, war „Zukunft“, jedes dritte „Karriere“. Ich lernte die Annehmlichkeiten bequemer Hotels schätzen, staunte über die Qualität der Speisen, die man mir vorsetzte, wurde täglich neuen Koryphäen vorgestellt. Ich glich einem seltenen Tier in freier Wildbahn. Alle wollten mich haben, mich einfangen. Alle wollten mich zähmen. Brenda war es, der ich ins Netz ging. Warum Irina und ich gerade ihr den Zuschlag erteilten, weshalb wir uns ausgerechnet von ihr einwickeln ließen – rückblickend kann ich diese vorschnelle Entscheidung nur meiner bodenlosen Unwissenheit zuschreiben, meiner Naivität und Unerfahrenheit. Am Geldsegen, den sie uns in Aussicht stellte, an verlockenden materiellen Perspektiven konnte es nicht gelegen haben: Das war uns herzlich egal. Uns ging es um die Musik, um die richtigen Emotionen. Irina fiel wohl eher auf Brendas Zungenfertigkeit herein, ihre Nonchalance und ihre so angenehm zurückhaltende britische Art. Und ich auf ihre diskrete erotische Ausstrahlung. „Dieser Miss Finnegan merkt man die gute Kinderstube gleich an“, nickte meine Mentorin, „das ist mir mal eine Dame mit Manieren.“ Ich pflichtete ihr bei – und stellte mir dieselbe Miss insgeheim nackt vor, entdeckte, dass Frauen, die keine Mädchen mehr waren, aber auch noch keine
Mütter, mich körperlich erregen konnten. Wie forsch diese junge, ehrgeizige Agentin sein konnte, wie rigoros und wie gefühlskalt, entzog sich damals noch unserer Kenntnis. Und wir hätten es beide nicht für möglich gehalten, dass sie jederzeit bereit war, über Leichen zu gehen. Doch kein halbes Jahr später war meine liebe alte Russin auf dem Abstellgleis gelandet, und Brenda hatte das Zepter in die Hand genommen. Brenda Finnegan, die mir des Nachts feuchte Träume bescherte, hatte schnell herausgefunden, dass zwischen Irina und mir keine vertragliche Abmachung bestand, und so machte sie sich diesen Umstand zunutze und stutzte ihrer alten russischen Vorgängerin die Flügel. Zwar schwafelte sie etwas davon, dass Signora Komarova „selbstverständlich auch weiterhin“ die künstlerische Hauptverantwortliche in unserem Trio bleiben würde, und eine Zeit lang gingen der Unterricht und die vertrauten Nachmittage in Apricale auch weiter, gaben Irina und ich uns dieser Illusion hin, ließ sich die seltsame Dreieckskonstellation Lehrerin – Managerin – Künstler aufrechterhalten. Aber der Krieg war noch nicht zu Ende, als Brenda bereits mit dem früheren Arrangement und mit eigentlich allem, was uns lieb und teuer war, Tabula rasa gemacht hatte: mit Erfolg. Sie hatte mich verführt, mir eingeschärft, als noch Minderjährigem niemandem, wirklich niemandem von unseren Amouren zu erzählen, und mich anschließend dauerhaft zu ihrem Liebhaber gemacht. Sie hatte Unsummen in mich investiert und bereits jede Menge Pfund und Lire an mir verdient. Von jeder Gage strich sie mindestens drei Viertel ein. Sie knebelte mich mit einer schriftlichen Vereinbarung, deren Klauseln ich nicht durchschaut und deren Kleingedrucktes ich mir nie sorgfältig durchgelesen hatte. Sie verwaltete und kontrollierte meine Einnahmen, legte Konten für mich an, entschied, wen ich wann und wo traf. Sie setzte ihre Bereitschaft zum Liebemachen mal als Belohnung, mal als Druckmittel, mal als Instrument der Bestrafung ein. Und sie setzte durch, dass ich nach England zog und Italien und meine andere große, aber platonische Liebe möglichst rasch vergaß. Es war unmöglich, ohne sie das Haus oder die Hotels zu verlassen. Brenda te auf wie ein Schießhund. Ich verbrachte praktisch meine gesamte Zeit mit ihr, in Großstädten wie Mailand und London.
Doch konnte ich mich wirklich beklagen? Mit erst siebzehn, achtzehn Jahren kam ich fünfmal die Woche bei einer attraktiven Frau zum Zuge. Ich war immerhin als noch Halbwüchsiger weit über Europa hinaus bekannt, hatte in den wichtigen Konzertsälen der alten Welt, sofern sie nicht in Schutt und Asche lagen, schon gastiert, in manchen sogar mehrfach, und die letzten technischen oder stilistischen Finessen brachten mir verdiente Klavierpädagogen bei, die jeweils nur für wenige Wochen engagiert wurden. Sobald jemand seine Schuldigkeit getan und zu meiner Perfektionierung beigetragen hatte, wurde er umgehend wieder über Bord geworfen. Nach Apricale kam ich nur noch für Stippvisiten. Und für einen richtigen, würdigen Abschied von Irina fehlte die Zeit. Als ich herausfand, wie sehr ich sie vermisste, als ich bemerkte, wie lange ich mich schon nicht mehr so geborgen gefühlt hatte wie in ihrem Palazzo, waren schon einige Jahre vergangen. Anfangs schrieben wir uns noch, diskutierten aus der Ferne neue Partituren, besprachen die künftige Auswahl einzustudierender Werke, anfangs weinte ich noch um die verlorenen, unwiederbringlichen Monate mit ihr, meiner unersetzlichen Babuschka, die ja letztlich daran schuld war, dass ich auf diese lange, ungewisse Lebensreise gehen musste. Ich beantwortete die langen Briefe, die Irina mir aus ihrem ligurischen Musikzimmer schickte, mit noch längeren Seelenergüssen, las mit Genuss die vielen, mit ihrer schönen, geschwungenen Schrift bedeckten Seiten. Beeilte mich, ihr alles Wissenswerte mitzuteilen, was sich für mich in so rascher Folge ereignete. Worauf sie nicht wirklich einging. Nun hatte sie niemanden mehr in ihrem Leben, konnte ihr Wissen nicht mehr weitergeben, sich an keinem Wunderkind mehr erfreuen. Irgendwann blieben die Schreiben aus, und Umberto sagte nur, dass er die Signora Komarova schon sehr lange nicht mehr gesehen und nicht einmal spielen gehört habe. Nur dem Butler sei er zuweilen begegnet, in der Bäckerei oder im Postbüro unten im Tal. Das Persönchen war gleich nach Kriegsende verstorben. Um die Eltern anrufen zu können, musste ich vorher jedes Mal einen Termin mit dem Rathaus in Dolceacqua ausmachen, denn im Dorf gab es keinen Bekannten, der über einen Fernsprechapparat verfügte, und auch keine öffentliche Telefonzelle. Und Gennarino und Serafina mussten dafür jedes Mal extra anreisen. Wenn meine Mutter schließlich abnahm, seufzte sie nur, seufzte erneut,
atmete tief ein und schwieg, merklich bewegt, fand aber keine Worte; wenn mein Vater dranging, sprach er ausschließlich von Fabrizio und der Werkstatt. Keiner von beiden erkundigte sich nach meinem Wohlergehen oder meinen Fortschritten in der Musikwelt. Keiner von beiden gratulierte Brenda und mir später zur Hochzeit oder leistete der auf lilienweißem Büttenpapier gedruckten Einladung zum Fest unserer Vermählung, mit der wir sie nach London zu locken versucht hatten, Folge. Ganz selten traf einmal eine Postkarte von Umberto ein, stets mit demselben Wortlaut: „ auf dich auf, Sandro. Versprich es mir. Dein Bruder.“ Und dann, ein einziges Mal nur, rief er mich an, in Brendas Haus in London. „Gib mir noch einmal deine genaue Adresse, caro. Ich möchte dir Irinas Todesanzeige zuschicken.“ Fast neunzig war sie geworden. Und ich hatte sie einsam und allein sterben lassen, einfach so … Als ich die Anzeige erhalten hatte, auf der sich unter der Liste der Trauernden alle möglichen Namen fanden, russische, amerikanische und französische, polnische, italienische und englische, aber unverzeihlicherweise nicht meiner, ließ ich sie, gemeinsam mit einer Ansichtskarte von meinem Dorf nebst einem verwackelten Foto von meiner geliebten Russin und mir, das ein Pressefotograf in Turin angefertigt hatte, rahmen und hing die Collage in meinem schalldichten Londoner Arbeitszimmer an die Wand. Über das Kopfende meiner JugendstilChaiselongue. Ich wusste, dass Brenda damit nicht einverstanden war. Sie als Firlefanz ansah. Mir war sie wichtig. In einer ruhigen Minute betrachtete ich diese Souvenirs, die einzigen sichtbaren Indizien, die mich noch mit Italien verbanden, und trauerte auf meine Weise: Ich spielte etwas von Rachmaninow. Die g-Moll-Barcarolle oder etwas Melancholisches aus seinen vielen Etüden, einem Universum, in dem wir beide uns so lange frei hatten bewegen können. Spielte nur für Irinas Ohren. Nur für sie.
London, jedenfalls das London der Finnegans, war mir immer fremd geblieben. Das unsägliche Klima, der ewige Nebel, die hässlichen Backsteinbauten, die schwarzgraue Themse, das ungenießbare Essen, die Arroganz der Upper Class und vor allem Brendas Clique aus hochgebildeten, stets um die Wahrung ihrer Interessen besorgten Zynikern, ein widerliches Milieu aus Konzertkritikern,
unzufriedenen Ehefrauen und eloquenten Dilettanten, in dem man, anlässlich öder Cocktailpartys, Belanglosigkeiten zu welterschütternden Ereignissen aufbauschte und mich, den tumben Virtuosen und dunkelhäutigen Bauernbengel, nie für voll genommen hatte. Als sie und ich jetzt auf dem Rückweg vom Heathrow Airport im Taxi nebeneinandersaßen, in eisigem Schweigen verharrend, fragte ich mich, wie ich es hier die nächsten Monate oder gar Jahre aushalten sollte, ohne schweren Schaden zu nehmen. Ich sehnte mich schon jetzt nach Paris zurück – nach dem je nach Tageszeit muffigen oder süßlichen Métro-Geruch, nach den sandigen Plätzen im PalaisRoyal, in den Tuilerien und auf dem Square des Batignolles, auf denen alte Männer selbstvergessen Boule spielen, nach einem zünftigen Apéritif im Deux Magots, nach der lieblichen heure bleue in der Avenue Trudaine, unterhalb des Montmartre, und nach dir und deinem Körper, Géraldine, den ich nun schon seit mehreren Tagen nicht mehr begehren, spüren oder berühren durfte. Ich fragte mich, wie es nur angehen konnte, dass ich mich hier, auf den sündhaft teuren Ledersitzen des sündhaft teuren Cab, durch den dichten Verkehr in die Londoner City steuern ließ, Seite an Seite mit einer Frau, mit der mich nichts verband, womöglich nie sonderlich viel verbunden hatte und von der ich mir jetzt sicher war, dass sie noch nie von Amors Pfeil getroffen worden war. Ich sagte mir, dass doch auch sie erkennen musste, dass der Lack ab war. Dass wir keine gemeinsame Zukunft hatten. Ich gab mir größte Mühe, sie nicht direkt anzuschauen, ich wartete auf ihren Wutausbruch, auf eine Strafpredigt oder Standpauke, auf Anschuldigungen und eine ganze Serie von nicht ganz unberechtigten Vorwürfen. Meine Sünden hatten mich eingeholt, jetzt würde sie mit mir abrechnen. Aber Brenda hielt sich zurück. Was ihr nicht ähnlich sah. Kurz bevor wir am Familiensitz der Finnegans anlangten, sagte sie nur, mit lässiger, betont gleichmütiger Miene: „Ich hoffe, du hast deine schöne, lange Auszeit in Frankreich genossen, darling. Mein Vater war sehr traurig, dass du ihn nicht noch einmal besuchen gekommen bist. Sicherlich warst du anderweitig beschäftigt. Mir ist nicht ganz klar, warum du mir noch immer nicht richtig kondoliert hast. Du wirst deine Gründe haben. Nun jedoch wartet jede Menge Arbeit auf dich und mich. Vergessen wir Paris. Gib mir einen Kuss, pack schnell aus und mach dich frisch. Wir sind zum Dinner bei den Mortons eingeladen.“ Einem alten, aber schwerreichen Paar von einflussreichen Langweilern. Ich stöhnte auf, lief vor Brenda die Wendeltreppe hinauf und schloss mich eine
Viertelstunde im Badezimmer ein. Es nutzte nichts. Ich musste mit. Wir bemühten uns beide um Schadensbegrenzung. Es herrschte Waffenstillstand. Fürs Erste. Ich nahm meine Konzerttätigkeit wieder auf, reiste in Privatflugzeugen quer durch Europa, ging auf Werbetour für meine neue Pariser Schallplatte, für die ich vortreffliche Kritiken einheimste, gab Interviews. War wieder der alte, artige Sandro. Meine Frau organisierte in einer Nobelherberge im Engadin einen Empfang mit Presseleuten und Kulturkorrespondenten für mich, bei dem ich im Scheinwerferlicht stand und sie im Hintergrund die Fäden zog. Auch weiterhin schliefen wir in getrennten Zimmern, wo ich mich nächtelang nach dir verzehrte, Géraldine, und keinen Schlaf fand. Und wo Brenda, nebenan und ebenfalls wach liegend, eben doch auf Rache sann. Wie mir erst nach einigen Wochen klar wurde. Denn ihre neue Taktik machte sich nicht etwa auf einen Schlag, sondern Stück für Stück bemerkbar: eine subtile, fiese Stichelei hier, eine giftige Bemerkung dort, ein süffisanter Kommentar, mit dem sie mir zu verstehen geben wollte, dass sie sehr wohl über meine Liebesaffäre Bescheid wusste und nicht bereit war, sie einfach so hinzunehmen, und danach, immer öfter und schmerzhafter, heimtückische Attacken und gezielte Tritte in die Magengrube – mit rhetorischen und psychologischen Mitteln. Als wären die verbalen Foltern – scheibchenweise zugefügt – noch nicht genug, setzte mir Brenda einen Zerberus vor die Nase: Arthur, einen ungepflegten, gesprächigen Dickwanst aus den Vorstädten, der mich mit seinem pausenlosen Cockney-Gequatsche zur Weißglut brachte und mir, punkt- und kommalos auf mich einredend, auf Schritt und Tritt durch London folgte, wo immer ich hinwollte. So sorgte sie dafür, dass ich keine freie Minute hatte und ständig unter Bewachung und Beobachtung stand, dass ich ihr nicht aus dem Weg gehen konnte, dass keine weitere Frau mich ihr wegschnappen konnte. Binnen eines Vierteljahres war ich ihr Gefangener, ja ihr Leibeigener; die Beschneidung meiner Freiheitsrechte hatte schlimmere Ausmaße angenommen als je zuvor. Brenda kannte nur noch ein Ziel: Sie wollte mich kleinkriegen. Sie wollte mir das Leben dauerhaft zur Hölle machen.
Wenn ich meine letzte Karte zog und mit Scheidung oder beruflicher Trennung drohte, malte sie mir aus, wie meine Karriere innerhalb eines Jahres versanden würde. Wie sie alle Hebel in Bewegung setzen würde, um mich zu vernichten. Und ihre internationalen Beziehungen spielen lassen würde, um mich zu verleumden und um zu erreichen, dass ich nie wieder eine Auftrittsmöglichkeit in prestigereichen Konzertsälen bekäme. Oder dass meine Plattenverträge nicht verlängert würden. „Ich habe die Macht, dich zu zerstören, my love“, orakelte sie bei solchen Streitgesprächen, spitzte ihren Kussmund, um mich noch ein bisschen mehr zu quälen, und man konnte ihr ansehen, wie sehr sie ihre destruktive Überlegenheit genoss, „spann den Bogen ja nicht zu weit!“ Ich hasste mich dafür, dass ich am Ende stets klein beigab. Brenda konnte einfach davon ausgehen, dass ich ihr, nolens volens, eben doch gehorchen würde. Auch dass ich sie nie schlagen, sie nie mit Gewalt in die Knie zwingen würde, wusste sie. Für einen echten Schnitt war ich zu feige. Für einen Neuanfang, der meine materielle Sicherheit gefährdet hätte. Und ich war nicht Manns genug, um den Spieß umzudrehen und ihr die Pistole auf die Brust zu setzen. Es wäre einen Versuch wert gewesen. Nur womit hätte ich ihr drohen sollen? Womit sie erpressen? Es war ernüchternd: Brenda saß am längeren Hebel. Es gab keinen Ausweg. Ich befand mich in einer Zwickmühle, denn auch nach Paris konnte ich nicht mehr. Weil du mich nicht wolltest, Géraldine. Weil du mich schlicht und ergreifend zurückgewiesen hattest. In London wurde es mir unerträglich, auch nur eine einzige Sekunde mit Brenda weiterzuleben, im selben Raum zu sitzen wie sie, dieselbe Luft zu atmen, eine Mahlzeit mit ihr einzunehmen, mit ihr gesehen, mit ihr für ein Liebespaar gehalten zu werden. Kein Schlupfloch tat sich für mich auf. An der ausweglosen Situation wurde ich irre. „Du kannst mich ja umbringen, wenn du es nicht mehr aushältst“, lachte Brenda. „Aber überleg es dir nur nicht zu lange, sonst bringe ich dich um die Ecke! Dich und dein Pariser Flittchen. Oder euch alle beide.“ Fing auch sie jetzt an zu spinnen? Häme sprach aus Brendas Worten. Häme, die jederzeit in Hass umschlagen
konnte. Für die Dauer eines Klassikabends gelang mir die Flucht vor ihr, ich konnte an jenem Abend auch Arthur abschütteln. Preschte mit schnellen Schritten aus unserem Stadthaus zum Taxistand und ließ mich zur Royal Albert Hall fahren. Und lauschte dort, bei einem Orchesterkonzert mit Gesangseinlagen, ergriffen den Vier letzten Liedern von Richard Strauss. Einem unsagbar schönen, unsagbar traurigen Schwanengesang. Einer rauschenden, aufwühlenden Auseinandersetzung eines Menschen mit den Jahreszeiten, mit den Mühen des Daseins, mit Abschied und Tod. „Freundlich die gestirnte Nacht wie ein müdes Kind empfangen“ sang die Sopranistin dort; ihre Zauberworte, die sie sich von dem deutschen Dichter Hermann Hesse geborgt hatte, und ihre himmlischen Kantilenen, sich in die Lüfte hebend und von einem fliegenden symphonischen Teppich getragen, schienen allein für mich bestimmt zu sein. Wie ein Ertrinkender hing ich an ihren Lippen. Das hätte ich am liebsten auch getan – die Nacht empfangen, etwas Dunkles, Unbekanntes, Tiefes geschenkt bekommen, in dem man sich verlieren kann, um dann, erleichtert und freudig gestimmt, die Lebensbühne zu verlassen. Wie ein müdes Kind. Denn nichts anderes war ich ja: mit fünfundzwanzig immer noch kindhaft, ein Fremdbestimmter und Tyrannisierter, dem es verwehrt blieb, endlich erwachsen zu werden. Und müde, unendlich müde war ich für mein Empfinden sowieso schon viel zu lange. Lebensmüde, liebesmüde.
Meinen Seelenfrieden hatte ich verloren. Verurteilt zu sein weiterzuleben ohne das Wesen, das ich auf Erden am meisten liebte, reichte mir nicht mehr. Auch die Musik, meine prächtige französische und russische Musik, auf die in kritischen Momenten noch am ehesten Verlass war, half mir nicht weiter. Und dich, Géraldine, hatte ich eigentlich aus meinem Gedächtnis streichen wollen. Um nicht an unserer Trennung kaputtzugehen. Ich hatte Enzo gebeten, dir meine neue Platte zu überreichen, mit einer Widmung für dich, und natürlich wieder nichts von dir gehört. Ich hatte ihm auch die Adresse meines neuen geheimen Postfachs in Westminster gegeben, in das ich allwöchentlich hineinschaute und das bislang leer geblieben war. Meine Enttäuschung war namenlos.
Dann aber, ein halbes Jahr später, als ich gerade dabei war, dich schon ein wenig zu vergessen, ein ganz klein wenig Gras wachsen zu lassen über unsere so unvollkommene und völlig einseitige Liebe, kamen mir deine unvermuteten Wiederannäherungsversuche in die Quere. Nichts hätte mich mehr überraschen können! Du schicktest mir, ohne mit einem Wort auf meine vorangegangene Sendung einzugehen, nämlich deine Platte – inzwischen hattest du sechs kurze Chansons in Paris eingespielt. Als ich die Scheibe zu Hause auflegte und deine vertraute Stimme den Raum erfüllte, fühlte ich mich gleich wieder in die Rue Vavin zurückversetzt. Und meine Sehnsucht wurde wiederbelebt, wurde von Strophe zu Strophe stärker. Was mich fast aus der Bahn warf. Brenda, die aus dem Nebenzimmer mithörte, schöpfte keinen Verdacht, sondern fragte nur interessiert, wer denn da singe. Sie trat näher, studierte das Cover mit deinem Porträt, buchstabierte deinen Namen, tanzte, angeregt von Henris unwiderstehlichem Swingrhythmus, ein paar Schritte durch den Raum. Lächelte versonnen. „Gar nicht schlecht, die Kleine und ihre Begleiter“, meinte sie gönnerisch. Es war anerkennend gemeint. „Hübsch ist sie nicht. Nette Stimme. Das hat was. Und“, sie schwebte auf mich zu, als hätte irgendein Detail ihr Misstrauen geweckt, ich jedoch wich ihr aus, hielt mein Sherryglas umklammert und nahm schnell einen Schluck, „wo hast du die Aufnahme her?“, wollte sie wissen. „Ein Geschenk von Enzo. Aus Paris. Er hat die Sängerin gewissermaßen entdeckt.“ „Von diesem Knaben will ich nichts mehr hören! Du bist ihm schon viel zu oft auf den Leim gegangen.“ Aber deine Platte, Géraldine, legte Brenda in den nächsten Wochen immer wieder auf den Teller. Sie mochte dich und deine Lieder. Ohne zu wissen, wer da sang und wer du wirklich warst. Wenig später trafen deine Postkarten ein. Zum Glück gelang es mir jedes Mal, sie rechtzeitig abzufangen, weil nur wenige an mein Postfach, die meisten aber seltsamerweise an meinen und Brendas offiziellen Wohnsitz adressiert waren. Karten mit beliebigen Motiven kamen dort an, die Bateaux-Mouches, die Kuppeln des Printemps-Kaufhauses, Pariser Straßenszenen, markante Charakterköpfe von Brassaï oder witzige Kunstpersiflagen von Man Ray, und
unterschrieben hattest du sie auch nicht. Dass du sie geschickt hattest, Géraldine, war mir sonnenklar, und deine Beharrlichkeit rührte mich. Sollte dir doch an mir gelegen sein? Vermisstest du mich auch so sehr wie ich dich? Auf jeder Karte stand nur ein einziges Wort: „Komm!“, „Bald!“, „Wann?“, „Warten!?“, und dann erhielt ich einen Brief von dir, den ich Arthur gerade noch aus der Hand reißen konnte, bevor er ihn auf Brendas Poststapel legte. „Der ist für mich“, raunzte ich ihn an. In meinem Schlafzimmer, von Hast getrieben, öffnete ich dein Schreiben, das ohne viele geschriebene Worte auskam. Nur eine Eintrittskarte enthielt der Umschlag. Für dein erstes öffentliches Konzert vor Publikum überhaupt, wie Enzo mir anderntags ausrichtete, in einem Theater an der Porte de Champerret. Für deine Premiere. Am kommenden Freitag, abends um neun. „Du musst kommen!“, hattest du auf die Rückseite des Tickets gekritzelt. „Il le faut!“ Ja, ich musste wohl. Ich wollte auch. Mein Bedürfnis nach einem Intermezzo mit dir, Géraldine, war unbezähmbar geworden, ließ sich nicht länger kontrollieren. Ich ließ alles stehen und liegen, schlug Haken, um meine Verfolger loszuwerden; ich flog nach Paris, flog zu dir hin, f deine Arme.
***
Nur ein verlängertes Wochenende war diesmal drin an der Seine. Vier Tage, die es nichtsdestoweniger in sich hatten. Nie zuvor warst du so anschmiegsam; nie war deine Verliebtheit, die du ja beim letzten Mal so energisch in Abrede gestellt hattest, glaubwürdiger. Mein Vorhaben, dir gegenüber in Habachtstellung auszuharren und nicht wieder auf gespielte Gefühle hereinzufallen, löste sich ziemlich schnell in Luft auf. Sobald du mich berührtest, hätte mich kein noch so widerstandsfähiger Panzer vor dem Ansturm der Emotionen schützen können, dem ich jetzt ausgesetzt war.
Warum nur hatte es nicht immer so sein können zwischen uns? Und warum du bei unserer leidenschaftlichen Reprise so verändert, so zugänglich und so unkompliziert geworden warst, warum du mich mit Gesten und Botschaften zu dir gerufen hattest: Wahrscheinlich wusstest du es selbst nicht. Wenn es einen Grund oder einen Auslöser dafür gegeben hatte, so verspürtest du wenig Bereitschaft, ihn zu benennen oder davon zu erzählen. Wir hatten Besseres zu tun – wir liebten uns abwechselnd in meinem Hotelzimmer, dessen Anschrift nur Enzo kannte, und in deiner kleinen Wohnung, denn diesmal, Géraldine, nahmst du mich mit zu dir nach Hause. Ins Quartier des Gobelins. Ich achtete nicht auf das Chaos in der Küche, das unbenutzbare Waschbecken und auf die verschmutzte Außentoilette auf dem Flur, achtete auch nicht weiter auf Henris Klamotten, die neben dem ungemachten Bett auf dem Boden lagen, oder auf Enzos ausgelatschte Sommerschuhe hinter der Eingangstür, die ich selbstverständlich sofort wiedererkannt hatte. Ich sah meine Platte, mein Geschenk für dich, unausgepackt, unter einem Bücherstapel. Sie hatte schon Staub angesetzt. Ich nahm mir vor, nicht beleidigt zu sein. Ich ließ mich einfach treiben. Ich ersparte dir und mir überflüssiges Gerede über Besitzansprüche oder gar peinliche Verhöre, wollte nichts Ungebührliches oder Unstimmiges mehr über dich und deinen Lebenswandel herauskriegen. Ich gab mich damit zufrieden, dir hier und jetzt gehören zu dürfen. Was dazu führte, dass wir ganz unbeschwert sein und nur über die Zukunft sprechen, uns ein anderes Leben ausmalen konnten. Eine Zukunft ohne Brenda und ohne London, ein bohemehaftes Leben. Wir hielten es beide für möglich, dass ich nach Paris ziehen würde. In eine eigene Unterkunft, mit einem neuen Manager. Mit geringerem internationalen Radius und spärlichen Auftritten. Mit weit weniger Luxus, mit schmalerem Budget. Es war die Rede von deinen bevorstehenden Tourneen, bei denen ich dich nicht immer begleiten würde – und auch du würdest mich allein um den Globus ziehen lassen. Ich versprach, dir nicht auf den Wecker zu fallen, dich nie an deiner formidablen Ungebundenheit zu hindern. Kein Einengen, keine Kontrolle. Keine Diskussionen über Treue oder gar Heirat.
