Der Bergpfarrer – 288 –
Sabine zieht es zurück nach St. Johann
Der Zauber einer Sommerliebe
Toni Waidacher
»Gute Fahrt euch beiden! Ich wünsch euch viel Spaß in Wien! Und natürlich toi, toi, toi für die Präsentation unserer neuen Trachtenschmuckkollektion! Ich bin mir sicher, sie wird ein voller Erfolg!« Gut gelaunt winkte der Münchner Juwelier Ernst Eigner seiner Tochter Sabine und ihrem Verlobten Peter Korte hinterher. Das junge Paar fuhr gerade in Peters Mercedes-Cabrio-Oldie aus dem Grundstück der Eignerschen Villa in Grünwald und düste mit aufheulendem Motor davon. Sabine, mit dunkler Sonnenbrille und langem wehendem Haar, hielt einen weißen Chiffonschal in der erhobenen Hand und ließ ihn im Fahrtwind flattern. Sie schaute zu ihrem Vater zurück, bis die nächste Kurve ihn ihren Blicken entzog. Als sie die Villa und den parkartigen Garten nicht mehr sehen konnte, wandte sie sich ab. Sie lehnte sich in die weißen Lederpolster des Beifahrersitzes zurück und schloss für einen Moment die Augen. Peter musterte seine Verlobte mit einem raschen Seitenblick. »Na, alles bestens? Freust du dich schon auf Wien und auf alles, was wir dort unternehmen werden?«, fragte er. Sabine nickte. »Ja, natürlich«, gab sie lächelnd zurück. »Aber vor allem freue ich mich, dass wir endlich ein bisschen mehr Zeit füreinander haben werden.« Sie dachte bei diesen Worten an die letzten Monate, die ziemlich stressig gewesen waren. Oft hatte sie bis tief in die Nacht über den Entwürfen für die neue Schmuckkollektion gebrütet. Immer auf der Suche nach Details, die noch verfeinert und verbessert werden konnten. Peter seinerseits war sehr viel geschäftlich unterwegs gewesen. Und hatte oft noch seine ohnehin knapp bemessene Freizeit daran gegeben, um sich immer mehr in die Firma Eigner einzuarbeiten. Als designierter Nachfolger Ernst Eigners wollte er sein Bestes geben und bei seinem zukünftigen Schwiegervater
keine Wünsche offen lassen. Ernst Eigner wusste Peters Einsatz zu schätzen. In einer Woche begann in Wien eine große internationale Schmuckmesse, die dort jeden Frühsommer stattfand. Zum ersten Mal nahm Ernst Eigner nicht selbst daran teil, sondern überließ Peter das Feld. Einen schöneren Vertrauensbeweis konnte es eigentlich gar nicht geben. Die Zeit bis zur Eröffnung wollten Peter und Sabine nutzen, um sich ein paar schöne gemeinsame Tage zu machen. Sie hatten sich vorgenommen, Schloss Schönbrunn und den dazugehörigen Tiergarten zu besichtigen, im Prater Riesenrad zu fahren und die Wiener Oper zu besuchen. Zwar hatte Peter darauf bestanden, zwischendurch auch einige Termine mit Einkäufern von Schmuckfirmen aus Wien und Umgebung wahrzunehmen, aber Sabine war trotzdem zuversichtlich. Ganz bestimmt würde ihnen zwischen den Treffen noch jede Menge Muße bleiben, um sich von den vorangegangenen arbeitsreichen Monaten zu erholen. Das würde auch ihrer Beziehung guttun, an der die Arbeitsüberlastung und die vielen Trennungen nicht ganz spurlos vorübergegangen waren. Während Sabine noch ihren Überlegungen nachhing, kam ihr plötzlich eine spontane Idee. »Willst du wirklich die Autobahn benutzen, Peter?«, fragte sie. »Wir haben doch keine Eile. Ich meine, wir könnten durchaus einen kleinen Umweg über das Wachnertal in Kauf nehmen und bei dieser Gelegenheit einen Abstecher nach St. Johann machen. Du weißt, dass ich dir St. Johann im Wachnertal schon lange einmal zeigen wollte.« Fast schüchtern legte Sabine ihre Hand auf Peters Arm. Sie zog sie aber rasch wieder zurück, als Peter ein ungnädiges Grummeln vernehmen ließ. »St. Johann«, wiederholte er unwillig. »Was willst du bloß immer mit diesem St. Johann? Dass du dort als kleines Mädchen ein paarmal die Sommerferien bei deiner Oma verbracht hast, ist ja gut und schön. Aber ein bisschen kindliche Ferienseligkeit ist doch kein Grund, einen ganzen Urlaubstag in einem langweiligen Bergkaff zu vergeuden und sentimentalen Erinnerungen nachzuhängen.«
Sabine strich sich die Haare zurück, die der Fahrtwind ihr immer wieder ins Gesicht blies. Schließlich holte sie eine Haarspange aus ihrer Handtasche, um die dunkle Pracht im Nacken zu bändigen. »Ich …, ich möchte doch nur, dass du den Ort kennenlernst, an dem ich damals so glücklich war, Peter. Den Platz, an dem ich nach dem Verlust meiner Mutter wieder das Lachen gelernt habe«, versuchte sie es noch einmal. »Wir sind verlobt. Und deshalb möchte ich alles mit dir teilen. Freud und Leid und natürlich auch meine Erinnerungen. Du sollst alles von mir wissen, du …« Sabine brachte ihren Satz nicht zu Ende, denn Peters Miene wurde mit einem Mal so abweisend, dass es ihr die Sprache verschlug. Enttäuscht wandte Sabine sich ab. Was war nur los mit Peter? Warum war er manchmal so kalt und lieblos, dass sie in seiner Gegenwart fror? So war er nie gewesen, als sie sich kennengelernt hatten. Der Mann neben ihr, der trotz seines hin und wieder immer noch aufflammenden Charmes so hartherzig und barsch sein konnte, war doch nicht der Peter, in den sie sich vor zwei Jahren Hals über Kopf verliebt hatte! Hatte er sich vernachlässigt gefühlt, während für sie die neue Schmuckkollektion das Allerwichtigste gewesen war? War er immer noch gekränkt? Vielleicht hätte sie aber auch nicht ganz so besessen gearbeitet, wenn Peter sie nicht so oft allein gelassen hätte! Der Klingelton von Peters Handy, das auf der Ablage zwischen Fahrer- und Beifahrersitz lag, riss Sabine aus ihren Grübeleien. Ohne lange zu überlegen griff sie an Peters Stelle nach dem Mobiltelefon, da das Sportcabrio aus den frühen fünfziger Jahren keine Freisprechanlage besaß. Gerade schlossen ihre Finger sich um das Handy, als Peter es ihr aus der Hand nahm. Er warf einen raschen Blick auf das Display, drückte die Ablehnen-Taste und warf das Mobiltelefon unsanft wieder an seinen Platz zurück.
Sabine runzelte die Stirn. »Ist etwas nicht in Ordnung?«, erkundigte sie sich verblüfft. »Ich konnte gerade noch lesen ›Larissa ruft an‹. Wer ist Larissa?« Peter zuckte zusammen, hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. »Wer Larissa ist?«, fragte er zurück. Er winkte ab. »Sie ist völlig unwichtig. Larissa Paltrow und ich sind zusammen zur Schule gegangen, weißt du. Ein schreckliches halbes Jahr lang. Dann zog sie mit ihren Eltern fort und wir haben uns gottlob aus den Augen verloren. Bis zu unserem zufälligen Wiedersehen vor einem knappen Vierteljahr. Im Flieger nach Toronto. Sie …, sie ist noch immer die gleiche unmögliche Person wie früher. Ein richtig verrücktes Huhn. Sie hat mich nach meiner Telefonnummer gefragt, und ich wollte nicht unhöflich sein. Seither versucht sie immer wieder, mich anzurufen. Obwohl ich sie schon zig Male gebeten habe, mich endlich in Ruhe zu lassen. Sie ist eine Nervensäge erster Ordnung.« Peter Korte lachte. Und Sabine, die nicht merkte, wie gekünstelt sein Lachen klang, stimmte befreit mit ein. Als Peter seine rechte Hand vom Steuer nahm und auf ihr Knie legte, strich sie mit ihren Fingern zärtlich über die Härchen auf seinem Handrücken. Alles würde wieder gut werden. Auch wenn Peter sich noch so entschlossen in die Autobahn nach Wien einfädelte, ohne den Wegweiser mit der Aufschrift Wachnertal auch nur eines einzigen Blickes zu würdigen.
*
»Nein, nein, nein! Ich konnte doch wirklich nicht ahnen, dass wir schon nach einer Viertelstunde Autobahn hoffnungslos im Stau stehen! Wenn das so
weitergeht, werden wir die Hälfte unseres Kurzurlaubs in einer kilometerlangen Blechlawine verbringen!« Nervös trommelte Peter mit seinen Fingern auf das Lenkrad. Am liebsten hätte er vor Ärger ein paarmal kräftig gehupt, ließ aber schließlich die Vernunft walten und beherrschte sich. Was sollte es auch nützen! Er würde sich höchstens ein paar Probleme mit anderen ungeduldigen Staukollegen aufhalsen! »Glaubst du, dass irgendwo da vorne ein Unfall iert ist, Peter?«, wollte Sabine wissen. Peter zog die Augenbrauen hoch. »Meinst du wirklich?«, fragte er skeptisch. »Ich schalte wohl am besten den Verkehrsfunk ein. Dann werden wir schon erfahren, warum hier nichts vorwärtsgeht.« Er fingerte am Autoradio herum, überließ es dann aber ihr, einen Verkehrssender zu finden. »Dieser Stau ist wirklich ein Pech«, seufzte Peter. »Und dabei lief es auf den ersten Autobahnkilometern mehr als toll. Ich hätte jedenfalls nicht gedacht, dass mein Oldie bei 160 Sachen so tapfer durchhält. Er ist wirklich ein spitzenmäßiger Wagen. Findest du nicht auch, Sabine?« Sabine nickte zerstreut. Sie lauschte ins Radio hinein, wo gerade eine Verkehrsdurchsage verlesen wurde. »… der Unfall hatte eine Massenkarambolage zur Folge. Wie durch ein Wunder gab es nur leicht Verletzte, der Sachschaden ist allerdings beträchtlich, und das betreffende Autobahnstück muss wegen Aufräumarbeiten voraussichtlich noch für mehrere Stunden gesperrt bleiben. Wir empfehlen deshalb, die Autobahn bei der Ausfahrt ›Wachnertal‹ zu verlassen und der ausgeschilderten Umleitung zu folgen.« Der Ansager machte eine kleine Pause. »Gerade kommt noch eine weitere Staumeldung herein: Auch am Irschenberg ist es durch einen Unfall …« Peter stellte das Radio wieder ab. Sein Bedarf an Hiobsbotschaften war gedeckt. Auch Sabine sah ziemlich betreten drein.
»Da haben wir ja noch mal Glück gehabt«, meinte sie. »Wenn wir ein bisschen früher losgefahren wären, wären wir wahrscheinlich mitten in den Unfall geraten.« »Wir beide und unser schöner Wagen«, gab Peter entsetzt zurück. Eine Weile schwiegen sowohl er als auch Sabine. »Und was machen wir jetzt?«, meldete sich schließlich Sabine wieder zu Wort. »Fahren wir also doch über St. Johann und das Wachnertal? Wenn man bedenkt, dass wir sonst noch eine halbe Ewigkeit hier herumstehen, wird es wohl die bessere Lösung sein.« Sie senkte den Blick, als könnte sie auf diese Weise die freudige Hoffnung verbergen, die von einer Sekunde auf die andere in ihren Augen aufflackerte. Peter Korte zuckte missmutig die Schultern. »Natürlich fahren wir auf diese Umleitung«, gab er zurück. »Schon weil uns gar nichts anderes übrig bleibt. Wir verbummeln auf dem Umweg über St. Johann immer noch weniger Zeit als in dem verdammten Stau.« Trotz dieser Einsicht konnte Peter seinen Ärger darüber, dass sich der Zufall auf Sabines Seite geschlagen hatte, kaum unterdrücken. Das Wachnertal und alles, was dazugehörte, hatten ihm gerade noch gefehlt. Anhalten allerdings würde er in diesem vermaledeiten St. Johann auf gar keinen Fall. Das konnte kein Mensch von ihm verlangen. Er würde höchstens kurz stoppen, wenn eine Ampel auf Rot zeigte. Oder wenn eine Herde Kühe seinen Weg kreuzen sollte. Geräuschvoll stieß er die Luft aus. »Bitte mach dir keine falschen Hoffnungen, Sabine. Wir werden weder in St. Johann noch in einem anderen Dorf eine Rast einlegen. Mittagessen gibt es, wenn wir in Salzburg sind. Und nicht eher. Selbst wenn wir erst am späten Nachmittag dort ankommen sollten.« Das Leuchten in Sabines Augen erstarb. Hatte sie wirklich geglaubt, dass Peter nachgeben würde? Ausgerechnet er, der es überhaupt nicht ertragen konnte, wenn etwas nicht nach seinem Willen ging? Sabine wurde klar, dass sie Peter nie und nimmer zu einem Besuch bei ihrer
Oma würde überreden können. Von anderen Dingen ganz zu schweigen. Sie würde sich damit begnügen müssen, vom Auto aus ein paar Blicke auf vertraute Stätten ihrer Kindheit zu erhaschen. Schade. Aber besser als nichts war es trotzdem.
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»Das darf doch nicht wahr sein! Jetzt werden wir schon wieder ausgebremst!« Peter Korte tippte sich mit dem Zeigefinger gegen die Stirn, als er die kleine rote Ampel sah. Und daneben das Verkehrszeichen, das ihm unmissverständlich eine Baustelle signalisierte. »Typisch! Kaum fängt der Sommer an und der Touristenstrom setzt sich in Bewegung, werden an allen Ecken und Enden die Straßen aufgerissen. Als ob es dafür keinen enderen Zeitpunkt gäbe!« »Im Winter, wenn Schnee liegt, geht es halt erst recht net«, wandte Sabine ein und erntete dafür einen tadelnden Blick. Er galt sowohl ihren Worten als auch der Tatsache, dass sie plötzlich wieder in ihre gewohnte bayerische Mundart verfallen war. Peter mochte diesen Dialekt einfach nicht hören. Wie oft schon hatte er Sabine gesagt, dass das komisch und hinterwäldlerisch klang und einfach nicht zu einer jungen Weltbürgerin te. Für einen Mann wie Ernst Eigner, der die fünfzig schon überschritten hatte, mochte das Kauderwelsch ja gerade noch angehen. Aber bei seiner Verlobten empfand er es als Zumutung. »Wieso schaust du mich eigentlich so schräg an?«, fragte Sabine gereizt. »Es ist doch so wie ich sag, oder?« Peter Korte gab keine Antwort. Er bremste seinen chromblitzenden Oldtimer
herunter und reihte sich in der Schlange hinter dem Schild mit der Anweisung ›Bitte beim Warten Motor abstellen‹, ein. Dann begannen seine Finger wieder auf dem Lenkrad herumzutrommeln, wie immer, wenn ihn beim Autofahren die Ungeduld packte. »Vielleicht. Aber deinen bajuwarischen Akzent kannst du dir trotzdem schenken. Auch wenn wir uns hier in unmittelbarer Nähe von St. Johann befinden«, reagierte er seinen Frust an Sabine ab. Sabines Augen funkelten verärgert. »Wenn ich mich für ein paar Sekunden vergessen hab und geredet hab, wie mir der Schnabel gewachsen ist, hat das mit St. Johann überhaupt nix zu tun«, erklärte sie harscher als beabsichtigt. »Eher schon mit deinem Grant. Ich kann schließlich genauso wenig dafür wie du, dass wir einfach net vorwärtskommen.« Peter Korte wollte etwas erwidern, kam aber nicht mehr dazu. Die Baustellenampel schaltete auf Grün, und das vorderste Fahrzeug setzte sich bereits in Bewegung. Auch Peter drehte den Zündschlüssel herum und startete, doch der Motor seines Oldies gab nur ein leises Wimmern von sich. Dann verstummte er wieder. Peter gab es einen Stich ins Herz. Er startete sofort einen zweiten Versuch, hatte aber wieder kein Glück. Der Motor starb auch diesmal ab. Sogar noch ein bisschen früher. Auf Peters Gesicht machte sich ein Ausdruck wachsender Verzweiflung breit. Wieder und wieder ließ er den Motor an, wieder und wieder das gleiche Spiel. Die Autos, die vor Peter gewartet hatten, waren bereits über alle Berge, als er endlich aufgab. »Es macht keinen Sinn«, sagte er zu Sabine gewandt und hob hilflos die Hände. »Über sechzig Jahre hat der Wagen jetzt schon auf dem Buckel. Er wird regelmäßig gewartet, lackiert und poliert. Noch nie hat er Zicken gemacht. Und jetzt auf einmal …«
Sabine wusste nicht, ob sie Mitleid empfinden oder ob sie lachen sollte, als sie zu allem Überfluss auch noch Tränen in den Augen ihres Verlobten schimmern sah. »Und schuld an allem sind nur die blödsinnigen Steigungen auf dieser noch blödsinnigeren Höhenstraße«, biss er sich fest, ehe er mit hängenden Schultern ausstieg. »Mein Auto ist doch kein Klettermaxe. So etwas hält ein elegantes Großstadtfahrzeug einfach nicht aus. Wie in aller Welt kommen wir jetzt von hier wieder fort? Ich wusste von Anfang an, dass dieses vermaledeite St. Johann nur Unglück bringt.« Sabine stieg ebenfalls aus und griff nach Peters Hand. »Wir …, wir rufen ganz einfach einen Abschleppdienst«, schlug sie vor. »Der Schutzbrief muss irgendwo im Handschuhfach …« Sie ließ Peters Hand los, eilte um das Auto herum und begann fieberhaft zu suchen. Schließlich klappte sie das Handschuhfach zu, hob resigniert die Schultern und ließ sie wieder sinken. »Und?«, drängte Peter Korte. »Nix und. Der Schutzbrief ist net da«, gab Sabine zurück. »Du musst vergessen haben, ihn mitzunehmen.« »Ich? Wieso ich? Du hast den Schutzbrief vergessen, wer denn sonst«, entfuhr es Peter. »Was auch kein Wunder ist. Die ganze Zeit über hattest du nichts als deine Erinnerungen an dieses dumme St. Johann im Kopf.« Sabine schnappte nach Luft. »Was heißt da ›dieses dumme St. Johann‹«, zischte sie. »Und überhaupt kann ich den Schutzbrief gar net vergessen haben, weil du es bist, der sich um alles kümmert, was mit dem Auto zusammenhängt.« Peter lehnte sich so gegen die Fahrertür, dass er Sabine nicht ansehen musste. »Aha. Jetzt soll ich wieder schuld sein«, zischte er zurück. »Und den Sündenbock geben. Aber das fällt mir im Traum nicht ein. Weil ich mich ganz genau erinnere, dass ich dir den Wisch gegeben habe, damit du ihn für mich
aufbewahrst. Jeden Eid könnte ich darauf schwören, dass es so war und nicht anders.« Sabine lachte bitter auf. »Freilich. Ein Meineid ist schließlich auch ein Eid. Aber ich …« Sie brach ab und schlug ihre Hand vor den Mund. Hatte sie sich vor der Fahrt nach Wien nicht fest vorgenommen, nie mehr mit Peter zu streiten? Und jetzt fing sie bei der erstbesten Gelegenheit schon wieder an. Schuldbewusst senkte Sabine den Kopf. »Tut mir leid, Peter«, sagte sie in merklich sanfterem Ton. »Ich wollte dich net anschreien.« Sie trat neben ihren Verlobten und streichelte über seinen Rücken. »Reg dich doch net so auf, Peter«, bat sie. »Das bringt doch nix. Ist doch egal, wer was vergessen hat. Wichtig ist jetzt doch bloß, dass wir den Wagen so bald wie möglich in die nächste Werkstatt und wieder flott bekommen.« Peters Mundwinkel zogen sich nach unten. »Natürlich. Aber hast du vielleicht eine Idee, wer uns abschleppen könnte? Und in welche Werkstatt?«, wollte er wissen. Sabine dachte einen Augenblick lang angestrengt nach. »Eine Vertragswerkstatt gibt es in St. Johann wahrscheinlich net«, erklärte sie schließlich. »Zumindest damals, als ich hier immer meine Ferien verbracht hab, hat es noch keine gegeben. Aber es gibt die Traktorenwerkstatt Hanninger. Der Hanninger-Georg kennt sich mit Motoren aus wie kein zweiter. Auch mit Automotoren.« Peter Korte schaute Sabine völlig entsetzt an, dann lockerte er seine Krawatte, um sich Luft zu verschaffen. »Traktorenwerkstatt Hanninger sagst du, Sabine?«, fragte er kopfschüttelnd. »Traktorenwerkstatt? Weißt du überhaupt noch, was du da redest? Mein Auto ist doch keine Zugmaschine, mit der man ackert. Wenn ich nur daran denke, dass
ein Mensch, der mit seinen schmutzigen Händen eben noch einen Traktor … Nein, eine Traktorenwerkstatt kommt überhaupt nicht infrage. Eher bleiben wir hier stehen bis zum Jüngsten Tag.« Sabine presste die Lippen aufeinander, sie ihrem Vorsatz, Frieden zu halten, treu bleiben konnte. »Gibt’s Probleme mit dem Auto?«, erkundigte sich in diesem Moment einer der Baustellenarbeiter. Sabine und Peter waren so sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, dass sie sein Herankommen überhaupt nicht bemerkt hatten. Nun wandten sie sich ihm mit halb skeptischen und halb hoffnungsvollen Blicken zu. »Das kann man wohl sagen«, erwiderte Peter Korte und wies auf die Kühlerhaube seines chromblitzenden Oldies. »Er springt zwar an, aber das ist dann auch schon alles.« Der Baustellenarbeiter nickte und zückte im nächsten Augenblick hilfsbereit sein Handy. »Ich ruf gleich den Hanninger-Schorsch an«, sagte er. »Der ist in ein paar Minuten da und schleppt Sie ab in seine Werkstatt. Ich bin mir sicher, dass er im Nu weiß, wo der Schuh drückt. Einen besseren Mechaniker wie den Schorsch findet man nämlich im ganzen Wachnertal net.« Peter öffnete den Mund zu einer Erwiderung, stieß dann aber nur einen Seufzer aus und ließ den Baustellenarbeiter gewähren. Er fühlte sich mit einem Mal so ausgelaugt und ausgepumpt, dass er nicht mehr die Stirn hatte, sich zu widersetzen. Als der Baustellenarbeiter ihm nach beendetem Handygespräch freudestrahlend berichtete, dass der Hanninger-Schorsch schon unterwegs sei, gab Peter nicht einmal eine Antwort. Stattdessen ließ er sich kraftlos auf den Fahrersitz fallen und starrte trübsinnig vor sich hin. »Es liegt an der Benzinpumpe«, meinte Georg Hanninger, wenig später, in der Werkstatt. »Die ist nimmer ganz in Ordnung und macht deshalb Probleme, wenn der Wagen bergan gestartet werden soll. Also eigentlich eine Bagatelle. Das
Ersatzteil hab ich zwar net vorrätig, kann es aber sofort bestellen. Es kommt spätestens übermorgen und ist in einer Stunde eingebaut. Dann können Sie Ihre Reise ungestört fortsetzen.« Zu Georg Hanningers und Sabines Überraschung schüttelte Peter Korte den Kopf. »Nein, Sie werden nichts bestellen, Herr Hanninger. Und schon gar nichts einbauen«, entschied er. »Der Mechaniker, der normalerweise meinen Wagen betreut, ist zurzeit auf Urlaub. Ich werde ihn kontaktieren, damit er seinen Urlaub abbricht und sich um mein Auto kümmert. Wenn der Wagen so lange hier in Ihrer Werkstatt stehen bleiben kann, wäre das wunderbar. Mehr erwarte ich nicht von Ihnen.« Georg Hanningers Kiefer mahlten aufeinander, als müssten sie eine besonders harte Nuss zerbeißen. Schließlich zuckte der Landmaschinenmeister jedoch die Schultern. »Wie Sie wünschen«, erwiderte er in bemerkenswert ruhigem Ton. Wenn auch sein grimmiger Gesichtsausdruck verriet, dass es ihm nicht ganz leichtfiel, höflich zu bleiben. Sabine fühlte sich peinlich berührt, senkte die Lider und schwieg. Erst als sie und Peter die Traktorenwerkstatt Hanninger wieder verlassen hatten, wandte sie sich mit fragendem Blick ihrem Verlobten zu. »Dann …, dann bleiben wir jetzt also doch ein bissel länger in St. Johann?«, erkundigte sie sich vorsichtig, um nicht gleich wieder einen Streit heraufzubeschwören. Um Peter Kortes Lippen zuckte es geringschätzig. »Wir?«, wiederholte er, als handelte es sich um die unmöglichste Idee der Welt. »Davon kann keine Rede sein, mein Schatz. Du bist es, die bleibt. Im Grunde wolltest du das doch ohnehin schon die ganze Zeit. Du kannst dich also freuen.« Sabine schluckte trocken. Natürlich hatte sie sich von Anfang an einen Aufenthalt in St. Johann gewünscht. Daraus hatte sie auch nie einen Hehl gemacht. Aber sie hatte an einen gemeinsamen Aufenthalt mit Peter gedacht.