Du warst dir, wie du mir mit aller Ehrlichkeit zu verstehen gabst, nicht ganz sicher, ob du dich ausschließlich auf mich einlassen konntest. „Ça ne fait rien“, beruhigte ich dich, stolz, auch einmal etwas Bedeutsames auf Französisch sagen zu können, „das macht doch nichts.“ Dennoch wurde ich den Gedanken nicht los, dass ich den Bau dieser Luftschlösser besser nicht allzu ernst nehmen sollte. Dein umjubeltes Konzert am Freitagabend hatte dir den verdienten Durchbruch gebracht; seit eurem privaten Vorspiel in der Ruine hattet ihr, Henri und du, euch beträchtlich gesteigert: Deine Aura war bestechend, seine Begleitung kongenial; die Zuhörer standen Kopf. Ich war glücklich und stolz, beide Male dabei gewesen zu sein. Ich kannte die Achterbahn der mal verwirrenden, mal beflügelnden Gefühle, denen du jetzt ausgesetzt warst, aus eigenem Erleben und wusste, dass du jetzt viel Zeit brauchtest, um dich neu zu positionieren. Du würdest, um ein paar Jahre versetzt, mit Henri all das durchleben, was ich mit Irina und Brenda, mit meinen Russen und Franzosen und ihren zeitlosen Werken, seit meiner frühesten Kindheit bewältigt hatte. Du würdest Ehrgeiz entwickeln, Schwerpunkte setzen, Ballast abwerfen. Du würdest eine schwierige, herausfordernde Phase durchmachen. Du hattest, von einer Minute auf die andere, eine große Laufbahn vor dir. Da würde wenig Spielraum für Persönliches oder gar einen Rückzug ins Private sein. Du musstest jetzt unbedingt den Ausbau deiner Talente in die Hand nehmen, würdest meiner schnell wieder überdrüssig werden. Bevor es dazu kommen konnte und einer von uns vorschnell mit gefährlichen Liebesschwüren alles Erreichte und Erlebte zunichtemachte, reiste ich wieder ab. Bevor Brenda, von der ich mich, gleich nach meiner Rückkehr nach England, jetzt unter Garantie trennen würde, abermals gezwungen war, mir nach Frankreich hinterherzukommen, zu spionieren und zu explodieren, verließ ich dich wieder für eine Weile, Géraldine. Sagte Au revoir, als es gerade am schönsten war. Diesmal war ich davon überzeugt: Wir würden aufeinander warten. Wir würden uns bald wiedersehen. In deinem, in meinem Paris. Aber ein Versprechen musste ich dir dann doch abnehmen:
„Das nächste Mal kommst du zu einem meiner Konzerte. Kommst nach Großbritannien. Jetzt bist du dran! Noch nie hast du mich vor Publikum erlebt … Diesen Wunsch kannst du mir nicht länger abschlagen.“ „Je te le promets, Sandro“, antwortetest du treuherzig. Also abgemacht. „Wirst du allein kommen?“ Du nicktest. Meine Wahl war auf das Ravel-Konzert in Manchester gefallen. Das erschien mir unverfänglicher als London. Ich hatte alles vorbereitet: das Flugticket und das Bahnbillett für dich, die Eintrittskarte für die Free Trade Hall – ein Platz in der Mitte, in der zwölften Reihe –, die Buchung für das Hotelzimmer, in dem wir uns hinterher treffen würden, die Reservierung eines Wagens mit Chauffeur für das anschließende Wochenende, das wir gemeinsam im Lake District verbringen wollten.
Den Abschied hielten wir kurz, das war besser so. Du musstest wieder auf die Bühne, zum nächsten Engagement in den Épinettes; ich wollte unbedingt noch die Nachmittagsmaschine nach London kriegen. Keine zwei Wochen – und es wäre so weit. Enzo fuhr mich nach Orly. Es war eine schweigsame Fahrt. Eigentlich wollte ich ihn nicht fragen. Nicht zeigen, wie abhängig ich von deiner Entscheidung war. Schließlich tat ich es doch. „Was meinst du, amico mio? Glaubst du, dass Géraldine wirklich die Reise nach England antreten wird?“ Enzo bog auf den Parkplatz des Flughafens ein und stellte den Motor ab. Er durchsuchte die Innentaschen seines Jacketts nach einem Zigarillo. Ich wartete. Der Himmel verfinsterte sich. Eine gewaltige Wolke aus dunklen Wellen und tiefgrauen Flecken kam auf uns zu, die uns unter sich zu begraben drohte. Er spielte mit seinem Feuerzeug und brachte es nicht über mich, sich zu mir umzudrehen und mich anzusehen. Lange, lange ließ er sich Zeit mit seiner Antwort.
9
Verspieltes Leben
Er war ein Samstag-Stammgast. Man sah ihn immer nur an diesem einen Abend. Er bestellte nicht viel und hatte Sitzfleisch. Stundenlang hielt er sich im Pub auf, war selten betrunken und rauchte wie ein Schlot. Man merkte ihm an, dass er nicht viel Geld hatte. Er kam nie als einer der ersten Gäste in den Struggler, blieb dafür bis zuletzt. Aber er ließ kein Wochenende aus. Und er fiel auf. Rupert erkannte ihn schon von Weitem, wenn er eintrat, am Eingang an der Garderobe seinen abgewetzten Regenmantel an den Kleiderhaken hängte und sich mit seinen listigen kleinen Äuglein neugierig umschaute, eine pummelige Gestalt, kaum größer als ein Kind, mit fettigem, ungewaschen wirkendem Haar, das ihm in langen aschblonden Strähnen ins Gesicht hing. Fielen sie ihm direkt in die Augen oder vor die Nase, pustete er sie unwirsch zur Seite. Was einen unwillkürlich zum Lachen brachte. Lange Haare waren damals für einen Mann etwas sehr Ungewöhnliches. Erst recht für einen Mann in seinen Fünfzigern. Er hatte auch keinen richtigen Hut auf, eher ein Hütchen, so etwas wie eine lädierte Karnevals- oder Silvesterkappe, die ihm schief auf dem Kopf saß. Die er auch zu später Stunde nie abnahm. Und er stellte einen knallbunten, auffällig gemusterten Schlips zur Schau. „Bestimmt ein Künstler“, meinte Stuart, als er ihn das erste Mal erblickte. „Ein Bohemien.“ Zu ausgetretenen braunen Schuhen trug er stets denselben hellblauen, fadenscheinigen Anzug, der ihm zu eng war. Der aus allen Nähten platzte. Sommers wie winters stets denselben alten Anzug. Völlig aus der Mode gekommen. Schmierig wirkte er. Seine Haut glänzte, er kam leicht ins Schwitzen, und er hatte Pickel auf der Stirn wie ein Sechzehnjähriger, Pickel auch an den Nasengrübchen. Doch dann machte er den Mund auf, und alle schwiegen wie auf Knopfdruck. Ein heiliges, gespanntes Schweigen breitete sich aus. Niemand im Raum außer Rupert kannte seinen Namen, schon gar nicht seinen richtigen; keiner wusste, ob er aus Oldham stammte oder wann er erstmals im Großraum Manchester aufgetaucht war; jeder hingegen erkannte seine markante Stimme. Er war das, was man einen Kneipentenor nennt: Er drang sofort durch. Kam gegen jeglichen Lärm an. Verschaffte sich Gehör. Mit seinem metallenen, Ehrfurcht gebietenden Timbre. Schmetterte drauflos, traf jeden Spitzenton, legte
Gefühl in seine Kantilenen. Brachte alles um ihn herum zum Verstummen. Und er sang furchtbar gern, hatte ein Riesenrepertoire. Von Puccini bis zum derben Trinklied reichte es, von Offenbach-Operetten bis zur Schnulze, und er kannte alle Texte auswendig. Englische und auch italienische oder französische. Meist wartete er, bis die Sperrstunde nahte und ihm noch eine knappe halbe Stunde zur Verfügung stand, gab Burt ein Zeichen und lehnte sich an das alte, wurmstichige Klavier. Er warf sich in Pose. Drehte sich kokett um die eigene Achse und legte los. Was dann folgte, glich einem richtigen kleinen Solokonzert: sechs oder sieben Nummern ohne Pause. Manchmal neun oder zehn. Von Song zu Song geriet er immer mehr in Fahrt, drehte auf. Bei den leisen agen konnte man im Pub eine Stecknadel fallen hören. So still wurde es. Niemand wagte zu tuscheln oder dazwischenzuquatschen. Der Tenor fixierte sein Publikum, verbeugte sich galant vor den Frauen, die er damit zu feinen Damen erklärte, unterstrich seinen ausdrucksstarken Vortrag durch wenige, unmerkliche Gesten und beendete jedes Lied, indem er Burt, der glücklich war, einen so sangesfreudigen Kompagnon gefunden zu haben und ihm den Rücken zudrehte, mit gespitzten Lippen einen fetten Schmatzer auf den kahlen Hinterkopf drückte. Keinen Kuss, nein, einen echten feuchten Schmatzer. Als Belohnung für den Pianisten. Keine Frage, dieser kleine Mann gehörte unbedingt auf ein Podium. Burt lief rot an und kicherte, die Leute johlten. Hielten dem Troubadour ihre vollen Gläser hin oder ein paar Münzen, aber der winkte ab. Er wollte weitermachen. Wollte Caruso sein und zugleich Schlagerstar und Bänkelsänger. Und war es, wenn man die Augen schloss und die Ohren weit öffnete, auch. Sein größter Wunsch, den er sich selbst erfüllte: einmal in der Woche ein berühmter Vokalartist sein und an der Rampe von Hollinwood, in Ruperts Schenke, Triumphe feiern. Bevor die Beauforts zumachen mussten. Eine Nummer aus den komischen Opern von Gilbert und Sullivan noch, einen Kriegsgesang, ein zotiges Matrosenliedchen, ein Oldie, etwas Patriotisches und zum Abschluss, ohne Ausnahme, das schöne, unverwüstliche Greensleeves. Eine Zugabe war nicht nötig – Greensleeves war der Höhepunkt. Den er mit großer Empfindung gestaltete. In seiner bewegenden Interpretation wirkte dieses Traditional nie kitschig oder abgedroschen. Klang so, als hörte man es zum allerersten Mal. Wie eine spontane Eingebung. Schon in den ersten beiden Strophen sangen alle mit. „Alas, my love, you do me
wrong …“ Ein mächtiges, überwältigendes Unisono. Selbst Stuart wischte sich verstohlen ein paar Tränchen aus den Augen. Rupert, am einen Ende des Tresens, sah kurz zu Ruth herüber, die sich, mit dem Geschirrtuch in der Hand und in ihrer rotblau karierten Schürze, zu den wenigen Frauen im Publikum gesellt hatte, und die Eheleute waren sich unausgesprochen einig, dass sie genau jetzt die wertvollsten, ergreifendsten Minuten in ihrem Lokal erleben durften – ein Gemeinschaftsgefühl, eine innige Verbundenheit von lustigen Zechern, schweren Säufern, Leuten aus dem Viertel, Gutsituierten und Armen, Optimisten und Traurigen, Verzweifelten und Aufgekratzten. Dass es sich wirklich gelohnt hatte, diese Kneipe aufzumachen und anderen Leuten aus ihrem Stadtviertel für die Dauer eines feuchtfröhlichen Abends eine echte Heimstatt zu bieten, in der sich alle pudelwohl fühlten. Sie selbst am meisten. Dann war der Moment gekommen, wo der dicke, kleine Mann in Blau den Pubwirt auf die kleine Bühne holte: bei der vorletzten Strophe. Die durfte Rupert, der sich zuvor nur ganz kurz räuspern musste, um bei Stimme zu sein, ganz allein singen. Pathetisch, mit viel Schmelz und Tiefgang. Und die allerletzte sangen die beiden Männer danach gemeinsam, zweistimmig, wobei der Langhaarige dem Gastgeber die Melodie überließ; Rupert war für den Tune zuständig, der unappetitliche Tenor, der sich – gute Musik wirkt Wunder – inzwischen in einen eleganten, sensiblen Gentleman verwandelt hatte, improvisierte aparte Terz- und Sext-Ketten dazu. Im Pianissimo klang die alte Volksweise aus. „My heart of gold, my heart of joy.“ Der Beifall wollte nicht enden und auch nicht die Bravorufe. Das Saturday Night Fever war ausgebrochen. Im Raum herrschte Feststimmung – nur noch ein Trommelwirbel fehlte und ein abschließender Tusch. Rupert nutzte die Gunst der Stunde, um den Laden dichtzumachen. Jetzt, wo es am fröhlichsten war. Um keinen Ärger mit den Streifenpolizisten zu bekommen, die Samstag für Samstag bei ihrer Abendpatrouille vorbeischauten – und, das war stadtbekannt, kein Auge zudrückten. „Feierabend, Leute! Wir können’s nicht ändern, es ist so weit“, rief er, knipste das Licht mehrfach an und aus, um seine Aufforderung zum Verlassen des Pubs zu unterstreichen, verabschiedete sich von seinen Gästen, half einigen Frauen in den Mantel und blieb für ein letztes Schwätzchen mit Stuart und Burt noch an der Tür stehen. Erst jetzt brach auch der gefeierte Sänger auf. Er strahlte übers ganze Gesicht.
„It’s been a wonderful evening. Good night, cat“, sagte er freundlich zu Beaufort, ganz sanft, mit ironischem Unterton, und Rupert, den der vertrauensselige Gruß nicht im Geringsten störte, erwiderte prompt: „See you next week, mouse.“ Cat and mouse, das hatte sich zwischen den beiden so eingespielt. Nicht ganz ernst gemeint. Rupert hätte gar nicht genau sagen können, seit wann. Eigentlich von Anfang an. Und auch nicht, warum. Katz und Maus, Jäger und Beute? Was sollte das bedeuten? Einfach nur eine Neckerei. Ein Zeichen gegenseitiger Wertschätzung. Die beiden mochten sich. Harmonierten gut miteinander. Produzierten ja keine Katzenmusik, sondern schufen etwas künstlerisch Wertvolles. Verstanden sich als Sangesbrüder. Waren, wie ihre Verwandten Tom und Jerry aus den Zeichentrickfilmchen, keine Freunde und würden auch nie welche sein. Erst nach einigen Monaten war den Beauforts ausgefallen, dass der Barde gar nicht allein war, sondern eine Begleiterin im Schlepptau hatte. Die jeden Samstag schon wenige Minuten vor ihm eintraf und auch deutlich früher wieder ging. An ihrem Tisch waren sie unzertrennlich, unterhielten sich aber nicht, saßen nebeneinander wie zwei Geschwister, die sich seit Jahrzehnten kennen und einander nichts mehr zu sagen haben. Von den Sitznachbarn erfuhr Ruth irgendwann, dass diese Begleiterin sich Wanda nannte. Und tagsüber in Spelunken in der Nachbarschaft herumhing. Wanda: die Unauffälligkeit in Person. Nichts an ihr, von der grellen Schminke abgesehen, war bemerkenswert oder attraktiv. Ihre Züge, ihre Frisur, ihre Figur, ihr Verhalten: Eine graue Maus war eigentlich sie und nicht er. Wie sie zu dem Mann mit dem Hütchen stand, was sie privat mit ihm verband, war unklar. Verheiratet waren die beiden offenbar nicht, doch ob er ihr noch den Hof machte oder beide schon länger liiert waren – schwer zu sagen. Und wie ein Gespann aus Freier und Dirne wirkten sie auch nicht. Wann immer er sie umarmen wollte, stieß sie ihn verärgert weg und schimpfte, ließ sich aber zu Drinks einladen und sprach kaum mit anderen Gästen. Wanda, deutlich jünger und größer als ihr „Mouse“, schlank und ebenfalls kettenrauchend, war ständig gelangweilt und schien insbesondere von den so ekstatischen Gesangsvorträgen ihres Verehrers genervt. Ein Chanson nach dem anderen legte er ihr wie eine edle Blume zu Füßen, himmelte sie förmlich an und ließ keinen Zweifel daran, dass er mit den vielen Angebeteten, von denen in
seinen Songs die Rede war, sie und keine andere meinte. Und dass er nach ihr verrückt war. Es war ihr gleichgültig – und er ihr wohl auch. Für Musik hatte sie nichts übrig, sein Erfolg betraf sie nicht. Wanda hatte die Anstrengungen des Mäichs, den sie, wenn er seine Zuhörer mit Rigoletto oder einem Shanty erfreute, gar nicht verdient. Denn er war ein liebenswerter Exzentriker, besaß Charisma. Sie dagegen konnte allein ihre Übellaunigkeit, ihren Überdruss und ihr Phlegma in die Waagschale werfen. „Vergeudete Liebesmüh“, entschied Stuart, der das Treiben des seltsamen Paares lange genug beobachtet hatte, kurz und bündig. Regelrecht konsterniert war er, wenn Wanda mitten im Vortrag ihres Galans ihre Handtasche unter den Arm klemmte und den Struggler mit eiligen Schritten verließ. „Wie kann sie ihn nur gerade jetzt sitzen lassen!“ Die anderen Zuschauer bemerkten ihren Aufbruch und seine Enttäuschung gar nicht oder bekamen die Spannungen zwischen den beiden nicht mit. „Vielleicht hält sie seinen Erfolg nicht aus“, vermutete Rupert. „Gönnt ihm die Anerkennung nicht.“ „Oder“, ergänzte Ruth, „sie muss dringend nach Hause. Womöglich ist sie eine verheiratete Frau, sitzt hier wie auf Kohlen und ist schon den ganzen Abend hinund hergerissen zwischen Pflicht und Kür.“ Würde sich Wanda dann mit einem anderen Kerl in der Öffentlichkeit blicken lassen? Noch dazu mit einem Mann, dessen starke Gefühle sie offenkundig nicht erwiderte und in den sie, nach menschlichem Ermessen, nicht verliebt war. Wann immer dieses ungleiche Paar den Struggler betrat, hatten die übrigen Kunden Augen und Ohren nur für den Sänger. Wanda verblasste. Und wenn sie gegangen war, fehlte sie niemandem. Außer eben Mouse, der ihr traurig hinterherschaute und ihr am liebsten hinterhergerannt wäre, doch dafür bereitete ihm die Ballade, an der er sich gerade abarbeitete, zu viel Freude – und er wollte die Gäste, die sich an seinem Gesang kaum satthören konnten und ihm am liebsten noch bis zum Morgengrauen gelauscht hätten, ja auch nicht enttäuschen. Sein Ständchen nicht abbrechen. Cat gab ihm, nachdem der musikalische Abendausklang zu einer beliebten Tradition geworden war, nun gelegentlich ein Ale aus oder auch zwei.
An einem Augustsamstag konnte er indessen nicht für die Zeche des Mannes im blauen Anzug aufkommen, denn diesmal verließen Wanda und Mouse Hals über Kopf schon vorzeitig den Pub. Zuvor hatten sie sich heftig gestritten. Mouse war laut geworden, ungewöhnlich laut, hatte seine unerreichbare Geliebte angebellt, und sie hatte daraufhin einen kleinen Blumenstrauß, den er ihr vorher überreicht haben musste, wütend zu Boden geworfen, ihn angeschrien, ihre Handtasche auf ihn niedersausen lassen und ihm den Inhalt eines nur halb geleerten Bierglases über Kopf und Schultern gegossen. Eine andere Frau mischte sich ein, und es entbrannte auch noch ein Zickenkrieg. Den Wanda gewann, indem sie ihrer Rivalin einen Kinnhaken versetzte. Die Ärmste ging zu Boden. „Ganz schön rabiat, die Kleine“, brachte Burt heraus, als die Zankenden keifend herausrannten und ihnen alle mit offenen Mündern hinterherstarrten. Die Tür flog auf und wieder zu, die Besiegte bekam einen Schnaps und etwas Riechsalz, der Platz neben dem Klavier blieb verwaist. Und der Abend klang notgedrungen weit weniger lustig aus als sonst … Burt klimperte drauflos, so gut es ging, ein jüngeres Paar wagte ein Tänzchen, Rupert selbst sprang mit ein paar Folk Songs in die Bresche, einige treue Gäste stimmten mit ein. So munter man sich auch gab: Es war nicht dasselbe. Auch in den Wochen danach erschienen die beiden Streithähne nicht mehr auf der Bildfläche. Waren spurlos verschwunden. Die Beauforts fragten sich, was nur vorgefallen sein mochte. Und Rupert the Cat, dem das zünftige Ritual mit seinem Mouse zu fehlen begann, stellte sich nicht zum ersten Mal die Frage, ob der Kleine sich das Lokal einst ausgesucht hatte, weil man ihm von Ruperts Gesangskünsten berichtet hatte, weil die Chance bestand, vielleicht einmal gemeinsam mit ihm zu musizieren – oder weil der Wirt so ein anerkannter, vorbildlicher Hangman war. „Wahrscheinlich eine Mischung aus beidem“, beruhigte er sich selbst und versuchte, nicht mehr so oft an den dicken, begabten Tenor zu denken. Was ihm allerdings nicht so richtig gelang. Im November 1950, ein Vierteljahr nach diesem eigentlich unbedeutenden Vorfall, nahm Rupert einen Hinrichtungstermin im heimischen Strangeways Prison wahr – der Vorteil an den Hängungen im nahen Manchester war ja, dass man am späten Vormittag, gleich nach der Abnahme der Verurteilten vom Strang, wieder nach Hause fahren konnte. Er stellte sich also auf eine RoutineExekution ein.
Es ging darum, einen ortsansässigen Elektriker namens Brittle ins Jenseits zu befördern, der eine junge Frau, wahrscheinlich seine Geliebte, auf brutale Weise ermordet hatte. Ihr verstümmelter Leichnam wurde an einem Sonntagmorgen unweit seines Wohnortes in einem Hotelzimmer in Ashton-under-Lyne aufgefunden; quer über ihre Stirn hatte jemand in Großbuchstaben mit dunkelrotem Lippenstift das Wort „Hure“ geschrieben. Die Ermittler waren über die Schwere des Verbrechens entsetzt, hatte der Täter sie doch zuerst vergewaltigt, dann mit einem harten Gegenstand zu Boden geschlagen, gleich darauf erdrosselt und hernach mit etlichen Messerstichen verunstaltet. Der Verdacht fiel sofort auf ihn, Curtis Brittle, denn es war ein offenes Geheimnis, dass er und das Opfer, eine verheiratete Frau, schon vor Jahren eine Liaison gehabt hatten und dass die Dame, mit Wissen des Ehemannes, im Übrigen auch gern mit anderen Herren ausgegangen war. Nur ungern hatte sie sich vorschreiben lassen, wann genau mit wem – und, so hatte die Boulevardpresse in Erfahrung gebracht, ihre zahlreichen Liebhaber genüsslich gegeneinander ausgespielt. Von Brittle wusste man, dass er ihr verfallen war. Und seine Eifersucht nicht unter Kontrolle bringen, Wanda nicht mit Nebenbuhlern teilen konnte. Er stritt die Tat ab, doch wurde er anhand von Tagebuchnotizen, aus denen hervorging, dass er – dem Wahnsinn nahe – den grausamen Mord minutiös geplant hatte, binnen weniger Stunden überführt. Eine ganze Kladde hatte er mit Details für die Vorbereitungen sowie mit Angaben zu möglichen Schauplätzen und zur Zeiteinteilung gefüllt. Eine erdrückende Beweislast. Wochenlang hatte er die Strafaktion in die Tat umsetzen wollen, immer war etwas dazwischengekommen. Bis eben zu jener Samstagnacht im August. Die Lage war also eindeutig, Mord mit Vorsatz. Das Strafmaß auch. Curtis Brittle bereute nichts, und weder die Geschworenen noch die Jury ließen Gnade walten. Man beeilte sich sogar, zwischen Urteilsverkündung und Ausführung der Strafe möglichst wenig Zeit verstreichen zu lassen – gerade einmal zwei Wochen. Rupert kannte lediglich die Umrisse des Verbrechens. Wie immer hatten Stuart und Burt, mit ihrem Faible für unseriöse Spekulationen und schauerliche Geschichten, ihm alle morbiden Einzelheiten erzählen und aus der Zeitung vorlesen wollen; wie immer hatte Rupert dankend darauf verzichtet. Was er gehört hatte, reichte ihm voll und ganz. Er begrüßte die ihm wohlbekannten Diensthabenden, hielt, um sich zu erkundigen, mit was für einem Gefangenen er
es wohl zu tun bekommen würde, einen Schwatz mit den Wächtern („Unser Mann ist die Ruhe selbst“) und dem Arzt („Ein problemloser Fall“), wurde aber gleich vom Gefängnisleiter Moorehead, der aus dem Direktionszimmer zu ihm in den Todestrakt eilte, informiert, dass der heutige Kandidat behauptet habe, ein Bekannter Beauforts zu sein. „Er sagt, dass er Musiker sei. Und dass er Sie gut kennt. Überzeugen Sie sich selbst.“ Rupert hatte den Namen Brittle noch nie gehört, aber als er den Riegel zur Seite schob und durch das Judasloch schaute, erblickte er seinen Mäich. Zwar trug er Sträflingskleidung, und man hatte ihm auch sein Hütchen weggenommen, doch es bestand kein Zweifel. Auch ohne den blauen Anzug. Die Pickel in seinem Gesicht blühten wie auf einer Frühlingswiese. Leise sang er vor sich hin, wirkte ganz friedlich. Kaum dass Rupert ihn erkannt hatte, lief es ihm eiskalt den Rücken herunter. Er musste sich setzen. „Hieß die Ermordete etwa Wanda?“, wandte er sich an den Direktor. „So ist es, Beaufort. Wanda. Sie entstammt einer polnischen Familie, ihr Mann fährt zur See. Der Staatsanwalt hat nachweisen können, dass sie nebenbei anschaffen ging. Nicht für Geld, einfach zum Vergnügen. Sagen Sie mir: Stimmt denn, was Brittle sagt? Dass Sie und er Freunde sind?“ „Kann man so sagen. Einer meiner Gäste. Die beiden kamen regelmäßig in das Lokal meiner Frau.“ Rupert hatte den Pub auf Ruths Namen gepachtet. „Und wir – also er und ich – sind dort zusammen aufgetreten. Immer samstags. Er ist“, ihm brach die Stimme weg, „er ist wirklich ein exzellenter Sänger.“ „Reißen Sie sich zusammen, Sir. Ich will keinen Ärger, keine Vertraulichkeiten.“ Rupert würde sich zwingen müssen, an etwas anderes zu denken. Sich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Einen kühlen Kopf zu bewahren. Auszublenden, wem er da eine Kapuze überstreifte. Zu vergessen, was sich aufdrängte, laut ausgesprochen zu werden: dass er dem Sänger in Blau eine solche Tat gar nicht zugetraut hätte. Gerade ihm nicht. Rupert stand, das wusste er sofort, diesmal eine verflixt schwere Prozedur bevor. „Schon als er Wanda töten wollte“, seine Gedanken wanderten zu Curtis, „und ganz besonders, als er sie dann auch getötet und seinen Plan in die Tat umgesetzt
hat, hat er ahnen müssen, dass ich es sein würde, der ihn später richtet. Oder hat darauf hoffen können. Diese Gewissheit hat ihn getröstet. Hat ihm die Trennung von ihr und den Verzicht aufs Weiterleben leichter gemacht.“ „Sie wissen ja, Beaufort, was Oscar Wilde gedichtet hat: ‚Each man kills the thing he loves.‘ Jeder bringt das um, was er am meisten liebt. Und der hat lange in Reading eingesessen. Der kannte sich mit Zwangsarbeit und Gefängisaufenthalten bestens aus!“ Und mit unerwiderter Liebe, dachte Rupert, behielt es aber für sich. Moorehead zitierte weiter und formulierte frei: „Einige von uns lieben zu wenig, andere zu viel und zu stark. Manche begehen ihre Taten mit Tränen in den Augen, andere ohne einen Seufzer.“ Wanda war von allen Dingen und Menschen auf der Welt das Objekt, das Curtis wohl am wichtigsten gewesen war. Und er hatte sie nicht bekommen, nicht für sich behalten können. Dieser Unerreichbarkeit wegen hatte sie getötet werden müssen. Rupert war sich sicher, dass der kleine Dicke seine Tat mit einem Lied auf den Lippen begangen hatte. So wie er es am liebsten mochte. Diesmal hatte sie nicht wegrennen können; diesmal hatte sie ihm zuhören müssen. Ruperts Ungemach war noch nicht vorüber. Zwar gelang es ihm spät in der Nacht, endlich einzuschlafen; er musste allerdings gegen eine Flut innerer Bilder ankämpfen, die sich nicht aus seinem Kopf drängen ließen. Mouse am Klavier. Mouse und seine sabbrigen Küsse, die Burt nicht wirklich genoss. Mouse, der sich verbeugte. Mouse in der Garderobe. Mouse mit biernassem, dampfendem Schädel, machtlos gegen Wandas Hassausbruch. Mouse, der ihn begrüßte und auf der Bühne unterhakte. Am nächsten Morgen klopfte einer der Wärter in aller Herrgottsfrühe an die Tür der Zelle, die Beaufort sich mit seinem Assistenten Howard teilte. „Der Verurteilte wünscht sich, dass Sie ihm ein kleines Zeichen Ihrer Verbundenheit mit ihm geben. Darf er darauf hoffen, dass Sie sich ihm zu erkennen geben? Es ist sein letzter Wunsch auf Erden, dass Sie ihn als Freund behandeln. Er möchte seinen Frieden haben.“ Rupert richtete sich kerzengerade im Bett auf. „Was sagt der Direktor dazu?“ „Er hat sein Einverständnis gegeben.“
Rupert stutzte. Hatte er nicht vor wenigen Stunden noch ausdrücklich vor Vertraulichkeiten gewarnt? Was zum Teufel ging hier vor? Ihm brach, selbst in der ungeheizten Zelle, der Schweiß aus, rasch kleidete er sich an. Der frisch gebrühte Kaffee blieb ihm fast im Halse stecken, seine gebratenen Eier rührte er nicht an. Die Hinrichtung war auf acht Uhr angesetzt. Bereits als Howard und er sich der Todeszelle näherten, wie immer mit schnellen Schritten, und die Turmuhr der mächtigen alten Kirche gegenüber der Haftanstalt zu läuten begann, hörte er Curtis Brittle hinter der noch geschlossenen Tür mit lauter, heller Stimme einen Text aufsagen. Sein Mäich sang nicht etwa: Er deklamierte. Es waren die Zeilen von Greensleeves, und sie klangen wie ein Psalm. Wie das Vaterunser. Seiner Stimme haftete etwas Priesterliches an. Brittle ließ sich Zeit. Sprach gemessen, artikulierte, als käme es auf die Bedeutung jeder einzelnen Silbe an. „A – las, my – love, you – do – me – wrong …“ Seine große Liebe, sie tue ihm unrecht. So war es ja auch. Und nach jeder Strophe, die durch die Wand drang, machte er eine kleine Pause, so als wartete er auf etwas. So als wollte er jemanden auffordern. Setzte eine Fermate. Dreimal, viermal hintereinander hielt er inne und fing am Schluss wieder von vorne an, denn so viele Strophen hat das uralte Lied gar nicht. Das konnte noch ewig so weitergehen. Die Zeit verrann. Derselbe Wärter, der ihn geweckt hatte, schaute ihn fragend an, auch alle Umstehenden richteten ihre Blicke auf Rupert. Direktor Moorehead begann, ungeduldig im Flur auf und ab zu wandern, ein zweiter Wärter schickte sich an, an seiner Stelle die Zellentür zu öffnen, aber der Chief Executioner ging dazwischen. Gab ihm mit einem Handzeichen zu verstehen, dass er voreilig handelte. Dem Unglücklichen sollte die Gelegenheit gegeben werden weiterzumachen. Er wartete nun seinerseits, bis Mouse zum Ende der vorletzten Strophe vorgedrungen war, und erhob, nach einer erneuten Pause, selbst seine Stimme. Sprach, so als hätte ihn ein Dirigent oder Chorleiter zu diesem Einsatz aufgefordert, mit dem Stab auf ihn gezeigt, den Text der letzten mit. So laut und vernehmlich er konnte. Aus Leibeskräften. Wort für Wort gleichzeitig mit dem Delinquenten. „My delight.“ Vier Zeilen lang unisono. „And who but my lady.“ Wer, wenn nicht diese, seine Frau, die Curtis ihre Gunst entzogen hatte, hatte
weichen müssen? Wer, wenn nicht sie, seine Lady? Dann herrschte Ruhe. Rupert ließ noch eine weitere halbe Minute vergehen und die Worte des im Duo vorgetragenen Evergreen nachklingen, nach seinen strengen Maßstäben eine halbe Ewigkeit, eigentlich nicht zu tolerieren, um dem Sprecher auf der anderen Seite der Mauer die Gelegenheit zu geben, sich zu sammeln oder seine Tränen zu trocknen. Wenn Mouse es sich so wünschte: Daran sollte es nicht scheitern. Schließlich riss er die Tür auf. Brittle stand schon bereit. Er lächelte und sah Rupert erwartungsvoll an. Den Sangesbruder, den er so sehr schätzte. Der mit ihm selbst im Gefängnis noch seinen Lieblingssong deklamiert hatte. Wenn auch nur ohne Musik. Rupert sah Curtis unverwandt in die Augen. Er konnte keine Todesangst darin erkennen, nur Zuversicht und die Gewissheit großer Geborgenheit. Der Elektriker schien seinem nahen Ende mit Ergebenheit und Vertrauen entgegenzusehen, und er freute sich, dass Rupert sein Versprechen gehalten und auf seine Stichworte entsprechend reagiert hatte. Dass er seiner Aufforderung gefolgt war und mit ihm duettierte. Mehr konnte er sich weiß Gott nicht wünschen. Nur eine kleine Runde stand ihnen noch bevor: Sie wussten es beide, und beide waren für dieses letzte Katz-und-Maus-Spiel bereit. Steckten schon in den Startlöchern. Wieder verging kostbare Zeit. Nun mach schon, dachte Rupert. Inzwischen musste ja es zehn, nein viertel nach acht sein. „Nice to see you, Cat“, sagte der Tenor erwartungsgemäß. Der Mäich in ihm sprach, ein Mann, von dem Beaufort nun wusste, dass er auch Curtis hieß und imstande war, eine widerborstige Geliebte umzubringen. „Ich bin froh, dass Sie hier sind.“ „Good morning, Mouse“, lächelte Rupert zurück, spielte sein Spiel und nickte. Nickte gleich mehrfach hintereinander. „How are you?“ Und, als er ihm die Hände auf dem Rücken verbunden hatte und ihn in Richtung Tür schob: „Ich freue mich auch. Ich tue es gern, ich habe es gern getan.“ Hängen und mitsingen, hängen und deklamieren.
Noch nie hatte Rupert einem Delinquenten einen Wortwechsel gegönnt. Und nie hatte er einen Verurteilten so motiviert und eifrig zur Todeszelle eilen sehen. Man konnte meinen, er wollte laufen. Oder gar fliegen. Sie konnten ihn kaum einholen. Curtis versuchte, seinen Kopf ganz allein in die Schlinge zu legen, wie ein hochmotivierter Musterschüler. Als würde er sich dadurch einen Vorteil verschaffen oder eine bessere Note bekommen können. Howard musste sie wieder lösen und Rupert reichen, damit er sie korrekt anbringen und auch den Riemen unter dem Kieferknochen befestigen konnte. Noch unter der Kapuze ergriff Brittle das letzte Mal das Wort. Rupert wünschte, er würde jetzt endlich den Mund halten, es war auch so schon schwer genug. „Davon können wir ein Lied singen, was?“ Er sprach noch immer mit Rupert. Seine Stimme war nicht mehr hell – sie war heiser. Der Henker schluckte sein Ja herunter. Und ein abschließendes Wort wurde auch nicht gesprochen. Was jetzt geschehen würde, war versöhnlich genug. Rupert zögerte nicht länger. Rupert tat es. Es kostete ihn an diesem Morgen große Überwindung, den Hebel zu bewegen und die Mausefalle zuschnappen zu lassen. Rupert tat es dennoch. Es war eine Prüfung für ihn. Es war ein Liebesdienst für den anderen. In den nächsten Wochen wartete er auf einen schriftlichen Tadel oder seine Suspendierung. Die Freiheiten, die er sich diesmal herausgenommen hatte, mussten einfach geahndet werden. Nichts am Ablauf hatte dem Reglement entsprochen, er hatte sich über zu viele Vorschriften hinweggesetzt. Hatte Schwäche gezeigt, hatte gequatscht. Hatte Langsamkeit zugelassen, hatte überzogen. Hatte sich zu einer Performance hinreißen lassen, dem Täter eine Bühne bereitet. Gründe für Zurechtweisung gab es genug. Die Strafe würde, nein musste auf dem Fuß folgen. Wie das Amen in der Kirche. Glaubte er. Aber nichts dergleichen geschah. Stattdessen lief er Moorehead in der Innenstadt über den Weg, als er gerade aus der Bank trat, wo er ein neues Konto eröffnet hatte. Im Frühjahr danach. Beinahe hätten die beiden Männer sich angerempelt. Der Direktor wirkte zerstreut. Doch dann erkannte er Rupert, packte ihn am Arm und rief enthusiastisch aus: „Beaufort! Wenn wir Sie nicht hätten!“ Er setzte zu einer Umarmung an. So als wären sie die dicksten Freunde. „Wenn man doch nur Männer wie Sie zur Beförderung vorschlagen könnte! Wie
Sie die vermaledeite Situation gemeistert haben! Wie Sie dem armen Kerl aus der Patsche geholfen haben! Und Ihre Stimme – daraus sollten Sie etwas machen! Hängen Sie Ihren Kneipenjob an den Nagel! Werden Sie Sänger!“ Moorehead reihte einen Ausruf an den anderen. Er schien keine Antworten zu erwarten. Moorehead war der zufriedenste Anstaltsleiter auf Erden. Er schien gar nicht zu bemerken, wie verdutzt sein Chief Executioner war. Dass Beaufort nach einer Sanktion gierte und stattdessen mit Lob überhäuft wurde. Moorehead trug sein Verständnis – ein Verständnis, das ganz und gar unverständlich war – wie eine Monstranz vor sich her. Dieses irrationale Verhalten seitens der Exekutive, diese neue und so unangemessene Toleranz machte Rupert ganz konfus. Im Pub sah man das Ganze viel kritischer. Brittles wahre Identität – ein echter Schock für Ruperts Freunde und Bewunderer. Brittles Eifersucht, der grausame Mord – das konnte und wollte man sich nicht vorstellen. Und der Vorfall mit dem doppelt rezitierten Liedtext, die so verzwickte, hinausgezögerte Exekution – einfach unerhört. So etwas wie Mitleid mit dem Mäich klang an. „Der hätte sich aufs Singen konzentrieren sollen“, meinte Stuart. „Und die Finger von Wanda lassen. Das Mädchen hat ihn ins Unglück gestürzt!“ „Wie konnte er so etwas nur tun! So ein zarter, feinfühliger Mann …“, erregte sich ein trinkfester Dauergast. „Wir haben einen unseren Besten verloren. Er war ein Vollblutmusiker. Und ich sein Fan“, erklang es aus einer der hinteren Ecken des Lokals. „Er muss den Verstand verloren haben. Sonst hätte er sich doch nicht sein eigenes Grab geschaufelt!“, ließ sich der Getränkelieferant vernehmen, einer von Ruperts früheren Kollegen. „Den hättest du nicht töten dürfen“, befand Burt. „Wir haben ihn doch alle so gemocht. Ihr habt harmoniert. Ihr wart das perfekte Sängerpaar. Und er hat zu dir aufgeschaut. Von Wanda abgesehen warst du sein Ein und Alles.“ „Laufen lassen konnte ich ihn nicht. Das weißt du doch. Und er hat auf mich gewartet. Wir hatten eine Verabredung am Galgen.“
Burt insistierte: „Zum ersten Mal bin ich von dir enttäuscht. Wo bleibt deine menschliche Seite?“ Ruth unterbrach ihn. Sie wusste es besser. „Nicht töten dürfen? Das Gegenteil ist wahr. Für Brittle war es das Schönste, dass er sich Rupert anvertrauen konnte und nicht von einem Unbekannten gehängt wurde. Das nahm seiner eigenen Bluttat die Heftigkeit, das ließ ihn seine krankhafte Eifersucht auf Wandas Liebhaber vergessen. Sich mit Rupert im Angesicht des Todes zu verbrüdern, hat ihn glücklich gemacht. Durch die Hand seines Freundes zu sterben: Das war, als wenn er ihm um den Hals gefallen wäre.“ Rupert selbst sagte dann nicht mehr viel dazu. Er schilderte seinen Freunden lediglich, was er gesehen hatte, als er Curtis’ Leichnam vom Strick genommen und zur Ruhe gebettet hatte. „Ganz genau habe ich ihn mir angeschaut. Sein Gesicht. Seine Züge waren nicht verzerrt. Wie es sonst so oft der Fall ist. Er hatte Frieden gefunden.“ Er war mir dankbar, hätte er noch hinzufügen können. Er hatte die aussichtslose, selbstzerstörerische Liebe zu Wanda durch die Zuneigung zu mir ersetzt, hätte er erklären können. Curtis Brittle war für ihn das beste Beispiel, dass die Todesstrafe keine abschreckende Wirkung besaß und auch nie besitzen würde, dass ihr Vorhandensein oder ihre Abschaffung niemanden, der wirklich morden, der wirklich töten wollte, von seinem Vorhaben abbringen würde. Jemand, der einen anderen Menschen aus dem Weg räumen oder vernichten musste, weil er keine Wahl mehr hatte, weil er keine andere Lösung mehr sah, konnte durch keine Strafandrohung, und sei sie noch so hart und brutal, überredet werden, diesen Entschluss wieder fallen zu lassen. So ein Verzweifelter würde sich keiner Einsicht beugen, wäre keinem vernünftigen Argument zugänglich. Keine Abschreckung, keine Hinrichtungsdrohung der Welt hätte Curtis, seinen Mäich, davon abhalten können, Wanda zu vernichten. Da sie ihn dazu zwingen wollte, auf sie zu verzichten oder sie mit anderen Männern zu teilen, kam nur ihre Beseitigung infrage – sonst wäre er leer ausgegangen. Was konnte schlimmer sein als diese einseitige Bankrotterklärung durch sie? Curtis hatte die Todesstrafe sogar ausdrücklich bejaht. Sie te zu seiner Tat.
Curtis hatte sich aus freiem Willen in die Obhut seiner Katze gegeben. Wie gut nur, dass er sie schon vorher kannte. Auf diese Weise fühlten sich ihre Krallen und ihr Maul sanft und vertraut an. Auf diese Weise war sein eigener Tod eine Erlösung, und die Qualen auf Erden waren viel schneller ausgestanden als sonst. Das Liebesinferno: überwunden. Der Verlust Wandas: nicht mehr von Bedeutung. Die Trauer um den Verlust der eigenen Stimme: gemildert durch das abschließende brüderliche Vortragserlebnis. Nicht der Mord zählte jetzt mehr, nur noch Kunst und Harmonie. Thank you, cat. My pleasure, mouse.
Nach Brittles Hängung brach eine noch ertragreichere Zeit für den Pubwirt Beaufort an. Es herrschte Goldgräberstimmung im Struggler; Rupert war es ein Leichtes, die Leute bei Laune zu halten – auch ohne Curtis und die musikalischen Höhepunkte zu zweit –, die Mundpropaganda tat ein Übriges, und eine von Ruths besten Freundinnen, die einmal pro Monat die Buchhaltung für sie erledigte, brachte die Entwicklung der letzten Monate auf den Punkt, als sie, nicht ganz frei von Neid, feststellte: „Euer Laden läuft wie geschmiert!“ Der Großteil der Investitionen war inzwischen abbezahlt, die Leute standen samstags und an Feiertagen schon eine halbe Stunde vor Öffnung vor der Tür und begehrten Einlass, Burt spielte zur Unterhaltung ganze Abende lang, ohne vom Klavierschemel aufzustehen, und es verging kein Wochenende ohne launige, heftig beklatschte Gesangseinlagen. Wenn nur die verdammte Popularität nicht gewesen wäre! „Bloody publicity!“, fluchte der Erfolgreiche. Wenn nur wieder, wie früher einmal, niemand etwas von seiner Nebentätigkeit mitbekommen hätte! Wenn er doch weder berühmt noch berüchtigt sein könnte! Die ganze Heimlichtuerei, jahrelang so dringend notwendig und unverzichtbarer, ja heiliger Bestandteil seines Selbstverständnisses, war für die Katz gewesen. Und damit meinte er selbstredend nicht Curtis’ Katze. Aber das eine war ohne das andere nicht zu haben. Er durfte sich nicht dem Vorwurf der Unredlichkeit aussetzen und seufzen, wo es eigentlich nichts zu seufzen gab. Kein wirtschaftlicher Erfolg ohne Ruhm, und sei er auch noch so zweifelhaft, kein florierender Pub ohne Schlagzeilen und Sensationen. Seine Kunden liebten nun einmal Fahrten mit der Geisterbahn, zu denen er sie mitnehmen sollte, fieberten einem Besuch im
Gruselkabinett nur zu gern entgegen, zu dem er, als ihr Gewährsmann, ihnen die Pforten öffnen sollte. Es war zu spät für halbherziges Bedauern: Die Zeit ließ sich nicht zurückdrehen. Auch wenn Rupert sein Ruhm nicht zu Kopf gestiegen war. Wer kannte ihn inzwischen eigentlich nicht im Vereinigten Königreich und auch jenseits seiner Grenzen, diesen Star-Henker, der so ganz ohne Allüren war? Gab es überhaupt noch irgendeinen Europäer oder irgendeinen Bewohner der freien westlichen Welt, der nichts von Chief Executioner Rupert Beaufort gehört hatte? Erst unlängst begrüßte ihn ein welt- und wortgewandter britisch-spanischer Doppelagent, dem man Hochverrat in gleich mehreren Fällen zur Last gelegt und den man daraufhin zum Tod durch den Strang verurteilt hatte, Sekunden, bevor er sterben musste, in der Todeszelle des Walton Prison wie auf einer Cocktailparty – mit ausgesuchter Höflichkeit und den Worten: „Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Sir! Das wollte ich schon immer einmal. Unsere Politiker halten große Stücke auf Sie.“ Der Sträfling war ein Mann mit vollendeten Manieren, als er, schon mit auf dem Rücken verbundenen Händen und der Schreckenskammer entgegenstolpernd, dann noch präzisierte: „Freilich nicht unter diesen Umständen. Doch da es sich nun nicht mehr ändern lässt – how do you do?“ Rupert blieb fast die Spucke weg. Ein andermal erwies er seinem Kumpel Stuart Nicholson in Stoke-on-Trent eine Gefälligkeit, indem er beim Umzug von Stuarts kranker Mutter aus einem kleinen Reihenhaus in eine Pflegestation mithalf. Als die beiden Männer sich in einer Bar in der Nachbarschaft vom Möbelschleppen erholten und gerade zum zweiten Mal zuprosten wollten, kam ein völlig aufgelöster Halbwüchsiger ins Lokal gerannt – sein Vater hatte sich soeben auf dem Dachboden des Nebenhauses erhängt. Und er hatte ihn entdeckt. Während der arme Junge, noch wie von Sinnen, sich von den übrigen Gästen trösten ließ, kümmerten sich Rupert und Stuart, in Anwesenheit der Witwe und der übrigen kleinen Söhne, um die Leiche des Selbstmörders. Nachdem sie der Polizei ihre Hilfe angeboten und die ihnen die Erlaubnis dazu erteilt hatte. Für Stuart wurde dabei ein Traum wahr – endlich durfte er einmal seinem Freund assistieren! Überall standen Gaffer im Wege. Auf dem Dachboden traten sich Neugierige auf die Füße, die sich zuvor nie für den Vater – einen verzweifelten, seit Jahren arbeitslosen Trinker – des erschütterten Jungen interessiert hatten. Wann wurde ihnen schon einmal so eine Show geboten?
Wann konnten sie schon einmal hautnah miterleben, wie jemand vom Strick genommen wurde? Die Leute im Viertel haute es hingegen um, wie sorgsam, bedächtig und fachgerecht Rupert, seine geliebte Zigarre im Mundwinkel, mit dem Körper des Verstorbenen umging, wie er ihn mit wenigen, geschickten Gesten in den mittlerweile bereitstehenden Sarg verfrachtete und sich um den Toten bemühte, als hinge sein Seelenheil davon ab. „Man könnte meinen, hier sei ein Beaufort am Werk gewesen“, sagte einer von den Umstehenden zu Stuart, als Rupert bereits wieder auf dem Rückweg nach Hollinwood und der Leichnam auf dem Weg in die Kältekammer des Friedhofs war. „Ist er ja auch“, gab Stuart zurück, stolz darauf, den Eingeweihten spielen zu können und Informationen aus erster Hand verbreiten zu dürfen. „Aber doch nicht der Beaufort!“ Der Schaulustige hatte da so seine Zweifel. „Der und kein anderer!“, triumphierte Stuart. „Und wenn Sie es nicht glauben wollen, dann kommen Sie am Wochenende in den Struggler von Hollinwood. Da zapft der beste Henker, den Großbritannien je gesehen hat, selbst. Auch für Sie!“ Den Vogel schoss jedoch Aunt Mildred ab. Als Rupert einmal wieder bei ihr und dem alten, inzwischen bettlägerigen Uncle Theo vorbeischaute, hielt die unermüdliche Kreuzworträtsellöserin ihm schon im Vestibül ihr neuestes Heft unter die Nase. „Hier stehst du drin!“ Zeigte ihm die Seite, die sie am Vortag korrekt ausgefüllt hatte, und wies auf die Definitionen in der linken Spalte. Nach einem „englischen Scharfrichter mit acht Buchstaben“ wurde dort gesucht, „Vorname Rupert.“ „Jetzt hast du es wirklich geschafft.“ Seine Tante jauchzte vergnügt. „Diese Ausgabe hebe ich mir auf – werde sie in Ehren halten. Wenn das dein seliger Vater noch erlebt hätte!“ Sie ließ sich von ihm in den Wohnzimmersessel helfen. Rupert legte ihr ein Kissen in den Rücken, breitete eine Wolldecke über ihren Beinen aus und goss ihr eine zweite Tasse Tee ein. Zufriedenheit machte sich auf ihrem Gesicht breit. Sie legte das Heft in den Schoß, griff nach der Zuckerzange und ließ ein Stückchen in ihre Tasse plumpsen. „Jetzt sind wir alle berühmt.“
Mildred war schon immer sein größter Fan gewesen. Sobald sie eines
Zeitungsausschnitts oder eines Presseberichts, in dem ihr Neffe Erwähnung fand, habhaft werden konnte, klebte sie die Texte und Dokumente in dicke, prall gefüllte Alben ein, von denen sie bereits eine ganze Reihe besaß. Und sie hob auch alle Titelseiten mit Ruperts Konterfei auf. „Bald muss ich ein Extraregal anlegen“, schmunzelte sie. Schon bei ihrem Mann hatte sie mit der Archivierung angefangen. Bei ihr, bei Ruth und seinen Verehrern im Pub stieß Ruperts Tun auch weiterhin auf volle Zustimmung. Dass seine Tätigkeit selbst von einigen Menschen im Ausland, denen er nie begegnet war, noch immer als heldenhaft und bewundernswert empfunden wurde, wusste er aus Erfahrung. So erhielt er etwa jedes Jahr zu Weihnachten von einem anonymen Spender eine Zehnpfundnote in einem weißen, unbeschrifteten Umschlag – weder Absender noch Adressat waren angegeben –, dem jedes Mal ein Zettel beigefügt war, auf dem nur wenige Worte standen: „Bergen-Belsen. Thank you!“ oder „Hameln. Wir stehen tief in Ihrer Schuld.“ Mit der Schreibmaschine getippt, ohne irgendeinen Hinweis auf einen persönlichen Bezug und abgeschickt mit der klaren Absicht, unerkannt zu bleiben. Zehn Pfund, das war damals viel Geld. Erhielt er ihn jetzt doch noch, diesen Judaslohn, den er zuvor stets so vehement abgelehnt hatte? Und wem waren diese Ereignisse, mit denen er innerlich abgeschlossen hatte, die er am liebsten vergessen würde, bloß jetzt noch einen solchen Betrag wert? Warum wollte man sich erkenntlich zeigen, ohne Farbe zu bekennen? Einmal war es ihm gelungen, den Boten dieser Briefe gerade noch abzufangen, einen älteren Herrn, der etwas unbeholfen über das spiegelglatte Trottoir zu seinem Auto hastete. Rupert verfolgte ihn mit seinen Fragen. Pulvriger Dezemberschnee fiel auf den schwarzen Hut des Mannes und auf den dunklen Wintermantel. „Ich führe nur einen Auftrag aus“, stammelte der Unbekannte verlegen und verbeugte sich kurz. Es sollte beschwichtigend klingen. „Verzeihen Sie mir – mir sind die Hände gebunden.“ Von wem das Geld stamme, dürfe er nicht verraten – unter keinen Umständen. „Dann sagen Sie mir doch wenigstens, wo Ihre Auftraggeber wohnen.“ Rupert mochte sich nicht abspeisen lassen und ein weiteres Jahr im Dunkeln tappen.
Der höfliche Alte – Rupert fiel sofort auf, wie vornehm er gekleidet und wie unangenehm ihm die ganze Angelegenheit war – presste die Lippen zusammen, streifte seine Handschuhe ab und stieg in seinen Wagen. Er gab seinem Chauffeur das Zeichen zur Abfahrt. Als das Auto bereits anrollte, kurbelte er die Scheibe herunter und rief: „Dieses Jahr Tel Aviv. Letztes Jahr Boston. Aber denken Sie einfach nicht weiter darüber nach. Machen Sie sich mit Ihrer Frau ein paar angenehme Tage zum Jahreswechsel. Und nun entschuldigen Sie mich, Sir.“ Rupert bereute es bald, dass er den Gentleman, auch wenn er sich noch so zuvorkommend gezeigt hatte, so ohne Weiteres hatte laufen lassen. Geschenke und Belohnungen waren ja die Ausnahme. Was Ruth anging, so fand sie nichts dabei, das Geld anzunehmen und auszugeben. Was sie dann auch taten. Aber eben nicht mit der üblichen Unbeschwertheit. Mitte der Fünfziger verebbten die großzügigen Briefe dann. Wohl, weil der oder die Spender gestorben waren. „Oder weil sie nicht möchten, dass du ihnen auf die Schliche kommst“, glaubte Ruth. „Auch egal. Nun brauchst du keine Skrupel mehr zu haben.“ In Anbetracht dieses Vorfalls war Rupert noch jetzt heilfroh darüber, dass man ihn seinerzeit für die Vollstreckung der Todesurteile bei den alliierten Nürnberger Prozessen gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher nicht berücksichtigt hatte. Dafür war ein amerikanischer Henker ausgewählt worden, obgleich die vier Richter und vier Hauptankläger jeweils eine Siegermacht repräsentierten, alle vier Nationen also paritätisch vertreten waren. Der Chief Executioner der US Army, ein gewisser Woods aus Kansas, hatte zehn der zwölf Hauptangeklagten in der Turnhalle des Nürnberger Gefängnisses auf blamable und noch dazu grausame Weise liquidiert – innerhalb von nur zwei Stunden. Schwarze Schnüre waren dort zum Verbinden der Hände zum Einsatz gekommen, schwarze Kapuzen den Angeklagten aufgesetzt worden, die zuvor jeweils dreizehn Stufen zum Galgen hinaufgestiegen waren. So weit so gut. Daraufhin spielten sich mehrmals hintereinander grässliche Szenen ab: eine zu kleine Falltür, das Aufschlagen des Kopfes an den Rand der Luke, Nacken-, Nasen- und Stirnverletzungen, eine zu gering berechnete Fallhöhe, Verzicht auf den Long Drop, ein Genick, das nicht rechtzeitig brach,
viertelstündige Agonie, Würgetod … Ein Desaster. Fehlte es Woods, dem andere Henker und auch Militärpolizisten assistierten, an Erfahrung und Routine, stand er gar unter Alkoholeinfluss oder war er einfach der falsche Mann für diese heikle Aufgabe? Tatsache war, dass die ganze Prozedur kaum dilettantischer hätte ablaufen können – eines alliierten, hochkarätig besetzten Strafgerichtshofes unwürdig. Auch wenn es, der damaligen öffentlichen Meinung zufolge, um diese Nazi-Minister, Wehrmachtsführer, Oberkommandeure, Generalgouverneure und weitere Entscheidungsträger „nicht schade“ war: Langsam ersticken sollten auch sie nicht. So verdiente niemand zu sterben. Solche schweren Fehler wären Rupert, der Gerüchten zufolge zunächst von den Nürnberger Verantwortlichen eingesetzt werden sollte, bevor man sich für Woods entschied, nie und nimmer unterlaufen. Und sich ein weiteres Mal vor den Karren einer Gerichtsbarkeit spannen zu lassen, die sich auf zwar legitime, aber trotzdem fragwürdige Weise der Kriegsverbrecher eines untergegangenen Unrechtsregimes mit auf die Schnelle durchgeführten Massenexekutionen zu entledigen trachtete, hätte er nicht verkraftet. Hameln hatte ihm voll und ganz gereicht. Diese grausige Erfahrung bedurfte keiner Wiederholung oder Fortsetzung. Nicht viel besser war es um den modernen Strafvollzug im österreichischen Graz, in der Justizanstalt Karlau, bestellt. Dorthin hatte man Rupert, noch zu Hamelner Zeiten, beordert, um einen österreichischen Kollegen und dessen Gehilfen in der Kunst des „langen Falls“ zu unterrichten. Bis dahin war in Österreich noch die grausame, qualvolle Methode des Würgegalgens zum Einsatz gekommen, der „kurze Fall“. Selbst hartgesottenen Vollzugsbeamten war reihenweise schlecht geworden, wenn sie dabei Zeugen des entsetzlichen Erstickungstodes der Delinquenten werden mussten. Beschwerden von human eingestellten Rechtsexperten ließen nicht auf sich warten. Wieder durfte Rupert erfahren, wie gefragt und beliebt er war, wie sehr man – auch auf internationaler Ebene – sein Expertentum schätzte. Gern kam er der Aufforderung nach und instruierte das Personal von Karlau. Zeigte den staunenden Hangmen aus der Steiermark, wie behutsam und effizient man mit Verurteilten umgehen konnte. Und dass Strangulation kein Automatismus war.