Und jetzt sollte sie auf einmal ganz allein … »Was machst du denn für ein Gesicht? Was in aller Welt ist nun schon wieder nicht richtig an meinem Vorschlag? Ich dachte, du würdest mir mit einem Jubelschrei um den Hals fallen.« »Ich wollte doch, dass wir beide, du und ich …«, stammelte Sabine, »Ich wollte, dass wir gemeinsam …« »Unsinn«, fuhr Peter ihr ins Wort. »Du musst doch einsehen, dass das unmöglich ist. Wir wollten in Wien eine Woche Ferien machen, gewiss. Aber eben nicht nur. Ich kann nicht einfach meine Termine mit den Einkäufern platzen lassen. Das würde auch dein Vater nicht gutheißen.« Sabine sagte eine Weile gar nichts. Ihre Freude, St. Johann wiederzusehen, wurde von der Enttäuschung über die bevorstehende neuerliche Trennung von Peter regelrecht plattgewalzt. »Und wie lange …, wie lange soll ich alleine hierbleiben? Ich meine …«, presste sie schließlich hervor. »Wie lange oder wie kurz liegt nicht in meiner Hand. Also kann ich dir darüber auch keine Auskunft geben«, antwortete Peter gereizt. Er räusperte sich. »Also hör mir einmal gut zu«, sagte er dann in einem Ton, als spräche er mit einem ziemlich begriffsstutzigen Kind. »Ich besorge mir jetzt einen Leihwagen, mit dem ich unverzüglich nach Wien weiterfahren werde. Deine Aufgabe ist es, dich um meinen wertvollen Oldie zu kümmern, die Reparatur zu überwachen und das Fahrzeug möglichst nicht aus den Augen zu lassen. Egal, wie lange es dauert. Wenn der Wagen fertig ist, rufst du mich an. Dann sehen wir weiter. Was mich betrifft, werde ich in Wien ganz gut ohne dich zurechtkommen. Da sehe ich kein Problem.« Sabine wickelte nervös eine Strähne ihres langen Haars um ihren Zeigefinger. »Aber ich … Peter, du weißt doch, dass ich von Autos keine Ahnung habe. Ich kann dir nicht garantieren, dass …« Peter Korte machte eine ungeduldige Handbewegung. »Du sollst den Wagen ja auch nicht selbst reparieren, sondern nur nach dem
Rechten sehen«, stellte er klar. »Das schaffst du schon. Da bin ich mir ganz sicher. Langweilig wird es dir in deinem geliebten St. Johann wohl auch nicht werden. Du hast ja deine Oma und diesen Bergpfarrer. Und bestimmt noch jede Menge anderer Leute, die sich an dich erinnern können und sich über ein Wiedersehen freuen.« Sabine nickte, obwohl ihr der Hals wehtat von unterdrückten Tränen. Liebte Peter sie denn überhaupt noch? Oder war sie ihm völlig gleichgültig geworden? Sabine fand keine Antwort. Vielleicht, weil sie eigentlich gar keine finden wollte.
*
Als Sabine am nächsten Morgen von den warmen hellen Sonnenstrahlen, die auf ihr Gesicht fielen, wachgekitzelt wurde, wusste sie im ersten Moment nicht, wo sie war. Wie in aller Welt war sie nur in dieses herrliche mit Alpenblumen bemalte Himmelbett gekommen! Und Peter? Wo war denn Peter! Hier im Zimmer war er jedenfalls nicht. War er schon aufgestanden? Sabine wühlte sich aus Bettdecke und Kissen und rieb sich die Augen. Erst allmählich fielen ihr die Ereignisse des vorangegangenen Tages wieder ein. Jetzt begriff sie auch, wo sie war. Weil sie ihre Oma nicht einfach so hatte überfallen wollen, hatte Peter in St. Johann eine Übernachtungsmöglichkeit für sie gesucht. Im ›Hotel zum Löwen‹, waren sie schließlich fündig geworden und hatten ein Einzelzimmer für sie gemietet.
Peter, dem es überraschend schnell gelungen war, aus Graunau einen Leihwagen kommen zu lassen, hatte ihr noch geholfen, sich dort einzurichten und war dann in Richtung Wien losgebraust. Ein gemeinsames Abendessen bei Kerzenschein und ein Kuss zum Abschied waren alles, was ihr vor seiner Abfahrt noch geblieben war. Sie hatte Peter nicht einmal dazu überreden können, erst am Morgen zu fahren und wenigstens diese eine Nacht bei ihr in St. Johann zu bleiben. Ziemlich niedergeschlagen hatte sie sich schlafen gelegt, aber nun waren Traurigkeit und Enttäuschung wie durch einen Zauber verflogen. Sabine fühlte sich ausgeruht und unternehmungslustig wie schon lange nicht mehr. Wenn sie an Peter dachte, kam es ihr fast so vor, als wäre er nicht in Wien, sondern am anderen Ende der Welt. Und diese Vorstellung machte ihr zu ihrer Verblüffung viel weniger aus, als sie noch vor Kurzem geglaubt hatte. Mit einem Satz sprang Sabine aus dem Bett und lief zum Fenster, durch dessen Scheibenglas man die schneebedeckten, majestätischen Zwillingsgipfel der Himmelsspitz und der Wintermaid, das Wahrzeichen von St. Johann, sehen konnte. Als Mädchen hatte sie sich felsenfest vorgenommen, diese Zwillingsgipfel zu stürmen, wenn sie erst einmal erwachsen war. Natürlich zusammen mit Ralf Sauter, dem Waisenjungen, der ebenfalls regelmäßig Feriengast in St. Johann gewesen war. Der war so besessen vom Klettern, dass er bei jeder enden und unenden Gelegenheit verkündet hatte, später ein weltberühmter Bergsteiger werden zu wollen. Sabine öffnete das Fenster, atmete tief die würzige Gebirgsluft ein und reckte und streckte sich. War es nicht eigenartig, dass sie in letzter Zeit so oft an St. Johann gedacht hatte, aber nie an Ralf? Dabei waren sie fast unzertrennlich gewesen. Was wohl aus Ralf geworden war? Ob er inzwischen wirklich irgendwo im Himalaja herumkletterte? Oder im Altaigebirge? Der Gedanke an Ralf Sauter beschäftigte Sabine noch eine ganze Weile, doch als
sie schließlich nach einem üppigen Frühstück in ihrem schicken Trachtenhosenanzug aus Wildleder durch St. Johann spazierte, vergaß sie den Jugendfreund wieder. Ihre Oma war jetzt wichtiger. Ihr sollte ihr erster Besuch gelten. Bestimmt würde sie nicht schlecht staunen, nach so langer Zeit ihre Enkelin wiederzusehen. Zielstrebig marschierte Sabine auf das Haus zu. Erstaunt stellte sie fest, dass es einen anderen Anstrich bekommen hatte und neue Fenster. Auch der Garten war anders angelegt. Je näher Sabine kam, desto fremder wirkte alles. Und desto langsamer wurden ihre Schritte. Als sie schließlich vor der früher stets offenen Gartenpforte stand, hinter der sich ein langer Weg zur Haustür auftat, bemerkte sie verwundert, dass das Gartentürchen jetzt verschlossen war. Zudem war es mit einem Klingelknopf und einem Namensschild versehen, auf dem ›Herr und Frau Bertram‹ stand. Sabine traute ihren Augen kaum. Ihre Oma hieß doch Bartl. Gerlinde Bartl. Verwirrt trat Sabine einen Schritt zurück. Es dauerte noch eine Weile, bis sie endlich begriff: Ihre Oma lebte gar nicht mehr hier. Das Haus, in dem sie einst so glückliche Ferien verbracht hatte, hatte neue Besitzer. Aber wo war dann Oma? War sie am Ende … »Grüß Gott. Suchen Sie jemanden?«, fragte in diesem Moment eine freundliche Frauenstimme. Sabine näherte sich wieder dem Gartentürchen. »Ja«, gab sie nach kurzem Zögern zurück. »Ich suche Frau Bartl. Das Haus hat früher ihr gehört. Sie hat hier gewohnt.« Sabine streckte ihre rechte Hand zum Gruß über die Gartenpforte. »Ich bin übrigens Sabine Eigner, Frau Bartls Enkeltochter. Und Sie …, sind wahrscheinlich Frau Bertram.«
»Ja, das bin ich«, nickte die Frau. Sie war etwas älter als Sabine, vielleicht Anfang dreißig. »Wir, also ich und Günther, mein Mann, haben dieses Haus vor zwei Jahren von Frau Bartl gekauft«, erzählte sie. »Frau Bartl ist das alles hier über den Kopf gewachsen, wissen Sie. Die vielen Zimmer, der große Garten … Sie war ja schon sehr alt und auch nicht mehr richtig gesund. Sie hat sich in eine Wohneinheit für betreutes Wohnen im Waldecker Altersheim eingekauft.« Sabine kaute unsicher auf ihrer Unterlippe herum. Oma Gerlinde im Altersheim? Ausgerechnet Oma Gerlinde, die immer mit so viel Hingabe ihre Obstbäume und Blumen gepflegt hatte! Aber wenn sie natürlich nicht mehr gesund war … Und wo war dann Rollo, der Bernhardinerhund, geblieben? Bestimmt war im Altersheim keine Hundehaltung erlaubt. Ein wenig beschämt senkte Sabine ihren Blick. Wie viele Jahre war es nun eigentlich her, seit sie Oma Gerlinde zum letzten Mal gesehen hatte? Sabine fiel ein, wann sie das letzte Mal ihre Sommerferien hier verbracht hatte. Sie hatte damals gerade die mittlere Reife hinter sich gehabt und die Aufnahmeprüfung für die Designerschule mit Bravour bestanden. Zusammen mit Ralf hatte sie in Oma Gerlindes Garten ihre Erfolge gefeiert. Ralf war frisch gebackener Abiturient gewesen, hatte aber noch seinen Zivildienst absolvieren müssen, ehe er zu seiner Bergsteigerkarriere durchstarten konnte. Wie ein offenes, leeres Buch war Sabines ganzes Leben vor ihr gelegen. Wie ein Buch, das begierig darauf wartete, geschrieben zu werden. Dass die immer fröhliche und tatkräftige Oma Gerlinde damals schon der älteren Generation angehört hatte, wäre Sabine zu dieser Zeit nicht einmal im Traum in den Sinn gekommen. »Kann ich noch irgendetwas für Sie tun, Frau Eigner?«, drang plötzlich wie von weit her wieder die Stimme Frau Bertrams an ihr Ohr. Sabine lächelte matt. »Nein. Nein, danke«, hörte sie sich sagen. »Ich …, ich wünsche Ihnen und Ihrem
Mann noch viel Glück in Ihrem neuen Heim.« »Das haben wir hier bestimmt. Es hat schon angefangen«, antwortete Frau Bertram und strich mit der Handfläche sachte über ihren Bauch, der sich unter der Küchenschürze kaum merklich wölbte. Sabine verstand nicht. Sie hatte sich bereits wieder abgewandt und eilte mit raschen Schritten davon. In ihrer Magengrube breitete sich ein seltsam flaues Gefühl aus. Es war ihr, als wäre ein Stück ihres Lebens, das bisher fest und sicher gestanden hatte wie ein Felsenturm, ins Bröckeln und Rutschen gekommen. Und sie wusste nicht, was der Felssturz in ihrer Seele noch alles mitreißen würde. Wenn wenigstens Peter da gewesen wäre und sie seine Nähe hätte spüren können! Wenn sie sich an ihm hätte festhalten können, wenn … Beinahe ärgerlich schlug Sabine sich diesen Gedanken aus dem Kopf. Fast noch schneller als er ihr gekommen war. Peter war ihre Oma schon immer egal gewesen. Wäre er jetzt bei ihr, würde er ihr höchstens erklären, dass der Umzug ins Altersheim früher oder später eben für jeden zur Notwendigkeit würde. Nach diesen banalen Worten würde er dann zur Tagesordnung übergehen, als wäre nichts gewesen. Ihr Vater würde sie vielleicht eher verstehen, aber gerade ihn wollte sie am allerwenigsten anrufen. Er sollte ruhig denken, dass sie zusammen mit Peter in Wien war. Er war so glücklich, Peter als Schwiegersohn zu bekommen. Dieses Glück wollte sie ihm nicht durch die Aufzählung der misslichen Umstände trüben, die sie mutterseelenalleine nach St. Johann verschlagen hatten. Blieb eigentlich nur noch Pfarrer Trenker … Sabine fragte sich sofort, warum sie nicht gleich darauf gekommen war. Hatte Pfarrer Trenker nicht schon während ihrer Ferienaufenthalte in St. Johann
immer ein offenes Ohr für ihre und Ralfs Pläne, Sorgen und Nöte gehabt? Bestimmt konnte der Geistliche ihr auch sagen, wie es ihrer Oma ging. Schließlich hatte er schon damals das Altenheim in Waldeck als Hausgeistlicher betreut. Er würde ihre Oma vielleicht sogar gemeinsam mit ihr besuchen. Zielstrebig hielt Sabine jetzt auf das Pfarrhaus zu. Zu ihrer eigenen Überraschung fand sie den Weg von Oma Gerlindes Haus zum St. Johanner Pfarrhaus so leicht, als wäre sie ihn erst vor ein paar Tagen zum letzten Mal gegangen. Sie brauchte sich dabei nicht einmal am Zwiebelturm der Kirche und an seinem in der Sommersonne funkelnden Kreuz zu orientieren. Konnte es daran liegen, dass sich in St. Johann in den Jahren ihrer Abwesenheit kaum etwas verändert hatte? Dass in dem kleinen Bergdorf regelrecht die Zeit stehen geblieben war? Oder war da eine unsichtbare Hand, die sie führte? Eine Art Schutzengel, von deren Existenz gerade Pfarrer Trenker immer ganz fest überzeugt gewesen war? Sabine wusste es nicht. Mit ein bisschen zittrigen Fingern klingelte sie kurze Zeit später an der Haustür. Ob Pfarrer Trenker und seine Haushälterin sie nach all den Jahren noch erkennen würden? Ob sie noch genauso willkommen war … Sabine kam nicht dazu, lange nachzudenken. Schon hörte sie Schritte, und es wurde geöffnet. Vor ihr stand Pfarrer Trenkers Haushälterin. »Grüßt Gott, Frau Tappert!«, sagte Sabine, wobei ihr die Wiedersehensfreude aus dem Gesicht leuchtete. Sophie Tappert, Pfarrer Trenkers Haushälterin, erwiderte Sabines Gruß aufs Freundlichste. Hinter ihrer Stirn arbeitete es indessen fieberhaft. »Sie … Sie kommen mir bekannt vor«, meinte sie schließlich etwas verlegen. »Bloß weiß ich im Moment net, wo ich Sie hintun muss. Ich glaub, es ist schon eine Weile her, dass wir uns gesehen haben. Deshalb kann ich mich wohl auch nimmer
entsinnen …« Noch ehe Frau Tappert ihren Satz hätte vollenden können, tauchte Sebastian Trenker hinter ihr auf. Auch er machte zuerst ein verdutztes Gesicht, doch schon im nächsten Moment ging ein erkennendes Aufleuchten über seine Züge. »Das ist aber eine wunderbare Überraschung«, stieß er hervor, ging auf Sabine zu und fasste sie bei den Händen. »Dass die Eigner-Sabine noch einmal nach St. Johann kommt, hab ich schon fast nimmer glauben mögen! Umso mehr freu ich mich, dass du den Weg hierher doch wieder gefunden hast, Sabine!« Sabine blieb vor Erstaunen der Mund offen stehen. »Das hätte ich net gedacht, dass Sie mich gleich auf Anhieb wiedererkennen würden, Herr Pfarrer«, brachte sie, als sich die erste Verblüffung gelegt hatte, hervor. Sebastian schmunzelte. »Ein bissel hab ich schon überlegen müssen«, räumte er ein. »Weil ich mir erst wieder hab klarmachen müssen, dass aus Kindern Leute werden. Was man manchmal doch recht gern vergisst.« Er ließ Sabines Hände los. »Lass dich einmal anschauen. Warst’ ja noch ein Madl damals. Und jetzt ist eine richtig elegante Dame aus dir geworden.« In Sabines Wangen stieg eine leichte Röte. »Was die elegante Dame betrifft, bin ich mir net so sicher. Und dass aus dem Madl eine Frau geworden ist … Es sind ja auch lange Jahre vergangen, seit Sie mich das letzte Mal gesehen haben«, meinte sie. Der gute Hirte von St. Johann nickte. »Ja. Da merkt man wieder, wie schnell die Zeit vergeht«, sagte er versonnen. Er schaute Sabine fragend an. »Bist du für länger in St. Johann, Sabine? Oder bist du nur auf der Durchreise?«, erkundigte er sich, und setzte dann, noch ehe Sabine eine Antwort hätte geben können, hinzu: »Ich darf doch immer noch du sagen, oder?« »Freilich«, gab Sabine spontan zurück. Sie zuckte die Schultern. »Wie lang ich
hierbleiben werde, weiß ich allerdings net so genau. Aber ein paar Tage werden es, so wie es im Moment ausschaut, schon werden.« Sebastian Trenker rieb sich die Hände. »Umso besser«, lachte er. »Jedenfalls hast du dann bestimmt Zeit, um mit mir und Frau Tappert zu Mittag zu essen, oder?« Ein verschämtes Lächeln trat auf Sabines Lippen. Erst bei diesen Worten wurde ihr bewusst, dass ihr schon eine ganze Weile ein köstlicher Bratengeruch in die Nase stieg. Wenn es ihr auch nicht gelang, ihn einem bestimmten Gericht zuzuordnen. »Es gibt Rindsrouladen«, half ihr Sophie Tappert auf die Sprünge. »Und zum Nachtisch rote Grütze.« Sabine lief schon beim bloßen Hörensagen das Wasser im Mund zusammen. Unwillkürlich dachte sie daran, welches Loblied ihre Oma immer auf Sophie Tapperts Kochkünste gesungen hatte. Oma hatte oft und gerne nach Rezepten aus der Pfarrhausküche gekocht. Und das Ergebnis war auch wirklich immer allererste Sahne gewesen. »Natürlich bleibe ich gern, wenn ich darf«, sagte Sabine und folgte Pfarrer Trenker und seiner Haushälterin ins Esszimmer des Pfarrhofs. Das Essen schmeckte Sabine einfach köstlich. So gut hatte ihr schon lange nichts mehr gemundet. Und sie konnte sich auch nicht erinnern, in letzter Zeit einmal so kräftig zugelangt zu haben. Kein Wunder, dass Sabine nicht nein sagen konnte, als Sebastian ihr anbot, zur besseren Verdauung auf der Pfarrhausterrasse noch eine Tasse Kaffee mit ihm zusammen zu trinken. Wenn sie sich auch fragte, ob das Angebot des guten Hirten von St. Johann wirklich nur ihrer Gesundheit galt. Oder hatte er gespürt, dass ihr etwas auf der Seele lag? Dass sie mit ihm sprechen wollte?