Acht junge Männer, Schwerverbrecher, Verräter und Saboteure, mussten – als lebende Versuchskaninchen – nun nach dem neuen Reglement dran glauben und wurden, in vier Zweiergruppen, nach dem Beaufort-Prinzip getötet, was die örtlichen Behörden, zufriedengestellt und erleichtert, als einen gewaltigen Fortschritt ansahen. Ruperts Unterweisung hatte auch zur Folge, dass die schwer beeindruckten Grazer Henker bei ihrem Ministerium vorstellig wurden, um von nun an ausschließlich den „Long Drop“ einsetzen zu dürfen – andernfalls wollten sie in einen unbefristeten Streik treten. Ihrem Ansinnen wurde schließlich entsprochen. Ruperts Gastspiel hatte die Bedingungen der Hinrichtungen, jedenfalls wenn sie nach britischem Besatzungsrecht in Österreich durchgeführt wurden, revolutioniert und humanisiert. Im Rest des Alpenlandes ging das entsetzliche Hängen und Würgen bis zur Abschaffung der Todesstrafe leider munter weiter. Ansonsten hatte sich, zumal in Ruperts Heimat, das Blatt gewendet. Eine deutliche Trendwende kündigte sich an. Mehr und mehr wurden in der Öffentlichkeit kritische Stimmen laut, die eine Reform des Strafwesens und, als deren letzten logischen Schritt, den Verzicht auf die Höchststrafe forderten. Exekutionen seien eines aufgeklärten, zivilisierten und demokratischen Staates unwürdig, hieß es. Würden einer rückständigen, mittelalterlichen Rechtsauffassung folgen. Wer Menschen hinrichte, mache sich selbst schuldig, argumentierte man. Wer Rache und Moral über Recht stelle, lade ebenso große Schuld auf sich wie die Delinquenten. Schlagworte wie „archaisch“, „barbarisch“ und „menschenverachtend“ kursierten. Der primitive Grundsatz „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ müsse endlich aufgegeben werden. Vorsätzlicher Mord lasse sich nicht durch weiteren vorsätzlichen Mord aus der Welt schaffen. Körperliche Züchtigung und Tötung seien einfach nur primitiv. Bürgerinitiativen und christliche Organisationen formierten sich zum Widerstand gegen die „death penalty“. Landauf, landab wurde debattiert und gestritten, demonstriert und protestiert. Vor den Haftanstalten wurden Mahnwachen abgehalten, vor den Gerichtsgebäuden Petitionen verbreitet und von Zehntausenden unterschrieben. Staatsanwälte und Richter, Kriminalpolizei und Bürgermeister gerieten zunehmend unter Druck. Namhafte britische Intellektuelle erhoben ihre Stimme zugunsten der zum Tode Verurteilten, Künstler und Musiker engagierten sich. Linke und liberale Politiker übernahmen die Positionen der Aufbegehrenden in ihre Programme. Aufrufe zur
Begnadigung häuften sich, die Presse schwenkte um und feierte nun nicht länger die Hangmen, sondern nahm die Perspektive der Straftäter ein, die vielen Menschen nun ebenfalls als bedauernswerte Opfer präsentiert wurden. Ungeachtet ihrer Vorgeschichte und ihrer Verbrechen. Die Justizbehörden in Großbritannien, denen nicht entgehen konnte, wie sehr die Stimmung im Lande gekippt war, reagierten verunsichert und setzten viele Urteile vorläufig aus. Der Rechtfertigungszwang stieg. Die Gesetzgeber gerieten in Erklärungsnot. Wenn das so weiterging, drohte Beaufort und seinen Zunftgenossen nicht nur ein beträchtlicher Gewissenskonflikt, sondern die Arbeitslosigkeit. Doch auch die Befürworter der Todesstrafe verschafften sich Gehör. Der Streit wurde in den Medien, auf der Straße und in den Familien erbittert geführt und erregte, auch in Ruperts Pub, die Gemüter. Mit teils brachialen Argumenten. Die Kolumnisten von Daily Mirror und Evening Standard lieferten sich publizistische Schlachten. Pro- und Contra-Positionen hielten sich die Waage, schlimm war nur, dass sich die Schreihälse durchsetzten. Und eine Hetzkampagne ins Leben riefen. Nicht selten wurden die Henker daraufhin tätlich angegriffen. Rupert nahm sich in Acht, wenn er zu den Strafanstalten reiste. Nicht immer gelang dies: In Birmingham drängten ihn vier junge Typen am helllichten Tag in einen Hauseingang, um ihn auszurauben, hielten ihm ein Messer an die Kehle und spuckten ihn an, sahen aber davon ab, ihn zu verprügeln. Oder zuzustechen. Viel hatte er nicht in den Taschen, und er hatte großes Glück, dass sie schnell von ihm abließen. Ob diese Attacke mit seinem Job als Executioner in Verbindung zu bringen war, erfuhr er nicht. Extreme Vorsicht war indessen geboten. Ruth machte sich jetzt größere Sorgen um ihn als in den Kriegsjahren, wo jeder Flug, jede Zugreise mit Lebensgefahr verbunden gewesen war. Heutzutage war ihr Gatte für viele Engländer ein Buhmann. Eine Minderheit noch, die rasch zur Mehrheit werden konnte. Das änderte alles. Das erforderte Diskretion und möglichst unauffälliges Verhalten. Dass Hängungen im Bewusstsein der Allgemeinheit nicht länger hoch im Kurs standen, dass die Scharfrichter kaum noch als vorbildliche Bürger galten, stattdessen um ihr Ansehen kämpfen mussten und einen schweren Stand hatten, hatte auch damit zu tun, dass immer häufiger die Kunde von schweren Justizirrtümern und Fehlurteilen nach außen drang und von der Presse ohne Hemmungen ausgeschlachtet wurde. Stets ein gefundenes Fressen für die
Widersacher und Menschenrechtler – sie reagierten empört, witterten Morgenluft. Selbst einem so vorbildlichen Executioner wie Rupert geschah es zwischen 1950 und 1955 gleich dreimal, dass er völlig unschuldige Männer hinrichten musste, noch bevor die jeweiligen Prozesse neu aufgerollt und die Todesurteile revidiert werden konnten. Zuerst setzte man ihm einen neunzehnjährigen Taubstummen, angeblich einen gemeingefährlichen Mörder und Giftmischer, zur Hängung vor, von dem sich später herausstellte, dass er zum Zeitpunkt der Tat in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet hatte und lediglich durch das schlampige Vorgehen des zuständigen Kommissars in Verdacht geraten war – der Beamte hatte den Jüngling mit einem notorischen Gewalttäter, der schon seit einigen Jahren im selben Viertel von Manchester schwere Delikte verübt hatte, verwechselt. Ein richtiges Verhör hatte gar nicht stattgefunden, der Pflichtverteidiger versagt. Und niemand hatte sich für den Festgenommen, der noch nicht einmal annähernd verstand, worum es bei den Untersuchungen und beim späteren Prozess überhaupt ging, eingesetzt. Oder wenigstens interessiert. Danach stolperte die Justiz über den Fall Timothy Jenkins, einen Mittzwanziger aus Norwich, dem man den Doppelmord an seiner jungen Frau und kleinen Tochter in die Schuhe zu schieben versuchte. Rupert hängte Jenkins, einen jungen Mann mit dem Verstand eines Kleinkindes, in der Strafvollzugsanstalt von dessen Heimatstadt völlig zu Unrecht. Der Unglückselige, der den Fragen der Polizisten und Untersuchungsrichter kaum folgen konnte, hatte sich während der Vernehmungen in ein unentwirrbares Netz aus erzwungenen Geständnissen und echten Unschuldsbeteuerungen verstrickt, aus dem er nicht mehr herausfand. Drei Jahre gingen ins Land, und erst dann machte ein schlauer Detektiv Jenkins’ Vermieter Atkins ausfindig. Wegen einer ganz anderen Gewaltserie: Atkins hatte als geschickt agierender Serienmörder seit mehr als einer Dekade die Nachbarschaft in Angst und Schrecken gehalten und die Leichen seiner Opfer, ausnahmslose attraktive Frauen und werdende Mütter, im Kellergeschoss desselben Hauses versteckt, in dem auch die junge Familie Jenkins wohnte. Schließlich gestand er sämtliche Morde, auch den an Timothys Frau, wollte aber mit der Tötung des kleinen Mädchens nichts zu tun gehabt haben. Rupert richtete also auch Atkins hin, am selben Ort, womit allerdings die vorangegangene fatale Hängung nicht mehr rückgängig gemacht werden konnte: Jenkins war umsonst gestorben. Die Behörden fanden niemanden in seinem Umkreis, an den sie eine
Wiedergutmachungszahlung hätten zahlen können. „Juristisch unhaltbar“, titelten die Gazetten, „krasses Fehlurteil“. Aber von allen Verantwortlichen geriet insbesondere Rupert in den Fokus der Kritik: Er – und nicht etwa die Richter oder die Jury – bekam sein Fett ab. Obwohl er gar nicht dazu berechtigt war, die Rechtmäßigkeit einer Verurteilung zu hinterfragen oder anzuzweifeln. Für solche Details interessierten sich die Journalisten und Hinrichtungsgegner naturgemäß nicht die Bohne. Und obschon er nichts mit dem furchtbaren Irrtum zu tun hatte, blieb die Affäre an ihm kleben. Sein Name wurde mit den unentschuldbaren Pannen gleichgesetzt. Wahrlich kein Ruhmesblatt für den überkorrekten und akkuraten Beaufort, den sonst doch über jeden Tadel erhabenen Chefhenker. Wenige Wochen nach dieser skandalösen, voreiligen Liquidierung ertappte die Polizei von Bristol zwei Männer, erneut mit niedrigem Intelligenzquotienten und unfähig, klare Aussagen über ihr Tun und Lassen zu treffen, bei einem nächtlichen Einbruch in einen Juwelierladen. Zwei eher harmlose Ganoven, von denen der eine, Herbert Kirk, bereits volljährig, der andere, Stanley Hunter, noch minderjährig war. Die beiden Kleinkriminellen waren gerade dabei, sich die Jackentaschen mit Uhren, Hochzeitsschmuck und goldenen Manschettenknöpfen vollzustopfen, als sie von der Streife, die die eingeworfenen Schaufensterscheiben bemerkt hatte, überrascht wurden. Den Beamten gelang es, Kirk in ihre Gewalt zu bringen, Hunter entwischte ihnen, doch bei dem Handgemenge gelangten ihre Schusswaffen in Hunters Besitz. Alle beide! Wie ein wild gewordener Stier raste der Jüngere nun durch das Geschäft, schrie vor lauter Zorn und Frustration, vollführte eine Art Veitstanz auf dem mit Scherben bedeckten Holzboden und bedrohte dabei abwechselnd seinen Freund, den Inspektor und seinen Begleiter, einen Streifenpolizisten. Fuchtelte allen dreien mit den beiden Pistolen vor ihren Nasen herum. Die Polizisten, wütend über ihre momentane Machtlosigkeit, brüllten wie am Spieß. Wohl zwanzig Minuten dauerte das närrische Spektakel, die Situation drohte zu eskalieren. Der Ältere bat Hunter, es doch gut sein zu lassen. Sich den Beamten zu ergeben. Und wählte seine Worte dabei nicht gerade mit Bedacht. „Gib’s ihnen doch zurück“, flehte er. Oder hatte er etwa nur „Gib’s ihnen!“ gesagt? Hunter zum Betätigen der Waffen aufgefordert? Auf jeden Fall löste sich aus einer von beiden ein Schuss – die andere war leer gewesen –, und der diensthabende Inspektor war auf der Stelle tot.
Es war zu spät, das Missverständnis aufzuklären. Obschon eindeutig Hunter den tödlichen Schuss abgegeben hatte, kam er aufgrund des neuen, gerade erst reformierten Jugendstrafrechts mit einer Gefängnisstrafe davon. Die Geschworenen verurteilten hingegen Kirk, den Erwachsenen, den zwei Polizisten als Geisel genommen und erfolgreich in Schach gehalten hatten, wegen Anstiftung zum Mord an einem Ordnungshüter zum Tod durch den Strang. Ihr Urteil basierte ausschließlich auf der Zeugenaussage des überlebenden Polizisten. Alles Betteln, Abstreiten und Richtigstellen half Kirk nichts. Rupert hatte diesmal frühzeitig Wind von der Vorgeschichte bekommen und war, was seine Einschätzung des Tathergangs betraf, ungewöhnlich parteiisch – er schlug sich, schon bevor er den Zug nach Bristol bestieg, auf die Seite der Verurteilten. „Das sind doch gar keine Gangster! Dumme Kinder, die den Bogen überspannt haben, weiter nichts.“ Zwar zog er zähneknirschend die Hinrichtung durch, aber alles in ihm sträubte sich dagegen. Stuart und Burt hatten ihn erst selten so emotional erlebt. „Der arme Schuft!“ Und schon gar nicht vor und nach der Reise ins Zuchthaus von Bristol so viel trinken sehen. „Noch so ein Fall, und ich nehme meinen Hut!“, sagte er zu Howard, bevor sie sich auf den Weg in den Todestrakt machten. Herbert Kirk machte es ihm auch weiterhin schwer: Seine Verzweiflung war schier grenzenlos. Am Morgen der Hängung verweigerte er das Ankleiden und bestand darauf, im Pyjama in der Schreckenskammer zu erscheinen. Die Wärter versuchten vergeblich, ihn zu entkleiden – einer von ihnen wurde vom Verurteilten in die Wade gebissen. Also ließen sie von ihm ab. „Macht keinen Unterschied“, befand Rupert. „Lassen Sie ihm ruhig seinen Willen.“ In den zehn Sekunden vor der Exekution schrie Kirk dann pausenlos: „Ich war es nicht! Ich habe niemanden erschossen!“ Immer im Wechsel. Gellende Schreie. Wie die Klagerufe eines tödlich verwundeten Tieres. Rupert erlöste ihn, machte den Ungerechtigkeiten mit einer weiteren Ungerechtigkeit ein Ende. Einer der Zeugen gab die Informationen über den Zwischenfall in letzter Minute trotz Schweigepflicht sofort an die Reporter weiter. Das war das Signal, auf das die Hinrichtungsgegner nur gewartet hatten.
Auf der Wiese vor der Strafanstalt hatten sich mehrere Hundert Menschen versammelt. „Schlächter!“, riefen sie erbost. „Monster!“ Und skandierten Ruperts Namen. Der Gefängnisdirektor sorgte dafür, dass man den heute sehr unpopulären Mister Beaufort an den Protestlern vorbeieskortierte. In einem kugelsicheren Fahrzeug, das, von der Menge unbemerkt, das Gebäude durch den Hinterausgang verließ. Wo nur halb so viele Demonstranten standen. Und mit dem Rupert nicht etwa zum Bahnhof, sondern nach Hause gefahren wurde. Hundertachtzig Meilen Richtung Norden. Es war wohl besser so. Und sicherer.
Das britische Parlament zog die einzig vernünftige Konsequenz aus den Skandalen und der aufgeheizten Stimmung im Land: Es setzte eine Untersuchungskommission ein, der man, um ihre Bedeutung zu unterstreichen, gar den Titel „Royal Commission“ verlieh. Mit dem Ziel, herauszufinden, ob die Todesstrafe weiterhin zeitgemäß sei und noch eine Zukunft habe, ob sie gerechtfertigt und moralisch vertretbar sei und wie es sich mit der Mehrheitsmeinung in Großbritannien dazu verhalte. Schon ein paar Jahre zuvor hatte man im Abgeordnetenhaus über diese Fragen debattiert, war aber zu keinem konkreten Ergebnis gekommen. Gesetzesvorstöße der Kritiker und Abschaffungsbefürworter versandeten damals im House of Lords, und nach einer Anstandsfrist von neun Monaten – so lange, wie die Parlementarier mit ihrer Gewissensentscheidung schwanger gingen, mokierte sich der Herausgeber des Observer in einem Leitartikel – wurden die Hängungen wieder aufgenommen. Die Initiatoren der Justice Bill, darunter Pazifisten, Freidenker und einzelne oppositionelle Parteimitglieder mit pädagogischen und humanitären Ambitionen, hatten auf Granit gebissen. Nun wollte man intern vorankommen, professioneller vorgehen. Diesmal nahm man die ernste Angelegenheit nicht auf die leichte Schulter. Mit inquisitorischer Hartnäckigkeit wurden Dutzende von Zeugen und Experten befragt, und Rupert diente der Königlichen Untersuchungskommission selbstverständlich als Kronzeuge. Er zeigte sich kooperativ und stand ihr bereitwillig Rede und Antwort. Einen kompetenteren Sachwalter hätte sie wohl kaum auftreiben können.
Bei Fragen nach dem Sinn der Todesstrafe und ihrem Abschreckungspotenzial gab er sich hingegen einsilbig. „Das zu beurteilen steht mir nicht zu.“ Er erteilte Auskunft über die vielen gelungenen Hängungen, kam auf Nachfrage auch auf die Hinrichtungsserien in Hameln, Graz und Gibraltar zu sprechen und gab zu Protokoll, dass ihm persönlich noch keine einzige Exekution missglückt sei. Er schilderte das unterschiedliche Verhalten der Häftlinge, ließ sich über seine Präferenzen bei den einzelnen Methoden aus und wurde, als man ihm mit den überwältigend positiven Stellungnahmen zu seinem Dienst an der Nation konfrontierte – drei lange Seiten voller Komplimente, wohlwollender Statements und echter Lobeshymnen, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten –, noch eine Spur schweigsamer und unpersönlicher. „Ich tue nur meine Pflicht“, war alles, was der Vorsitzende der Kommission ihm zu entlocken vermochte, „und freue mich, wenn mein Bemühen Anerkennung findet. Mehr erwarte ich nicht. Ich halte mich lediglich an die Vorschriften und führe sie gewissenhaft aus.“ Monoton spulte er sein Fachwissen ab. Zu Scherzen war er nicht aufgelegt. Rupert flüchtete sich in Floskeln. Doch aus seinem Munde klangen sie aufrichtig und glaubwürdig. Ob er an die Zukunft seines Metiers glaube? „Sie und das britische Volk werden darüber zu befinden haben – nicht ich, Sir.“ Ob er Vorschläge zur Optimierung und Reformierung machen wolle? „Soweit ich es einschätzen kann, hat sich der Long Drop bislang immer bewährt. Ich wüsste nicht, was man daran noch verbessern könnte. Aber ich werde mich anstrengen, noch schneller und effektiver zu arbeiten.“ Was er von Gnadengesuchen halte? „Wenn sie berechtigt sind … Fachleute werden sicher eine vernünftige Entscheidung treffen.“ Welche Meinung er zu Justizirrtümern habe? „Bedauerlich, Sir. Aber wohl unvermeidbar.“ Ob er der Jugend ein Vorbild sein wolle? „Das würde ich mir nicht anmaßen.“ Ob er seine Bewerbung jemals bereut habe? „Das Beste, was ich je getan habe.“
Ob er die Entscheidung, ihn zum Chief Executioner zu machen, heute noch gutheiße? „Es war und ist mir eine Ehre, Sir. Ich hoffe, mich Ihres Vertrauens würdig erwiesen zu haben.“ Ob er sagen könne, wie viele Menschen genau er inzwischen im Auftrag der britischen Justiz hingerichtet habe? In diesem Punkt verweigerte er die Auskunft. Und er erwähnte auch sein Tagebuch nicht, seine persönlichen Aufzeichnungen, aus denen diese Zahl ja unmissverständlich hervorging. „Das ist meine Angelegenheit, Sir. Sehen Sir mir das nach. Ich möchte mich nicht mit Rekorden schmücken. Wenn ich also um die nächste Frage bitten dürfte …“ Rupert führte, auf besonderen Wunsch der Kommission, dann noch gemeinsam mit Howard eine Hängung mit dem Dummy vor und erläuterte Schritt für Schritt die einzelnen Bewegungsabläufe. Den entgeisterten Mienen der Umstehenden entnahm er, dass die meisten von ihnen – dabei waren sie die Entscheidungsträger! – bisher nicht den geringsten Schimmer vom Ablauf einer Hinrichtung gehabt hatten. Danach war seine Befragung endlich beendet. Sie hatte zwei ganze Tage gedauert, er hatte extra dafür nach London fahren müssen und natürlich keine Entschädigungszahlung bekommen. Nur die Spesen wurden ihm erstattet. „Danke, Beaufort. Sie haben uns sehr geholfen. Danke für alles.“ „Stets zu Ihren Diensten, Sir.“ Einige Monate später erfuhr er aus der Zeitung vom bescheidenen Ergebnis des Abschlussberichtes – nicht einmal einen Brief hatte die Kommission ihm zukommen lassen: Die Todesstrafe wurde beibehalten, aber die Anzahl der Delikte, bei denen sie zur Anwendung kam, war deutlich reduziert und die Hürden für ihre Verkündung waren ebenso deutlich erhöht worden. Eine erhebliche Beschränkung. Diese Beschlüsse, sagte sich Rupert, stellten niemanden wirklich zufrieden. Aber sie würden allen Beteiligten und einigen Fanatikern auf beiden Seiten das Gefühl geben, etwas Wichtiges bewirkt zu haben. Kompromissfähig gewesen zu sein. Ruth teilte seine Meinung. Rupert war froh, dass seine Zukunft als Hangman einstweilen gesichert schien. Wenn auch nicht annähernd im selben Umfang wie zuvor. Und dass Uncle Theo, der vor Monatsfrist mit Mitte achtzig das Zeitliche gesegnet hatte, diesen albernen „Fortschritt“ nun nicht mehr miterleben musste.
„Eines Tages, old boy“, pflegte er zuletzt zu seinem Neffen zu sagen, „werden sie alle begnadigt werden. Alle – du wirst schon sehen. Dann stehst du mit leeren Händen da.“ Um Rupert einen Gefallen zu tun, um dafür zu sorgen, dass er in den englischen Medien endlich einmal wieder in einem günstigeren Licht erschien, brachte Howard Phelps eine Anekdote in Umlauf, die fortan in jedem halbwegs seriösen Zeitungsartikel über den Meisterhenker Beaufort zu lesen stand – die Anekdote mit der Zigarre. Wie oft sei er, als persönlicher Assistent, nun schon Zeuge gewesen, teilte Howard mit etwas übertriebener Geheimnistuerei einem eifrigen Reporter mit, den er eigens für die Übermittlung dieser Vertraulichkeit in ein Café bestellt hatte und der jetzt den ganz großen Coup witterte, wie oft habe er nun schon Rupert dabei beobachtet, wie er sich zehn Minuten vor der Hinrichtung eine gute Zigarre ansteckte und, während er sich auf die bevorstehenden Ereignisse konzentrierte, schweigend und paffend im Schlafund Aufenthaltsraum der Hangmen auf und ab schlenderte. „Immer wenn die ersten Schläge der Turmuhr die volle Stunde ankündigen, wenige Sekunden vor acht, manchmal auch vor neun, schmaucht Beaufort ein letztes Mal, legt das gute Stück vorsichtig auf den Rand des Aschenbechers, sodass es nicht zur Seite kullert, streift nur ein ganz wenig Glut ab, rückt seine Krawatte zurecht, begibt sich mit mir in die Todeszelle und führt die Hängung durch. Wenn er dann aus der Schreckenskammer zurückkommt, ist die Zigarre noch warm – sie brennt noch immer, und er kann sie genüsslich weiterrauchen. Oftmals ist keine Minute zwischen beiden Zügen verstrichen.“ Die Begebenheit sollte Ruperts Selbstsicherheit unterstreichen, seine Kultiviertheit und seine humane Grundhaltung, sein Beschleunigungsvermögen, sein Tempo und seine Souveränität. Und tat es auch. In wenigen Wochen wurde sie, wann immer die Medien auf ihn und seine brillanten „Sekunden-Tötungen“ zu sprechen kamen, zu seinem Markenzeichen erklärt. Ruth verzog dagegen ihr Gesicht, als sie erstmals davon hörte, und konnte sich gar nicht wieder beruhigen, wenn die Geschichte aufs Neue aufgewärmt wurde – was unterdessen fast im Wochenabstand der Fall war. „Meine Güte!“, rief sie aus. „Das ist ja wie eine Schellackplatte, die einen Sprung hat!“ Und die in Dauerschleife dieselben Töne wiederholt. „Ist es denn schon so weit, dass man dich rehabilitieren muss? Dass andere für dich
flunkern? Hat dein Ruf solche Kratzer abbekommen?“ Sie stand vom Esszimmertisch auf und stemmte die Hände in die Hüften. „Dieser Phelps soll mir ja nicht unter die Augen kommen! Ein Schwindler ist er, ein Angeber!“ Eine Spur sanfter fuhr sie fort, weiterhin aber aufgebracht und entrüstet: „Hast du das wirklich nötig? Ein Mann wie du braucht nun wirklich nicht Everybody’s Darling zu sein!“ Sprach’s, zerknüllte die Zeitungsseite und beförderte sie mit gekonntem Schwung in den Abfalleimer.
Wenn man Rupert Beauforts auf drei Jahrzehnte verteilte Hinrichtungsserie mit einer langen, ausufernden Symphonie vergleichen wollte, dann befand er sich, nach einem einleitenden, flotten Allegro, den Debütjahren, einem getragenen, lyrischen Largo, der Kriegszeit, und einem aberwitzigen, durchgedrehten Trio, den Auslandseinsätzen, jetzt mitten im Finalsatz, bei dem man mit seiner Stretta, also der virtuosen, effektvollen Schlusssteigerung, das Auf und Ab seiner Laufbahn noch einmal wie im Zeitraffer miterleben konnte. Bei dem alles auf einen Kulminationspunkt zusteuerte. Dann stand jetzt die Coda bevor, die mit einem kräftigen Paukenschlag eingeleitet wurde. Die Coda, wenn man dieser musikalischen Logik folgen mochte – das waren seine letzten drei Hängungen im Jahr 1956. Und der Paukenschlag, das war die Hinrichtung von Ethel Mellers, am 23. Juli des Vorjahres. Mellers, eine achtundzwanzigjährige Schönheit mit blondgefärbtem, hochgestecktem Haar wartete an einem unglaublich heißen Sommermorgen auf ihn, ihren Vollstrecker und Erlöser, in der engen, düsteren Todeszelle von Her Majesty’s Prison Holloway. Einem reinen Frauengefängnis. Ethel würde die letzte Frau sein, die in Großbritannien zum Tode verurteilt und bei der diese Höchststrafe auch vollzogen wurde. Als Ende Juni die Geschworenenjury nach nur dreiminütiger Beratung Mellers des vorsätzlichen Mordes an Daniel Lately schuldig sprach – das Urteil fiel einstimmig aus –, war das der Tropfen, der in England das Fass zum Überlaufen brachte. War das einfach ein Todesurteil zu viel. Wurde das Mitgefühl, wurde die Empörung zu groß. Da ging ein Aufschrei durch das ganze Land.
Es war Rupert unmöglich, so zu tun, als bekäme er von dem Aufruhr nichts mit. Unmöglich, einfach wegzuhören. Dieser Paukenschlag drohte sein Trommelfell zum Platzen, seine angespannten, ansonsten eigentlich strapazierfähigen Nerven zum Reißen zu bringen. In den Straßen und auf den Plätzen rings um Holloway wurde er mit Pfeifkonzerten begrüßt, geballte Fäuste gingen auf dem Dach des Autos, das ihn ins Zuchthaus fuhr, wie ein schwerer Hagelschauer nieder, und die Gefängnisleitung gewährte ihm eine Eskorte von gleich sechs Bodyguards, damit er mit heiler Haut davonkam und wohlbehalten ins Innere der Strafanstalt gelangen konnte. Groggy war Rupert schon, bevor er Ethel Mellers das erste Mal in Augenschein nahm. Er fühlte sich abgeschlagen und müde. Doch dann stand auf einmal Howard neben ihm und knuffte ihn liebevoll in die Seite. „Mit dieser Beauty Queen werden wir auch noch fertig. Das wäre ja gelacht!“ Er half Rupert aus seiner durchgeschwitzten Anzugjacke und goss beiden ein Glas Ginger Ale ein. „Come on, mein Guter“, sagte er. Mit genau jener Dosis Freundlichkeit, die Rupert jetzt dringend gebrauchen konnte. Seit O’Sullivan hatte er keinem Gehilfen mehr dieses unbedingte Vertrauen entgegenbringen können. Gut, dass Phelps da war. „Das kriegen wir schon in den Griff“, erwiderte Rupert. Sagte es mehr zu sich selbst als zu Howard. Es hatte sich um den spektakulärsten Kriminalfall in der Anfangsphase des Kalten Kriegs gehandelt. Zu Hunderttausenden identifizierten sich die Leute mit der sinnlichen Ethel, einer jungen, ehrgeizigen Frau vom Typ Sexbombe, die noch nie auf der Sonnenseite des Lebens gestanden hatte und einen desaströsen Hang zum Masochismus zu haben schien. Glücklicherweise besaß sie außerdem ein fröhliches Naturell und ließ sich so schnell nicht unterkriegen. Wenn sie auf die Füße fiel, wenn ein Freier sie brutal zusammenschlug oder wenn sie erneut eine Engelmacherin aufsuchen musste, stand sie einfach wieder auf und hangelte sich mit viel Optimismus und Liebesbereitschaft durchs Dasein. Schon früh hatte sie, eine geborene Conley, im Arbeitermilieu ihrer Kindheit mit den Untiefen des Schicksals Bekanntschaft gemacht, war mit siebzehn von einem kanadischen Soldaten schwanger geworden, der sie prompt sitzen ließ, und hatte von dort an – der kleine Sohn wuchs bei ihrer Mutter auf – ununterbrochen im Londoner Rotlichtmilieu gearbeitet. War als Bardame durch diverse Nachtclubs getingelt, hatte als Möchtegern-Monroe Fotoamateuren für Nacktaufnahmen Modell gestanden, war mit spendablen Herren im besten Alter für Geld – sehr viel Geld sogar – ins Bett gegangen und sah sich deshalb
regelmäßig zu Abtreibungen gezwungen. Ihr blendendes Aussehen, ihre Figur und ihr natürlicher Charme öffneten ihr viele Türen. Mit Anfang zwanzig arbeitete sie als Hostess und Escort Girl, um deren Gunst sich die Männer rissen, und schon wenig später vertraute ein ehemaliger Lover ihr die Leitung des Little Club in Knightsbridge an. Das Lokal öffnete erst nach Mitternacht. Dort bediente Ethel, flirtete mit den Kunden, denen sie junge Gespielinnen zuführte, überredete abenteuerlustige Ehemänner zum Champagnertrinken, sorgte dafür, dass der Rubel rollte, und fand nichts dabei, sich auch dann noch gelegentlich als Edelprostituierte zu verdingen. Ihre ausgeprägte Schwäche für jähzornige Typen und Alkoholiker kostete sie so manch schlaflose Nacht, trug ihr Veilchen im Gesicht, blaue Flecken auf dem Oberkörper, rote Striemen auf dem Rücken und gebrochene Rippen ein. Mit einem hübschen Lächeln steckte sie diese Züchtigungen weg, verarztete ihre Wunden, trug einfach noch mehr Make-up auf und ließ sich anderntags gern weiterprügeln. Ihre Ehe mit dem gewalttätigen, rasend eifersüchtigen Zahnarzt Mellers war ein Fiasko, bescherte ihr jedoch ihr zweites Kind, eine Tochter. Erneut eine ungewollte Schwangerschaft und auch ungewollter Nachwuchs. Sie gab ihm den Lauf. Anschließend machte ihr ein vornehmer, zurückhaltender Mann namens Dekker den Hof, aber den wollte sie nicht. Verliebtes Getue und gute Manieren, hündische Ergebenheit und Zärtlichkeiten langweilten sie. Ihr stand der Sinn nach groben Kerlen, rücksichtslosen Draufgängern und Cholerikern, die sie derb anfassten und, wenn es sein musste, ordentlich rannahmen. Wer Ethel kannte, wusste sofort: Es musste sein. Genau deshalb war Daniel Lately, der irgendwann im Little Club mit ein paar Collegefreunden aufkreuzte und aus Unachtsamkeit gleich ein Dutzend teure Kristallgläser zu Boden pfefferte, der richtige, der ideale Mann für sie. Ihr Traummann. Auf ihn schien sie siebenundzwanzig Jahre lang gewartet zu haben. Lately, schwerreich, stinkfaul und so gut aussehend, dass selbst seine Geschlechtsgenossen sich nach ihm umdrehten, war ein launisches Vatersöhnchen und freches Bürschchen. Er schimpfte sich Rennfahrer und fuhr auch in der Freizeit schicke Sportwagen, trainierte hingegen so gut wie nie, vertrieb sich die Zeit lieber in Casinos und Edelbordellen und landete, mangels Training und Ehrgeiz, nur selten auf den vordersten Plätzen. Lately, ein eitler Dandy, war ein Strich in der Landschaft, aß praktisch nichts, trank dafür Tag und
Nacht. Hartes Zeug. Er war der geborene Nichtstuer. Ein Zocker, Säufer und Schürzenjäger. Und eine gute Partie. Ethel war ihm von der ersten Sekunde an verfallen. Kaum dass er den Club oder ihre bescheidene Wohnung in der Etage über dem Lokal betrat, war es um sie geschehen. Sie ertrug seine sadistischen Spielchen, hielt ihn aus, diente ihm als Sexspielzeug und Gratisdirne, ließ sich von ihm in aller Öffentlichkeit demütigen und gab sich, was ihr schwerster Fehler war, Illusionen eines harmonischen Lebens zu zweit hin. Steckte ihm, dem Spross wohlhabender Eltern, denen er sie nicht einmal vorstellen mochte, sogar noch ein paar Scheine zu, damit er seine Spielschulden begleichen konnte. Dekker ermahnte sie, Daniel aus dem Weg zu gehen, doch sie schlug alle Warnungen in den Wind. Auch von Lately, der ihr ständig versprach, sie zu heiraten, in Wahrheit aber junge Damen aus der Upper Class umgarnte, wurde sie schließlich schwanger. Die Aussicht auf ein gemeinsames Kind schien den Macho für eine Weile zu besänftigen. Er brachte teure Geschenke vorbei, schien ganz gerührt. Trügerische Ruhe vor dem Sturm: Ein paar Tage später machte er Ethel eine heftige Szene. Voller Wut trat er ihr in den Bauch, beschimpfte sie als nichtswürdige Nutte und stieß sie gegen die Schlafzimmertür, sodass sie die Treppe herunterfiel, sich mehrere Knochen brach und eine Fehlgeburt erlitt. Jede andere Frau hätte spätestens hier einen Schlussstrich gezogen, aber Ethel hatte immer noch nicht genug. Das perfide Spiel aus halbherzigen Versöhnungen, nicht gehaltenen Versprechen, heißen Liebesnächten und nackter Gewalt setzte sich monatelang fort. Eine tödliche Spirale. Mellers verlor ihren Job und die meisten ihrer Stammkunden, war bald mittellos und sah sich zum Einzug bei ihren mittellosen, schockierten Eltern genötigt. Dekker führte sie zum Essen aus, besorgte ihr Medikamente und bot ihr seinerseits die Ehe an. Ethel quittierte das Angebot mit einem lauten, dreckigen Lachen. Einem Lachen voller Hohn. „Gib dich ja nicht mit einer Schlampe wie mir ab“, gluckste sie. Und brach gleich danach in Tränen aus. Dekker streichelte sie zärtlich. Doch Ethel saß Tag und Nacht vor dem Telefon, das nie klingelte. Wartete auf Daniels Anruf, der nie kam. Im März erfuhr sie durch eine Indiskretion, dass Lately sich mit einer jungen Millionenerbin verlobt hatte. Sie suchte ihn
spätabends im Haus seiner Eltern auf und stellte ihn vor der Tür zur Rede. Daniel hatte keine Lust, sie hereinzubitten oder sich zu verteidigen, versetzte ihr eine Reihe von Ohrfeigen und stieß sie ins Gebüsch, wo er ihr, aus einer wilden Laune heraus, die Kleider vom Leib riss und sie in der Dunkelheit vergewaltigte. Er nannte es Liebemachen, er flüsterte ihr Kosenamen ins Ohr, er tat ihr weh, und sie genoss es. Genoss jede Sekunde dieses erbärmlichen Aktes. Das war das letzte Mal, dass sie sich von ihm anfassen ließ. Und sie rief ihn auch nie wieder an. Am Ostersonntag, wenige Tage nach diesem entwürdigenden Quickie, wartete Ethel mehrere Stunden vor dem Haus seiner Verlobten auf sein Erscheinen. Als sie ihn weder dort noch in den Wohnungen seiner Kommilitonen antraf – Daniel besaß kein eigenes Domizil, er hauste und schlief stets bei seinen Kumpels oder Mätressen –, lauerte sie ihm vor dem Romola, einer populären Taverne in Hampstead, auf. Den ganzen Abend lang. Seinen Wagen, ein schnittiges Cabriolet, hatte er direkt vor dem Eingang geparkt. Um zehn Uhr verließ Lately, bereits stark angetrunken, das Romola. In Gesellschaft seines Rennfahrerkollegen Glen. Auf ihre Zurufe reagierte er nicht, nahm auch von dem Revolver, den sie aus ihrer Handtasche hervorgeholt und nun auf ihn gerichtet hatte, keine Notiz, fingerte den Autoschlüssel aus der Außentasche seines Jacketts und schickte sich an, die Wagentür zu öffnen. Mellers folgte ihm. Sie umrundete das Auto von der anderen Seite. „Daniel!“, rief sie ein letztes Mal, und Lately rülpste nur, anstatt ihren Gruß zu erwidern. Da fiel der erste Schuss. Er traf ihn direkt in die Brust. Ethel stand vor ihm und feuerte aus nächster Nähe vier weitere Schüsse auf ihren Liebhaber ab. Eine Kugel durchbohrte den Schädel, eine die Halsschlagader, zwei weitere seine Eingeweide. Er war sofort tot. Und die sechste löste sich, während ihr der Revolver bereits aus der Hand glitt. Sie streifte, vom Zufall gelenkt, den Mittelfinger einer antin und schlug in die Hauswand des Lokals ein. Ethel ließ die Waffe zu Boden sinken und sagte nichts. Sie stand einfach da, mehrere Minuten lang. Dann bat sie Daniels Freund Glen, der vor Entsetzen wie gelähmt neben der Leiche Latelys verharrte, die Polizei zu rufen. Kurz darauf waren die Beamten zur Stelle. Widerstandslos ließ sie sich festnehmen und abführen. Sie wirkte gefasst und ruhig, sie zitterte nicht. Sie sah auch jetzt hinreißend aus. Gerade jetzt. Einfach umwerfend, dachte der Inspektor, der ihr die Handschellen anlegte und ihre Personalien aufnahm. „Ich bin schuldig“, bekannte Ethel mit lauter, fester Stimme noch am Tatort, ohne
dazu aufgefordert worden zu sein, und zwei weitere Male im Streifenwagen. „Ich habe Daniel Lately geliebt. Er hat mich nicht gewollt. Nicht wirklich gewollt. Und ich will nicht, dass er einer anderen gehört. Ich habe seinen Tod geplant und bin froh, wenn ich nun auch bald sterben darf.“ Die Dienste von zwei Pflichtverteidigern nahm Ethel nicht in Anspruch, der Gefängnispsychiater konnte weder eine mentale Störung noch verminderte Schuldfähigkeit bei ihr erkennen. Keinen Drogeneinfluss und schon gar keine Neigung zum Wahnsinn. Alles, was zu ihrer Entlastung hätte beitragen können – die fortgesetzten Demütigungen durch Daniel, seine Brutalität, seine Prügel und Tritte gegen den Mutterleib, das durch sein Verschulden verlorene Kind –, alles, was auf Notwehr und Totschlag hindeutete, auf die Tat einer Überforderten und Verzweifelten, und damit eine Anklage wegen Mordes verhindert hätte, stellte sie in Abrede. Mutwillig belastete sie sich schwer, ließ keinen Zweifel daran, dass sie mit Vorsatz gehandelt hatte. Von wem sie sich den Revolver besorgt hatte? Dazu schwieg Mellers hartnäckig, nahm ihren Verehrer Dekker gegen jeglichen Verdacht in Schutz. „Das ist ein anständiger Mann. Lassen Sie ihn gefälligst in Frieden!“ Und auch Daniels Gewaltexzesse spielte sie bewusst herunter, leistete ihm wider besseres Wissen Schützenhilfe. Wusch ihn von allen Sünden und Vorwürfen rein. Was Lately ihr angetan hatte – es schien ihr völlig gleichgültig zu sein. Sich selbst dagegen schadete sie, wo sie nur konnte. Sie redete der Unvernunft das Wort. Sie schwärmte von ihrem Geliebten und zog sich selbst in den Dreck. Sie redete sich um Kopf und Kragen. Die Geschworenen waren ihr anfangs durchaus gewogen. Doch beim Prozess verscherzte sie es sich allein durch ihr Auftreten – auffällig geschminkt, frisch frisiert und toupiert, in einem hautengen schwarzen Kostüm – und ihre aufreizende, laszive Art zu sprechen. Noch an der Schwelle zum Tod wollte sie anderen Männern gefallen, um jeden Preis, und möglichst viele Frauen im Gerichtssaal provozieren. Ihren Hass und ihren Neid wecken. Sie setzte ihre geballte Weiblichkeit wie einen Bumerang ein – ihre Attraktivität würde auf sie zurückfallen und ihre letzten Chancen ruinieren. Umso besser, schien sie sich zu sagen. Als der Staatsanwalt ein weiteres Mal auf den Tathergang zu sprechen kam – um irgendwo einen mildernden Umstand
ausfindig zu machen, der ihr hätte nutzen können –, als der Staatsanwalt, der hier beinahe als ihr Verteidiger auftrat, um ihr, falls höchste Not drohte, beizuspringen, sie also nochmals bat, auf ihre aussichtslose Lage als Arbeitslose und Mutter, als verschmähte junge Dame und als Opfer eines Sadisten und Frauenhelden aufmerksam zu machen, schnitt sie ihm kurzerhand das Wort ab und rief aus: „Papperlapapp! Schluss mit den Unterstellungen! Als ich auf Daniel zielte, als ich auf ihn schoss, war doch völlig klar, dass ich vorhatte, ihn umzubringen. Ich wartete vor dem Romola auf ihn, weil ich vorhatte, ihn aus der Welt zu schaffen. Und es ist mir auch gelungen. Nun gehört er mir.“ Ihre Augen funkelten. „Nur mir!“ Jeder Einwand, jeder Entlastungsversuch war zwecklos. Sie zeigte keinerlei Reue, weinte keine Krokodilstränen. Sie präsentierte sich als berechnende, kaltblütige Mörderin. Ethel hatte es sich in den Kopf gesetzt, für ihre Tat geradezustehen und möglichst bald zu sterben. Auch hier schien wieder zu gelten: „Each man kills the thing he loves.“ Jede tötet denjenigen, den sie auf Erden am meisten liebt. Jetzt kannte Mellers nur noch einen Wunsch: ihrem Henker bereitwillig den Kopf hinzuhalten, um für ihren herrlichen Egoismus, ihren Triumph, Daniel noch im Tod auf ihre Seite gezogen zu haben, zu büßen. Sie war die Unerschrockenheit selbst. Sie nahm das Todesurteil wie ein üppiges Geschenk entgegen, wie einen reich bestückten Blumenstrauß. Die Freude über einen Freispruch hätte, wäre sie ein anderer Mensch gewesen, nicht größer sein können. Ethel war, als sie das Verdikt hörte und die Leute im Saal vor lauter Erbitterung zu rasen begannen, im siebenten Himmel. Hatte sie doch alles darangesetzt, für Daniels unstete Zuneigung und ihre eigene, dauerhafte Liebe dahinzuscheiden. Nur noch die Öffentlichkeit konnte ihr jetzt in die Quere kommen. Denn das Verrückte war ja, dass die gesamte Nation geschlossen hinter ihr stand. Wie eine Wand. (Aber hinter ihrer vermeintlichen Unschuld, also ihrer eigenen Position schadend.) Überall im Land wurde sie zu einem bedauernswerten Geschöpf stilisiert, wurde zu ihren Gunsten demonstriert. (Ethel fand: zu ihren Ungunsten, denn nichts fürchtete sie mehr als einen unverdienten Gnadenerlass.) Doch die Ethelmania schlug, ob sie nun die Hände rang oder nicht, hohe Wellen. Die Petitionen und Gnadengesuche häuften sich; im Radio, in den Zeitungen und auf der Straße sprach man von nichts anderem mehr. Am liebsten hätte Mellers alle, die sich angeblich für ihr Seelenheil einsetzten, mit einem energischen „Es reicht!“ zum Schweigen gebracht.
Dass ihre Angehörigen, entgegen ihrer strikten Anweisung, absolut nichts zu unternehmen, was ihre Hinrichtung verhindern könnte, dann auch noch beim Innenminister vorstellig wurden, um sie zu „retten“, machte sie fuchsteufelswild. Zwei Reporter, die einen der Aufseher bestochen hatten, verschafften sich Zugang zu ihr und flehten sie an, ihnen die „wahre Story“ zu erzählen, denn sie gaben vor, einen Zeugen gefunden zu haben, der zuzugeben bereit war, ihr die Waffe ausgehändigt zu haben. Ethel verwies sie energisch ihrer Zelle. Sie lehnte auch eine letzte Unterredung mit dem Gefängnispfarrer ab und ließ sich von einem spontanen anonymen Telefonanruf – wie in einem schlechten Krimi erfolgte er auf den letzten Drücker, im Morgengrauen des Hinrichtungstages – nicht aus der Ruhe bringen. Der Anrufer hatte behauptet, ein Sprecher des Innenministeriums zu sein. Hatte gefordert, die Hängung zu annullieren, denn den Gesuchen sei stattgegeben worden. Niemand schenkte ihm Glauben, der Gefängnisdirektor ließ ihn erst gar nicht ausreden und legte auf. Wohl ein Spinner. Jemand, der es gut meinte mit ihr. Solche Lebensretter konnten ihr gestohlen bleiben! Es war falscher Alarm: Niemand von den hohen Herren hatte interveniert. Niemand würde sie vom Schafott führen können. Nichts dergleichen war iert. Dann brach der entscheidende Tag an. Ethel Mellers konnte es kaum erwarten aufzustehen, sie war quickfidel. Nur einen kleinen Kaffee nahm sie zu sich und ließ das Frühstück zurückgehen. Sie schminkte sich sorgfältig, bürstete ihr weizenblondes Haar, legte Ohrringe an (die ihr der Wärter gleich wieder abnahm), kleidete sich ausnahmsweise eher sittsam und griff zu einem Füller, um noch drei Briefe zu Papier zu bringen: einen an ihre Kinder – diesem Schreiben fügte sie ein kurzes Testament bei –, einen an ihre Eltern – „Ich habe nichts zu bereuen“ – und den wichtigsten, kürzesten an Latelys Mutter: „Ich habe Ihren Sohn geliebt und werde ihn immer lieben. Bald sind wir wieder vereint. Er hat es gut bei mir, ich e auf ihn auf.“ Daraufhin schäkerte sie ein wenig mit ihren Bewachern. Bewunderte den blauen Himmel und den strahlenden Sonnenschein, den sie selbst aus ihrer Zelle deutlich wahrnahm und der, aus ihrer Sicht, nun zum letzten Mal die Erde wärmte. Zitierte die alberne englische Redensart „It’s a fine morning for a hanging! Nicht wahr, Jungs?“, die noch nie so angebracht schien wie gerade
heute. Ja, einfach das ideale Wetter, der ideale Zeitpunkt für eine Hinrichtung. Für sie war es ein Festtag. Als Rupert sie abholen kam, hätte er sich seine bewährte Aufforderung „Follow me“ eigentlich sparen können – Ethel war bereits auf dem Sprung. Sie war von einer Aura umgeben, die er in der Todeszelle so noch nie erlebt hatte. Ethel Mellers war der tapferste Mensch auf Erden. Rupert horchte kurz in sich hinein, wie um sich in dieser Ausnahmesituation zu prüfen. Wie um sicherzugehen, dass er auch heute wieder das Richtige tat. Dass er nicht aus Versehen eine Heilige tötete. Er konnte jedoch keine Unstimmigkeiten entdecken. So führte er sie zum Galgen wie ein Brautvater, tat nur das, was sie sich von ihm erhoffte. Er war ihr Wunscherfüller und auch ihr Seelsorger. Er verlieh mit seinem Handeln ihrem Handeln erst einen Sinn. Er stellte sicher, dass sich ihr Dasein rundete. Und wie ein Trauzeuge mit seiner Unterschrift gab er, als er ihr die Kapuze überstreifte und den Hebel betätigte, Ethels widersinniger, aber unzerstörbarer Liebe zu Daniel seinen Segen. Rupert glaubte nicht an Absolution, so wie Ethel nicht an einer Beichte gelegen gewesen wäre. Er war ferner davon überzeugt – nach allem, was er schon erleben musste –, dass das Jüngste Gericht nichts als eine Fata Morgana sein konnte. Dass nichts Übergeordnetes existierte, keine Hölle und kein Fegefeuer. Aber diese Hängung war, das musste er sich eingestehen, anders als alle vorangegangenen gewesen. Ihr haftete etwas Weihevolles und zugleich etwas Beschwingtes an. Ein Gefühl der Hoffnung breitete sich in ihm aus – weil er Ethel an ihren Bestimmungsort verfrachtet hatte, weil er sich zu hundert Prozent im Einklang mit ihren Träumen wusste. Er war ihr dankbar, dass sie sein Tun guthieß. Das war ihm sehr wichtig, denn er benötigte ein dickes Fell, um dem Proteststurm, der sich nun erheben und über ihn niedergehen würde, die Stirn zu bieten. Es war also wirklich ein ganz besonderer, kostbarer Moment. Auch wenn er schon vor Jahren verstanden hatte, dass im Grunde keine Exekution der anderen glich. Den Zigarrentest hätte er diesmal auch wieder bestanden: Nicht mehr als elf Sekunden lagen zwischen dem Betreten von Mellers’ Zelle und ihrer Himmelfahrt.
In den nächsten Wochen, als die Journalisten über ihn herfielen, als Schmähbriefe mit Morddrohungen bei ihm eintrafen, als Verwünschungen ausgestoßen wurden und nur noch seine wenigen Getreuen daheim ihm den Rücken freihielten, kehrte in Interviews, im Pub und in der Stadt eine Frage immer wieder: Wie es für Rupert gewesen sei, eine Frau zu hängen? Und noch dazu eine so schöne, selbstbewusste und stolze? Hätte er sich nicht weigern, nicht Gnade vor Recht ergehen lassen müssen? Er hätte sagen können, dass es keinen Unterschied mache, ob er sich um einen Mann oder eine Frau kümmerte. Ob um eine attraktive oder eine hässliche, eine noble oder eine erbärmliche Person. Er hätte antworten können, dass er im Laufe seiner langen Karriere schon etliche Frauen hingerichtet hatte. Er hätte von den nichtswürdigen Frauen in Hameln erzählen können, die für ihn dennoch einen Wert besessen hatten: den von Menschenkindern. Er hätte vor allem darauf hinweisen können, dass er nicht nur für den Galgentod der letzten in England zum Tode verurteilten Frau verantwortlich war, sondern – erst vor wenigen Wochen – auch für den der vorletzten: einer in London lebenden Zypriotin, die ihre Schwiegertochter nach jahrelangen Streitereien mit einem Holzscheit erschlagen und die Leiche danach auch noch angezündet hatte. Auch sie hatte er liquidiert, ebenfalls hier in Holloway. Aber für diese unscheinbare, ältliche Mrs Komodromos, die weder hübsch war noch einen attraktiven Lover vorweisen konnte, diese Frau aus dem Volke, die kaum Englisch sprach und in letzter Zeit keine spannenden Liebesdramen durchlitten hatte, war nicht das geringste Interesse aufgekommen. Für sie waren keine Petitionen unterschrieben und keine Gnadengesuche eingereicht worden. Einer Frau wie ihr, die darauf bestanden hatte, dass man ein Kruzifix an der Wand der Schreckenskammer anbrachte, damit es das letzte tröstende Objekt war, was sie vor ihrer Gesichtsverhüllung und vor ihrem Tod erblickte, hatte die Yellow Press die kalte Schulter gezeigt. Und die Öffentlichkeit hatte es klaglos hingenommen, dass sie, eines schrecklichen Mordes wegen, hingerichtet wurde. Wie es für Rupert gewesen wäre, diese Griechin zu hängen, davon hätte er gern erzählt. Doch das wollte niemand hören. Also schwieg er beharrlich. Ließ die Reporter, die nach schlüpfrigen Details im Mordfall Ethel Mellers gierten,
einfach am langen Arm verhungern. Ignorierte die Unverschämtheiten, demonstrierte, wie wenig reizbar er war. Ließ einen Verlagsvertreter, der ihm eine kolossale Summe für die exklusive Verwertung seiner noch zu schreibenden Memoiren bot, im Regen stehen. Schlug ihm die Tür vor der Nase zu.