Der auffordernde Blick, mit dem der Bergpfarrer sie, als sie kaum Platz genommen hatten, anschaute, schien ihre Vermutung zu bestätigen. »Ich …, ich wollte Sie nach meiner Oma fragen«, begann sie. Zuerst stockend, dann immer flüssiger gab sie wieder, was Frau Bertram ihr an der Gartenpforte berichtet hatte. Pfarrer Trenker bestätigte Frau Bertrams Worte. »Ist …, ist meine Oma denn glücklich in dem Heim?«, fragte Sabine schließlich bang. »Ich kann es mir einfach net vorstellen. Und was ist eigentlich aus Rollo geworden? Er wird doch net im Tierheim gelandet sein?« Sebastian Trenker schüttelte den Kopf. »Was Rollo betrifft, kann ich dich beruhigen«, meinte er. »Zwei Wochen bevor sie ins Heim gezogen ist, ist er eines Nachmittags einfach friedlich eingeschlafen. An seinem Lieblingsplatz im Garten unter dem alten Apfelbaum.« Pfarrer Trenker nahm einen Schluck aus seiner Kaffeeasse. »Vierzehn Jahre ist für einen Hund allerdings auch ein recht ansehnliches Alter. Und er hat bei deiner Oma ein wirklich schönes Hundeleben gehabt.« Dem konnte Sabine nur zustimmen. »Dass deine Oma im Waldecker Altersheim glücklich ist, hoffe ich doch sehr«, berichtete Pfarrer Trenker währenddessen bereits weiter. »Sie wird dort jedenfalls liebevoll versorgt. Freilich ist es vielleicht schöner, im Alter noch Teil einer Familie zu sein und Kinderlachen zu hören, aber das ist heutzutage so vielen älteren Menschen nicht vergönnt. Dafür freuen sie sich umso mehr, wenn sie im Altersheim Besuch bekommen. Auch deine Oma lebt dann jedes Mal richtig auf. Das ist für sie immer ein ganz besonderer Tag. Vor allem, wenn …« Pfarrer Trenker verstummte und schaute Sabine prüfend an. »Ich fahre übrigens jeden Mittwoch ins Waldecker Altersheim«, sagte er. »Du kannst mich, wenn du bis dahin noch in St. Johann bist, das nächste Mal gerne begleiten und deiner Oma einen Besuch abstatten. Sie wird sich bestimmt riesig freuen.«
Sabine nickte. »Ja, ich möchte sie auf jeden Fall besuchen, Herr Pfarrer«, erwiderte sie. Der Bergpfarrer drehte seine Kaffeetasse zwischen seinen Händen und ließ seine Blicke über den Pfarrgarten schweifen, in dem die Johannisbeeren bereits rot und reif waren und die gierigen Blicke hungriger Vögel auf sich zogen. »Wenn du nun schon einmal hier in St. Johann bist, Sabine«, meinte er, »können wir außer einen Besuch im Altersheim ja auch noch ein paar andere Dinge gemeinsam unternehmen. Denkst du noch manchmal daran, wie wir in deinem letzten St. Johanner Sommer auf die Kandereralm aufgestiegen sind? Das war doch ein wunderschöner Tag, oder net?« Wieder nickte Sabine. Sie hatte die ganze Zeit über nie mehr an diesen Tag gedacht. Aber jetzt, als Pfarrer Trenker davon sprach, war die Erinnerung plötzlich so deutlich, dass sie glaubte, das Bellen der Hütehunde und das Klingeln der Kuhglocken auf den Weidewiesen der Kandereralm zu hören und den würzigen Duft nach frischen Bergkräutern zu riechen. Einen verrückten Moment lang bildete Sabine sich sogar ein, Ralf Sauters Arm auf ihren Schultern zu spüren und die Hand zu fühlen, die er ihr beim Abstieg zur Hütte gereicht hatte. »Wäre so ein Tag es net wert, wieder einmal eine Neuauflage zu erfahren?«, schlug Sebastian Trenker vor. »Und ob«, rief Sabine spontan. »Ein Ausflug auf die Kandereralm wäre wunderbar. Ist …, ist eigentlich der Thurecker-Franz immer noch droben auf der Hütte?« »Ja, das ist er«, bestätigte Pfarrer Trenker. »Jünger geworden ist er natürlich net. Und er hat vor einiger Zeit sogar einen Herzanfall gehabt. Aber er ist gottlob wieder vollkommen gesund geworden und inzwischen wieder ganz der Alte. Immer wieselflink auf den Beinen, immer lustig und guter Dinge.« Sabine lächelte versonnen vor sich hin.
»Der Thurecker-Franz mit seinem Rauschebart und seinen knielangen Lederhosen …«, sagte sie traumverloren. »Kocht er noch immer seine Graupensuppe? Und im Spätsommer das herrliche Schwammerlgulasch? Und backt er noch immer seinen wunderbaren Apfelkuchen?« Der Bergpfarrer schaute Sabine amüsiert an. »Du hast aber ein ziemlich gutes Gedächtnis«, stellte er fest. Sabine schüttelte den Kopf. »Ich glaub, wenn es um ein Original wie den Thurecker-Franz und um ein so idyllisches Fleckerl Erde wie die Kandereralm geht, ist das kein Kunststück«, gab sie zurück. Und fügte, ohne Atem zu holen, hinzu: »Wann könnten wir denn hinauf auf die Alm? Ich meine, weil ich doch net weiß, wie lange ich in St. Johann sein werde.« Sebastian Trenker ging im Geiste seinen Terminkalender durch. »Kommenden Montag würde es bei mir prima en«, schlug er vor. »Den Wettervorhersagen nach zu schließen, brauchen wir kein Gewitter zu fürchten. Was schon einmal ein sehr wichtiger Punkt ist. Und außerdem hab ich für diesen Tag sowieso eine Tour auf die Hohe Riest und die Kandereralm geplant.« In Pfarrer Trenkers dunklen Augen blitzte auf einmal der Schalk auf. »Und zwar mit einem jungen Mann, für den das Bergsteigen und Bergwandern eine wahre Leidenschaft ist. Schon lange verbringt er seine Ferien regelmäßig in St. Johann und jedes Mal unternehmen wir gemeinsam eine oder sogar mehrere Touren.« Pfarrer Trenker legte seine Stirn in Falten und tat, als würde er einen Moment lang angestrengt nachdenken. »Ich glaube, du kennst den jungen Mann sogar, Sabine. Wenn mich net alles täuscht, waren wir nämlich auch schon zu dritt unterwegs.« Sabine schüttelte ungläubig den Kopf. »Das kann net gut sein. Ich hab wirklich keine Ahnung, wen Sie meinen«, sagte sie, hielt dann aber zögernd inne. Es war doch wohl nicht möglich, dass Pfarrer Trenker von Ralf Sauter gesprochen hatte. Oder …, oder am Ende doch?
»Ich hab das Gefühl, dir dämmert schon etwas«, meinte der Bergpfarrer schmunzelnd. »Ich hab tatsächlich von Ralf Sauter geredet, deinem Ferienfreund von früher. Er wird am Montag mit von der Partie sein.« Einen Moment lang kam es Sabine so vor, als würden sich die Terrasse und der Pfarrhausgarten und die Berggipfel dahinter im Kreis drehen. Ralf … Ralf und sie …, sie und Ralf …, sie würden wieder mit Pfarrer Trenker auf die Kandereralm gehen! Wie in alten Zeiten! Als wären die Jahre dazwischen ausgelöscht, als wären … Sabine war wie berauscht, doch lange dauerte dieser Zustand nicht. »Das …, das Dumme ist nur, dass ich gar keine Bergausrüstung dabei hab«, fiel ihr plötzlich ein. »Ich …, ich hab im wahrsten Sinne des Worts nix anzuziehen. Weil ich eigentlich doch zusammen mit meinem Verlobten nach Wien wollte. Ich weiß net, ob ich Ihnen das schon erzählt hab. Peter hat mich nur deshalb hier in St. Johann zurückgelassen, weil ich auf sein Auto aufen soll, bis der Mechaniker kommt. Das ist der Grund, warum ich … Kann man hier in St. Johann eigentlich eine Bundhose, Bergschuhe, eine einigermaßen schicke Jacke und einen Rucksack kaufen? Damals, als ich bei meiner Oma in den Ferien war, hat es noch kein Sportgeschäft gegeben, aber …« In Pfarrer Trenkers Gesicht war, als Sabine von ihrem Verlobten und seinem Wiener Alleingang berichtet hatte, ein leicht befremdeter Ausdruck getreten, doch der Geistliche hatte sich sofort wieder in der Gewalt. »Alles ist net einmal in St. Johann beim Alten geblieben«, lächelte er nachsichtig. »Wir haben hier mittlerweile ein Einkaufszentrum mit einer Textilabteilung, in der es auch Sportbekleidung zu kaufen gibt. Und vor einem guten Jahr hat sogar ein richtiger Sportartikelladen eröffnet. Er heißt ›Birgit Höfers Sport- und Outdoorshop‹, liegt zentral und ist recht gut sortiert.« Pfarrer Trenker machte eine kleine Pause, dann fügte er hinzu: »Falls du kein Geld ausgeben willst, empfehle ich dir allerdings nach wie vor den Fundus bei mir im Pfarrhof. Da ist die Auswahl auch net schlecht.« Sabine lachte. Ein wenig zu rasch und ein wenig zu laut, als dass sie ihre Anspannung hätte verbergen können. Hoffentlich fand sie etwas Schickes, damit sie auf Ralf Sauter einen guten Eindruck machte!
Auf einmal war Sabine aufgeregt wie ein junges Mädchen vor seinem ersten Rendezvous. Von einer Sekunde auf die andere hielt sie nichts mehr im Pfarrhaus. Sie hatte nur noch das Bedürfnis, allein zu sein. Alles, was sie wollte, war, über Ralf Sauter, über sich selbst und über die früheren Zeiten nachzudenken. Und von der kommenden Tour auf die Kandereralm zu träumen.
*
St. Johann lag noch im Frühdunst, als Sabine vor dem Pfarrhof auftauchte. Sie hatte die ganze Nacht über vor Aufregung kaum geschlafen und voller Erwartung dem Morgen entgegengefiebert. Als am Horizont endlich der erste Lichtstreifen zu erkennen gewesen war, hatte sie sich beinahe gewaltsam zwingen müssen, den Treffpunkt nicht schon eine halbe Stunde vor der vereinbarten Zeit aufzusuchen. Erst als die Kirchturmuhr die sechste Morgenstunde geschlagen hatte, hatte sie sich erlaubt, loszuziehen. Pfarrer Trenker und Ralf Sauter warteten bereits auf sie und winkten ihr schon von Weitem zu. Als Sabine Ralf Sauter gegenüberstand und sie sich nach so langer Zeit wieder die Hände reichten, trafen sich für einen Moment ihre Blicke. Unwillkürlich zuckte Sabine zusammen. Ralfs Augen schauten immer noch so klar und scharf, als könnten sie ihr auf den Grund ihrer Seele sehen. Rasch senkte Sabine die Lider. »Miteinander bekannt machen brauch ich euch ja net«, schmunzelte Pfarrer Trenker, der den vertrauten Moment zwischen den beiden jungen Menschen beobachtet hatte. »Dann machen wir uns also lieber gleich auf den Weg. Wenn es auf Mittag zugeht und die Sonne ihre volle Kraft erreicht hat, müssen wir nämlich am Ziel sein. Sonst wird es unangenehm heiß. Aber auch das brauch ich euch im Grunde net zu erzählen. Schließlich seid ihr beide schon erfahrene
Bergsteiger.« Sabine hüstelte verlegen und bedachte Ralf mit einem scheuen Seitenblick. Ob er die Bergsteigerei und Kletterei wirklich zu seinem Beruf gemacht hatte? Sie hatte Pfarrer Trenker bei ihrem Besuch nicht mehr danach gefragt. Und jetzt wagte sie es nicht, Ralf einfach darauf anzusprechen. Schweigend durchquerten die drei Wanderer das schlafende St. Johann. Die Fenster der meisten Hä waren geschlossen und noch dunkel. Kaum ein menschlicher Laut war zu hören. Nur hin und wieder bellte ein Hund. Schon bald hatten Sabine, Ralf und Pfarrer Trenker die ersten Ausläufer des Ainringer Forstes erreicht und begannen, durch den immer dichter werdenden Bergwald bergan zu steigen. Als sie durch den Höllenbruch kamen, in dem sich die St. Johanner Liebespaare zu treffen pflegten, dachte Sabine daran, wie sie in ihrem letzten Feriensommer aus purem Übermut hier mit Ralf ein Stelldichein vereinbart hatte. Es war Ralfs Idee gewesen, aber geworden war nichts daraus. Durch ihre Schuld. Sie hatte es einfach nicht gewagt hinzugehen. Ob Ralf damals ihre Vereinbarung ernst genommen und umsonst gewartet hatte, wusste sie bis heute nicht. Er hatte das vermasselte Rendezvous nie mehr erwähnt. Und sie selbst war froh gewesen, stillschweigend darüber hinweggehen zu können. Selbst jetzt noch wich sie Ralfs Blicken aus, bis sie den Höllenbruch wieder verlassen hatten. Am liebsten hätte sie sich unsichtbar gemacht. Selbst an den Gesprächen zwischen Ralf und Pfarrer Trenker beteiligte sie sich nur am Rande. Sie horchte erst wieder so richtig auf, als Sebastian sich, nachdem sie die tosende Kachlachklamm hinter sich gelassen hatten, an Ralf wandte und ihn fragte, was aus der Stelle beim Fernsehen geworden sei, um die er sich schon im Winter beworben habe. Ralf, der so leicht und zügig voranschritt, als liefe er auf einer ebenen geteerten Straße, blieb stehen. »Ich hab jede Menge Glück gehabt und hab sie bekommen«, erwiderte er. »Nach meinem Urlaub werde ich als Auslandskorrespondent anfangen. Das Abenteuer wartet. Ich weiß allerdings noch net, wohin mich mein erster Auftrag führen
wird. So wie es im Moment aussieht, geht es nach Amerika.« Ralf war also doch nicht Bergsteiger geworden, sondern Korrespondent und Journalist. Fast war sie ein bisschen enttäuscht, sagte sich dann aber, dass er damit vielleicht einen noch interessanteren und anspruchsvolleren Beruf gewählt hatte. »Man darf dir also gratulieren, Ralf. Etwas anderes hab ich eigentlich auch gar net erwartet«, bemerkte Pfarrer Trenker und schüttelte Ralf herzlich die Hand. »Wobei ich fest überzeugt bin, dass dir net das Glück die Stelle verschafft hat, sondern deine Tüchtigkeit.« Sabine hatte das Gefühl, Ralf ebenfalls beglückwünschen zu müssen. Sie suchte nach den richtigen Worten, doch Ralf kam ihr zuvor. »Um einen Achttausender zu besteigen, bin ich dann doch zu wenig ehrgeizig. Das hab ich schon beim ersten Versuch eingesehen«, lachte er und gab Sabine einen leichten Stoß mit dem Ellbogen. »Da hab ich mir halt gedacht, über herausragende Ereignisse zu berichten, ist wahrscheinlich auch net schlechter, als Gipfel zu stürmen. Und meinen Mut kann ich beweisen, indem ich net davor zurückschrecke, überall da vor Ort zu sein, wo es brenzlig und gefährlich wird. Zumindest solange ich noch Junggeselle bin.« Sabine lachte ein wenig gezwungen mit, wenn sie auch mit ihren Gedanken ganz woanders war. Das Wort ›Junggeselle‹ hallte in ihr nach, ob sie es wollte oder nicht. »Und du? Was ist eigentlich aus dir geworden in all der Zeit, in der du nix mehr von dir hast hören lassen?«, fragte Ralf plötzlich. Sabine erschrak, obwohl sie eigentlich nicht so recht wusste, warum. Schließlich hatte sie nichts zu verheimlichen. Sie liebte ihren Beruf und war erfolgreich. Und Peter liebte sie natürlich auch. Das war doch sonnenklar. Schließlich waren sie verlobt. Und die Streitigkeiten der jüngsten Zeit hatte sie einfach viel zu wichtig genommen. Warum also zögerte sie, Ralf an ihrem Leben teilhaben zu lassen? Sabine rückte ihren Rucksack zurecht und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Sie wollte gerade anfangen zu erzählen, als Pfarrer Trenker anhielt und ihr
und Ralf bedeutete, dass es Zeit für eine kleine Rast sei. Sie hatten den Bergwald verlassen und waren auf das Felsplateau hinausgetreten, das für seine herrliche Sicht über St. Johann und das Wachnertal berühmt war. Auch auf ihren früheren Touren hatten sie hier schon immer eine Pause eingelegt. Sie ließen sich nieder und packten ihre Vorräte aus. Sophie Tappert hatte den Bergpfarrer reichlich mit Wurst- und Käsebroten versorgt, und auch Eier, ein paar Äpfel und eine Thermoskanne voll Kaffee fehlten nicht. Ralf Sauter war ebenfalls nicht mit leerem Rucksack gekommen, und Sabine war mit Lunchpaketen aus dem ›Löwen‹ ziemlich üppig eingedeckt. Hunger brauchte also niemand zu leiden. Schneller als die drei Wanderer gedacht hatten, waren die mitgebrachten Vorräte verzehrt. »Jetzt bin ich zwar satt, aber ich weiß immer noch so gut wie nix von dir, Sabine«, kam Ralf, als nur noch der Kaffeebecher kreiste, wieder auf seine zuvor gestellte Frage zurück. Dabei schaute er Sabine erwartungsvoll an. Sebastian Trenker nickte zustimmend. »Grad viel weiß ich auch net«, meinte er. »Arbeitest du in der Schmuckfirma deines Vaters?« »Ja«, antwortete Sabine. »Ich hab, wie geplant, die Designerschule besucht und entwerfe jetzt Schmuckkollektionen. Die letzte hab ich erst vor einer guten Woche fertiggestellt. Ich hoffe, dass sie ein großer Wurf wird. Wir wollen sie in Wien präsentieren. Eigentlich dürfte ich ja gar net hier sein. Weil in Wien schon bald die Schmuckmesse beginnt und …« Sabine schaffte es nicht, ihren Satz zu Ende zu bringen. Jetzt, als sie nicht Pfarrer Trenker sondern Ralf erzählen sollte, dass Peter sie seines Autos wegen allein in St. Johann zurückgelassen hatte und mit ›ihrem‹
Schmuck auf eigene Faust nach Wien weitergefahren war, kam ihr erst so richtig zu Bewusstsein, wie sehr sie Peters Verhalten gekränkt hatte. Natürlich war sie gerne in St. Johann, aber … Stumm schaute Sabine auf die abgerundeten Kuppen ihrer Bergschuhe. »Hat sich dein Verlobter inzwischen gemeldet, Sabine?«, erkundigte sich Pfarrer Trenker in ihr Schweigen hinein. »Ist der Automechaniker, dem Herr Korte so sehr vertraut, schon unterwegs nach St. Johann?« Sabine zuckte die Schultern. »Ich denke, ja. Es hat sich bei meinem letzten Telefongespräch mit Peter zumindest so ähnlich angehört«, gab sie zurück. Ihre Augen richteten sich dabei aber nicht auf den Bergpfarrer, sondern beobachteten Ralf Sauter. War da nicht ein Zucken in seinem Gesicht gewesen, als Sebastian die Worte ›dein Verlobter‹ ausgesprochen hatte? War nicht etwas wie ein Schatten über Ralfs Züge gelaufen? Oder bildete sie sich das nur ein? Und warum in aller Welt schlug ihr Herz so schnell und heftig bei dem Gedanken, dass sie sich vielleicht doch nicht getäuscht und richtig gesehen habe könnte? War Ralf am Ende eifersüchtig, weil sie doch mehr für ihn war als nur eine Kinder- und Jugendfreundschaft? Mehr als die Verkörperung einer lieben Erinnerung? »Dann sind deine Tage in St. Johann wohl gezählt?«, sagte Ralf in diesem Moment. »Ja, wahrscheinlich schon«, antwortete Sabine und senkte ihren Blick. Sie fand selber, dass ihre Stimme bei diesen Worten traurig klang. Wusste sie überhaupt noch, was sie wollte?