Im Herbst saß er neben Ruth in der zehnten Reihe der Trade Hall. Hochparkett. Um ein Symphoniekonzert zu erleben. Und einen international bekannten Pianisten, der französische Werke spielen würde. Muriel, eine von Ruths Freundinnen, war erkrankt, kurzfristig war also ein Platz frei geworden, und Rupert hatte sich überreden lassen mitzukommen. Ähnlich sah ihm das nicht, aber er hatte das Gefühl, seiner Frau nach den Aufregungen im Sommer einen Gefallen schuldig zu sein. Stuart würde sich an diesem Abend um den Ausschank im Rose & Crown kümmern. So ein Konzertbesuch war eine zweischneidige Sache. Einerseits ein Spiel mit dem Feuer: Würden die Leute ihn in Ruhe lassen? Hatte er mit Beleidigungen zu rechnen? Würde er die Musik überhaupt genießen können? Andererseits konnte es nicht schaden, sich einmal wieder an einem prominenten Ort in Manchester blicken zu lassen. Und zu seinen jüngsten Heldentaten zu stehen, ganz egal, was die Leute davon halten mochten. Als er, untergehakt mit Ruth, durchs Foyer schritt, ging ein erstes Raunen durch die Menge, ein zweites, als er am Tresen in der Bar zwei Gläser Sekt mit Orangensaft für sie beide bestellte, und ein drittes, als sie sich vom Platzanweiser zu ihren Sitzen führen ließen. Schließlich hatten sie ihre Plätze erreicht und setzten sich. Ruth wickelte zwei Eukalyptusbonbons aus, einen für jeden, und das Lutschen beruhigte sie. Rupert, der seine langen Beine nicht ausstrecken konnte, hätte lieber eine Zigarre geraucht. Er sah sich um: Es war noch einmal gut gegangen. Kein Skandal, keine Pfiffe. Die Orchestermitglieder strömten unterdessen aufs Podium, das Publikum begann zu applaudieren, der Konzertmeister ließ sich vom Oboisten den Kammerton vorgeben und reichte ihn mit seiner Violine weiter, und die übrigen Musiker richteten die Stimmung ihrer Instrumente darauf aus Spannung kam auf. Bis zum Auftritt des Dirigenten und des Solisten. Ruth wies mit ihrem aufgespannten Fächer auf die Titelseite des Programmheftes auf ihren Knien, auf dem ein asketischer Mann mit ausdrucksstarken Augen, großer Nase und kantigem Kinn abgebildet war. „Ravel“, sagte sie bedeutungsvoll und
fächelte sich Luft zu, „Ravel hören wir heute. Und der Pianist ist ein Italiener.“ Das Licht im Saal erlosch, und die beiden Hauptpersonen des heutigen Abends, beide im Frack, näherten sich, nun unter rauschendem Applaus, dem Podium. Der Orchesterleiter griff nach seinem Taktstock und wollte den Zuhörern bereits den Rücken zuwenden und den Einsatz geben, als der Pianist an die Rampe trat und unverhofft das Wort ergriff. Er sprach nur wenige Worte. Erstaunlich laut und deutlich. „Das folgende Klavierkonzert“, sagte er, „widme ich einer ganz besonderen Frau. In die ich unsterblich verliebt bin. Deren Liebe ich mir erst noch erkämpfen muss. Ich wünschte, sie wäre heute Abend hier. Dann würde ich ihr Ravels Meisterwerk zu Füßen legen. Dann würde sie mich besser verstehen. Sich vielleicht erweichen lassen“, seine Stimme zitterte für einen kurzen Moment, „und meine Gefühle erwidern.“ Er ließ seine Blicke durch den Saal schweifen. Ein noch junger Mann. Eindeutig ein Feingeist. Sein südländischer Akzent wirkte charmant, sein Englisch war fehlerfrei und wirklich ausgezeichnet. Falls er fürchtete, gleich von Rührung übermannt zu werden, ließ er sich nichts davon anmerken. Aber diese Rührung übertrug sich, quasi automatisch, auf sein ahnungsloses Publikum. „Leider steht sie“, fuhr er fort, „selbst zur gleichen Zeit auf der Bühne in London.“ Das klang wie eine Lüge. „Ich kann ihr meine Emotionen also nur telepathisch übermitteln. Und nun“, er setzte sich an die Tastatur, sprach aber unbeirrt weiter, füllte mit seiner Stimme, deren dunkles Timbre dem Ohr schmeichelte, ohne zu forcieren, den ganzen Saal, „und nun entschuldigen Sie meine sentimentale Anwandlung. Voilà Ravel …!“ Der Dirigent, ein drahtiges Männchen mit wilder Beethoven-Mähne, starrte ihn noch eine ganze Weile mit offenem Mund an. Erst als ihm der Italiener mit einer freundlichen Aufforderung „Maestro!?“ zurief, verstand er, verstanden Ruth und Rupert, verstand die ganze Trade Hall endlich, dass die kleine Ansprache jetzt vorbei war und die Musiker zur Tat schreiten sollten. Nun legten die Instrumentalisten los, legten sich ins Zeug. In dieser eleganten, parfümierten Musik, deren Ausdrucksspektrum nur für eine einzige Frau seine Wirkung verbreitete, in dieser großartigen, schwebenden Musik, die die Unbekannte im fernen London gar nicht hören und an die der Komponist bei der
Niederschrift nie im Leben gedacht haben konnte, in dieser schwer zu fassenden, federleichten Musik mit ihrem unverwechselbar französischen Esprit, Musik, die keine Melodien zu kennen schien, kein Anfang und kein Ende, perlte und rauschte, strömte und glitzerte es. Es funkelte, es schimmerte, es leuchtete und es schillerte, es rumorte und es strahlte, nichts daran war greifbar. Es schluchzte und jubilierte, es trauerte und huldigte. Nur Rupert war nicht richtig bei der Sache. Wie unter Narkose hörte er zu und hörte auch wieder nicht zu. Blickte auf seine Schuhspitzen, spürte die Vibrationen der von Tasten, Saiten, Rohrblättern und Mundstücken erzeugten Töne im Resonanzraum seines stillgelegten Körpers. Er vibrierte mit, ließ es zu, dass sein Geist aktiviert wurde, sein Gedächtnis und Gewissen. Er erforschte seine Innenwelt, denn außen, um ihn herum, war ja nichts als Musik, rauschten die Klangwogen, malten die Klangfarben. So konnte er ganz bei sich sein. So dachte er ausgiebig nach, dachte tief nach, grub in seinen Erinnerungen und kehrte das Unterste nach oben. Diese wilde und sinnliche, chaotische und schöne Musik gestattete ihm solche Abschweifungen und Grüblereien. Wie ein Refrain kehrte ein Gedankengang immer wieder, und er verstörte ihn: Dieser teuflisch gute Pianist besaß eine Frau, für die er alles hingeben würde, auch wenn sie, wie er selbst sagte, nichts von ihm wissen wollte. Also spielte er für sie an diesem Abend, als ginge es um Leben und Tod. Spielte wie ein Fanatiker. Mouse hatte seine Wanda so sehr geliebt, dass ihm nichts anderes übrig geblieben war, als sie zu ermorden. Dasselbe galt für Ethel, die ihrem Daniel das Recht auf Weiterleben verweigert hatte, weil ihre Gefühle für ihn übermächtig geworden waren und er, der Schläger, der Schwächling, ihnen nicht gewachsen war. Alle drei, sagte Rupert sich, hatten gute Gründe, zu spielen und zu töten. Und er, Chief Executioner Beaufort, was waren seine Motive auf dieser Welt? Was begründete seine Existenz, was trieb ihn an? Würde er für Ruth, deren Zuneigung er sich ja sicher war, bis zum Äußersten gehen? Wen würde er umbringen, wenn er nicht weiterlieben durfte? Für wen würde er musizieren? Welcher Liebesanlass war sein Vorwand zu töten? Wie konnte er es eigentlich wagen, ohne so intensive Emotionen wie diese drei durchs Leben zu gehen und anderen, die ihm nichts getan hatten, ihr Leben wegzunehmen? Ohne Affekt, ohne Lust auf sein Gegenüber, ohne Spontaneität? Waren diese Leben, zu denen die Schuld zwingend gehörte wie der Ast zu einem Baum, nicht unvergleichbar und viel zu kostbar, um abgebrochen zu werden? War seine Selbstgerechtigkeit
nicht anmaßend? Wann würde er endlich einmal an seine emotionale Grenzen gehen? Wann würde ihm jemand das Handwerk legen, ihn am gefühllosen Weitermorden hindern? Die Töne versickerten, die Linien fransten aus, der Zauber hob sich in die Lüfte, verlor sich in der Stille, das Licht ging an, Beifall setzte ein. Rupert blickte auf. Er verscheuchte diese dunklen Gedanken gleich wieder. Verbannte sie ins Verlies seines Unterbewusstseins. Machte dicht. Er kehrte in die Realität zurück und beobachtete wieder das Geschehen auf der Bühne. Die Orchestermusiker strebten den beiden Seitenausgängen zu, der Dirigent winkte mit einer Rose in der Hand ins Publikum. Rupert winkte nicht zurück. Ihm fiel sofort auf, dass der Pianist nicht vom Klavierhocker aufstand. Es kam ihm vor, als würde er weinen. Weinen, ohne dass sein Oberkörper bebte. Oder lachte er? Rupert ließ sich von Ruth das Opernglas reichen und schaute genauer hin, zoomte dicht an das Gesicht des Musikers heran. Und es stimmte wirklich: Diesem Mann, der lächelte, fortwährend lächelte und nicht daran dachte aufzustehen, diesem musikalischen Tausendsassa, der den orkanartigen Beifall um sich herum gar nicht wahrzunehmen schien, liefen Freudentränen übers Gesicht.
10
Ins Bodenlose
Ich hätte es wissen müssen. In der Trade Hall gab es einen Schleichweg von der Künstlergarderobe zum obersten Rang, zu einer versteckten Nische, von wo aus man den gesamten Zuschauerbereich überblicken konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Unter den Auftretenden war es üblich, dort wenige Minuten vor Konzertbeginn schnell einen kritischen Blick nach unten zu werfen, solange das Saallicht noch eingeschaltet war, um festzustellen, wer an Familie, Freunden, Kollegen, eingefleischten Musikfans und ihre Messer wetzenden Fachjournalisten erschienen war. Oder um nachzuschauen, ob die Vorstellung auch gut besucht war. Dort stand ich auch heute wieder, wie üblich im Frack, gefolgt vom Abendspielleiter, wie üblich im feinen Zwirn, und von Brenda, wie üblich im scharlachroten Abendkleid und mit tiefem Dekolleté, die meine Ankündigung, mit ihr Schluss zu machen, mit der ich sie gleich nach meiner Rückkehr aus Paris überfallen hatte, mit irritierender Gleichgültigkeit aufgenommen hatte. Begleitet von einem bitteren, ungläubigen Lachen. Gefolgt von patzigem Benehmen. Danach kam nichts mehr. Schmollte sie etwa? Auf der Fahrt nach Manchester – mit ihr auf dem Beifahrersitz und mir auf der Rückbank, wo ich mich ein weiteres Mal in meine Ravel-Partitur vertiefte –, war dann keine Rede mehr davon gewesen. Auch meinen erneuten Pariser Ausreißversuch erwähnte sie mit keiner Silbe. Wahrscheinlich hielt sie meinen kurzen Monolog, zu dem ich sie vor einigen Tagen in mein Studierzimmer bestellt hatte, bloß für eine leere Drohung, die sich bald wieder von selbst erledigt haben würde. Für einen lächerlichen Rebellionsversuch. Wie ernst es mir mit meinem Entschluss war, entging ihr. Aber ihr Stillhalten und ihre sonderbare Freundlichkeit in den zurückliegenden Stunden beunruhigten mich ein wenig – sollte sie etwas im Schilde führen, um zum Gegenschlag auszuholen? Wusste sie etwas, in das ich noch nicht eingeweiht war? Würde sie mich auflaufen lassen? Lampenfieber hatte ich nicht. Doch vermochte ich mich noch nicht
hundertprozentig auf meine Darbietung zu konzentrieren: Ich war aus einem anderen Grund nervös, Géraldine, der allein mit dir zu tun hatte. Und deinem Versprechen. Verhalten zuversichtlich war ich allerdings auch. Im Foyer war schon mehrfach das Klingelzeichen ertönt, das Parkett voll besetzt, und die letzten säumigen Zuhörer eilten zu ihren Plätzen. Programmverkäufer, Platzanweiserinnen und Saalordner hatten bereits an den doppelflügeligen Seitentüren links und rechts der Sitzreihen Aufstellung genommen, um sie pünktlich zur vollen Stunde zu schließen und Zuspätkommern den Einlass zu verwehren. Nur noch wenige Augenblicke, und die ersten Orchestermitglieder würden das Podium betreten. Mir selbst blieben höchstens noch drei Minuten bis zum Auftritt. Mein Flügel wartete bereits auf mich; vor zwei Stunden erst hatte ich mich darauf eingespielt und die Stimmung für gut befunden. Ich würde mich sputen müssen. Geschwind ließ ich meinen Blick durch den ausverkauften Saal schweifen: von den Musikstudenten, ganz oben im „Paradies“ auf den billigen Stehplätzen, zu den treuen Abonnenten auf den mittleren Rängen und den Honoratioren in der Ehrenloge, die sich meist rarmachten, da sie immer Freiplätze erhielten. Heute hingegen waren sie vollständig anwesend. Auch ganz unten im Parkett, wo sich die teuersten und begehrtesten Plätze befanden, taten sich nur noch wenige Lücken auf, und einige beleibte Damen und ältere Herren schoben sich, von entrüsteten Kommentaren der bereits Sitzenden begleitet, denen sie ihre Hinterteile zuwandten, im allerletzten Moment noch in die Mitte der Sitzreihen. Eifrige Konzertgänger studierten bereits die Werkeinführungen in den Programmheften, während ich begann, die zwölfte Reihe mit den Augen abzusuchen. Ich musste die Augen zusammenkneifen, denn das Licht wurde jetzt langsam ausgeblendet. Brenda legte mir von hinten die Hand um die Taille, küsste mich zärtlich in den Nacken – was schon seit Jahren nicht mehr vorgekommen war – und flüsterte: „Selbst Beaufort ist heute gekommen, um dich zu hören, in Begleitung seiner Frau. Alle Achtung, der Mann hat Mut! Das würden nicht viele wagen. Nach alldem, was sich in letzter Zeit zugetragen hat.“ Mir sagte der Name nichts. Ging es um einen Kritiker, der kürzlich in Ungnade gefallen war? Oder um einen aufstrebenden Pianistenkollegen, dessen jüngste
Plattenaufnahmen und Auftritte ein einziger Reinfall gewesen waren? „Das imponiert mir“, meinte Brenda. „Da sitzt er“, sie wies mit dem Finger auf einen unbestimmten Punkt in der Dunkelheit, „die derzeit wohl umstrittenste Persönlichkeit im Vereinigten Königreich. Nimm dir an ihm ein Beispiel. Wenn du noch lernen willst, was Courage bedeutet! Und jetzt ab nach unten“, drängte sie, als spräche sie mit einem kleinen Kind, „du bist schon ganz knapp dran.“ Ich dachte weder an meine Pflicht noch an diesen komischen Kerl, von dem Brenda so entzückt zu sein schien: Ich nahm meine Suche wieder auf. Ich stierte, ich blinzelte, ich hörte nicht auf, die Platzreihen zu durchkämmen. Bis meine Augen auf dem einzigen leeren Platz in der Mitte verharrten. Deinem Platz, Géraldine. Ich erschrak. Du warst nicht da. Du warst nicht gekommen. Obwohl ich mit deiner Abwesenheit gerechnet hatte, obwohl ich wusste, was es hieß, immer aufs Neue von dir enttäuscht zu werden, traf mich der Anblick deines nicht besetzten Klappsessels bis ins Mark. Vielleicht hattest du dich ja nur verspätet. Vielleicht hattest du den Konzertsaal nicht gefunden, weil du dich in Manchester nicht auskanntest und dich nicht richtig verständlich machen konntest. Vielleicht hatte dich der Taxifahrer aus Versehen an einem anderen Ort abgesetzt. Vielleicht hatte dein Flug Verspätung gehabt. Vielleicht hattest du Angst davor bekommen, ganz allein in einem fremden Land diesen großen Konzertsaal zu betreten. Vielleicht war dir im letzten Augenblick etwas dazwischengekommen. Vielleicht hattest du in Paris zu viel um die Ohren gehabt und nicht rechtzeitig absagen können. Vielleicht hattest du den Einlass nur um wenige Minuten vert und würdest nach dem Stimmen der Instrumente, nachdem die Türen noch einmal für wenige Sekunden geöffnet wurden, hereingelassen werden und zu deinem Platz eilen. Alle Erklärungsversuche, alle möglichen Entschuldigungen spielte ich durch, nur um mir nicht eingestehen zu müssen, dass dein Nichterscheinen ein weiterer Schlag ins Gesicht war für mich. Viel mehr würde ich nicht einstecken können. Halb so wild, hätte ich mir einreden sollen. Doch das klappte nicht. Ich hatte mich, une fois de plus, von dir abspeisen lassen. Schon wieder.
Deine Lust an meiner Qual hatte den Sieg davongetragen. „Stimmt irgendetwas nicht, darling?“, fragte Brenda. „Du hast höchstens noch eine halbe Minute.“ Völlig kopflos hetzte ich die Treppen hinab, nahm mehrere Stufen auf einmal, setzte zu immer größeren Sprüngen an und fing, unten angekommen, den Dirigenten gerade noch ab, der schon am seitlichen Bühneneingang ungeduldig auf mich wartete. Fast musste ich abbremsen. „Sie sind ja ganz außer Atem, Sandro. Und schrecklich bleich. Kommen Sie erst einmal zur Ruhe.“ Besorgt musterte er mich, denn jetzt hatte ich auch zu zittern begonnen. „Werden Sie das Konzert auch durchstehen? Hand aufs Herz!“ Ich versuchte, mein inneres Gleichgewicht wiederzufinden. Ich dachte abwechselnd an Enzo, an meinen ersten Einsatz – Akkordzerlegungen in hoher Lage gleich zu Partiturbeginn – und an Ravel, der seine persönlichen Gefühle in so eine ausgesucht edle Komposition hatte kleiden können. Wenn ich es doch nur wie er, der einsame, noble und durchgeistigte Baske, vermocht hätte, vieles von dem, was sich in meiner Seele zutrug, zu sublimieren! Ich spürte, wie sich in meinem Innern einzelne, noch zusammenhanglose Worte bildeten, die nach außen wollten. Ein Brei aus Äußerungen und Gedanken warf bereits Blasen. Ein Knoten aus Verzweiflung, Schwarzseherei und Zurückweisungen hatte mir schon viel zu lange die Kehle zugeschnürt. Ich würde ihn entwirren und zerschlagen, ich würde eine kleine Ansprache halten müssen, in der nichts sorgsam formuliert war. Ich würde stammeln. Ich würde eine Erklärung abgeben. Ja, das war ich dir und mir schuldig. Ich würde den Leuten, die sich hierherbegeben hatten, um mir beim Spielen zuzuhören, von dir und mir erzählen, Géraldine. Ich würde sie zwingen, mir auch beim Reden zuzuhören. Ich benötigte ihr hundertfaches Mitleid, benötigte ihre Aufmerksamkeit für unsere Liebe wie ein seltenes Medikament. Ich war am Boden zerstört. Ein Vierteljahr nach diesem absonderlichen Konzertabend spielte ich wieder, vor
ausverkauftem Haus, Ravel. Diesmal aber in London, in der für ihre herausragende Akustik gerühmte Wigmore Hall, und nichts als einige seiner Solowerke standen auf dem Programm. Ravel pur. Keine leichte Kost. Pianistisches Teufelszeug. Seit meiner sentimentalen Ansprache in Manchester war ich vollends zum Paradiesvogel geworden. „Der sprechende Klavierspieler.“ „Der verliebte Virtuose.“ Und meine unverzeihlich offenen Worte zu einer Sensation. „Die intime Beichte eines echten Romantikers.“ Meine öffentlichen Hilfeschreie hatten ihr Echo hingegen nicht bei dir gefunden, Géraldine, sondern bei Leuten, die unsere Emotionen überhaupt nichts angingen – und zwar überall in Europa, bei den Klassikfreunden und Konzertgängern, bei den Zeitungslesern und Klatschsüchtigen. Dass ich, wie ein Exhibitionist, mich zu dir bekannt und die tiefen Verwundungen meiner Seele dem Publikum dargeboten hatte, rechnete man mir hoch an. Die Qualität meines Spiels habe durch diese unerwartete Bloßlegung eines heimlichen Liebesverhältnisses noch eine ebenso unverhoffte Steigerung erfahren, hieß es. Die Musikfans rissen sich die Eintrittskarten zu meinen Recitals aus den Händen. Mehr als je zuvor war ich ein gemachter Mann. Nur dass es für mich nunmehr ohne Bedeutung war … Brenda hatte ich seit jenem Abend in Manchester nicht mehr wiedergesehen. Schon während des Konzertes musste sie das Gebäude verlassen haben, ganz sicher außer sich vor Zorn und wie besudelt, nachdem ich sie vor allen Ohren zu einer Frau zweiter Klasse degradiert und meine Geliebte auf den Sockel gehoben hatte. Nach der Vorstellung war sie weder hinter der Bühne noch im Restaurant oder im Hotel erschienen; und bereits am nächsten Morgen stellte sich ein junger Mann als Mrs Magazzano-Finnegans Nachfolger vor bei mir. „Ich bin Ihr neuer Impresario.“ Als wäre solch ein bruchloser Übergang das Normalste auf der Welt. Danach herrschte Feuerpause. Schmiedete sie ein Komplott? Wie ich Brenda kannte, war nun, da ich sie in den Dreck gezogen hatte, jederzeit mit dem Schlimmsten zu rechnen. Garantiert würde sie Rache nehmen. Vermissen tat ich sie nicht. Ich zwang mich lediglich zu einem einzigen Gedanken – zum Vorhaben, endlich einmal ein Leben ganz ohne die feste Bindung an eine Frau zu erproben! Ganz
ohne eine Partnerin zu existieren. Ohne Irina, ohne Brenda, ohne dich. Ohne Konflikte, ohne innere Verstrickung. Wie Enzo als Schmetterling von einer Gefährtin oder Mätresse zur nächsten zu flattern, von allen Verpflichtungen befreit – das war jetzt mein größter Wunsch. Vorläufig. Oder, auf lange Sicht und bestimmt noch besser und wünschenswerter: einfach allein zu bleiben. Enthaltsam, zufrieden und selbstgenügsam den Alltag zu fristen. Mich zu isolieren, mir eine Abstinenz von der Bühne zu verordnen. Selbst auf die Gefahr hin, dass ich auf diese Weise in einigen Jahren zu einem griesgrämigen Alten werden könnte, zu einem Menschenfeind. Fast war ich schon so weit. Hatte kaum jemanden gesehen oder besucht in den letzten Wochen, keine Briefe geschrieben oder bekommen, so gut wie nie das Haus verlassen. Die Erinnerung an dich, Géraldine, ausgeblendet. Und jetzt wollte ich mich, für die anderthalb Stunden dieses Londoner Soloabends, der großen Kunst Ravels widmen und sie mit meinen Mitteln gestalten. Mich seines dreiteiligen Klaviergedichts Gaspard de la nuit würdig erweisen, teuflisch schwer, haarsträubend kompliziert und ausgesprochen vertrackt. Beim Spielen und Durchpflügen der mysteriösen und auch gruseligen Partitur selbst zu einem „Schatzmeister der Nacht“ werden, der seine Edelsteine, in Gestalt von Schatten und Dunkelheit, für andere gar nicht sichtbar und nur schwer zugänglich, eifersüchtig bewacht und gegen alle Angriffe und Raubversuche verteidigt. Gerade war ich im Mittelteil des Zyklus angekommen, Le Gibet. Auf raffinierte Weise bringt Ravel dort, mit mehr als hundertfünfzig, enervierend monotonen Glockenklängen sowie einer Vielzahl von Abschattierungen und überraschenden harmonischen Wendungen, seine Zuhörer indirekt dazu, sich in diesem Stück ins finstere Reich des Leibhaftigen zu begeben und volle sieben Minuten lang den Anblick eines Gehängten am Galgen zu ertragen – in der Abenddämmerung. Schaurig schöne Musik als Begleitung einer Agonie. Natürlich nur in der Vorstellung. Das Publikum vernimmt die Seufzer des Unglücklichen am Schafott in Form von Geräuschen, die es nicht sofort einordnen kann. Fälschlicherweise hält es das Stöhnen des Geschundenen in seinen letzten Lebensminuten sowie das ständige Bimmeln zunächst für das Heulen des Nachtwindes, das Zirpen einer Grille, stellt sich abwechselnd Spinnen, Käfer und Fliegen vor, bis es den wahren Ursprung der immer gleichen, aufreizend gleichförmigen Töne endlich
errät – beständiges, den Tod überdauerndes und, ab einem gewissen Punkt, kaum noch auszuhaltendes Glockenläuten am Stadtrand, das den furchterregenden Sterbegesang schließlich ablöst. Jetzt ändert es seine Funktion und scheint auf den Leichnam des Hingerichteten hinzudeuten, der inzwischen von der langsam untergehenden Sonne in Rottöne getaucht wird. Instinktiv bereiten sich die ebenfalls gemarterten Zuhörer, die bis an ihre Schmerzgrenze gegangen sind, nun auf einen Sturm der Verwüstung vor, der sich aber doch noch eines Besseren besinnt und einen Bogen macht um diese entsetzliche Exekutionsszene. Ich hatte die Leute im Saal gepackt. Die Spannung stieg, kein Laut war zu hören bis auf die von meiner Hand erzeugten Töne, mit denen die Todesglocke erst sacht zum Schwingen und dann, nach dem Ableben des grauenvoll zugerichteten Delinquenten, noch viel sachter zum Verklingen gebracht wurde. Soeben hatte ich mich auf die Schlusstakte dieses makabren, genial ausgetüftelten Klanggedichts meines geliebten baskischen Komponisten zubewegt, auf das, nach einem kurzen Innehalten, in Ravels Anordnung der erregte und irre, alle Sinne außer Kraft setzende Tanz eines Kobolds folgt – als mein Blick, eher zufällig, wegrutschte und ich dich, Géraldine, ganz vorne in der ersten Reihe wahrnahm. In einem dunkelblauen Kleid, voller Konzentration auf mich und mein Spiel, mit unbewegtem Gesicht. Sah ich jetzt schon Gespenster? Die Schwierigkeit der nächsten age erlaubte keine Überprüfung, aber in der winzigen Pause zwischen Mittel- und Schlusssatz, zwischen Galgentod und Koboldtanz, gestattete ich mir erneut, meine Augen von den Fingern und Tasten innerhalb von Sekundenbruchteilen auf den vorderen Teil des Zuschauerraumes wandern zu lassen. Ich hatte mich nicht getäuscht: Das warst du, unübersehbar und eindeutig du; ich verstand nicht, was es zu bedeuten hatte, dass du diesmal erschienen warst, ohne dass wir uns abgesprochen hatten; ich konnte, aufgrund der Kürze des Blickkontakts und der ungünstigen Lichtverhältnisse, deinen Gesichtsausdruck kaum erkennen und auch nicht deuten. Also schaute ich noch einmal hin zu dir, wollte den Moment genießen, dich betrachten, mich an deiner Gegenwart erfreuen, verlor den Faden, und da erkannte ich Brenda in der Reihe hinter dir, eingerahmt von zwei Männern, die ich noch nie gesehen hatte, vergaß den Beginn des nächsten Taktes – und prompt unterlief mir ein schwerer Patzer.
Ich lief rot an. Das hätte nicht ieren dürfen. Aber ich spielte ungerührt weiter, spielte gegen meine Überspanntheit und die Windmühlenflügel meines zerrütteten Seelenzustands an, ignorierte die törichten Visionen, denen ich gerade zum Opfer gefallen war, und zeigte mich auch den hohen Anforderungen der kommenden agen gewachsen. Während der Veitstanz, den meine Hände dem herrlichen Instrument entlockten, immer greller, leichter und sprunghafter wurde, immer brillanter und kunstvoller, verwickelter und verrückter, versank ich selbst, verwirrt und zugleich schwermütig, in bisher unbekannten Tiefen meines Seins. Bleigewichte schienen mich zu Boden zu ziehen. Kaum konnte ich die Füße anheben, um die Pedale niederzudrücken. Niemand da unten im Saal merkte mir an, unter welcher schweren Last ich zu ächzen hatte, Minute um Minute, Takt für Takt. Etwas in mir schlug Alarm. Ich bot alle meine Kräfte auf, um das künstlerische Debakel noch abzuwenden und keinen überflüssigen Gedanken an unser Wiedersehen, von dem uns jetzt nur noch Minuten trennten, zu verschwenden. Und als ich am Schluss von Ravels Trilogie angelangt war und auch noch die kniffligsten Läufe in den flirrendsten Klangfarben hinter mich gebracht hatte, als der tosende Applaus einsetzte und die Menschen meinen Namen riefen, noch lauter und stürmischer als neulich in Manchester, als ein Blumenregen auf mich niederging und meine Verehrer ans Podium stürmten, wagte ich es nicht, nach rechts zu schauen, dorthin, wo ich dich soeben entdeckt und wo sich auch Brenda, God knows why, befunden hatte. Ich hoffte inständig, dass es sich um ein Trugbild gehandelt hatte, um einen kurzzeitigen Realitätsverlust. Aber es gab keinen Zweifel: Da standest du, genau wie eben, auch jetzt wieder: ganz vorne. Warfst mir eine Rose zu und lachtest, stelltest dich auf die Zehenspitzen und strahltest, formtest deinen Mund zu einem Trichter, wolltest mir etwas mitteilen, das ich weder hören noch erraten konnte, zeigtest mit dem Daumen auf einen Punkt hinter der Bühne und zogst dich, mir beständig zuwinkend, langsam aus dem Zuschauerraum zurück. Brenda und ihre Begleiter folgten dir in gebührendem Abstand. Absichtlich oder zufällig? Wolltet ihr etwa alle vier im Foyer auf mich warten? Stand uns eine Soiree zu fünft bevor? Eine denkbar ungünstige Situation … Da war ich schon von Autogrammjägern und Gratulanten umlagert und abgelenkt, konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, bekam kleine Geschenke zugesteckt, musste mich mit dem Dirigenten fotografieren lassen,
wurde ausgefragt und genoss letztendlich auch die doppelte Erleichterung – trotz eines gravierenden Fehlers hatte ich ja eine hochbefriedigende, exemplarische Interpretation abgeliefert, und der schon jetzt so gelungene Abend würde, was mich hoffnungsfroh stimmte, an deiner Seite ausklingen. Das erste Mal würden du, Géraldine, und ich nun durch die Straßen Londons schlendern. Noch heute Abend. Und in den nächsten Tagen würde ich dir die Stadt zeigen, mit dir die Tate Gallery besuchen, dich ins Musical ausführen und irgendwo mit dir aufs Land fahren, wo wir sicher sein konnten, in Ruhe gelassen zu werden. Wo keine Intrigen gesponnen würden. Und wo auch Enzo nicht seine Finger nach uns ausstrecken würde – weder nach mir noch nach dir. Erst nach einer guten halben Stunde endete das Gedränge, lichtete sich die Menge, leerte sich die Bühne nach und nach. Auch mein neuer Impresario hatte sich verzogen. Ich ließ meine Geschenke stehen und liegen, rannte los und verabschiedete mich hastig von einem der Saaldiener, der immer noch ein paar Blumensträuße für mich vom Boden aufhob und zu den anderen Präsenten aufs Dirigentenpult legte. Das Foyer war leer. Auch auf den Treppen vor dem Haupteingang befand sich keine Menschenseele. Was nur zweierlei bedeuten konnte: Entweder warst du schon wieder entschwunden oder du hattest dir hinter der Bühne den Weg zur Garderobe zeigen lassen, um dort auf mich zu warten. Ich hatte es mir angewöhnt, meine Umkleideräume, in denen meist auch noch ein Übeklavier stand sowie ein kleines Tischchen, das stets mit mir reiste und auf dem ich immer vor Konzertbeginn gerahmte Schwarz-Weiß-Bilder von Irina und Umberto sowie Ansichtskarten von Apricale oder von Paris anordnete, verschlossen zu halten, um nicht auch dort noch von Fans überrannt zu werden. Und um in der Pause und nach Vorstellungsschluss unbehelligt zu bleiben, wohltuende Stille um mich zu spüren. Den Schlüssel steckte ich in die Innentasche meines Fracks, einen Zweitschlüssel besaß Brenda. Darauf hatte sie immer bestanden – für alle Fälle. In der Wigmore Hall befand sich mein Privatraum im Untergeschoss, in der Nähe des Heizungskellers, was höchst ungewöhnlich war, am Ende eines schummrigen Ganges. Mit der Aufschrift „Artist“ an der Außentür. Niemand außer den Künstlern selbst schien sich jemals hierher zu verirren.
Freudig erregt rief ich deinen Namen, doch vernahm ich lediglich mein eigenes Echo. Vor der Garderobe stand niemand. Kündigte sich ein weiterer Fehlschlag an? Ich steckte den Schlüssel ins Schloss der Tür, die, wie ich sofort bemerkte, gar nicht verriegelt war. Mein Atem flog. Ich drückte die Klinke nieder, stieß die Tür auf und knipste das Licht an.
Selten warst du mir so schön erschienen wie jetzt, Géraldine. So gelassen, so abgeklärt und beherrscht wie jetzt, als du friedlich auf dem Boden vor mir lagst in deinem tiefblauen Kleid, Arme und Beine von dir gestreckt, den kleinen Revolver in der rechten Hand, in einer Lache dunkelroten Blutes. Du gabst dich mir hin. Ich zwang mich, nicht hinzusehen, wie weiteres Blut aus dem Einschussloch an deinem Kopf heraussickerte. Mein eigener Puls begann zu rasen, mein eigenes Blut pochte in den Schläfen: Denn mir würde nur noch ganz wenig Zeit bleiben, bevor man uns entdeckte. Deshalb studierte ich dich aufmerksam, ließ meinen Blick auf deinem Gesicht ruhen. Blendete alles Drumherum aus. War dir ein letztes Mal noch einmal ganz nah. Ich hatte nur Augen für deine Züge, die gar nicht entstellt waren und die ich mir sorgfältig einprägte, um sie niemals zu vergessen. Allein darauf würde es ankommen. Hatte nur Augen für deine Lippen, von denen ich mich so gern hatte küssen lassen, für deine Ohren, die vor wenigen Minuten den tödlichen Schuss vernommen hatten, für deinen Mund, der sich nun nie mehr öffnen würde für dein Liebesgeflüster oder deinen unnachahmlich wilden Gesang. Dem sich auch keine leeren Versprechungen mehr entringen würden. Das war kein Mund der Schauspielerei und der Verstellung mehr, das war jetzt ein Mund der Wahrheit. Auch las ich große Zuneigung zu mir in deinem Gesicht. Zuneigung, die du mir so oft verwehrt hattest und die sich nunmehr ungehindert verströmen durfte. Ich nahm die neue Zugänglichkeit an dir ins Visier. Ich sah die Sängerin, die Künstlerin, die Geliebte in dir – und nicht die Zögerliche, die Sprunghafte, die Unberechenbare. Jetzt würdest du mich nicht mehr verlassen, würdest mir nicht mehr entwischen können. Jetzt war es unmöglich geworden, uns voneinander zu trennen.
Deine Augen konnten nun nicht mehr mit meinen spielen, ringen oder flirten. Sie waren als Erstes gestorben, waren das Toteste an dir. Ich schloss deine Lider, um dir und mir weiteres Leid zu ersparen. Jetzt, Géraldine, verstanden wir uns blind. Ich schob die Angst, die aus allen Ecken des kleinen Raumes wie ein Heer von Ameisen auf mich zugekrochen kam, weit von mir. Ich begriff, dass uns keine weitere Umarmung mehr gewährt werden würde, aber auch, dass ich dich ab dem heutigen Tag für alle Zeit besitzen würde. Dass ich die Kontrolle übernehmen und die Bedingungen unseres Zusammenseins diktieren konnte. Dass ich tonangebend war. Endlich in der Lage, dich zu beschützen, endlich so weit, dir und unseren Gefühlen nicht mehr hinterherlaufen zu müssen. Was mich mit Stolz erfüllte und mit Zufriedenheit. Was mich dazu brachte, mein eigenes Schicksal nicht mehr so wichtig zu nehmen. Deine Mörder wollten sich an dir und mir rächen, dich für deine Anmut und mich für meine Zutraulichkeit bestrafen. Deine Mörder hatten dafür gesorgt, dass die Szene, so wie sie sich einem neutralen Betrachter darbot, nach einem geglückten Selbstmord aussah – sie hatten alles perfekt arrangiert. Du und ich, Géraldine, wussten, dass das nicht stimmen konnte. Dass es – insbesondere heute – nicht den geringsten Grund gab, mit deinem Leben abzuschließen, wo es doch gerade hier erst begonnen hatte, hier mit mir, an diesem so eigentümlichen Abend mit seiner diabolischen Galgenmusik. Dass du nicht der Typ Frau warst, der sich in jenem Moment umbringen würde, als die Wiederbegegnung mit deinem Geliebten unmittelbar bevorstand. Doch uns würde man nicht glauben. Es gab jemanden, der dich unschädlich machen wollte, der es nicht länger aushalten konnte, wie nah du mir standst. Dem es darauf ankam, dir selbst die Schuld an deinem Tod in die Schuhe zu schieben. Und er hatte seine Sache gut gemacht. Dein Mörder hatte Wert darauf gelegt, keine Spuren zu hinterlassen. Und doch hatte dein Mörder einen kleinen Fehler gemacht. Oder deine Mörderin. Weil Brendas Lieblingsparfum noch in der Luft hing. Deutlich. Die Ermittler würden es, wenn es sich nach ein paar Stunden verflüchtigte und dennoch im Raum präsent blieb, für deinen Duft halten, Géraldine, und ich würde sie nicht
auf ihren Irrtum hinweisen. Deine Mörder hatten es eben doch ein wenig an Sorgfalt mangeln lassen, waren leichtsinnig gewesen, denn, abgesehen von Brendas verräterischem Duft, fand ich auf dem Boden zwischen deinem Leichnam und der Tür eine Eintrittskarte, die sie in der Eile verloren haben mussten. Ich hob sie auf, sah, dass sie zu einem Platz in der Sitzreihe hinter dir gehörte, riss sie in Fetzen und warf die Schnipsel in den kleinen Kohleofen in der Zimmerecke, in dem die Glut noch nicht ganz erloschen war. Ich beseitigte das belastende Indiz. Danach entwand ich deiner Hand die Waffe, wischte sie an meinem Hosenbein ab, reinigte sie so lange mit meinem Einstecktuch, bis keine fremden Fingerabdrücke mehr auf ihr zu finden sein würden, nur noch meine eigenen, und hielt sie selbst fest umschlossen. So ein Revolver te nicht in deine Finger, Géraldine, in deine zarten Finger, die dazu bestimmt waren, Akkorde anzuschlagen oder Saiten zu zupfen. Dazu bestimmt, meine Haut zu berühren, mich Zärtlichkeit spüren zu lassen. Er te viel besser zu meinen, die sich an so vielen Konzertabenden mit Energie, Zerstörungswut und Brutalität auf den Klaviertasten ausgetobt und auch heute wieder rücksichtslos zugeschlagen hatten. Der Revolver te sogar sehr viel besser zu mir, der ich allen Grund gehabt hätte, mit dir abzurechnen – da du dich nie zu hundert Prozent auf mich einlassen, auf mich eingehen wolltest. War ich nicht schon seit Monaten außer mir, weil du meine Liebe ins Leere laufen ließest? War ich, vor lauter Verzweiflung, nicht gerade dazu prädestiniert, dich zu erschießen? Ja, so konnte es funktionieren. Mit dieser Unwahrheit und dieser Argumentation. So war es plausibel. So würde ich es den Polizisten, dem Kommissar, dem Staatsanwalt und den Geschworenen erklären. Mit immer denselben Worten: „Ich war es, der ihren Tod herbeigeführt hat. Ich gestehe diese Tat. Ich habe sie getötet, weil sie nicht dazu bereit war, mit mir zusammenleben. Weil sie mich viel zu lange hingehalten hat.“ Ich würde mich stellen. Würde mich zu einem Mord bekennen, den ich nicht begangen hatte. Ich, der ich dir nie und nimmer etwas zuleide getan hätte. Aber das würde unser Geheimnis bleiben. Ich würde die Tat also auf mich nehmen. Ich würde für den Mord der anderen geradestehen. Ich würde mein reales Leben geben für das wünschenswerte Leben, das wir zu zweit nie haben durften. Ich würde mein sinnloses Dasein opfern. Man würde mich hängen, wenn ich mein
falsches Geständnis nur glaubhaft genug vortrug, und dann würde auch ich alle viere von mir strecken, so wie du vorhin. Dann wären wir endlich vereint. Ich küsste deine Stirn, Géraldine. Sie war blass, grau und kalt. Nie hattest du mir mehr gehört als in dieser Todesstunde, in dieser Totenstille.
Von fern, durch die geschlossene Tür, hörte ich Schritte nahen. Ich griff nach dem Stuhl, der vor dem Schminkspiegel stand und drehte ihn mit der Lehne so, dass ich in Blickrichtung sitzen würde. Ließ mich nieder. War die Ruhe selbst. Meine rechte Hand hielt auch weiterhin den Revolver umklammert, die linke wies, damit die Eintretenden gleich sehen konnten, was hier geschehen und was nicht mehr ungeschehen zu machen war, auf deinen leblosen Körper. Die Glocken des Gehenkten, die ich erst vor wenigen Minuten zum Klingen gebracht hatte und die hier im Garderobenkeller mit deinen stummen Schmerzensschreien verschmolzen waren, Géraldine, würden nun auch bald für mich läuten. „Ich bin der Täter“, hatte ich mir zu sagen vorgenommen und sagte es jetzt auch. „Ich habe diese Frau ermordet. Verständigen Sie bitte sofort die Polizei.“ Es fiel mir nicht schwer zu lügen. Es war sogar kinderleicht. „Tragen Sie dafür Sorge, dass man mich festnimmt.“
***
„Wenn Sie noch einen Wunsch frei hätten“, fragt mich der freundliche, schwarzhaarige Reporter des Corriere della Sera, am Ende einer ausführlichen und sehr angenehmen Unterredung in meiner Zelle, „worauf würde Ihre Wahl fallen?“
„Ich habe zwei.“ Ich brauche nicht lange zu überlegen. Der erste meiner Wünsche: Einmal noch möchte ich von meinem geliebten Klavierspiel Abschied nehmen. Will mir ein Instrument ins Gefängnis kommen lassen und es so lange bearbeiten und verwöhnen, es liebevoll streicheln und mit ihm Zwiesprache halten, bis die Stunde meiner Hinrichtung geschlagen hat. Der Gefängnisdirektor wird meine Bitte anfangs bestimmt abschlägig bescheiden, aber ich weiß bereits, dass ihn, Lurie, die bloße Erwähnung des Namens von einem hochgestellten Beamten im Londoner Innenministerium, der zu meinen größten Verehrern zählt, umstimmen kann. Ich brauche also nicht einmal zu drohen. Lurie wird mir gehorchen, wird den Transport organisieren und mich eine schwermütige letzte Nacht lang spielen lassen. Dieser Wunsch wird also in Erfüllung gehen. Der zweite: Ich möchte meine Lebensgeschichte aufschreiben lassen. So wie ich sie für richtig halte. Werde sie meinem Landsmann, der sogleich mit Freude auf diesen Vorschlag reagiert, in mehreren Sitzungen diktieren. Bevor es zu spät ist, bevor sie jemand verdrehen oder verfälschen kann. Oder, was einer Katastrophe gleichkäme: Bevor jemand alles daran richtigstellt. Dich – und deswegen hat diese Chronik eine so große Bedeutung für mich – dich werde ich im besten Licht erscheinen lassen, Géraldine. Damit die Wahrheit nach meinem Tod nie ans Licht kommt. Damit niemand auf die Idee kommt, dass ich an deinem Tod doch unschuldig gewesen sein könnte. Ich bin, seitdem ich in meiner Künstlergarderobe noch zehn so fürchterliche wie kostbare Minuten mit dir allein war, bei meiner Version des Tathergangs geblieben. Ich habe konsequent auf „schuldig“ plädiert. Mein Strafverteidiger hat sich mächtig angestrengt, entlastende Zeugen und einige Verdächtige aufzubieten, Brenda als mögliche Täterin in Spiel zu bringen, Alibis von Unbeteiligten zu überprüfen, gerichtsmedizinische Gutachten vorzulegen, nach denen ich, schon was den Zeitpunkt des Todesschusses angeht, gar nicht der Mörder sein konnte. Er ist an mir und meiner Sturheit verzweifelt. Von nichts und niemandem habe ich mich aus dem Konzept bringen lassen. Mein Geständnis habe ich mehrfach wiederholt, Kommissare und Inspektoren haben sich die Zähne an mir ausgebissen, die vielen Verhöre haben keine neuen Erkenntnisse zutage fördern können. Meine Indifferenz ist meine schärfste Waffe gewesen. Mein Prozess hat nur wenige Stunden gedauert, das Urteil ist eindeutig
gewesen. Mir ist es recht so. Fast alle Besuchswünsche habe ich abgelehnt, Brendas Briefe ungelesen zurückgehen lassen, mehrere Schreiben von meinen Familienmitgliedern vernichtet, Priester und Seelsorger, die bei mir anklopften, weggeschickt. Lediglich drei Männer habe ich empfangen – Henri, ausgerechnet Henri, der eigens mit meinem tieftraurigen Enzo aus Paris angereist ist und mir ernsthaft angeboten hat, aus freien Stücken in den Zeugenstand zu treten. Um mir einen Gefallen zu tun, den ich gar nicht gebrauchen konnte. Um auszusagen, wie sprunghaft und unberechenbar du oft warst, wie du die Männer mit deiner Hinhaltetaktik, deiner Unzuverlässigkeit und deinen fadenscheinigen Ausflüchten um den Verstand brachtest, wie du gerade mich auf die Folter gespannt, düpiert und ununterbrochen betrogen hattest – Schilderungen, die mir möglicherweise die Todesstrafe erspart hätten. Dankend habe ich abgewunken. Und dann habe ich noch Umberto zu mir vorgelassen, der mir eine kleine Flasche Likör aus Apricale mitgebracht und mich so fest umarmt hat, bis mir die Rippen geschmerzt haben. Der mir immerzu etwas Wichtiges hat sagen wollen und doch nur die Kraft zum Weinen aufgebracht hat. Ich habe es nicht vermocht, ihn zu trösten. Und auch nicht, ihn von meiner Täterschaft zu überzeugen: „Du – niemals!“, das war alles, was Umberto zwischen zwei Schluchzern auszurufen vermocht hat. Wütend klang es und vorwurfsvoll. Ich weiß, mein Bruderherz hat mich retten wollen und sich dafür verflucht, dass ihm das nicht gelungen ist. Als ich ihm im Besuchsraum Addio gesagt habe, was mir und ihm unendlich schwergefallen ist, hat es so ausgesehen, als würde er zum Schafott geschleppt und ich das Gefängnis als freier, aber gebrochener Mann verlassen.
Heute schließen Signore Rizzo, so heißt der Journalist, und ich im Wandsworth Prison das vorletzte Kapitel ab. In dem das Verbiegen der Wahrheit Methode hat: Kein zweifelsäendes Wort über jenen Konzertabend mit Ravels Galgenmusik, kein entschuldigender Satz über dich und auch kein Sterbenswörtchen über jenen feierlichen Moment, in dem die Mordwaffe – wie von selbst – von deine in meine Hand gewechselt ist. Ich gebe dir mein Ehrenwort, Géraldine, dass niemand erfahren wird, wie sehr auch du, als es hart auf hart kam, mich zu
lieben entschlossen warst. Das letzte Kapitel, das ganz kurz und knapp geraten wird, schreibe ich dann morgen, auf frischem Papier und mit frischer Tinte. Ohne Wehleidigkeit. Zusammen mit diesem Beaufort. Rizzo hat mir gesagt, wer genau das ist. Und auch erklärt, was dieser Kerl alles auf dem Buckel hat. Morgen, in aller Herrgottsfrühe, wird der routinierte Henker mir zweimal zugehört haben. Einmal in Manchester und einmal heute Nacht. Hier im Todestrakt. Wo sonst nie Klaviermusik erklingt. Eine Premiere für ihn. Und ein Finale für mich. Ich werde auf einen Könner treffen. Auf einen Tapferen und Besonnenen. Ich freue mich, dass er es ist, der mich zu dir geleitet. Nur noch wenige Stunden, und ich werde Gewissheit haben, dass du auf mich in der Garderobe gewartet hast, um mir frohe Kunde zu bringen: „Because my love is near.“ Ich zähle die Stunden. Ich mache mich fein für dich, Géraldine. Und dann entblöße ich meinen Hals für Beaufort, um die Schuld unbekannter Mörder zu sühnen. Ja, ich werde mich vor ihm entblößen und darauf bauen, dass er meine Lüge nicht durchschaut. Ich werde mich ins Bodenlose fallen lassen, zu dir in die Gruft hinabgleiten. Er wird mir dabei Hilfestellung leisten, wenn ich mich der ewigen Nacht annähere. Ich kann mich auf seine Kunst verlassen, so wie sich meine Hörer stets auf die meine verlassen konnten. Bei ihm bin ich in guten Händen.
11
The Long Drop
Die Menschen schlafen, solange sie leben. Erst wenn sie sterben, erwachen sie.
Aus dem Arabischen
Rupert hatte bei seinen vielen Einsätzen am Galgen stets aufen müssen, von dem so minutiös vorbereiteten und nichtsdestoweniger plötzlichen Tod der ihm anvertrauten Männer und Frauen nicht über Gebühr bewegt zu sein. Hatte höllisch achtgeben müssen, im Augenblick höchster Konzentration und angestrebter Barmherzigkeit nicht doch noch überwältigt zu werden. Wenn er nach der Vollstreckung besonders intensiv an diese Geschöpfe dachte, sich ihnen besonders nahe fühlte, was meist geschah, wenn er sie vom Strick genommen, für den ewigen Schlaf präpariert und hernach das Gefängnisgelände verlassen hatte, wenn er gerade im Zug saß und auf dem Heimweg war, dann glaubte er fast, sie persönlich zu kennen, empfand so etwas wie Freundschaft für sie, was, wie er wusste, ihm einmal gefährlich werden konnte; und dann suchte er auch immer nach einer richtigen Bezeichnung für sie. Und fand keine, die richtig te. Oder ihn zufriedenstellte. Todeskandidaten, Verurteilte, Sträflinge, Gefangene, Täter, Verbrecher, Delinquenten hießen sie in der Justizsprache; Opfer waren sie in den Augen derjenigen, die Mitleid mit ihnen hatten oder sie vor der Höchststrafe bewahren wollten, Kinder Gottes für die Kirchenleute. Kids, Aufgeknüpfte, schwere Jungs oder arme Teufel im Kollegenjargon – Ausdrücke, die er gar nicht mochte. „Menschen, die sterben müssen“, „Menschen in ihrer letzten Stunde“, „Menschen, die auf mich angewiesen sind“, das war wohl der kleinste gemeinsame Nenner für sie. So nannte er sie, wenn er sich von ihnen innerlich verabschiedete, behielt diese Zuschreibungen aber für sich. „Dunkle Seelen“ war der Name, den Ruth am häufigsten benutzte, „Hunde“ und „Dreckskerle“ das derbe, beleidigende Etikett, mit dem Stuart meinte, diese Mörder, Betrüger und teils auch zu Unrecht zum Strang geführten Mitbürger herabwürdigen zu müssen. Das hatte Rupert ihm nie durchgehen lassen. „Schneller als du denkst“, belehrte er ihn, und er bedachte seinen Freund dabei mit einem strengen, durchdringenden Blick, der kein Pardon kannte, „könntest auch du auf den Klappen der Falltür vor mir stehen, weil du, vielleicht ohne es wirklich zu wollen, etwas vergeigt oder verbrochen hast, wimmernd, mit zusammengebundenen Händen und Füßen und mit der Kapuze über dem Gesicht. Oder ich vor dir. Und da würden wir es nicht ertragen, wenn man uns, zum schrecklichsten Zeitpunkt, zu allem Überfluss auch noch als Dreckskerle
behandelte. Das wäre ungehörig, dem Ernst der Lage nicht angemessen. An ihnen ist auch nichts Widerwärtiges. Oder Hündisches. Abgesehen davon können Frauen keine Kerle sein … Ein Hosenscheißer wärst dann du, wäre dann ich, und, glaub mir, ich habe schon vielen Menschen im Angesicht der Hinrichtung das Herz in die Hose rutschen sehen. Aber von der großen Würde, die sie dann ausstrahlen, wenn es so weit ist, dass ich den Hebel umlegen muss und sie nach unten befördere“, er legte Nachdruck in seine Stimme, woraufhin Stuart auf einmal ganz verdattert dreinschaute und erblasste, „von ihrer großen Würde können wir uns alle eine Scheibe abschneiden! Du und ich auf alle Fälle.“ Rupert wusste nur zu gut, dass ihn Empathie jederzeit einholen konnte und dass er, bei all der Sorgfalt, die er walten ließ, im Grunde Zärtlichkeit für die armen Seelen empfand. Im letzten Moment. Bevor er die Hand anlegte: dann sowieso. Aber auch schon vorher. Und erst recht, wenn er sie unten in Empfang nahm, sie tatkräftig von Schlinge und Strick trennte und sie zur letzten Ruhe bettete. Ihm war bewusst, dass er der Letzte war, der Allerletzte, der sie berührte, auch wenn sie seine Hände und Berührungen nicht mehr spüren konnten. Rupert hatte damit zu leben, dass ihm der Tötungsakt zuweilen näher ging, als er es wahrhaben wollte, dass er sich davor hüten musste, von solchen Gefühlen übermannt zu werden. Überhaupt von Gefühlen. Sentimentalität war fehl am Platz. Rührung noch mehr. Sich gehen lassen – eine Kardinalsünde. Es war ja nicht so, dass er sich nicht in die Befindlichkeit der Todgeweihten hineinversetzen konnte. Ganz im Gegenteil: Er war viel weniger abgebrüht, als alle dachten. Viel impulsiver, als er sich selbst, nach außen hin, gestattete. In den ersten Stunden nach seinen Hinrichtungen stellte er sich gern vor, wie es wohl sein musste, besser: wie es für die Sterbenden und nun Getöteten wohl gewesen sein musste, mit den Beinen und Füßen zuerst, mit dem Körpergewicht nach unten, mitsamt der vollständigen physischen Unversehrtheit, die ein menschliches Wesen ausmacht, in ein unbekanntes Reich vorzustoßen, von dessen Beschaffenheit, von dessen Aggregatzustand und Atmosphäre man bis dahin keine Vorstellung haben konnte. Er dachte oft an Fallschirmspringer, die sich aus einem Flugzeug oder Hubschrauber in eine völlig ungewisse Sphäre herauskatapultieren ließen – mutige, tapfere Männer und Frauen. Und wie gelöst, wie befreit sie dann wirkten, wenn sie im freien Fall gefilmt wurden oder am Ende, nach dem
geglückten Aufsetzen und Abrollen auf dem Erdboden, von den Kameraleuten in Szene gesetzt wurden. Da konnte man sich eigentlich nur mitfreuen … Aber wo und wie genau setzten oder schlugen Menschen auf, die durch eine aufgeklappte Luke in die Leere eines abgedunkelten Untergeschosses hinabfuhren, Menschen, die man in ein schwarzes Loch schickte? Die sich nie wieder aufrichten oder in eine Kamera lächeln konnten? Einmal waren Ruth und er bei einem Nachbarn in Much Hoole zu Gast gewesen, der sein Fernsehgerät, eines der ersten, das sich jemand im Bekanntenkreis der Beauforts angeschafft hatte, mit großem Stolz den Leuten aus dem Viertel vorführen wollte. Zwanzig Erwachsene und dreißig Kinder, alle in Frühlingsmänteln, waren der freundlichen Einladung des Mannes gefolgt und drängten sich an einem Samstagnachmittag im April stehend, kichernd und Tee trinkend im Living Room um die Flimmerkiste, in der gerade die Übertragung eines nationalen Damen-Wettbewerbs im Turmspringen lief: irgendwo in Schottland. Alle redeten durcheinander und waren auch ein bisschen neidisch auf den Besitzer, aber kaum jemand achtete auf die grobkörnigen Schwarz-WeißBilder, die aus dem fernen Hallenbad via Antenne in die guten Stuben der Zuschauer weitergeleitet wurden, kaum jemand zeigte Interesse für die offenkundige Schönheit dieses hochästhetischen Sports. Nur Rupert, der bis zuletzt blieb, obschon Ruth schon mehrfach zum Aufbruch gedrängt hatte, klebte förmlich an der Mattscheibe. Noch tagelang war er fasziniert gewesen von den ultralangsamen Aufnahmen dieser zauberhaften Sprungkünstlerinnen, die er hier zu sehen bekam – nicht so sehr von den staunenswerten Figuren, Überschlägen und Drehungen, die sie in der Luft vollführten, dafür aber umso mehr von der Berührung ihrer Füße oder Fingerspitzen mit der Wasseroberfläche, von der vorbildlichen, kerzengeraden Haltung der Mädchen beim allmählichen Eintauchen in das nasse Element, vom langsamen Vordringen bis auf den Grund des Beckens, von den haubenförmigen, zur Hälfte von Badekappen verdeckten Köpfen, von den wie in Trance geschlossenen Augen und vom Abperlen der Tropfen von Hals und Armen beim Auftauchen, wenn die Körper, leicht wie Federn, wieder nach oben schossen. Vom Gleiten ihrer Silhouetten, von der vorgetäuschten Schwerelosigkeit. Und es rührte ihn an, wie sich Glück und Gelassenheit, gefolgt von unbändiger Lebensfreude, auf den Gesichtern der Wettkämpferinnen ausbreiteten. So als wollten sie, wie junge Delphine, kaum dass sie wieder einen Himmel, wieder Tageslicht über sich spürten und dem dunklen Wasser entronnen waren, sich
übermütig in die Luft strecken und vor Vergnügen quieken. So sollten, das jedenfalls wünschte er sich, auch die von ihm erhängten Wesen irgendwann wieder in die Helligkeit, ins Licht, in die warme Luft zurückfinden. Ohne zu ersticken oder zu ertrinken. Ob ihnen das gelingen würde – das mussten sie schon selbst mit dem Tod ausmachen. Und mit ihrer Schuld. Mit der Nachwelt und mit dem unbekannten Nichts, das jenseits ihrer körperlichen Auslöschung auf sie wartete. Dabei würde ihnen Rupert nicht helfen können. Nur beim Fallen war er imstande, ihnen mit Behutsamkeit zu begegnen. Den Sturz abzufedern. Das Aufschlagen abzumildern. Den Schmerz zu lindern. Dafür zu sorgen, dass es sich, in diesem unerforschten Dunkel, in dem er sie versenken musste, möglichst weich anfühlte und angenehm. Vielleicht würden sie dort dann auch endlich vergessen dürfen, was sie zuvor im Leben angerichtet hatten und was er ihnen, genau deshalb, nun anzutun gezwungen war.