Aber Ralfs Stimme hatte sich genauso traurig angehört, als er begriffen hatte, dass sie schon bald nach Wien abreisen würde. Betreten räumte Sabine das Einwickelpapier ihrer Brotzeit und die Hüllen etlicher Müsliriegel in ihren Rucksack zurück und verschnürte ihn. Ehe sie die Riemen des Verschlusslatzes zumachte, legte sie noch ihre Strickjacke obenauf, denn es war inzwischen ziemlich warm geworden und sie brauchte sie nicht mehr. Auch Ralf packte schweigend zusammen. Er hatte so sehr gehofft, dass Sabine länger bleiben würde. Dass es noch einmal werden würde wie früher und ihnen mehrere Ferienwochen voller gemeinsamer Unternehmungen, voller Glück und Nähe beschieden wären. Nun schwebte Sabines baldige Abreise wie ein Damoklesschwert über ihm. Wie gut, dass wenigstens Pfarrer Trenker von der trüben Stimmung, die sich auszubreiten drohte, unberührt blieb! Betont munter wies er darauf hin, wie gut sie in der Zeit lägen und wie nahe das Ziel schon sei. »Wenn ihr wollt, können wir uns einen kleinen Umweg erlauben«, schlug er vor. »Wir müssen auf diesem Umweg zwar ein paarmal klettern und kommen net ganz so schnell voran, sehen aber viele Naturschönheiten, die man auf den häufig begangenen Touristenwegen in dieser Form net findet. Mit einigem Glück können wir sogar ein Adlerpärchen beobachten, das hoch in einer Felswand ein Nest mit zwei Jungen hat.« Ralf und Sabine waren sofort einverstanden. Sie waren noch fit genug, um ihre Wanderung ausdehnen zu können. Es dauerte auch nicht lang, bis sich die Laune der beiden wieder aufhellte. Vor allem, weil Pfarrer Trenker es trefflich verstand, sie abzulenken. Der Geistliche zeigte ihnen seltene Alpenblumen und ein Rudel Gämsen, die über Felsen klackerten. Und Murmeltiere, die mümmelnd vor ihrem Bau saßen und beim Anblick der Menschen mit schrillem Pfiff in ihren Löchern verschwanden.
Was die umliegenden Berggipfel betraf, gab es wohl keinen, dessen Namen Sebastian Trenker nicht hätte nennen können. Und keinen, zu dem ihm nicht eine Sage oder eine andere Besonderheit eingefallen wäre. Dazwischen gab er lustige Geschichten und Anekdoten zum Besten, die er als Bergführer erlebt hatte. Ralf und Sabine merkten kaum, wie die Zeit verging. Nach guten zwei Stunden schauten sie verwundert auf die Senke hinunter, in der die Kandereralm lag, und konnten gar nicht fassen, dass der Aufstieg schon zu Ende war. Sie verspürten immer noch keine Müdigkeit. »Wollen wir zur Hütte hinunter um die Wette laufen?«, schlug Ralf Sauter übermütig vor. »Und schauen, ob du immer noch jedes Wettrennen zwischen uns für dich entscheiden kannst, Sabine?« »Warum net?«, lachte Sabine und rannte los. Ralf nahm die Verfolgung auf. Er blieb Sabine dicht auf den Fersen. Zunächst gelang es ihm wirklich nicht, sie einzuholen, doch allmählich wurde sie langsamer. Es wäre für Ralf jetzt ein Leichtes gewesen, sie zu überholen, aber es machte ihm mehr Freude, sie gewinnen zu lassen. »Erster«, rief Sabine und klatschte gegen den Brunnentrog vor der Kandereralm. »Ich geb mich geschlagen. Wie immer«, grinste Ralf, tauchte seine Hände in das frische, sprudelnde Wasser und netzte sein erhitztes Gesicht. Dann lenkte er den Wasserstrahl zu Sabine hinüber, die wie ein Schulmädchen kichernd zurückspritzte. »Was ist denn da los?«, brummte Franz Thurecker, der Pfarrer Trenker entgegengehen wollte und dabei eine Ladung Wasser abbekam. Ralf und Sabine hielten von einer Sekunde auf die andere inne. »Tut uns leid«, sagten sie wie aus einem Munde und senkten schuldbewusst die Köpfe.
Franz Thurecker, der angesichts so viel Bußfertigkeit sofort wieder versöhnt war, lachte. »Halb so schlimm. Ein bissel Wasser hat noch niemandem geschadet. Vor allem, wenn man es bloß äußerlich anwendet.« Dieser Meinung war auch Pfarrer Trenker, der, endlich nachgekommen, wieder zu seinen beiden Schützlingen stieß und Franz Thurecker zur Begrüßung herzlich die Hand schüttelte. »Na, Franz«, fragte er, »kannst du dich erinnern, wer die zwei Kindsköpfe sind, die ich dir heute mitgebracht hab?« Franz Thurecker musterte Ralf und Sabine. »Also, den Ralf kenne ich natürlich«, sagte er und klopfte Ralf Sauter auf die Schulter. »Der kommt schließlich jedes Jahr zu mir herauf. Aber das Madl …« Er schüttelte den Kopf. »Da kann ich eigentlich nur raten. Es …, es wird doch net die Eigner-Sabine sein, die den Ralf früher immer wie ein Schatten begleitet hat?« Ralf Sauter klatschte in die Hände. »Prima geraten, Franz«, lobte er. »Bloß das mit dem Schatten stimmt net ganz. Bei so einem strahlend schönen Lächeln denkt man doch eher an die Sonne.« Sabine wurde rot. Nicht nur aus Verlegenheit, sondern auch, weil ihr durchaus gefiel, was Ralf gesagt hatte. Franz Thurecker lachte in sich hinein und begleitete das Trio auf die Sonnenterrasse seiner Alm. Die drei nahmen an einem Ecktisch Platz, von dem aus sich ein herrlicher Blick auf die Himmelspitz und die Wintermaid bot. »Und was darf ich euch bringen?«, fragte Franz Thurecker eifrig. »Das Gleiche wie immer«, bestellte Sebastian Trenker. Der Thurecker-Franz nickte. »Dann weiß ich Bescheid«, sagte er. »Zuerst einmal eine eiskalte Milch zur
Erfrischung und dann gegen den Hunger ein bissel was von allem, was die Küche hergibt.« Der Senn entfernte sich mit für sein Alter erstaunlich flinken und geschmeidigen Schritten. Wenig später kehrte er mit der Milch und mit einem Körbchen voll selbstgebackenem Brot zurück. Keine zehn Minuten später kam sein berühmter Graupeneintopf mit Speck, Karotten und Erbsen. Er fand auch bei den anderen Touristen auf der Terrasse regen Zuspruch. Der zweite Gang bestand aus einem Kalbsgeschnetzelten und Käsespatzen, die, wie Ralf und Sabine einhellig versicherten, nirgends so gut schmeckten wie auf der Kandereralm. Schließlich gab es noch Kaffee und Apfelkuchen, um die Mahlzeit abzurunden. Auch ein Verdauungsschnapserl fehlte nicht, das vor allem Ralf nach dem ungewohnt üppigen Essen dankbar hinunterkippte. Er lud Franz Thurecker ein mitzutrinken, doch Franz hatte keine Zeit. Er kam nicht einmal dazu, das restliche leer gegessene Geschirr abzutragen, denn die Sonnenterrasse seiner Alm hatte sich inzwischen bis auf den letzten freien Platz gefüllt. Pfarrer Trenker sammelte an Franz’ Stelle die Teller und die Bestecke ein. Dann erhob er sich. »Ich werde euch jetzt ein bissel allein lassen«, erklärte er Ralf und Sabine. »Weil ich dem Franz beim Bedienen und Abkassieren helfen will. Der Ärmste muss ja bei dem Massenandrang gar nimmer wissen, wo ihm der Kopf steht.« »Sollen wir net auch mit anpacken?«, bot Sabine sofort hilfsbereit an und sprang auf, doch der Bergpfarrer winkte ab. »Nein, das ist net notwendig«, lehnte er ab. »Ein Helfer genügt. Und ich mach das heute net zum ersten Mal. Es macht mir Spaß, hin und wieder den Almkellner zu spielen. Eigentlich sind der Franz und ich schon beinahe so etwas wie ein gut eingespieltes Team. Ich kenne mich in seiner kleinen Küche fast besser aus als in meiner eigenen, in der es für mich ja sowieso nix zu tun gibt.«
Ralf und Sabine lachten, aber als der Bergpfarrer ihren Tisch verlassen hatte, machte sich einen Moment lang dann doch wieder verlegenes Schweigen breit. Ralf war der Erste, der es durchbrach. »Bloß weil du nimmer lang in St. Johann bist, Sabine«, sagte er, »muss das ja net heißen, dass wir uns hier und jetzt zum ersten und zugleich zum letzten Mal für diesen Sommer sehen. Ein paar gemeinsame Ausflüge müssten doch trotzdem drin sein, oder?« Sabine nickte. »Das Gleiche hab ich mir vorhin auch schon gedacht«, räumte sie freimütig ein. »Wie könnten zum Beispiel an den Achsteinsee fahren. Weißt du noch, wie gerne wir im Achsteinsee geschwommen sind? Und kannst du dich noch erinnern, wie du einmal, als ich einen Moment lang net aufget hab, abgetaucht bist und mich von unten gekitzelt hast? Ich hab mindestens drei Liter Wasser geschluckt, weil ich so erschrocken bin. Ich hab tatsächlich geglaubt, es wäre ein riesengroßer Fisch. Ein Waller zum Beispiel mit seinem bärtigen breiten Maul.« Ralf schmunzelte. »Das war damals nur die Rache, die du verdient hattest«, stellte er klar. »Oder hast du etwa vergessen, wie du ein paar Tage vorher von der mitten im See verankerten Badeinsel aus ins Wasser gesprungen und nimmer aufgetaucht bist? Ich bin dir sofort nachgehechtet, um dich zu retten. Unter Wasser hab ich nach dir gesucht, bis mir fast die Lungen geplatzt sind. Und du … Als ich kurz vor dem Ersticken war und wieder an die Wasseroberfläche gehen musste, bist du längst wieder auf den sonnenwarmen Planken der Badeinsel gesessen und hast dich über mich Dummkopf fast an den Ast gelacht.« Sabine schenkte Ralf einen treuherzigen Dackelblick. Sie hob mit einer hilflosen Geste die Hände und ließ sie wieder sinken. »Ich wollte doch bloß wissen, ob du mich wirklich so gern magst, dass du alles daransetzen würdest, mich zu retten«, gestand sie etwas kleinlaut. »Und als du es dann getan hast … Also, für einen Dummkopf hab ich dich da bestimmt net gehalten. Und dass ich das Lachen gar nimmer aufhören konnte, war nur, weil ich mich so gefreut hab. Und so glücklich war. Und so stolz auf
dich.« Ralf Sauter legte spontan seine Hand auf die von Sabine. Und war angenehm überrascht, dass sie sie nicht gleich zurückzog. »Ein Ausflug auf die Streusachhütte wär auch net schlecht«, meinte sie stattdessen seelenruhig. »Da droben ist es nämlich auch immer wunderschön gewesen.« Ralf Sauter traute seinen Ohren kaum. Mit einem Mal wuchs ihm der Mut. Was kümmerte ihn dieser Peter Korte! Wenn er eine so schöne, liebenswürdige Frau wie Sabine eines Autos wegen allein zurückließ, konnte sie ihm nicht allzu viel wert sein. Der Mann musste wirklich mit Blindheit geschlagen sein und war Sabine sicherlich gar nicht wert. »Für den Fall, dass du kommenden Samstag immer noch allein in St. Johann herumsitzt, Sabine, lad ich dich zum Tanzabend ein«, sagte Ralf mit seinem charmantesten Lächeln. »Zum Tanzabend?«, strahlte Sabine. »Das wäre …, das wäre eine Wucht. Wirklich. Ich hätte nämlich immer schon gern mit dir auf diesen Tanzabend gehen wollen, weißt du. Aber Oma Gerlinde hat es nie zugelassen. Das heißt, den Tanzabend selber hätte sie uns bestimmt gegönnt. Nur was den Nachhauseweg anging, hatte sie, glaub ich, kein allzu großes Vertrauen in uns. Und mitgehen wollte sie natürlich erst recht net.« Ralf musste lachen, ob er wollte oder nicht. Sie waren ja noch halbe Kinder gewesen, damals. Bestimmt hätten sie nichts Schlimmes angestellt. Oder vielleicht doch? Manchmal hätte er nicht übel Lust dazu gehabt. Und wenn er an seine letzten Besuche bei Oma Gerlinde im Waldecker Altersheim dachte, war er sich fast sicher, dass sie es, zumindest nachträglich, gut geheißen hätte. »Und am Sonntag besuchen wir dann gemeinsam deine Oma«, machte Ralf schließlich den Wochenplan perfekt. »Eine größere Freude, als gemeinsam bei
ihr aufzukreuzen, können wir der alten Dame, glaub ich, gar net machen.« »Wenn du meinst«, erwiderte Sabine. »Ich wollte Oma Gerlinde sowieso besuchen. Bloß beim ersten Mal net grad gerne allein. Wenn sie mir womöglich bös ist, weil ich mich nie mehr gemeldet hab, und mit mir schimpft …« »Davor brauchst du keine Angst zu haben. Oma Gerlinde spricht mit sehr viel Achtung und Liebe von dir. Und sie kennt alle Schmuckkollektionen, die du bis jetzt entworfen hast aufs Genaueste«, versicherte er. »Sie hat sich mit Pfarrer Trenkers Hilfe die betreffenden Kataloge kommen lassen und bewahrt sie sorgfältig auf wie Kostbarkeiten.« Sabine schluckte. Ralf umschloss Sabines beide Hände mit den seinen, während er sich über den Tisch zu ihr hinüberbeugte. Einen winzigen verzauberten Augenblick lang waren ihre Gesichter ganz dicht beieinander, und Ralf konnte der Versuchung, seinen Mund dem Sabines zu nähern, kaum mehr widerstehen. »So, da wäre ich wieder«, lachte in diesem Moment Pfarrer Trenker und rieb sich die Hände. Sabine und Ralf fuhren auseinander wie zwei Kinder, die sich bewusst waren, ein Verbot missachtet zu haben. Beide schauten den guten Hirten von St. Johann fast ängstlich an, doch Sebastian Trenker tat, als hätte er nichts bemerkt. »Der größte Ansturm ist vorüber, und der Franz kann seine Arbeit wieder alleine bewältigen«, stellte er stattdessen fest. »Jetzt brauch ich nur noch ein großes Stück von Franz’ extra lang gelagerten Almkäse für Frau Tappert, dann können wir uns wieder an den Abstieg machen. Damit es net dunkel wird, ehe wir unten im Tal ankommen.« Er schaute von Ralf zu Sabine und von Sabine wieder zu Ralf. »Ich hab zwar keine Ahnung, ob ihr für heute Abend schon irgendetwas vorhabt, aber ich würde euch gerne ins Pfarrhaus zum Abendessen einladen. Mein Bruder, seine Frau Claudia und der kleine Sebastian werden auch kommen. Dann sind wir eine richtig nette kleine Runde.« Ralf und Sabine sagten nicht nein.
Wenig später verabschiedeten sie sich von Franz Thurecker und machten sich dann gemeinsam mit Pfarrer Trenker auf den Heimweg. Die meiste Zeit gingen Ralf und Sabine nebeneinander her wie gute Freunde und Bergkameraden. Nur wenn sie ganz sicher waren, dass Sebastian sie nicht sehen konnte, fassten sie sich kurz an der Hand und schenkten sich Blicke voller Vertrautheit.
*
»Hast du diesen Wundermechaniker inzwischen angerufen?«, erkundigte sich Larissa Paltrow und schmiegte sich noch ein wenig enger an Peter Korte. Peter schüttelte den Kopf, dann legte er seinen Arm um Larissa, nahm ihr Gesicht in seine Hände und gab ihr einen Kuss. »Nein, habe ich nicht. Es hat schließlich keine Eile. Oder willst du unbedingt, dass Sabine schon sobald hier in Wien auftaucht?«, fragte er. »Willst du, dass ich jedes Mal einen Termin mit dem Einkäufer einer Schmuckfirma vortäuschen muss, wenn wir beide uns sehen wollen?« Larissa seufzte. »Nein, das möchte ich natürlich nicht«, sagte sie. Ihren Kopf an Peters Schulter gelehnt, ließ sie ihre Blicke in dem luxuriös eingerichteten Doppelzimmer des Wiener Nobel-Hotels herumschweifen. Eine Woche schon teilte sie es sich mit Peter, als ob sie ein Ehepaar wären. Zum ersten Mal, seit sie sich auf dem Flug nach Toronto wiedergesehen hatten, konnten sie ihre Zweisamkeit in vollen Zügen genießen. Kein Wunder, dass Larissa sich nichts sehnlicher wünschte, als dass es immer so bleiben möge. Verträumt betrachtete sie den Ringfinger ihrer rechten Hand. Vielleicht würde
ihn schon bald ein Ehering zieren, vielleicht würden sie und Peter schon bald vor Gott und der Welt ein Paar sein. »Gehen wir hinunter in den Speisesaal des Hotels, um zu Abend zu essen?«, fragte sie und schaute Peter dabei zärtlich an. Peter Korte runzelte die Stirn. »Ich bin mir nicht sicher, ob das eine so besonders gute Idee ist«, zweifelte er. »Ich für meinen Teil fände es besser, wenn wir uns unser Essen auch heute wieder auf unser Zimmer bringen ließen. Wir hatten es in den vergangenen Tagen doch richtig gemütlich hier. Und wenn man sich nach dem abschließenden Gläschen Champagner gleich ins weiche Bett sinken lassen kann, ist das schließlich auch nicht zu verachten.« Peter Korte fuhr mit dem Finger die Konturen von Larissas Lippen nach. Larissa schob sanft aber bestimmt seine Hand weg. »Wofür hast du mir gestern eigentlich das lila Seidenkleid gekauft, wenn ich nie eine Gelegenheit haben werde, es auszuführen?«, fragte sie mit einem vorwurfsvollen Unterton in der Stimme. »Bestimmt würde ich im Speisesaal damit meinen großen Auftritt haben. Du hast selbst gesagt, dass ich in dem Kleid wie eine Prinzessin aussehe. Sicher würde ich die Augen aller anderen Gäste auf mich ziehen. Möchtest du da nicht als mein Prinz an meiner Seite gehen und stolz auf mich sein?« Diesmal war es Peter, dem ein Seufzer entfuhr. »Und ob ich das möchte, Larissa«, pflichtete er seiner Geliebten bei. »Aber ich darf diesem Wunsch nicht nachgeben. Wir beide dürfen es nicht. Das Hotel ist voller Menschen, die auf irgendeine Art mit der Schmuckmesse zu tun haben. Verstehst du denn nicht, wie groß das Risiko ist, jemandem zu begegnen, der Ernst Eigner, Sabines Vater, kennt? Und der möglicherweise nicht davor zurückschreckt, uns, also vor allem mich, bei ihm anzuschwärzen?« Larissa zog einen Flunsch wie ein trotziges kleines Mädchen. Sie hatte es gründlich satt, immer die zweite Geige spielen zu müssen und, im Gegensatz zu Sabine, für nicht gesellschaftstauglich zu gelten.
»Irgendwann wirst du Sabine und ihrem Vater ohnehin sagen müssen, dass jetzt wir zusammengehören«, rechtfertigte sie ihren Herzenswunsch. »Unser Leben zu zweit kann doch nicht ewig so weitergehen wie bisher. Oder wie stellst du dir unsere gemeinsame Zukunft eigentlich vor? Immer im Verborgenen? Immer in dunklen Ecken, wo uns keiner sieht?« Peter spielte mit Larissas mahagonirot gefärbten langen Locken. »Aber nein, mein Engel«, sagte er hastig. »Ich brenne förmlich darauf, mich offen zu dir bekennen zu dürfen. Mit allen Fasern meines Herzens sehne ich mich danach, dich der ganzen Weltöffentlichkeit als die Frau zu präsentieren, die ich über alles liebe. Ich muss …« Er unterbrach sich, weil ihm seine Worte mit einem Mal doch reichlich schwülstig und unwahr vorkamen. Wenn er allzu dick auftrug, bestand die Gefahr, dass Larissa Lunte riechen und ihm bald gar nichts mehr glauben würde. Dabei liebte er Larissa wirklich, vor allem ihren vollendeten Körper. Manchmal war er sicher, nicht mehr ohne Larissa sein zu können. Aber dann war da wieder die Stimme der Vernunft, die ihm unmissverständlich klarmachte, dass er damit das Ende seiner Karriere in der Firma Eigner besiegeln würde. Ernst Eigner würde es ihm nie verzeihen, wenn er seiner geliebten Tochter wehtat, indem er ihr die erste Enttäuschung in ihrem jungen Leben bescherte. Nervös zupfte Peter an seinem Ohrläppchen. Natürlich konnte er mit einigem Glück wieder einen neuen Job als Geschäftsführer in einer Juwelierfirma finden, aber es würde ihm wohl kaum ein zweites Mal gelingen, zum Juniorchef eines der renommiertesten Unternehmen in der Branche aufzusteigen. Zumal er im Hause Eigner seinen Platz auf der Karriereleiter in erster Linie seinem Erfolg bei Sabine verdankte. Es würde schwierig, aber absolut notwendig werden, Larissa davon zu überzeugen, dass … »Woran denkst du, Peter?«, wollte Larissa plötzlich wissen. Die Frage kam wie ein Blitz aus heiterem Himmel, sodass Peter Korte unwillkürlich
zusammenzuckte. »I… ich?«, stammelte er. »Ich habe … an uns gedacht. An unser Leben zu zweit. An unsere Zukunft, wie du vorhin so schön gesagt hast. Woran sollte ich sonst auch denken, Schatz? Unsere gemeinsame Zukunft ist doch das Wichtigste in unserem Leben.« Larissa Paltrow nickte. »Natürlich. Ich bin froh, dass du es einsiehst. Dann können wir jetzt also in den Speisesaal gehen«, beharrte sie. »Wenn du mich liebst, wie du andauernd beteuerst, und wenn dir unsere gemeinsame Zukunft wirklich so wichtig ist, musst du auch zu mir stehen.« Peter Korte wand sich wie ein Fisch auf dem Trockenen. »Vielleicht sollten wir den Speisesaal heute trotzdem nicht mehr aufsuchen«, versuchte er einen letzten Anlauf. »Nicht weil ich mich mit dir verstecken wollte. Gewiss nicht. Aber gerade heute habe ich wirklich nicht die geringste Lust, nach unten zu gehen. Keine Ahnung, was mit mir los ist. Vielleicht gehen wir morgen, Schatz. Oder übermorgen. Jetzt würde ich es so gern gemütlich haben. Nur mit dir. Nur wir zwei beide ganz allein. Verstehst du das denn nicht?« Er zärtelte über Larissas Haare, über ihr Gesicht, über ihren Hals … Larissa Paltrow ließ Peter eine Weile gewähren, dann sagte sie: »Also gut. Verschieben wir das Essen unten im Speisesaal. Auf morgen oder übermorgen. Ganz wie du willst. Aber vertröste mich bitte nicht auf den St. Nimmerleinstag. Das habe ich nicht verdient. Zumal ich sonst ohnehin alles tue, was du willst.« Sie machte ein kleine Pause, dann setzte sie hinzu: »Hattest du dir nicht vorgenommen, heute noch mit Sabine zu telefonieren? Bring es endlich hinter dich. Dann haben wir es geschafft und wir gehören den ganzen restlichen Abend nur noch einander.« Schwer atmend löste sich Peter von Larissa und griff nach seinem Handy. Er wählte Sabines Nummer, erreichte aber nur die Mailbox. »Verdammt. Ich kann Sabine einfach nicht erreichen. Ich möchte bloß wissen, wo sie ist und warum sie ihr Handy ausgeschaltet hat«, zischte er. »Sie scheint
sich in diesem St. Johann ja gut zu amüsieren, wenn sie gar keine Lust mehr hat, mit mir zu telefonieren.« Larissa lächelte breit. »Vielleicht hat Sabine sich einen Liebhaber zugelegt«, mutmaßte sie. »Irgendeinen Alpencasanova, den sie noch von früheren Aufenthalten in diesem Bergdorf kennt. Womöglich war sie deshalb so wild darauf, ihr geliebtes St. Johann wiederzusehen.« Peter Kortes Augenbrauen zogen sich zusammen, bis sie fast einen Strich bildeten, was seinem sonst eher jungenhaften Gesicht einen unerwartet bedrohlichen Ausdruck verlieh. »Nein. Du irrst dich. Was du da sagst, kann einfach nicht stimmen«, fuhr er Larissa energisch in die Parade. »In Sabines Leben gibt es keinen anderen Mann. Und es wird auch nie einen anderen geben. Nie und nimmer würde Sabine mir untreu werden. Dazu ist sie viel zu ehrlich. Und viel zu anständig. Und nimmt unsere Verlobung viel zu ernst.« Larissa Paltrow lachte ein kehliges Lachen. »Sie ist ein richtiger Gutmensch, was?«, fasste sie Peters Schilderung zusammen. »Aber auch brave Mädchen tun hin und wieder verbotene Dinge, weißt du. Vielleicht gerade deshalb, weil ein solches Verhalten keiner hinter ihnen vermutet.« Belustigt musterte Larissa Peter unter ihren kräftig getuschten Wimpern heraus. »Wenn du dich in deiner Sabine nur nicht täuschst, mein Lieber. Warum war sie denn bei eurem letzten Telefongespräch so hin- und hergerissen und wusste nicht, was sie wollte? Du hast mir selbst erzählt, dass sie unruhig und irgendwie unzufrieden wirkte.« Peter Korte winkte ab. »Was aber mit Sicherheit einen anderen Grund hat als den, den du vermutest, Larissa. Sabine ist ein einfacher Mensch. Sie freut sich, ihre Kinderzeit wieder aufleben zu lassen. Das ist alles. Unschuldig und naiv, wie sie nun einmal ist«, erklärte er. »Trotzdem fühlt sie sich einsam und sehnt sich nach mir. So sind Frauen nun einmal. Sie möchten alles gleichzeitig. Und wenn sie es nicht bekommen, sind sie verwirrt und wissen überhaupt nicht mehr, was sie wollen.«
»Ach ja?«, grinste Larissa. »Welch feinsinnige psychologische Erklärung. Wenn du so genau weißt, wie Frauen ticken, und wenn du glaubst, dass es zwischen den Vertretern des weiblichen Geschlechts keinen Unterschied gibt … Ich jedenfalls bin entschieden nicht wie Sabine. So viel lass dir gesagt sein. Ich für meinen Teil weiß, was ich will. Nämlich dich.« Sie gab Peter einen Kuss, der ihm den Atem verschlug und ihm heiße Schauer durch den ganzen Körper jagte. Er brauchte eine geraume Weile, um sich wieder zu fassen. Larissa war ein Rasseweib. Daran gab es nicht den geringsten Zweifel. So wie von ihr war er noch nie von einer Frau geküsst worden. Die Nächte mit Larissa waren unvergesslich, jede Minute davon. Sabine, dieses Gänschen, konnte Larissa nicht das Wasser reichen. Er musste Larissa bei der Stange halten, auch wenn er Sabine seiner Karriere wegen heiraten musste. Eine Weile würde er noch mit leeren Versprechungen arbeiten können. Aber dann … Er musste Larissa so weit bringen, dass sie sich dazu bereit erklärte, nach außen hin nur eine Nebenrolle zu spielen. Sie musste lernen, sich damit zufriedenzugeben in dem Bewusstsein, in seinem Herzen die uneingeschränkte Nummer eins zu sein. Erst wenn er das geschafft hatte, hatte er das Spiel für sich entschieden. Es würde ein hartes Stück Arbeit werden. Aber wenn am Ende der Sieg stand, hatte sich die Mühe auf alle Fälle mehr als gelohnt.
*
»Guten Abend, Frau Eigner. Wie war die Tour auf die Kandereralm?«, erkundigte sich die junge Bedienstete an der Rezeption des ›Löwen‹ freundlich, während sie Sabine den Zimmerschlüssel aushändigte.
»Wunderschön«, antwortete Sabine lächelnd. »Pfarrer Trenker ist wirklich ein ausgezeichneter Bergführer. Im Anschluss an unsere Tour war ich sogar noch im Pfarrhof zum Abendessen eingeladen. Deshalb ist es so spät geworden.« Die Bedienstete an der Rezeption nickte zufrieden. »Es freut mich für Sie, dass Sie die Tour genossen haben«, meinte die Hotelangestellte. Höflich wünschte sie Sabine, die sich, den Schlüssel in der Hand, abwandte, eine gute Nacht. Dann begann sie plötzlich, in den Zetteln zu kramen, die vor ihr lagen. »Bitte warten Sie«, rief sie Sabine nach, als diese sich bereits ein paar Schritte entfernt hatte. Sabine hielt inne und wandte sich zum Empfangstresen zurück. Die junge Bedienstete im weiß und blau karierten Dirndlkleid schwenkte einen Zettel in der Luft herum. »Soeben sehe ich, dass vor einer guten Stunde mehrere Telefongespräche für Sie eingegangen sind, Frau Eigner. Soll ich …« Weiter kam sie nicht. »Telefongespräche? Vielleicht aus Italien? Von dem Mechaniker, der den Wagen meines Verlobten betreut und im Moment seinen Urlaub auf Sizilien verbringt?«, fiel Sabine ihr ungeduldig ins Wort. Die junge Frau hinter dem Empfangstresen schüttelte bedauernd den Kopf. »Leider nein«, gab sie zurück. »Die Anrufe sind net aus Italien gekommen, sondern aus Wien. Von einem gewissen Peter Korte.« Die Hotelbedienstete blätterte noch einmal in ihrem Zettelstapel. »Kann ich irgendetwas für Sie tun? Soll ich Herrn Korte vielleicht zurückrufen?«, erkundigte sie sich höflich. Sabine schüttelte zerstreut den Kopf. Sie hatte während der Tour und während des Abendessens bei Pfarrer Trenker ihr Handy ausgeschaltet gehabt, sodass Peter sie nicht hatte erreichen können.
»Nein, danke«, antwortete sie. »Das erledige ich schon selber. Gute Nacht.« Rasch ging Sabine in Richtung Treppe. Als sie oben in ihrem Gästezimmer angelangt war, warf sie als Erstes ihren Rucksack ab, dann setzte sie sich auf ihr Bett und zog ihre schweren Bergschuhe aus. Schließlich griff sie nach ihrem Handy und wählte Peters Nummer. Es dauerte eine Weile, bis Peter Korte sich am anderen Ende der Leitung meldete. Sabine hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil sie fürchtete, ihn aus dem Schlaf gerissen zu haben. Doch als er seinen Namen nannte, klang seine Stimme eher ein wenig beschwipst als verschlafen. Und dass er einen Schluckauf hatte, war ebenfalls nicht zu verkennen. »Hallo Peter«, begann Sabine. »Ich rufe dich zurück, weil du mich heute ein paarmal erreichen wolltest. Das hat man mir jedenfalls bei meiner Rückkehr ins Hotel gesagt. War …, war irgendetwas Besonderes los in Wien? Hast du schon Nachricht von diesem Mechaniker, der …« Peter ließ Sabine nicht zu Ende reden. »Nein. Ich habe ihn noch immer nicht erreicht«, beschied er seine Verlobte kurz angebunden. »Keine Ahnung, warum. Und das …, das war es dann eigentlich auch schon, was ich dir sagen wollte. Eigentlich wollte ich dich nur bitten, bis auf Weiteres in St. Johann zu bleiben. In den nächsten Tagen werde ich hoffentlich Verbindung mit dem Mechaniker aufnehmen können. Wenn er den Wagen repariert hat …, vielleicht kann er dich dann gleich nach Wien chauffieren. Das wäre mir, ehrlich gesagt, sympathischer, als wenn du den Wagen selbst fährst.« Sabine wusste nicht so recht, was sie von Peters Vorschlag halten sollte. Sie verspürte nicht die geringste Lust, zusammen mit einem Mann nach Wien zu fahren, den sie nur flüchtig kannte. Andererseits wusste sie, wie Peter reagieren würde, sollte sie durch irgendeinen dummen Zufall seinem heiß geliebten Oldie eine Schramme veren. »Ich …, ich dachte, wenn dein Wagen wieder in Ordnung ist, würdest du
zurückkommen und mich abholen, Peter«, wandte sie nach kurzem Zögern ein. Aus dem Handy kam ein entrüstetes Schnauben. »Wie stellst du dir das eigentlich vor?«, fuhr Peter sie an. »Ich bin in Wien im Moment nicht abkömmlich. Ich habe geschäftlich zu tun, falls du das vergessen hast. Ich habe keine Zeit, Urlaub zu machen wie du.« Sabine schwieg, halb beleidigt und halb schuldbewusst. Im selben Moment hörte sie, wie am anderen Ende der Leitung ein Glas zu Boden klirrte, worauf eine ärgerliche Frauenstimme zu vernehmen war. »Bist du …, bist du nicht allein, Peter?«, fragte Sabine verdutzt. Peter räusperte sich. »Ich …, nein, ich bin nicht allein. Wir veranstalten eine kleine Feier. Ich und ein paar Firmeneinkäufer«, log er aufs Geratewohl drauflos. »Ein guter Geschäftsabschluss ist schließlich ein Glas Champagner wert. Selbst dann noch, wenn die Kellnerin aus purer Ungeschicklichkeit das Tablett hat zu Boden fallen lassen.« Er lachte, als hätte er einen guten Witz gemacht, und verstummte erst, als er merkte, dass Sabine nicht in sein Gelächter einstimmte. »Du feierst mit ein paar Firmeneinkäufern? Heißt das, dass du meine Kollektion bereits verkauft hast? Sogar mehrfach?«, schloss Sabine aus Peters Worten. »Das …, das ist ja wunderbar! Das ist großartig! Du bist wirklich tüchtig, Peter. Papa hält nicht umsonst so große Stücke auf dich.« Selbst Peter brachte darauf keine Antwort zustande. Er war nur froh, dass Sabine nicht sein völlig verdattertes Gesicht sehen konnte. Ein derart unverdientes Lob einzuheimsen, ging ihm dann doch ein bisschen gegen den Strich. Sabine fiel Peters Schweigen nicht weiter auf. »Nur schade, dass ich nicht selbst sehen konnte, wie meine Entwürfe angekommen sind«, sagte sie, wobei ehrliches Bedauern in ihrer Stimme mitschwang. »Aber das lässt sich, wenn die Fachmesse endlich begonnen hat,
hoffentlich nachholen. Da beginnt die Präsentation meiner Sachen ja erst richtig. Ich finde es immer wieder sehr spannend zu beobachten, was andere Menschen über meine Arbeiten denken. Ich brauche diese Rückmeldung wie die Luft zum Atmen. Lob gibt mir Auftrieb, und Kritik regt mich zu Verbesserungen an.« Peter sagte noch immer nichts. »Ich werde doch während der Schmuckmesse in Wien sein? Das wird doch endlich klappen mit diesem Mechaniker, oder?«, redete Sabine in die Stille hinein weiter. »Es bleibt schließlich nicht mehr viel Zeit bis zur Eröffnung der Messe. Oder …, oder wollen wir uns um das Auto im Zweifelsfall erst danach wieder kümmern? Herr Hanninger hat gemeint, wir könnten es, sollten alle Stricke reißen, bei ihm stehen lassen. Ich würde notfalls auch mit dem Zug zu dir nach Wien kommen.« In Peter Korte schaltete von einer Sekunde auf die andere alles auf Abwehr. »Mit dem Zug nach Wien?«, fragte er, als handle es sich bei diesem Vorschlag um die verrückteste Sache auf der ganzen Welt. »Und unser armes Auto soll mutterseelenallein bei diesem Landmaschinenmeister … Nein, das ist, glaube ich, eine ziemliche Schnapsidee, Sabine. Du hast doch in St. Johann eine durchaus angenehme Bleibe. Es gefällt dir doch so gut in deinem Postkartenidyll. Ich dachte, du bist glücklich über jeden Tag, den du dort verbringen darfst.« »Ja schon«, gab Sabine zurück. Peter wartete das Aber erst gar nicht ab. »Na also«, tönte er zufrieden. »Wo bist du übrigens heute gewesen, als dein Handy ausgeschaltet war?« »Auf der Kandereralm mit Pfarrer Trenker«, kam die Antwort. »Und dann beim Abendessen im Pfarrhaus.« Peter grinste in sich hinein. Was für ein harmloses Lämmlein Sabine doch war im Vergleich zu Larissa! Sie hatte sich an einen sicher nicht mehr ganz jungen Geistlichen angeschlossen, während Larissa ihr kurz zuvor wahrlich andere Dinge unterstellt hatte!