Als der Italiener nach dem kurzen Marsch durch Zelle und Flur in der Schreckenskammer vor ihm zum Stehen kam, dieser so beeindruckend selbstbewusste Pianist, der hier nicht hingehörte und doch wegen Mordes verurteilt worden war, erinnerten Rupert, so eigenartig es ihm auch vorkam, der lange, vornehme Schwanenhals, die anmutigen Bewegungen und die würdevolle Haltung an die natürliche Grazie der aus dem Wasser auftauchenden Mädchen nach ihrem Sprung. Hier hatte er, bei all der Ruhe, die Magazzano ausstrahlte, einen Körper voller Spannkraft vor sich, nicht den eines Mannes, der sich schon aufgegeben hatte. Hier war ein Körper, der nach dem Long Drop, der ihm jetzt bevorstand, möglicherweise wieder ins Licht und in die Helligkeit zurückdrängen, der sich nach einem blauen Himmel emporstrecken würde. Rupert spürte, wie sich zur selben Zeit eine unangenehme Schwere in seinen eigenen Gliedern ausbreitete, und für die Dauer eines Wimpernschlags überkam ihn ein Schwächegefühl. Fast glaubte er, seine Kräfte würden ihn verlassen. Alle Verrichtungen vollzogen sich mit quälender, zeitlupenartiger Langsamkeit, Howards Handgriffe, das Überziehen der Kapuze durch ihn selbst, das Anlegen der Schlinge, die kurze Nachjustierung des Stricks; die gute alte Routine der Vorbereitungen zum eigentlichen Akt des Hängens ging nur schleppend vonstatten. Und so kam es, dass er vielleicht eine halbe Sekunde zögerte, bevor er sich, mit zwei, drei Schritten zur Seite, in Richtung Hebel aufmachte: ein
Fehler, der ihm zuvor noch nie unterlaufen war. Worauf sich eine winzige, zusätzliche Zeitspanne auftat. Wenige Sekunden Leerlauf. Wenige Momente verlängerter Lebenszeit. Was dem jungen Mann, trotz seiner Verhüllung immer noch ein Mensch von ungeheurer Strahlkraft und unheimlicher Präsenz, in seinem letzten Lebensmoment die Gelegenheit gab, neun kurze Worte in drei Sprachen zu sagen: „I’d like to thank you, Sir.“ Und, nach einer kurzen Pause: „Arrivederci, mon amour.“ Rupert verstand sofort, dass der Zusatz nicht auf ihn gemünzt war. Ihn beschäftigte der erste Teil seiner Aussage. Ohne zu begreifen, was in ihn, den Profi, gefahren war, und ohne auch nur nachzudenken, antwortete er „You’re welcome“ und entsicherte im selben Moment den Riegel, denn diesen Dank, dessen Höflichkeit und Liebenswürdigkeit ihn geradezu erdrückte, konnte und wollte er nicht auf sich sitzen lassen. Richtig wütend war der Henker Beaufort, nur einen Augenblick lang, auf diesen galanten und auch frechen Musiker. Wenn Magazzano spielte, glaubte man ihm alles, traute man ihm nur Schönes, Erhabenes und Wertvolles zu. Wenn er keine Musik machte, so wie jetzt, konnte man ins Grübeln kommen und ins Zweifeln. Hatte er Rupert etwa zur Zielscheibe seines Spotts gemacht? Nein, das war unmöglich; gleich gewann seine Verehrung für den Italiener wieder die Oberhand. Und er verstand, dass er nicht aus dem gleichen Holz geschnitzt war wie der große Pianist. Der war ein Prachtexemplar von Mensch – er nicht. Das sah er jetzt ein. Alles hatte noch bei Tagesanbruch dafür gesprochen, dass es ein tröstlicher Morgen hätte sein können. Sein müssen. Nun hingegen, es war unvermeidlich, würde der Schlussakkord eines reichen musikalischen Lebens ein wenig verzerrt klingen. Rupert würde zwar seine saubere Weste behalten, sich nicht wegducken; er würde der Herausforderung, gerade diesen bedeutenden Künstler hinzurichten und gerade diesen verdienstvollen Lebensweg zu beenden, standhalten. Indessen beschlich ihn diesmal die Ahnung, an einer geschmacklosen Maskerade teilzunehmen – indem er dazu beitrug, dass sich England ohne Gewissensbisse eines Mannes entledigte, der womöglich gar keine
Straftat begangen hatte, spielte auch er selbst, als Chief Executioner, eine unglaubwürdige Rolle. War er die Erstbesetzung in einem pointenlosen und verunglückten Sketch, wurde er zum Erfüllungsgehilfen einer heuchlerischen Rechtsprechung. Was am schlimmsten war: Es war viel zu spät, diese Maske noch abzusetzen. Ganz bestimmt nicht in diesem Moment. Etwas noch Merkwürdigeres geschah: Schon als er den Hebel betätigte und sich danach zu Howard umdrehte, der ihn entgeistert anblickte und mit den Lippen ein unhörbares „What!?“ formte, hatte er den Eindruck, der Körper des Italieners, der genau jetzt in die Tiefe fuhr, würde schweben und sich auf und davon machen, dieser Erde entsagen und lichteren Gefilden zustreben – während er selbst sich nicht des Gefühls erwehren konnte zu fallen. Er fiel und fiel. Er fiel, als er die Schreckenskammer verließ und sich mit dem Gerichtsmediziner nach unten begab. Er fiel, während er Magazzano vom Strick nahm, eine Zeit lang in seinen Armen hielt und schließlich vorsichtig in eine waagerechte Position brachte. Er fiel, während er noch ein paar letzte Minuten mit dem Toten verbrachte, der – täuschte er sich? – seiner Wiederauferstehung nahe schien. Rupert konnte sich nicht mehr aufrichten, obwohl er ja stand und ging, sich von Lurie und den Umstehenden verabschiedete, so schnell es ihm möglich war. Obwohl er es fertigbrachte, den Heimweg anzutreten. Auch als Howard ihn „Alles in Ordnung, old boy?“ fragte und ihn, wohl um sein Befinden besorgt, noch ein Stück Richtung Bahnhof begleitete, diesmal zu Fuß, schien er zu stürzen, schien sich die Erde unter ihm aufzutun, stolperte er in neue Untiefen. Und auch während der Zugfahrt Richtung Norden, bei der er sich nicht von seinem Sitz wegtraute, war sein Sturz noch nicht zu Ende, zogen ihn unsichtbare Kräfte zu Boden und schleuderten ihn in einen Abgrund. Er befand sich in freiem Fall. Ohne Schirm. Ohne rettendes Wasser zu seinen Füßen. Da unten, wo auch immer das sein mochte, wo er auch immer landen oder zerschmettert werden würde, waren keine Helfer, die auf ihn warteten, keine Betreuer, die ihm ein Handtuch reichten, keine Sportreporter, die ihn filmten oder knipsten, keine Menschenmenge, die sich an seinem heldenhaften Anblick ergötzte. Da er für eine sinnlose Tat büßen musste, sprang ihm niemand bei. Da er der Pflicht den Vorrang eingeräumt hatte und nicht seinem Herzen, fing ihn niemand auf. Hilflosigkeit breitete sich in ihm aus. Seinen Sturz, den er allein spürte, und die Gewissheit, dass er Magazzanos Seele noch immer in der Schwebe hielt, dass er nicht aufhören konnte, für sie einzustehen, betrachtete er als eindeutige Signale: Es war aus und vorbei.
Von den vielen wirren Gedanken, die ihn seit dem Verlassen des Wandsworth Prison unaufhörlich umkreisten und derer er kaum noch Herr wurde, verschluckte der Nebel in seinem Kopf die meisten wieder. Nur einer schälte sich immer deutlicher heraus und machte sich, wie das Ritornell in einem Rondo, in seinem Unterbewusstsein breit: „Ich hätte diesen Mann nicht töten sollen.“ Zu Hause angekommen, schloss sich Rupert in seinem Arbeitszimmer ein und versuchte, Klarheit zu bekommen. Wie immer führte er Buch über die soeben vollendete Hängung, trug Namen, Alter und Gewicht, die genauen Maße des Long Drop und besondere Vorkommisse – diesmal: „viel zu lange mit der Exekution gewartet“, „Rekordzeit weit überschritten“, „Klavierspiel am Vorabend“, „kurzer Wortwechsel mit dem Strafgefangenen“ – in sein Verzeichnis ein und nahm ein heißes Bad. Er blieb so lange in der Wanne liegen, bis sich das Zittern, das von seinem Gewissen Besitz ergriffen hatte, ein wenig legte. Äußerlich war er ganz ruhig. Ruth, die eine anständige Mahlzeit für ihn vorbereitet hatte, erfuhr nichts von seinem inneren Aufruhr. Rupert fragte nicht im Detail nach, wie es um den Pub bestellt sei, was ihr nicht weiter aufzufallen schien, und er informierte sie auch am darauffolgenden Morgen nicht von seinen Plänen. Gleich nach dem Frühstück – er hatte kaum geschlafen, denn sein Sturzflug war noch immer nicht zu Ende, seine Talfahrt in vollem Gange – drückte er Ruth einen Kuss auf die Wange, schwang sich ins Auto und winkte der alten Mrs Pennebaker zu, die in ihrem Vorgarten Unkraut jätete. „Schon so zeitig unterwegs, Mr Beaufort?“ Er streckte den Kopf aus dem Autofenster und rief: „Ich fahre ans Meer. Ein kleiner Ausflug.“ Und, noch bevor sie nachfragen konnte, setzte er gleich hinzu: „Nein, meine Frau kommt nicht mit. Dauert ja nur ein paar Stunden.“ Ohne eine Pause einzulegen, fuhr er an die Küste oberhalb von Liverpool und machte an einem kleinen, unscheinbaren Kiesstrand nahe Hightown halt. Er stellte den Wagen in der Nähe eines Pfades ab, der landeinwärts als Feldweg auf eine Viehweide und zum Meer hin durch Dünen, Schilf und Röhricht führte. Er vergrub die Hände in den Taschen seines Trenchcoats, wappnete sich gegen den
eisigen Wind und den unangenehmen Nieselregen, marschierte los, stets in nördlicher Richtung, und ließ sich ordentlich durchpusten. Wo er auch hinkam, war er der einzige Spaziergänger. Er lief immer schneller, weil ihn fror, und gelangte nach einigen Kilometern an sein Ziel: einen Leuchtturm im Westen von Formby, von wo aus man an Schönwettertagen, also nicht heute, zur Isle of Man hinüberschauen konnte. Der Leuchtturm war schon seit Jahren nicht mehr in Betrieb, diente nur noch als Fotomotiv oder Ausflugsziel für verliebte Jugendliche, die ungestört sein wollten, und Rupert konnte heilfroh sein, dass der ehemalige Wärter, der auch weiterhin hier in aller Einsamkeit hauste und ansonsten als Fischer in Southport sein Geld verdiente, gerade daheim war. Auch dass er ihn eintreten ließ, dass er ihn nicht erkannte und dass er dem fremden Besucher erlaubte, hinaufzusteigen und die kreisrunde Aussichtsplattform zu betreten. Rupert klammerte sich an das niedrige, verrostete Geländer, da er, wenngleich er keine Höhenangst kannte, gleich wieder den bedrohlichen Eindruck gewann, etwas würde ihm den Boden unter den Füßen wegziehen. Der Horizont war nicht auszumachen, kein Meeresvogel ließ sich blicken, alles vor und unter ihm war grau und schemenhaft. Die Irische See gab gurgelnde Geräusche von sich. Das Rauschen anbrandender Wellen wurde gleich wieder vom Wind erstickt. Am Strand türmten sich schwarze Tanghaufen, zur Rechten ragte das Wrack eines einst gekenterten, später an Land gespülten Segelbootes aus dem schmutzigen Sand. Keine verlockende Vorstellung, sich hier und jetzt in die Tiefe zu stürzen. Würde er zwischen den gischtumspülten Felsen aufschlagen, von denen ihn nur wenige Meter trennten, oder auf dem schmalen Rasenstück zwischen Turm und Meeressaum? Aber er war ja nicht hierhergekommen, um seinem Leben ein Ende zu setzen. Er stand hier oben, Hunderte Meilen entfernt von der Londoner Strafanstalt, um sich einzugestehen, dass er am Vortag an seinen eigenen hohen Ansprüchen gescheitert war. Was hatte ihn nur geritten, dem Italiener in seiner Todesminute zuzuhören und seine Aussage zu erwidern? Warum nur war er, anstatt ihn kommentarlos zu töten, auf ihn eingegangen? Solange er keine befriedigende Antwort auf diese Fragen fand, würde er den Bann nicht brechen können. Würde der furchterregende Schwindel, der ihm, dem doch Schwindelfreien, seit Stunden zusetzte, nie aussetzen. Würde er sich geschlagen geben müssen. Und das nach über achthundert erfolgreichen Hängungen in mehreren Ländern.
Er ließ sich nassregnen. Er vergaß die Zeit, und er wünschte, seinen Irrtum ausbügeln zu können. Um ihn herum war alles leer und tot, und diese Empfindung genoss er. Der Sog, der ihn noch immer nach unten zog, wurde unterdessen etwas schwächer. „Hey, Mister!“ Der alte Wärter war ihm auf die Plattform gefolgt, trat an ihn heran, packte ihn von hinten und brachte ihn, den seit gestern Morgen ununterbrochen Herabstürzenden, fast zu Fall. „Nicht auch noch Sie! Erst letzten Monat hat sich hier ein junges Mädchen umgebracht. Von hier aus“, er tappte mit dem Fuß auf eine Stelle ganz vorn an der Brüstung, „ist sie in den Tod gesprungen. Kopfüber. Ich habe sie gefunden, da war nichts mehr zu machen. Also habe ich die Polizei gerufen.“ Rupert wehrte seinen Griff ab, stieß den Mann zurück. Der plapperte munter weiter. „Kein schöner Anblick, kann ich Ihnen sagen. Sie dachte wohl, sie könnte den Möwen nacheifern.“ Er griente, wobei sein zahnloser Unterkiefer zum Vorschein kam. „Und dann die Eltern … Eine Tragödie.“ Er hielt inne. „Soll ich Ihnen einen heißen Tee machen? Sie sind ja klatschnass.“ „Sehr freundlich! Nicht nötig.“ Rupert streckte ihm die Hand hin und verabschiedete sich. „Bei mir haben Sie nichts zu befürchten. Danke, dass Sie mich nach oben gelassen haben. Das war hilfreich.“ „Whatever, Sir. Warten Sie – habe ich Ihr Gesicht nicht schon irgendwo gesehen? Sie kommen mir auf einmal so bekannt vor!“ Rupert lüftete weder seine Identität noch gönnte er ihm eine Antwort. Den ganzen Weg zu seinem Wagen legte er im Laufschritt zurück. Er wusste, was er jetzt zu tun hatte. Noch am Nachmittag schrieb er einen Brief an die Prison Commission und gab ihn als Einschreiben auf. Ohne Angabe von Gründen erklärte er seinen Rücktritt von seinem Amt als Chief Executioner. Von heute auf morgen. „Was hältst du davon, wenn wir bald eine Reise nach Italien unternehmen, du
und ich?“, fragte er Ruth, als er den Spaziergang zum Postamt hinter sich gebracht hatte, zwischen zwei Bissen am Esstisch, bei ihrer frühen Abendmahlzeit. So beiläufig wie möglich. Seine Frau ließ das Besteck sinken. Sie glaubte, sich verhört zu haben. „Italien?“ In Südeuropa war sie noch nie gewesen. Und Ruperts unerwartete Offerte klang so romantisch. Was war nur geschehen? Stand ein Hochzeitstag bevor oder ein anderer wichtiger Familienanlass, den sie übersehen hatte? „Ja sicher, darling. Sehr gern sogar. Aber warum? Und wohin genau?“ „Überlass nur alles mir.“ Er hielt seine Zunge im Zaum. „Du wirst schon sehen.“
Es dauerte mehrere Wochen, bis die Bombe einschlug. Im Pub ging alles seinen gewohnten Gang, und selbst Ruth wusste lange Zeit von nichts. Die Prison Commission hüllte sich in Schweigen, weigerte sich scheinbar, den Eingang seines Schreibens zu bestätigen, und schickte Rupert, so als wäre nichts vorgefallen, stattdessen mehrere Aufforderungen zu neuen Exekutionen, die er jeweils, mit Verweis auf sein Rücktrittsgesuch, abschlägig beschied. Erst danach bekam er mehrere Anrufe vom Ministerium und aus der Verwaltung, mit denen man ihn zur Umkehr bewegen wollte. Man flehte ihn an, man überschüttete ihn mit Lob, man zählte seine vielen Verdienste auf. Man pries seine Menschenkenntnis, die ihm in etlichen schwierigen Fällen zugutegekommen war. Gefängnisdirektoren schickten schmeichelhafte Briefe; Richter, Staatsanwälte und Ministerialdirektoren, denen zu dämmern begann, dass Gefahr im Verzug war, wenn sie ihres besten Mannes verlustig gehen sollten, gaben Stellungnahmen und positive Urteile zu seiner Person ab, die er sich in den Vorjahren gelegentlich schon einmal gewünscht hätte. Nun war es zu spät für Ehrfurchtsbekundungen und Zusicherungen von Hochachtung. Rupert ließ sich nicht erweichen. Auch nicht, wenn der Strafjustiz jetzt die Felle davonschwimmen sollten. Ein fassungsloser Howard reiste eigens aus Leeds an und beschwor seinen Chief, nicht einfach alles hinzuschmeißen. Doch Rupert blieb standhaft. Stuart und Burt machten keinen Hehl aus ihrer großen Enttäuschung – sie waren kurz davor, ihm die Freundschaft aufzukündigen. Am nächsten Wochenende standen sie dann doch wieder neben
ihm am Tresen, trinkfest und zu den üblichen Späßen aufgelegt: deutlich misstrauischer als früher, aber zuverlässig und ergeben. Ihr Held wusste, dass sie über diese Desillusionierung schon hinwegkommen würden. Früher oder später. Erst Monate später griffen Zeitungsreporter und Radioleute die Neuigkeit auf und bauschten sie zur Sensation auf. Rupert hielt ihrem Ansturm stand und ließ sich kein Wort zu seinen Beweggründen entlocken. Also schossen die Spekulationen ins Kraut. Wer oder was konnte für Beauforts radikalen Rückzug verantwortlich sein? Die leidige Angelegenheit mit den kurzfristig abgesagten Vollstreckungen, Ruperts Protest dagegen und die Aussicht auf kümmerliche Abfindungen – das glaubten die meisten. Dass er mit der Hängung seines Gesangskumpanen Curtis Brittle nicht fertiggeworden sei, dass ihm die Tötung einer so charismatischen Frau wie Ethel Mellers schwer zugesetzt oder das Fehlurteil im Fall Timothy Jenkins zum Umdenken gebracht habe, führten andere, die ihn etwas besser kannten, als stichhaltige Argumente für sein Aufgeben ins Feld. Kurz darauf kam das Gerücht auf, Beaufort sei nicht zurückgetreten, sondern von den Verantwortlichen in London vor die Tür gesetzt worden, weil er einer großen Boulevardzeitschrift die exklusive – und sehr lukrative – Veröffentlichung seiner Memoiren zugesichert habe, was mit der erforderlichen Diskretion, die man von ihm und seinem Amt erwarten durfte, unvereinbar sei. Nichts davon traf zu. Auch nicht die Annahme, dass eine Bekehrung stattgefunden, er sich inzwischen zum Gegner der Todesstrafe gewandelt und, aufgrund seiner schrecklichen, einschlägigen Erfahrungen, zum Befürworter ihrer Abschaffung gemacht habe. Oder der fromme Wunsch, Rupert habe eingesehen, dass die abschreckende Wirkung von Hinrichtungen nicht mehr gegeben sei und er sich deshalb vom wachsenden Protest von Kritikern und Menschenrechtsorganisationen habe überzeugen lassen, es sei besser, mit den Tötungen in Serie endlich aufzuhören. Tatsächlich dauerte es nur noch wenige Jahre, bis die in England seit Jahrhunderten etablierte Höchststrafe vom Tisch war und per Gesetz aufgehoben wurde. In der Zwischenzeit fanden hingegen so gut wie gar keine Hängungen mehr statt, konnten einige Todesurteile gar nicht mehr vollstreckt werden. Ganz einfach, weil niemand mehr dafür zur Verfügung stand. Nur noch Assistenten, aber kein einziger „Oberster“ Henker. Weil Rupert eben nicht mehr da war. Mit ihm ging die Tradition des Hinrichtens zu Ende, starb aus.
Auf die Idee, dass sein unumstößlicher Entschluss irgendetwas mit der Beseitigung von Sandro Magazzano zu tun gehabt haben könnte, dass er diese letzte und völlig überflüssige Exekution seither tief bedauerte, kam niemand. Nur er selbst wusste, dass er jahrelang, wie der Italiener zum Zeitpunkt seines Todes, einen viel zu hohen Preis gezahlt hatte. Sein übersteigerter Sinn für Gerechtigkeit hatte ihn dazu verleitet, für die Entscheidungen anderer aufzukommen, hatte ihre Anmaßung, Herr über Leben und Tod zu spielen, als fortwährende Aufforderung aufgefasst, an ihrer Stelle Menschen, deren Schicksal ihn gar nicht betraf, zu töten. Keine dieser Taten, mit denen er Unrecht sühnen sollte und wollte, war im Grunde selbstbestimmt gewesen. Er hatte getötet, um die Entscheidungsträger zu entlasten. Um der Allgemeinheit ein gutes Gewissen zu verschaffen. Erst als er auf den Pianisten traf, der zu sterben beschlossen hatte, um den Mord Unbekannter an seiner geliebten, für ihn unerreichbaren Frau auf sich zu nehmen und ihr dadurch für immer nahe zu sein, war er ins Straucheln geraten. Und da keine seiner Vollstreckungen mehr rückgängig zu machen war und er seinen eigenen Sturz kaum noch aufhalten konnte, da es für ihn von großer Bedeutung war, sich nicht bis ans Ende seiner Tage für gescheitert halten zu müssen, sondern seinem früheren Tun noch einen gewissen Sinn abzugewinnen, musste er jetzt die Notbremse ziehen. Die wenigen übrig gebliebenen, immer noch zum Tode Verurteilten Ihrer Majestät würden es ihm hoch anrechnen, würden es zu schätzen wissen. Und wenn er mit dieser abrupten Verweigerung einen Beitrag zum moralischen Fortschritt der Gesellschaft leisten konnte, einer Gesellschaft, von der er sich schon so lange in die Pflicht hatte nehmen lassen und der er nun die Möglichkeit nahm, an ihren schwächsten Mitgliedern Rache zu nehmen, dann stimmte ihn das froh. Rupert wollte nicht mehr gebunden sein. Und er war ja lernfähig. Ihm blieb noch ein wenig Zeit für einen Neubeginn. Er hatte noch einiges vor. Häufiger verreisen. Sich eine fremde Sprache aneignen. Sich eine Platte nach der anderen kaufen, um häufiger klassische Musik zu hören und sich damit ein neues Universum zu erschließen. Bisweilen keimte in ihm der Wunsch auf, ein Instrument lernen. Auf seine alten Tage.
Und dann träumte Rupert doch. Geschah, was er nie für möglich gehalten hatte: Er verlor sich in einem Traum. Er träumte ihn in Bordighera, während der Ferien. Ruth und er hatten nach dem Abendessen und einem kurzen Verdauungsspaziergang an der Blumenriviera noch eine Weile auf ihrem Balkon in der kleinen Pension nebeneinander gesessen, die laue, weiche Nachtluft genossen, sich im Anblick des Sternenhimmels verloren und aufs Meer geschaut, ohne viele Worte zu machen. Rupert hatte seine Zigarre gepafft, Ruth an ihrem Cointreau genippt. In der Vorwoche waren sie angereist, hatten zuvor eine Maschine von London nach Turin genommen und sich dann zu einer ziemlich umständlichen Fahrt mit der Eisenbahn quer durch den Norden Italiens aufgemacht. Nach je zwei Tagen in Mailand und Genua hatte jetzt Entspannung an der ligurischen Küste auf dem Programm gestanden. Es war spät geworden, und sie waren sich einig gewesen, dass es hier einfach paradiesisch ruhig und wunderbar friedlich war. Dass sie sich bereits auf die nächsten Tage freuten, für die sie sich die Erkundung des Hinterlandes vorgenommen hatten. Ruth hatte den Balkon dann als Erste verlassen, sich ins Bett begeben und ihren Mann mehrfach freundlich ermahnt, es ihr nachzutun und sich endlich auch hinzulegen. Doch Rupert war ein weiteres halbes Stündchen sitzen geblieben auf seinem bequemen Korbstuhl, die Füße auf die Balustrade gelegt, und schließlich eingenickt. Er träumte von einem festlichen Abend in einem großen, hell erleuchteten Konzertsaal. Er selbst saß auf einem Klavierhocker vor einem Flügel ohne Tasten, zu seiner Rechten ein riesiger roter Samtvorhang, der sich nun langsam hob, und das Publikum, zu seiner Linken das Orchester und der Dirigent, der ihm den Rücken zukehrte und mit dem Taktstock herumfuchtelte, auf seinem hölzernen Podest. Er träumte, dass er selbst jetzt zu einem langen Solo ansetzte, aber seine Finger, die wie wild gewordene Tauben auf und ab flatterten, berührten das Instrument gar nicht. Von rechts schob sich eine Frau zu ihm auf die Klavierbank und setzte sich neben ihn, als wollte sie ihm zum vierhändigen Spiel auffordern. Ganz dicht rückte sie an ihn heran. Er spürte ihren warmen Körper, und augenblicklich wuchs sein Begehren. Er wusste nicht, wer sie war, denn es war ihm unmöglich, sich zur Seite zu drehen und sie anzuschauen. Der Dirigent sah von hinten ein wenig aus wie der Italiener, aber ganz sicher war er sich da nicht. Falls es stimmte, hatten sie beide die Plätze getauscht – er am Klavier und der Italiener als Vollstrecker. Als Vollstrecker einer geheimnisvollen Partitur, denn trotz der vielen Anwesenden war keine einzige Note zu hören. Alle spielten lautlos.
Rupert träumte, dass er die Brusttasche seines Smokings abtastete, um zu prüfen, ob er sein Einstecktuch auch dabeihatte, um es, falls nötig, schnell herausziehen zu können. Das Tuch war vorhanden, aber viel zu klein und zu durchsichtig, um es in eine Kapuze verwandeln und jemandem über den Kopf streifen zu können. Die Vorstellung war wohl inzwischen zu Ende, denn die klatschenden Zuschauer riefen lauthals zwei Silben, die mal nach „Beaufort“, mal nach „Bravo“ klangen. Rupert konnte es nicht so richtig entscheiden. Sollte er sich nicht verbeugen? Reglos blieb er sitzen. Kurz darauf bedeutete ihm der Dirigent mit einer Handbewegung, vom Flügel aufzustehen, um zu ihm aufs Holzpodest zu steigen und sich vor dem Orchester aufzubauen. Dort angekommen, legte ihm der Mann die Hand auf die Schulter, flüsterte ihm etwas ins Ohr und reichte ihm den Stab. Und verschwand. Folgen durfte er ihm nicht. So kam es, dass Rupert ganz allein vor den fast leeren Pulten der Musiker stand, weil die Mehrzahl der Instrumentalisten inzwischen das Podium verlassen haben musste. Jemand hatte das Saallicht abgedreht, und verzweifelt versuchte er nun, in der nachtschwarzen Dunkelheit den Takt zu schlagen und Vorgaben zu machen, damit alle nach seiner Pfeife tanzten. Nichts geschah, niemand gehorchte. Da spürte Rupert, wie sich der Boden unter ihm auftat. Mit einem knackenden, krachenden Geräusch. Wie bei einer Tür, die aufspringt, wie bei einer Schachtel, die man aufklappt. Er sackte weg. Er flog abwärts. Das hatte nichts Besorgniserregendes, es war wie eine Wohltat. Er würde keinen Fallschirm benötigen. Er ließ sich treiben. Es hellte wieder auf. Unter ihm wurde die Landschaft seines heimatlichen Nordenglands sichtbar, Felder, Hügel und Wälder, Wiesen, Seen und Dörfer. Sie kamen immer näher, im grellsten Licht, wurden immer größer, heller, deutlicher, und er fragte sich bereits, wo er wohl aufschlagen würde.
Schließlich erwartete der träumende Rupert in seinem komfortablen italienischen Korbstuhl, dass er genau im Moment des Aufpralls erwachen würde. Noch aber war es nicht so weit. Noch schwebte er.
Kurze Nachbemerkung
Den Kopf hinhalten ist ein Werk der Fiktion und Fantasie, orientiert sich jedoch, im Hinblick auf die Hauptfigur, über weite Strecken an Fakten, Vorkommnissen und historischen Begebenheiten aus dem Leben und Wirken einer britischen Henkerdynastie im zurückliegenden Jahrhundert. Dieser Handlungsstrang basiert also größtenteils durchaus auf realen Ereignissen. Die Vita und Laufbahn, das Schicksal und unerwartete Ende des italienischen Pianisten Sandro Magazzano hingegen sind in Gänze frei erfunden. Lokalkolorit und Atmosphäre von Paris und Ligurien sind mir durch meine jahrzehntelangen Forschungs- und Arbeitsaufenthalte an der Seine und an der Riviera bestens vertraut. Als alter Hamelner, der sich an der Weser stets sehr wohlgefühlt hat, bedeutet es mir viel, meiner Vaterstadt, auch wenn sie in diesem Roman nur am Rande, als eher düsterer Nebenschauplatz vertreten ist, eine kleine Hommage zu erweisen. Ich weiß es zu schätzen, dass Carsten Holzendorff, im Einklang mit dem CW Niemeyer Verlag, mir dazu ein Forum geboten hat. Ausdrücklich möchte ich ihm für sein Vertrauen, seine Freundschaft und seinen Enthusiasmus danken. „