»Hast du auch ein paar Bekannte von früher getroffen?«, fragte Peter gut gelaunt. Es war eigentlich nicht einmal Neugier, die ihn zu dieser Frage trieb, sondern eher der Wunsch, sich zu beweisen, wie kindlich unschuldig Sabine trotz ihrer dreiundzwanzig Jahre noch war. Zu Peters Überraschung antwortete Sabine diesmal weniger schnell. Und als sie dann endlich anfing, von Ralf Sauter zu erzählen, kam es Peter so vor, als klänge ihre Stimme anders als sonst. Irgendwie weicher und sanfter. Oder spielte ihm seine Einbildung einen Streich? Er hatte keine Ahnung, aber in seinem Kopf schrillten plötzlich sämtliche Alarmglocken. Womöglich hatte Larissa doch Recht! Sollte dies zutreffen, wäre er wahrscheinlich gut beraten, in St. Johann nach dem rechten zu sehen! Peter wurde es abwechselnd heiß und kalt. Er wollte noch etwas sagen, aber als plötzlich Larissa in einem schwarzen Négligé neben ihm auftauchte und um ihn herumstrich wie eine um Streicheleinheiten buhlende Katze, wünschte er Sabine hastig eine gute Nacht und legte auf. »Gute Nacht«, sagte auch Sabine, aber da war die Verbindung bereits getrennt. Stirnrunzelnd sah Sabine ihr Handy an, dann ließ sie es neben sich aufs Bett fallen. Sie wollte aufstehen und sich ausziehen, hatte aber nicht die Kraft dazu. Stattdessen blieb sie sitzen und dachte über das seltsame Ende des Gesprächs nach. Der Abschied hatte so kalt und herzlos geklungen. Vielleicht lag es ja daran, dass Peter in Gesellschaft war und feierte. Aber warum waren dann keine anderen Stimmen zu hören gewesen? Hatten die Einkäufer permanent
geschwiegen, und nur die Kellnerin … Sabine stieg das Blut siedend heiß in die Schläfen. Gab es da eine andere Frau in Peters Leben? Betrog er sie? Wollte er deshalb nicht, dass sie nach Wien kam? Von einer Sekunde auf die andere tat sich vor Sabine ein Abgrund auf, der sie schwindeln machte. War es da nicht besser, den Blick abzuwenden, um nicht zu stürzen? Schließlich hatte sie keine Beweise. Was waren schon eine bloße Vermutung, ein leiser Verdacht? Peter würde sie auslachen, wenn sie ihm damit kam. Sollte sie nicht lieber die ihr noch verbleibenden Tage in St. Johann genießen, anstatt trübe Gedanken zu wälzen? Sabine griff nach ihrem Rucksack, um ihn auszuräumen, als sie plötzlich eine Sehnsucht nach Ralf Sauter packte, die so stark war, dass sie ihr das Herz zusammenschnürte. Die Streusachhütte, der Achsteinsee, der Tanzabend im ›Löwen‹ … Es würden geschenkte Tage sein, an denen sie nicht an ein Morgen zu denken brauchte. Sommerglück, das ihr niemand rauben konnte. Welche Enttäuschungen auch immer die Zukunft für sie bereithalten mochte.
*
Der Tanzabend im ›Löwen‹ war in vollem Gange, und die Stimmung strebte ihrem Höhepunkt zu. Einheimische wie Touristen, besonders aber die jungen Leute, die die Tische nahe der Bühne bevölkerten, waren sich einig, dass die ›Wachnertaler Buam‹ selten so von Herzen kommend musiziert hatten.
»Die Liebe ist ein Kind der Berge. Wo Alpenrosen blühn ist sie zu Haus«, sangen die Volksmusikanten, von ihrem Publikum aufgefordert, nun schon zum zweiten Mal in Folge ihr neues Lied. Begeistert summten die Tanzenden, darunter auch Ralf und Sabine, den von flotten Ziehharmonikaklängen untermalten Refrain mit. »Begleite mich zum Gipfel meiner Träume, dort pflück ich dir den allerschönsten Strauß.« Sabines Kopf ruhte an Ralfs Schulter. Wie in Trance nahm die junge Frau die Mischung aus Musik, Stimmengewirr, Geschirrscheppern und dem Kratzen der Schuhe auf dem Parkettboden wahr. Sie merkte nicht einmal, wie Ralf sich langsam aber sicher mit ihr in Richtung Bar drehte. »Wollen wir ein Glaserl Sekt trinken? Und auf die wunderschöne Woche anstoßen, die hinter uns liegt?«, fragte Ralf dicht an Sabines Ohr. Sie nickte kaum merklich. Wenig später standen die beiden jungen Menschen nebeneinander an der Bar und prosteten sich zu. Jeden Tag hatten sie gemeinsam etwas anderes unternommen. Sie waren zu einer zünftigen Hüttengaudi auf die Streusachhütte gewandert, waren im Achsteinsee geschwommen und Kahn gefahren, hatten auf dem Pferderücken die Gegend bis Graunau erkundet und waren sogar bis zum Kloster Mariengut geritten. Die gemeinsamen Stunden waren so randvoll angefüllt gewesen mit Glück, dass Sabine es immer noch kaum fassen konnte. Und doch war zwischen ihr und Ralf nicht mehr geschehen als eine flüchtige Berührung oder ein liebevoller Händedruck. Sie hatten nicht einmal viel geredet. Aber es hatte dessen auch gar nicht bedurft. Worte hätten die Vertrautheit zwischen ihnen eher stören als fördern können. Ihren Blick auf Ralfs Gesicht geheftet, nippte Sabine an ihrem Sektglas. Prickelnd rann die kühle Flüssigkeit durch ihre Kehle. Erst jetzt spürte Sabine,
wie durstig die Hitze des Tanzens sie gemacht hatte. Hastig nahm sie einen neuen Schluck. Und noch einen und noch einen. Als das Glas leer war, war es Sabine, als könne sie fliegen. Ralf war ebenfalls beschwipst. Auch er hatte, durstig wie er war, den Sekt wie Wasser hinuntergekippt und spürte nun die Folgen. Wenn auch auf eine sehr angenehme Art. Er sah Sabine an und fühlte eine Verliebtheit in sich aufsteigen, die die Grenzen des Ichs und des Dus verwischte. Eine ganze Woche lang hatte er geschwiegen. Aber nun, ehe Sabine davonfuhr und vielleicht ein für alle Mal aus seinem Leben verschwand, musste er ihr einfach sagen, was er wirklich für sie empfand. Wenn sie ihn zurückwies, würde er es hinnehmen müssen. Aber er würde es sich nie verzeihen, sie ohne ein klärendes Wort fortgelassen zu haben. »Wollen wir ein bissel nach draußen gehen, Sabine?«, schlug er vor. »Es ist so heiß hier herinnen. Und der Alkohol hat es net gerade besser gemacht.« »Das kann man so stehen lassen«, kicherte Sabine. »Ich bekomme vor Hitze schon fast keine Luft mehr.« Gern folgte sie Ralf ins Freie. Der Biergarten war leer, weil alle oben im Tanzsaal waren. Ralf und Sabine setzten sich nebeneinander auf eine der sonst immer proppenvollen Bänke. Gedämpft hörten sie die Musik der ›Wachnertaler Buam‹, die wieder angefangen hatten zu spielen. In den Ästen einer Kastanie keckerte ein aufgeschreckter Vogel. »Ich muss dir etwas sagen, Sabine«, begann Ralf, als das Schweigen allmählich drückend wurde. Er legte seinen Arm um Sabine und zog sie an sich. »Ich wollte schon die ganze Woche mit dir reden, aber ich hatte Angst, dass du nein sagst. Und dass dann alles vorbei wäre, noch ehe es richtig angefangen hat.«
In diesem Moment wusste Sabine, was kommen würde. Die Wirkung des Sekts war verflogen. Mit einem Schlag war sie wieder nüchtern. Sie hatte damit gerechnet, dass Ralf von Liebe reden würde. Sie hatte davon geträumt. Aber nun fühlte es sich plötzlich ganz anders an. Aufregend zwar, aber gleichzeitig auch beängstigend. Fragend sah sie Ralf an. Seine Lippen verzogen sich zu einem unsicheren Lächeln. »Sabine, ich liebe dich«, sagte er im nächsten Augenblick. Schnörkellos und unumwunden. »Ich habe gegen meine Empfindungen angekämpft, aber ich war von Anfang an auf verlorenem Posten. Die Liebe ist mächtiger als alles auf der Welt. Sie lässt sich net beherrschen und in ihre Schranken weisen.« Sabine schlang ihre Arme um Ralfs Nacken und drückte ihr Gesicht an seines. »Ich liebe dich auch, Ralf«, erwiderte sie. »Aber es darf net sein. Ich bin verlobt. Das weißt du doch.« Ralf prallte zurück. »Natürlich weiß ich das«, sagte er. »Aber du bist net glücklich mit Peter Korte. Du hast es zwar nie ausdrücklich gesagt, aber ich fühle es. Du kannst mir nix vormachen, Sabine. Das konntest du nie. Schon als junges Madl ist es dir net gelungen.« Sabine kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. »Vielleicht hast du recht, Ralf«, meinte sie schließlich. »Manchmal hab ich damals geglaubt, dass du mich besser kennst als ich mich selber. Aber jetzt …, jetzt ist das trotzdem etwas anderes.« Ralf nahm Sabines Gesicht zwischen seine Hände. »Hast du dich nie gefragt, warum ich noch Single bin?«, sagte er. Und fügte, ohne auf ihre Antwort zu warten, hinzu: »Der Grund bist du. Weil du mir nie aus
dem Kopf gegangen bist. In jeder Frau, die mir begegnet ist, hab ich nur dich gesucht. Das konnte net gut gehen. Willst du also, dass ich weiterhin allein durchs Leben gehe? Willst du, dass du selbst eine unglückliche Ehefrau wirst an der Seite eines Mannes, der dich gar net wert ist? Ich könnte dich glücklich machen, Sabine, glaub mir. Wenn du meine Frau wirst …« Sabine schüttelte den Kopf. »Lass mir ein bissel Zeit, Ralf«, bat sie. »Bitte hab Geduld. Ich muss über alles nachdenken. Und wenn ich damit fertig bin, dann …« Sie konnte ihren Satz nicht mehr zu Ende bringen, weil ihre und Ralfs Lippen sich zu einem zuerst zärtlichen und dann immer leidenschaftlicher werdenden Kuss fanden. »Denk net zu viel nach. Und net zu lange«, sagte Ralf Sauter, als er sich wieder von Sabine löste. »Liebe ist etwas, das sich net im Kopf, sondern im Herzen abspielt, weißt du. Und ich bin mir net so sicher, ob man da mit Denken überhaupt auf einen grünen Zweig kommt.«
*
Stumm saß Sabine neben Pfarrer Trenker in dessen kleinem Wagen. Zusammen mit dem Geistlichen hatte sie ihre Oma im Waldecker Altersheim besucht. Nun waren sie auf der Rückfahrt nach St. Johann. Eigentlich hätte Ralf Sauter als Dritter im Bunde dabei sein sollen, aber er hatte kurzfristig abgesagt. Als Grund hatte er ein wichtiges Meeting bei seinem Fernsehsender genannt, für das er sogar seinen Urlaub unterbrechen müsse. Sabine vermutete allerdings, dass er geflunkert hatte. Sie ging davon aus, dass er ihr nur nicht hatte gegenübertreten wollen, ohne dass sie ihm ihre endgültige Entscheidung mitgeteilt hatte. Vielleicht schmerzte es ihn auch, dass sie dazu so lange brauchte, doch …
Mit geschlossenen Augen lehnte Sabine sich im Beifahrersitz zurück. Die Landschaft, die an den Autofenstern vorbeizog, sagte ihr im Moment gar nichts. So schön sie auch war. Sie war mit ihren Gedanken immer noch bei Oma Gerlinde in Waldeck. Die ältere Dame hatte sie sofort in die Arme geschlossen, ohne ihr auch nur den geringsten Vorwurf wegen ihres langen Schweigens zu machen. Sabine war unendlich froh darüber gewesen. Aber sie war auch erschrocken, wie zerbrechlich ihre Großmutter geworden war. Nur Oma Gerlindes graue Augen schauten immer noch so lebhaft und klar wie ehedem. Auch ihr Geist war wach und rege. Nach allen Einzelheiten in Sabines Leben hatte sich die ältere Dame erkundigt. Sie hatte regen Anteil an jeder Kleinigkeit genommen, und des Öfteren hatte ihr der Stolz über Sabines berufliche Erfolge und Leistungen aus den Augen geleuchtet. Nur als Sabine ihrer Großmutter von ihrem Verlöbnis mit Peter Korte berichtet hatte, war für ein paar Sekunden ein Schatten über die Züge der älteren Dame geflogen. Oma Gerlinde hatte sich zwar sofort wieder gefasst, aber ein Hauch von Enttäuschung war geblieben. »Du musst mir net böse sein, Sabine«, hatte Oma Gerlinde wie zur Entschuldigung gesagt. »Aber ich hab halt im Stillen immer noch gehofft, dass aus dir und Ralf einmal ein Paar werden könnte. Ralf ist ein so netter und tüchtiger junger Mann. Er ist so anständig und verantwortungsbewusst. Ich hab ihn mit den Jahren immer mehr ins Herz geschlossen.« Sie hatte geseufzt und dann Sabines Hand genommen. »Mach dir nix aus meinen Worten«, hatte sie schließlich ganz leise gesagt. »Du brauchst dich net danach zu richten. Ich bin ja nur eine alte Frau, die vieles nimmer so recht versteht. Obendrein warst du schon immer viel klüger als ich. Du wirst schon wissen, was du tust und welcher Mann der Richtige für dich ist.« Immer wieder ging Sabine dieser letzte Satz ihrer Oma durch den Kopf. Wenn sie es nur wirklich wüsste! Oder, besser gesagt, wenn sie nur die Möglichkeit hätte, sich frei zu entscheiden!
»Ist etwas net in Ordnung mit dir, Sabine?«, fragte der Bergpfarrer besorgt, als er seinen Wagen vor dem Pfarrhaus parkte und seine Beifahrerin immer noch mit geschlossenen Augen dasaß. Sabine öffnete die Augen, dann schüttelte sie müde den Kopf. Der Bergpfarrer runzelte die Stirn, weil er sich nicht darüber im Klaren war, was diese Geste bedeutet hatte. Fragend richtete er den Blick seiner dunklen Augen weiterhin auf Sabine. »Gar nix ist in Ordnung«, brach es plötzlich aus der jungen Frau heraus. Pfarrer Trenker schaute sie immer noch aufmerksam an, ohne etwas zu sagen. »Ich weiß nimmer aus noch ein«, redete Sabine weiter. »Wie meine Oma gesagt hat, dass sie immer gehofft hat, ich und Ralf würden zusammenfinden …« Sie verstummte und senkte den Blick. »Dass du und Ralf …, dass ihr euch gut seid, ist mir schon auf der Tour zur Kandereralm aufgefallen«, antwortete der Bergpfarrer. »Ob es für ein dauerhaftes Glück und für ein ganzes Leben reicht, müsst ihr allerdings selbst herausfinden. Das kann ich euch leider net sagen.« Sabine öffnete die Autotür und machte Miene, auszusteigen. »Vielen Dank für die Fahrt nach Waldeck zu meiner Oma, Herr Pfarrer«, sagte sie. »Jetzt will ich Ihnen aber wirklich net länger Ihre Zeit stehlen.« Der Bergpfarrer lächelte Sabine zu. »Du kannst mir keine Zeit stehlen, Sabine«, meinte er. »Schon deshalb net, weil ich sie dir vorher schenke. Soll ich dich hinüber zum ›Löwen‹, begleiten? Dann können wir vielleicht im Biergarten einkehren und noch ein bissel reden.« Sabine lächelte dankbar zurück. »Das wäre wirklich nett«, erwiderte sie. »Das heißt, wenn Sie net doch etwas
Besseres vorhaben.« Der Bergpfarrer verneinte. »Eigentlich hab ich, ehe es Abend wird, noch ein Stünderl im Garten arbeiten wollen«, erklärte er. »Aber ich glaub, du brauchst mich im Moment mehr als meine Erdbeeren und Johannisbeeren.« »Das könnte gut sein«, meinte Sabine und warf die Autotür hinter sich zu. An der Seite Pfarrer Trenkers überquerte sie den Kirchplatz und betrat den Biergarten. Unter den Kastanien an einem der einzelnen Tische machten sie und der Bergpfarrer es sich gemütlich. Pfarrer Trenker bestellte für sich selbst ein alkoholfreies Weißbier und für Sabine einen Eisbecher ›Wachnertaler Traum‹. »Wegen des Verlöbnisses mit Peter brauchst du dir keine Gewissensbisse zu machen«, sagte er, als die Kellnerin wieder gegangen war. »Die Verlobungszeit ist dazu da, dass man sich prüft, ob man wirklich zusammenbleiben möchte. Net weniger, aber auch net mehr.« Für einen Moment schien Sabine erleichtert, doch dann nahm ihr Gesicht von Neuem einen besorgten Ausdruck an. »Ralf hat mich gefragt, ob ich seine Frau werden will«, berichtete sie. »Und ich würde liebend gerne ja sagen und mich von Peter trennen. Aber es ist net nur die Verlobung, die mich daran hindert.« »Sondern?«, fragte Pfarrer Trenker verblüfft. »Ich hab Peter kennengelernt, als er bei uns in der Firma Eigner angefangen hat«, begann sie zu erzählen. »Er hat nach dem Abitur eine Lehre als Gold- und Silberschmied gemacht und anschließend ein Betriebswirtschaftsstudium absolviert. Er hat es net gerade mit einer Glanznote abgeschlossen, aber die Kombination der beiden Ausbildungen hat meinen Vater von Anfang an überzeugt. Papa hat es auch später nie bereut, dass seine Wahl auf Peter gefallen ist. Peter ist unheimlich fleißig und legt sich für die Firma Eigner grenzenlos ins Zeug. Dazu kommt, dass er ausgezeichnet mit Menschen umgehen kann und sehr geschickt im Verhandeln ist. Unsere Firma hat ihm schon etliche lukrative
Aufträge zu verdanken.« Pfarrer Trenker hatte Sabine aufmerksam zugehört. Erst als die Bedienung Weißbier und Eisbecher brachte, kam die ein wenig einseitige Unterhaltung für kurze Zeit ins Stocken. »Probier erst einmal, Sabine«, schlug der Bergpfarrer vor und stellte die üppig mit Sahne und Schokoraspeln verzierte süße Köstlichkeit vor Sabine hin. »Süßigkeiten beruhigen das Gemüt. So sagt man zumindest.« Sabine nahm einen gehäuften Löffel voll Eis, und Sahne und probierte zaghaft. »Das schmeckt ja wunderbar«, meinte sie. »Diese Eisspezialität trägt ihren Namen net zu Unrecht. Sie ist wirklich ein Traum.« Schmunzelnd schaute Sebastian der jungen Frau zu, wie sie es sich trotz ihres Kummers schmecken ließ. Erst als sie die Hälfte des Eisbechers verzehrt hatte, redete Sabine weiter. »Ich hab Peter auf einer Betriebsfeier kennengelernt«, fuhr sie fort. »Er hat mich zum Tanzen aufgefordert. Einmal, zweimal. Und dann wieder und immer wieder. Er hat fast den ganzen Abend nur mit mir getanzt. Peter war charmant und höflich, rücksichtsvoll und bescheiden. Und obendrein atemberaubend attraktiv. Kurzum ein Mann, wie ich ihn mir in meinen Träumen immer vorgestellt hatte. Ich hab mich verliebt bis über beide Ohren. Nie hätte ich gedacht, dass Peter und ich uns einmal fremd werden könnten. Und doch ist es so gekommen. Zuerst hab ich gedacht, wir hätten einfach zu wenig Zeit füreinander gehabt und alles würde sich bei unserem Kurzurlaub in Wien wieder einrenken. Aber Peter hat das ja gar net wirklich gewollt.« Sabine löffelte ihren Eisbecher leer und schob ihn dann ein Stück zur Seite. Sie griff nach der Waffel auf dem Unterteller und begann sie gedankenverloren zu zerbröseln. »Und du wohl auch nimmer, nachdem du Ralf Sauter wieder getroffen hast«, half ihr der Bergpfarrer weiter. Sabine seufzte.
»Weil ich erkannt hab, dass zwischen mir und Ralf schon während unseres letzten St. Johanner Sommers mehr war als bloße Freundschaft«, gestand sie. »Bloß war ich damals noch zu jung und net bereit, mir selber einzugestehen, dass es Liebe war. Ich hatte ja noch so viele andere Dinge vor. Und Ralf ging es wohl genauso. Als in mir dann allmählich die Sehnsucht nach Liebe und nach einem Partner erwachte, war Ralf natürlich nimmer da. Stattdessen ist mir Peter begegnet. Wahrscheinlich hab ich mir von Anfang an selber etwas vorgemacht. Und drum hat es auch net gut gehen können.« Sebastian musterte Sabine prüfend. »Das leuchtet mir durchaus ein. Aber wo ist jetzt das Problem?«, meinte er. »Wenn Peter Korte zurückkommt, machst du reinen Tisch. Du redest mit ihm und sagst ihm, dass …« Pfarrer Trenker unterbrach sich, weil Sabine heftig den Kopf schüttelte. »Das geht net. Papa ist so glücklich, dass Peter sein Schwiegersohn wird. Peter ist der Nachfolger, den er sich immer gewünscht hat. Nach der Hochzeit will Papa Peter die Firma übergeben und sich zurückziehen. Darauf freut er sich schon seit Langem.« Sabine stützte ihren Kopf in ihre Hände. »Nach dem frühen Tod meiner Mutter hat Papa sich, obwohl er unendlich traurig war, rührend um mich gekümmert. Er hat alles getan, was in seiner Macht stand, um mir net nur ein guter Vater zu sein, sondern nach Möglichkeit sogar noch die Mutter zu ersetzten. Er hat mir jeden Wunsch von den Augen abgelesen. Er war immer für mich da. Egal, ob ich krank war oder Schulsorgen hatte. Oder Streit mit meiner besten Freundin. Ich kann Papa doch jetzt net so enttäuschen. Zumal sein Herz nimmer das Beste ist, und er sich net aufregen darf. Das wird er aber, wenn ich die Zukunft unserer Firma und damit sein Lebenswerk zerstöre, nur damit ich glücklich bin.« Der gute Hirte von St. Johann ließ seine Blicke nachdenklich über den Biergarten schweifen, ehe er sich wieder Sabine zuwandte. »Ich glaube, das siehst du net ganz richtig, Sabine«, sagte er dann. »So wie du mir deinen Vater geschildert hast, mag er zwar an seiner Schmuckfirma hängen, aber sein Lebenswerk und seine Erfüllung bist doch wohl eher du. Wir alle leben im Grunde doch net in Geschäften oder Hän weiter, sondern in unseren Nachkommen. Oder, wenn net, dann eben in dem, was wir anderen Menschen
geben.« Sabine widersprach nicht, aber ihre skeptische Einstellung zu Sebastians Worten war ihrer Miene deutlich anzumerken. Einen Moment lang kämpfte sie mit sich, dann entschied sie, frei herauszusagen, was ihr auf der Zunge lag. »Sie … Sie können doch eigentlich gar net wissen, wie es sich anfühlt …« »Ein Kind zu haben, das seine eigenen Wege geht und damit die väterlichen Träume zerstört?«, ergänzte er Sabines Worte. Sabine senkte schuldbewusst den Blick. »Sie sind mir doch hoffentlich net böse, weil ich …«, stammelte sie, wusste vor Verlegenheit aber plötzlich nicht mehr weiter. »Nein, ich bin dir net böse«, versicherte Sebastian. »Wie könnte ich. Du hast ja nur ehrlich gesagt, was du gedacht hast. Als katholischer Pfarrer hab ich nun einmal keine eigene Familie. Aber ich hatte einen Vater, der Bauer war. Und der vielleicht irgendwann einmal davon geträumt hat, mir seinen Hof übergeben zu können. Trotzdem bin ich Geistlicher geworden und mein Bruder Polizist. Und ob du es glaubst oder net, Sabine: Mein Vater hat sich ehrlich gefreut, dass wir beide unseren Weg gefunden haben.« Sabine kaute auf ihrem Fingerknöchel herum, dann hob sie die Lider wieder und schaute dem Bergpfarrer offen in die Augen. »Und Sie meinen, dass das in meinem Fall … so ähnlich laufen wird?«, fragte sie. Sebastian nickte. »Ganz bestimmt«, entgegnete er. »Geh, wohin dein Herz dich führt, Sabine. Das ist mehr als nur der Titel eines berühmten Buchs. Und vertraue darauf, dass die Menschen, denen du etwas bedeutest, nichts anderes wollen, als dich glücklich zu sehen.«
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Peter Korte stand in Georg Hanningers Traktorenwerkstatt vor seinem chromblitzenden Oldie. Er hatte seine Hände tief in den Hosentaschen vergraben und wartete gespannt darauf, welche Diagnose der Mechaniker seines Vertrauens stellen und wie er seinen kostbaren fahrbaren Untersatz wieder flottmachen würde. Gegen die Überweisung eines erklecklichen Sümmchens hatte der Mechaniker nach einigem Hin und Her seinen Sizilienurlaub unterbrochen und war nach Wien geflogen. Dort hatte er Peter Korte aufgesucht, um mit ihm zusammen nach St. Johann weiterzureisen. Larissa hatte zuerst getobt und dann geweint, als Peter ihr verkündet hatte, dass die Zeit der trauten Zweisamkeit fürs Erste beendet sei. Aber zu guter Letzt war es ihm doch noch gelungen, sie wieder versöhnlich zu stimmen. Schweren Herzens hatte er sich in aller Öffentlichkeit an ihrer Seite gezeigt und auf diese Weise die Laune seiner Geliebten beträchtlich verbessert. Blieb nur zu hoffen, dass so viel Unvorsichtigkeit ohne Folgen blieb! Aber was hätte er machen sollen! Es war ihm im Grunde gar keine andere Wahl geblieben. Nun galt es, sich um Sabine zu kümmern. Ärgerlich genug, wenn sie sich hier in St. Johann wirklich einsam gefühlt und sich die Zeit mit irgendeinem Bekannten von früher vertrieben hätte. Es erschien Peter immer wahrscheinlicher, dass Larissa mit ihrer Vermutung so falsch nicht gelegen war. Mit einem Mal begriff er nicht mehr, wie er derart sorglos hatte sein können. Schließlich durfte er seine berufliche Zukunft und seine Karriere nicht gefährden. Manchmal bedeutete eine Frau schon Stress pur. Und dann gleich zwei! Aber natürlich überwogen die angenehmen Seiten, sonst … »Es liegt an der Benzinpumpe«, hörte er die Stimme des Mechanikers, die seine Gedanken an Larissa und Sabine von einer Sekunde auf die andere aus seinem
Kopf trieb. »Sie ist nicht mehr ganz in Ordnung und macht deshalb Probleme, wenn der Wagen bergan gestartet werden soll. Also eigentlich eine Bagatelle. Wir müssen nur das Ersatzteil bestellen. Es kommt spätestens übermorgen und ist in einer Stunde eingebaut. Dann können Sie mit Ihrer Verlobten zurück nach Wien zur Interjuwel fahren.« Peter Korte rieb sich beide Ohren. Das alles hatte er fast wortwörtlich schon einmal gehört. Von Georg Hanninger höchstpersönlich. Und zwar genau an dem Tag, an dem der Wagen liegen geblieben war. Das durfte doch wohl nicht wahr sein! Da beorderte er nach einem großzügigen Trinkgeldvorschuss in dreistelliger Höhe diesen angeblichen Spitzenmechaniker nach St. Johann, um sich von ihm genau das Gleiche anzuhören, was Georg Hanninger … Peter wusste nicht mehr, ob er lachen oder ob er wütend werden sollte. Vielleicht wäre ihm auch übel geworden. Aber das war ihm ohnehin schon, wenn er an die saftige Rechnung dachte, die ihm in ein paar Tagen unwiderruflich ins Haus oder vielmehr in sein Wiener Hotelzimmer flattern würde. Unwillkürlich wanderten Peter Kortes Blicke zu Georg Hanninger, der breit grinsend mit vor dem Bauch verschränkten Armen dastand und eine regelrechte Aura von Genugtuung um sich verbreitete. »Dann tun Sie endlich, was Sie für nötig halten«, bellte Peter Korte den verdutzten Mechaniker an. »Los, los. Worauf warten Sie noch? An die Arbeit, Mann!« Der Mechaniker schüttelte missbilligend den Kopf und tauschte einen verständnisinnigen Blick mit Georg Hanninger. Doch das konnte Peter nicht mehr sehen. Er hatte sich bereits abgewandt und stapfte wie ein Dragoner aus Georg Hanningers Werkstatt. Heute schien nicht gerade sein Glückstag zu sein!
Hoffentlich setzte sich seine Pechsträhne nicht fort, wenn er jetzt Sabine im Hotel ›Zum Löwen‹ aufsuchte!
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Die Turmuhr der St. Johanner Pfarrkirche schlug die elfte Vormittagsstunde, als Sabine sich dem Eingang des Hotels ›Zum Löwen‹ näherte. Sie konnte noch immer nicht fassen, dass sie Ralf Sauter in der ›Pension Edelweiß‹, in der er für die Zeit seines Sommerurlaubs wohnte, nicht angetroffen hatte. Noch viel weniger wollte es ihr in den Kopf, dass man ihr gesagt hatte, er werde wohl erst in den nächsten Tagen wieder aus München zurückkehren. Sabine zupfte mit spitzen Fingern an ihrer Frisur herum. Als fürchte sie, ihre Haare könnten inzwischen so zerzaust sein wie die Gedanken, die ihr durch den Kopf schwirrten. Gleich nach dem Besuch im Waldecker Altersheim und dem Gespräch mit Pfarrer Trenker hatte sie mehrfach versucht, Ralf Sauter auf seinem Handy zu erreichen und ein Treffen mit ihm zu vereinbaren. Leider vergeblich. Dabei hätte sie ihm am liebsten schon am Telefon alles haarklein erzählt und ihm mitgeteilt, dass ihm ihr Jawort gewiss war. »Der gewünschte Gesprächspartner ist nicht erreichbar«, hatte stattdessen Ralfs Mobilbox ein ums andere Mal verkündet. Und dabei war es geblieben. Die Geschichte mit dem Meeting bei seinem Fernsehsender hatte Ralf also anscheinend doch nicht erfunden! Weshalb sonst hätte er sein Handy ausgeschaltet! Sabine hatte das Gefühl, kaum Luft zu bekommen. Es mochte an der Hitze liegen, doch sicher war sie sich nicht.
Konnte eine Besprechung unter Journalisten denn so endlos lange dauern? Schickten sie Ralf am Ende doch nicht nach Amerika, sondern in irgendein Kriegs- oder Katastrophengebiet? Zu guter Letzt hatte sich auch noch völlig überraschend Peter gemeldet. Er komme, den Wundermechaniker im Schlepptau, aus Wien angereist, hatte er versichert. Er werde nach glücklich vollendeter Autoreparatur mit ihr gemeinsam nach Wien zurückkehren. Zur Internationalen Schmuckmesse, die sich inzwischen allerdings schon ihrem Ende zuneigte. Noch vor einer guten Woche hätte sie sich darüber gefreut, aber jetzt … Die Stunde der Wahrheit rückte immer näher. Sabine konnte sich nicht verhehlen, dass ihr ein bisschen bange war. Aber wenn sie klare Verhältnisse schaffen wollte, durfte sie jetzt nicht ängstlich werden und nichts auf später verschieben. Wenn sie nur zuvor noch einmal mit Ralf hätte reden können! Aber vielleicht war es sogar besser, dass sie sich zuerst mit Peter aussprach, ehe sie … »Guten Tag, Frau Eigner. Besuch für Sie!«, rief die Hotelangestellte an der Rezeption, als Sabine das Foyer des ›Löwen‹ betrat. »Besuch?«, fragte Sabine zurück. Sofort begann ihr Herz laut und heftig zu schlagen. Im ersten Augenblick hoffte sie, Ralf wäre da. Vielleicht hatte er doch früher nach St. Johann zurückkehren können! Vielleicht hatte sie ihn nur deshalb in der ›Pension Edelweiß‹ nicht angetroffen, weil er sich zuerst auf den Weg ins Hotel gemacht hatte! Auf den Weg zu ihr! Suchend schaute Sabine umher. Aber der Mann, der nun mit ausgebreiteten Armen auf sie zukam, war nicht Ralf, sondern Peter.
Wahrscheinlich erwartete er, dass sie ihm um den Hals fallen würde, aber stattdessen schnürte ihr die Enttäuschung fast die Kehle zu. Trotzdem bemühte sie sich um ihr strahlendstes Lächeln. »Hallo, Peter! Wie schön, dich zu sehen!«, sagte sie. Und fand augenblicklich, dass sie schrecklich gekünstelt klang. »Hallo, Sabine!«, gab Peter nicht weniger gezwungen zurück. »Da wäre ich also wieder. Hoffentlich ist dir die Zeit in St. Johann nicht lang geworden. Hast du dich mit deinem Bergpfarrer, mit diesem Stefan Trenker oder wie er heißt, gut amüsiert?« Sabines Lächeln erstarrte zu einer Maske. »Und du?«, gab sie statt einer Antwort zurück. »Hast du gute Geschäfte gemacht mit meinen Entwürfen? Und hinterher lustig gefeiert? Nur schade, dass die Kellnerinnen in Wien so ungeschickt sind und den ganzen Champagner verschütten!« Ralf verschluckte sich, obwohl er gar nichts im Mund hatte, und musste husten. Ging das schon wieder los? Konnten er und Sabine wirklich nur noch streiten? Wenn er da an die zärtlichen Stunden mit Larissa dachte … Und seit wann verteidigte sich Sabine nicht nur, sondern ging mit Worten, die genauso spitz waren wie seine eigenen, zum Gegenangriff über? Peter Kortes Miene gefror. Wenn er noch letzte Zweifel an Larissas Verdacht gehegt hatte, in St. Johann müsse ein anderer Mann in Sabines Leben getreten sein, so schmolzen sie nun zusammen wie Eis und Schnee in der Sonne. Larissa hatte recht gehabt. Nur er in seiner grenzenlosen Naivität hatte glauben können, Sabine wäre ein Unschuldslamm. Dennoch nahm Peter alle seine Kraft zusammen, legte seine Arme um Sabines Schultern und gab ihr wenigstens einen flüchtigen Kuss auf beide Wangen.
Er musste wenigstens den Schein wahren! Was ging die neugierige Hotelangestellte an der Rezeption seine und Sabines inzwischen offenbar vollends zerrüttete Beziehung an! Schon die ganze Zeit äugelte sie mit, wie ihm schien, aufdringlicher Neugier zu ihnen herüber! »Das Auto ist wieder in Ordnung gebracht«, wechselte er abrupt das Thema. »Es muss noch ein Ersatzteil bestellt und eingebaut werden, dann kann unsere gemeinsame Fahrt nach Wien endlich losgehen.« Sabine zog die Augenbrauen hoch. Gemeinsame Fahrt nach Wien … »Ist es dasselbe Ersatzteil, das auch Herr Hanninger vorgeschlagen hat?«, erkundigte sie sich. Peter war sich nicht sicher, ob ihre Frage ehrlich oder doch eher ironisch gemeint war. Er spürte nur, dass Sabines Worte seine Wut über die wenig spektakuläre Diagnose des teuren Mechanikers wieder wach riefen. »Das interessiert dich?«, fragte er mit einem spöttischen Grinsen. Und gab sich an Sabines Stelle auch gleich selbst die Antwort. »Dann muss deine Begeisterung für meinen Wagen neu sein. Jedenfalls bist du während deines ganzen Aufenthalts in St. Johann nur ein einziges Mal bei Herrn Hanninger aufgekreuzt. Obwohl ich dir aufgetragen hatte, regelmäßig nach meinem Auto zu sehen. Aber wahrscheinlich hattest du ganz einfach keine Zeit.« Sabine strich die Schürze ihres Dirndlkleids glatt. Jetzt oder nie! Dann hatte sie es wenigstens hinter sich! »Ehrlich gesagt, hatte ich weder Zeit noch Lust«, gestand sie. Dann sah sie sich im Foyer des Hotels um, in dem mittlerweile ein reges Kommen und Gehen von ab- und anreisenden Gästen war. »Aber …, wollen wir nicht lieber auf mein Zimmer gehen? Dort hätten wir mehr Ruhe, um miteinander zu reden.« Peter nickte. Dabei schaute er Sabine an, als sähe er sie zum ersten Mal. Sie war nicht mehr so blass wie bei ihrer Abfahrt aus München, sondern braun
gebrannt. Offenbar hatte sie viel Zeit im Freien verbracht und war in ihren geliebten Bergen herumgewandert. Aber das war es eigentlich gar nicht, was ihn so unangenehm berührte. Erst jetzt fielen ihm ihre veränderte Kleidung und die völlig andere Frisur auf, die sie trug. Was für eine lächerliche Maskerade! Sie musste sich während ihres St. Johanner Aufenthalts eines dieser unsäglichen Dirndlkleider gekauft haben, denn gesehen hatte er dieses dunkelblaue, edelweißgemusterte Etwas bisher noch nicht an ihr! Sie sah darin aus wie verwandelt. Eine Sabine, die ihm unbekannt war! Und dann erst die Frisur! Ihr langes glattes Haar war zu einem üppigen Zopf geflochten, der rund um ihren Kopf gelegt war wie ein Heiligenschein. Das te ja ausgezeichnet! Aber wahrscheinlich gefiel es diesem … Wie hatte Larissa doch gleich gesagt? Peter musste eine Weile nachdenken, ehe es ihm wieder einfiel: Alpencasanova! Schweigend und mit verkniffenem Gesicht ging Peter neben Sabine her auf das Zimmer, das er vor noch gar nicht so langer Zeit für sie gemietet hatte und nahm ihr gegenüber in der im Landhausstil gehaltenen Sitzgruppe Platz. Es war ihm damals plötzlich wie eine Erleuchtung in den Sinn gekommen, dass die ärgerliche Autopanne durchaus auch ihre positiven Seiten hatte. Er hatte an Larissa gedacht, die in Wien bereits auf ihn gewartet hatte. Und daran, dass er zum ersten Mal eine Chance hatte, völlig ungestört mit ihr … »Peter, wo bist du denn nur mit deinen Gedanken. So hör mir doch bitte zu«, drang mit einem Mal Sabines Stimme wieder in sein Bewusstsein. Stirnrunzelnd wandte Peter sich seiner Verlobten zu. Und erfuhr in knappen, schnörkellosen Sätzen alles über sie und Ralf Sauter.
Angefangen von den gemeinsamen Ferien der Kindheit über das neuerliche mehr oder weniger zufällige Zusammentreffen bei der Tour auf die Kandereralm. Sabines Beichte endete mit dem samstäglichen Tanzabend im ›Löwen‹ und mit Ralfs Heiratsantrag. »Du …, du hast den Heiratsantrag doch nicht etwa angenommen?«, fragte Peter Korte zutiefst entsetzt. Er musste sich beherrschen, um sie nicht laut anzuschreien. Er durfte Sabine nicht merken lassen, wie sehr sie ihn schockiert hatte. Was Sabine ihm soeben gestanden hatte, war so ziemlich das Schlimmste, was ihm hatte ieren können. Ein Liebhaber, ein Verhältnis, wie er es mit Larissa aufrechterhielt, wäre ja noch angegangen. Das hätte er verschmerzen, darüber hätte er um seines eigenen beruflichen Vorteils willen hinwegsehen können, wenn Sabine nur trotzdem seine Frau geworden wäre. Aber dass Sabine sich endgültig und ein für alle Mal von ihm trennen wollte … Ob Ernst Eigner ihn dann noch als Nachfolger würde haben wollen? Peter hatte da seine berechtigten Zweifel. Ernst Eigner hielt zwar große Stücke auf ihn, aber als zukünftiger Schwiegersohn wurde er doch wohl mit milderen und wohlmeinenderen Augen betrachtet als ein ganz normaler Geschäftsführer. Außerdem würde Ernst Eigner mit Sicherheit ihm die Hauptschuld an der Trennung in die Schuhe schieben und nicht dem Wankelmut seiner geliebten, engelsgleichen Tochter. Er würde nur darauf warten, bis ihm ein Fehler unterlief, um ihn endgültig in die Wüste schicken zu können. Peter Korte hätte sich am liebsten geohrfeigt. Seine Liebesnächte mit Larissa waren wunderschön gewesen, aber wenn er gewusst hätte, was er dafür aufs Spiel setzte, hätte er durchaus die eine oder andere von ihnen auf die Zeit nach seiner Hochzeit mit Sabine verschieben können. »Ich habe Ralfs Antrag angenommen«, bestätigte in diesem Moment Sabine wie zum Hohn. »Und ich bitte dich, mich freizugeben.«
Ein paar Sekunden lang stand Peter Korte da wie ein begossener Pudel, aber dann ging ein Ruck durch seine ganze Gestalt. Er hatte so viel erreicht, er hatte so viel an Arbeitseinsatz investiert, dass er nun nicht bereit war, kampflos das Handtuch zu werfen. Sabine würde zu ihm zurückkehren, wenn Ralf aus ihrem Leben verschwände. Dessen war Peter sich sicher. Dann würde alles beim Alten bleiben. Alles würde gut werden. Es würde ihm schon etwas Geeignetes einfallen, um das zu bewerkstelligen! Erst einmal wollte er dafür sorgen, dass Sabine ein schlechtes Gewissen bekam. Er machte ein betont trauriges Gesicht. »Dich freizugeben fällt mir schwer, Sabine«, sagte er mit ernster Miene. »Weil ich dich liebe. Weil ich dich noch immer genauso liebe, wie an dem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben. Wenn in letzter Zeit leider auch so vieles falschgelaufen ist.« Er machte eine Pause, um das Gesagte nachwirken zu lassen. »Natürlich gebe ich dich frei«, fügte er dann mit leiser, fast tonloser Stimme hinzu. »Wenn du glaubst, dass ein anderer Mann dich glücklicher machen kann als ich, will ich dich nicht an mich binden. Nicht mein Glück, sondern deines ist mir oberstes Gebot. Auch wenn mir darüber das Herz bricht.« Sabine sah Peter verblüfft an. So gefühlvolle Worte hatte sie schon lange nicht mehr von ihm gehört. Sie schien ihm immer doch mehr zu bedeuten, als sie geglaubt hatte. Natürlich änderte das nichts an ihrer Liebe zu Ralf und an ihrer Entscheidung, das Verlöbnis mit Peter zu lösen, aber sie spürte, wie heißes Mitleid mit Peter in ihr aufstieg. Und wie sie anfing, sich schuldig zu fühlen. »Ist es sehr schlimm für dich, Peter? Ich wollte dir nicht wehtun, wirklich. Aber ich habe durch meinen Aufenthalt in St. Johann und durch das Wiedersehen mit Ralf eben erkannt …« Sie brach ab, als Peter sachte seinen Finger über ihre Lippen legte.
»Bitte rede nicht weiter«, bat er. »Sag die Worte, die mich wie ein Dolchstoß getroffen haben, nicht ein zweites Mal.« Sabine schüttelte stumm den Kopf. Nie hätte sie gedacht, dass Peter nach all den Auseinandersetzungen der letzten Wochen so ruhig reagieren würde. Trotz allem so voller Verständnis und Liebe. Sie kämpfte gegen das Gefühl, ein Unmensch zu sein. Gern hätte sie Peter wenigstens eine kleine Freude gemacht, wenn sie nur gewusst hätte, wie. »Ich bitte dich vor unserer endgültigen Trennung nur noch um eines«, gab Peter ihr scheinbar zufällig den entscheidenden Hinweis. »Begleite mich trotzdem für die letzten Tage der Schmuckmesse nach Wien. Nicht als meine Verlobte natürlich, sondern als eine … Geschäftspartnerin. Einige Kunden wollen unbedingt die Künstlerin sehen, die den wunderbaren Trachtenschmuck der Firma Eigner entwirft. Wenn du dich mit ihnen unterhältst und nett zu ihnen bist, würdest du mit Sicherheit dazu beitragen, dass wir einen höheren Preis für deine Kollektion erzielen. Damit würdest du nicht nur mir einen Dienst erweisen, sondern in erster Linie deinem Vater eine Freude machen.« Sabine überlegte einen Moment, dann nickte sie. »Einverstanden. Ich werde dich begleiten, Peter«, stimmte sie zu. »Ich möchte allerdings vorher noch mit Ralf sprechen. Das wirst du doch verstehen. Er ist im Moment in München, kommt aber in ein oder zwei Tagen wieder in die ›Pension Edelweiß‹ zurück. Solange kann die Interjuwel nun auch noch warten, oder?« »Selbstverständlich«, räumte Peter ein. »Bis dahin habe ich dann auch meinen Wagen wieder. Und nach dem Ende der Messe bringe ich dich getreulich zurück zu deinem Ralf.« Sabine schluckte. So viel Großzügigkeit hätte sie Peter nie und nimmer zugetraut. Peter lächelte ihr zu. »Ich lasse dich dann wohl besser allein«, sagte er. »Wir hören in Kürze voneinander, wenn wir bereit sind zur Abreise.«
Mit diesen Worten verließ Peter Sabines Zimmer. Keine Minute zu früh, denn lange hätte er seine Pose sowieso nicht mehr durchhalten können. Er war am Ende seiner Schauspielkunst. Dennoch war er mit sich zufrieden. Zog man in Betracht, welch böse Überraschung Sabine ihm bereitet hatte, hatte er die Sache wahrlich nicht schlecht gedreht. Ralf Sauter auszuschalten, würde schon schwieriger werden. Aber auch das würde ihm gelingen. Wie gut, dass er noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen war. Ein nächstes Mal würde er vorsichtiger sein und besser auf Sabine aufen. Zumindest so lange, bis er endgültig am Ziel war.
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Die nächsten beiden Tage vergingen für Sabine Eigner in bangem Warten. Sie versuchte noch ein paarmal, Ralf auf seinem Handy zu erreichen, bekam aber schließlich nicht einmal mehr Antwort von seiner Mobilbox. Er musste das Gerät nun gänzlich abgeschaltet haben. Ob sie es noch einmal in der ›Pension Edelweiß‹ versuchen sollte? Sabine entschied sich dagegen, denn wenn Ralf, aus welchem Grund auch immer, nicht einmal mit ihr telefonieren wollte … Schließlich, als Peter immer heftiger zur Abfahrt drängte, suchte sie in ihrer Not Pfarrer Trenker auf. Sie fand ihn in seinem Garten, wo er gerade damit beschäftigt war, ein leer geerntetes Gemüsebeet umzugraben.
»Grüß Gott, Herr Pfarrer. Ich …, ich möchte Sie net stören«, sagte Sabine. »Aber ich brauch wieder einmal ihren Rat. Es geht um Ralf. Ich hab keine Ahnung, wo er steckt. Er meldet sich einfach net. Ich hab sooft versucht, ihn auf seinem Handy zu erreichen, aber es hat nie geklappt. Und ehe ich zusammen mit Peter nach Wien fahre …« Der Bergpfarrer legte den Spaten weg, wischte sich die erdigen Hände an seiner Gartenschürze ab und trat zu Sabine an den Gartenzaun. Auf seiner Stirn zeigte sich eine tiefe Falte, als er Sabine aus seinen dunklen Augen mit prüfenden Blicken musterte. »Du bleibst also bei Peter?«, fragte er. Es klang irgendwie enttäuscht, was Sabine veranlasste, sofort energisch den Kopf zu schütteln. Sie erklärte dem guten Hirten von St. Johann, was es mit der gemeinsamen Fahrt zur Internationalen Schmuckmesse auf sich hatte und wie der Plan zustande gekommen war. Jetzt sah selbst Pfarrer Trenker ein wenig ratlos drein, obwohl das bei ihm nur sehr selten vorkam. »Ralf Sauter ist nimmer in St. Johann«, erklärte er der völlig verdutzten Sabine. »Er hat seine Zelte in der ›Pension Edelweiß‹ schon abgebrochen und sich auf den Weg zum Münchner Flugplatz gemacht. Von dort fliegt seine Maschine nach Amerika. Eigentlich hätte er noch ein bissel Zeit hier in St. Johann gehabt, aber … Also, ich weiß net, Ralf war ziemlich durcheinander, als er bei mir aufgekreuzt ist und sich verabschiedet hat. Ich hab ihn gefragt, was los ist, doch er wollte net reden. Vielleicht …, vielleicht hat er ja darauf gewartet, dass du ihm eine Antwort auf seinen Antrag gibst. Und als die dann net gekommen ist …« Sabine schaute betroffen drein, doch im nächsten Moment flammte Trotz in ihr auf und ließ ihre blauen Augen blitzen. »Er hätte ja irgendwann einmal auch an sein Handy gehen können«, wehrte sie sich. »Anstatt es schließlich sogar ganz auszuschalten.«
Sebastian Trenker winkte ab. »Das mit dem Handy war eine dumme Geschichte«, sagte er. »Ralf hat es in München verloren. Keine Ahnung, wo. Irgendwann ist dann wahrscheinlich der Akku leer geworden. Deshalb war es zu guter Letzt vollkommen tot. Er hat noch eine Weile gehofft, dass es jemand im Fundbüro abgegeben hat. Aber das war leider net der Fall. Kurz vor seiner Abreise nach Amerika hat Ralf sich dann ein neues gekauft.« »Ach so«, meinte Sabine. Sie kratzte mit ihrer Schuhspitze auf dem Asphalt hin und her, als hoffte sie, etwas zu Tage zu schürfen. Dabei presste sie angespannt ihre Lippen aufeinander. »Also ich weiß net so recht, Herr Pfarrer«, fing sie schließlich wieder an. »Das mit dem Handy ist ja schön und gut. Aber es bleiben immer noch so viele Ungereimtheiten. Warum ist Ralf so lange in München geblieben? Haben die Konferenzen bei seinem Sender denn wirklich so lange gedauert?« »Das hab ich Ralf auch gefragt«, erwiderte Sebastian. »Er hat daraufhin nur geantwortet, er hätte noch etwas Wichtiges erledigen wollen, was sich aber inzwischen erübrigt hat. Was er damit gemeint hat, kann ich mir, ehrlich gesagt, auch net denken.« Sabine seufzte. »Und warum hat Ralf sich bei seiner Rückkehr nach St. Johann net bei mir im Hotel gemeldet? Wenn er schon gewusst hat, dass ich ihn auf dem Handy net erreichen konnte? Nur weil er auf meine Antwort gewartet hat … Nein, das glaub ich einfach net. So ist der Ralf net. Das …« Pfarrer Trenker zuckte die Schultern, doch dann fiel ihm noch Tröstliches für sie ein. »Ich werde in ein paar Tagen, wenn Ralf sich beruhigt hat und nimmer so aufgewühlt ist, noch einmal mit ihm reden«, schlug er vor. »Dann werd ich ihm sagen, dass du bei mir warst. Ralf wird über kurz oder lang ohnehin wieder mit
mir Verbindung aufnehmen, weil er mir versprochen hat, mir seine genaue Adresse in Amerika mitzuteilen. Und einen kleinen Extrabericht von seinem ersten Arbeitseinsatz hat er mir auch zugesagt.« Sabine atmete erleichtert auf. »Das ist wirklich sehr nett von Ihnen, Herr Pfarrer«, bedankte sie sich. Sebastian schüttelte den Kopf. »Das ist ganz einfach selbstverständlich«, spielte er seine Hilfsbereitschaft herunter. »Zumal ich inzwischen den Eindruck gewonnen habe, dass sich wahrscheinlich nix weiter als ein dummes Missverständnis zwischen euch gestellt hat. Und das müssen wir halt ausräumen. An einem Missverständnis darf doch eine Liebe net scheitern.« Sabine griff über den Zaun nach Pfarrer Trenkers Hand, um sie zu drücken, doch er zog sie rasch weg. »Deine liebevollen Gesten sparst du dir besser für deinen Ralf auf, wenn ihr euch wiederseht«, schmunzelte er. Er pflückte ein paar Dolden mit großen roten Johannisbeeren von einem der Büsche in der Nähe und reichte sie Sabine. »Die musst du unbedingt probieren«, sagte er. »Diese Sorte ist eine der besten überhaupt. Und sonnenwarm schmecken sie sowieso mehr als köstlich.« Dem konnte Sabine, als sie die ersten Beeren geschluckt hatte, nur zustimmen. »Da fällt mir noch etwas ein, das dich vielleicht interessieren könnte, Sabine«, sagte Sebastian plötzlich, während Sabine noch eifrig kaute. Er pflückte eine weitere Handvoll Johannisbeeren für sie und reichte sie ihr über den Gartenzaun. »Das Haus, in dem deine Großmutter vor ihrem Umzug ins Altersheim gelebt hat, steht wieder zum Verkauf«, berichtete er. »Unser Bürgermeister, Markus Bruckner, hat es mir kürzlich nach der Gemeinderatssitzung erzählt. Ich hab es zuerst kaum glauben können, aber es ist wirklich wahr.« »Das …, das kann ich auch kaum glauben«, sagte Sabine mit gerunzelter Stirn. »Die Bertrams haben sich in dem Haus doch so wohlgefühlt. Jedenfalls hat mir Frau Bertram versichert, sie sei sehr glücklich. Und sie hat auch so ausgesehen.«
»Ja, den Bertrams hat es in St. Johann in der Tat sehr gut gefallen«, bestätigte der Bergpfarrer. »Aber manchmal schlägt das Schicksal eben seltsame Kapriolen. Herr Bertram ist Meteorologe und arbeitet am Institut für Meteorologie und Klimaforschung in Garmisch. Er ist ein sehr tüchtiger und fähiger Mann. Trotzdem kam die Berufung an die Weltorganisation für Meteorologie in der Schweiz für ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Ein solches Angebot, das nicht nur eine große Ehre, sondern obendrein sehr lukrativ ist, kann man natürlich net ausschlagen. Die Bertrams haben sich sehr darüber gefreut, aber von St. Johann und ihrem neu eingerichteten Haus gehen sie trotzdem ungern. Zumal Frau Bertram ein Baby erwartet und dem ganzen Umzugsstress ein bisschen skeptisch entgegensieht.« Sabine nickte zerstreut. Mit einem Mal kam ihr der Gedanke, wie es wäre, wenn sie selbst Omas Haus kaufen könnte. Sie würde den Garten natürlich wieder so anlegen, wie er früher gewesen war. Und sie würde sich einen Hund anschaffen und ihn Rollo nennen. Sie würde Oma zu sich nehmen, sie würde … Beinahe hätte Sabine über ihre eigenen verrückten Ideen lachen müssen. Was wollte sie denn mit einem Haus in St. Johann! Sie aß noch ein paar von Pfarrer Trenkers Johannisbeeren, dann sagte sie dem Geistlichen Lebewohl. »Wenn Ralf sich bei mir gemeldet hat und ich mit ihm über dich gesprochen hab, melde ich mich bei dir«, versicherte der Bergpfarrer Sabine. Sabine war mit einem Mal voll neuer Hoffnung. Sie bedankte sich ein letztes Mal und ging wieder ihrer Wege. Pfarrer Trenker sah ihr nach, wie sie hinter dem Pfarrhof um die Ecke bog und verschwand. Dann wandte er sich mit einem Seufzer wieder seinem Spaten zu und begann, ihn in die Erde zu treiben.
*
Stumm vor sich hinstarrend, saß Sabine neben Peter auf dem Beifahrersitz seines Wagens. Sie waren auf der Heimfahrt in Richtung München. Vom berühmten weißblauen Himmel war allerdings keine Spur zu entdecken. Der Blick aus dem Seitenfenster, an dem glitzernde Regentropfen herunterliefen, zeigte ein Bild aus fein abgestuften Grautönen. Als ob es nicht Ende August sondern Anfang November wäre. Das Verdeck des hochroten Sportcabrios aus den fünfziger Jahren war geschlossen. Das schützte zwar gegen die Nässe, aber nicht gegen die für die Jahreszeit ungewöhnlich kühle Luft, die ihre Finger durch sämtliche Ritzen des schwarzen Stoffs bohrte. Sabine fror und sehnte sich nach einer warmen Strickjacke. Zu ihrer Stimmung allerdings te das Regenwetter gar nicht so übel. Zwar hatten sich in den letzten Tagen der Wiener Schmuckmesse noch etliche Käufer für ihre Kollektion gefunden, doch selbst darüber hatte sich Sabines Freude in Grenzen gehalten. Nicht zuletzt, weil sie ihre Fantasie und ihr Talent wohl über den grünen Klee gelobt, sie selbst aber immer wieder mit seltsamen Blicken betrachtet hatten. War es Mitleid, was in diesen Blicken lag? Sie hatte Peter darauf angesprochen, aber er hatte nur die Schultern gezuckt. »Das bildest du dir ein. Weshalb in aller Welt solltest du ihnen leidtun?«, war alles, was ihm dazu eingefallen war. Natürlich. Was hätte er auch sagen sollen? In ihr reifte es zur Gewissheit, dass sie damals mit ihrer Vermutung recht gehabt hatte. Champagner ja – Kellnerin – nein! Sie ärgerte sich darüber, dass Peter sie in den Augen der anderen zu einem naiven Gänschen gestempelt hatte, das man im Grunde nur bedauern konnte.
Weil es nicht einmal merkte, wenn es mal betrogen wurde. Aber noch viel schwerer wog, dass Ralf immer noch nicht versucht hatte, mit ihr Verbindung aufzunehmen. Pfarrer Trenker musste doch längst mit ihm gesprochen haben! Sie schien, was die Männer betraf, wirklich nicht gerade vom Glück verfolgt zu sein. Warum eigentlich? Dass sie darauf keine Antwort finden konnte, verwirrte Sabine mehr als alles andere. Schon die ganze Fahrt von Wien nach München hatte sie darüber nachgedacht. »Du bist so schweigsam? Bist du müde?«, erkundigte sich Peter plötzlich. Sabine, die keine Lust auf eine Unterhaltung hatte, nahm die günstige Gelegenheit sofort war. »Ja, ziemlich müde«, gab sie zurück und schloss die Augen, als ob sie einschlafen wollte. Peter sagte nichts mehr und drehte das Autoradio an. Aus Langeweile, wie Sabine annahm. Denn der Verkehrsfunk konnte ihn so kurz vor dem Ziel wohl kaum noch interessieren. Ein paar Minuten lang unterhielt das Autoradio sie und Peter mit einem ziemlich schnulzigen Schlager, dann brach die Musik ab und der Gong ertönte, der die Nachrichten ankündigte. »Hier ist Radio München mit den neuesten Neuigkeiten«, sagte der Sprecher. »Gestern Nacht ist es in Anatolien in der Gegend von Bingöl zu einem schweren Erdbeben gekommen. Es wies die Stärke 6,3 auf der nach oben offenen Richterskala auf. Zahlreiche Gebäude sind eingestürzt oder schwer beschädigt. Es gibt Hunderte von Verletzten. Viele Menschen sind noch vermisst. Die Gefahr von Nachbeben ist sehr groß, und die Erfahrung hat gezeigt, dass sie des Öfteren ebenfalls einen erheblichen Stärkegrad erreichen. Zahlreiche Hilfsorganisationen sind bereits unterwegs in die Türkei. Unser Spendenkonto mit der Nummer …«
Sabine hörte nicht weiter zu. Sie bedauerte die betroffenen Menschen. Vielleicht würde sie in den nächsten Tagen wirklich eine Geldspende überweisen. Aber die war wahrscheinlich sowieso nur ein Tropfen auf einen heißen Stein. Ein bisschen schämte Sabine sich auch für ihre eigene Traurigkeit. Im Vergleich zu den Menschen im Erdbebengebiet ging es ihr schließlich bestens. Und trotzdem schnürte ihr der Kummer fast die Kehle zu. Nicht einmal auf das Wiedersehen mit ihrem Vater konnte sie sich wirklich freuen. Was sollte sie ihm sagen? Dass sie nicht mehr bei Peter bleiben wollte, weil sie sich unsterblich in einen anderen Mann verliebt hatte, der aber leider nichts mehr von ihr wissen wollte? Sabine seufzte schwer. So wie es im Moment aussah, durfte sie ihren Vater nicht mit einer Entlobung vor den Kopf stoßen. Wie sollte es also weitergehen? Sollte sie also ohne wirkliche, wahre Liebe bei Peter bleiben, damit wenigstens ihr Vater mit hoffnungsvollem Blick in die Zukunft schauen konnte? Plötzlich spürte Sabine, wie sich Peters Hand auf ihr Knie legte. Er schien versöhnungsbereit, aber Sabine konnte nicht verhindern, dass sich sogar bei der leisesten Berührung durch ihn ihr ganzer Körper versteifte wie ein Brett. Sie hielt die Augen fest geschlossen und hoffte, dass Peter sie in Ruhe lassen würde. Er tat es allerdings nicht, sondern verstärkte stattdessen seinen Druck. »Aufwachen, Sabine! Aufwachen!«, mahnte er sie. »Wir sind wieder daheim!«
Das war natürlich etwas anderes. Erleichtert öffnete Sabine die Augen. Vor ihr lagen die Eigner’sche Villa am Ortsrand von Grünwald und der parkartige Garten, der sie umschloss, im Nieselregen. Am schmiedeeisernen Einfahrtstor, das bereits sperrangelweit für ihre Ankunft geöffnet worden war, stand ihr Vater mit einem schwarzen Regenschirm. Der Schirm war so riesig, dass eine ganze Familie darunter Platz gehabt hätte. Vielleicht zum einzigen Mal auf der ganzen Fahrt von Wien nach München spielte ein Schmunzeln um Sabines Lippen. Papa konnte manchmal wirklich komisch sein! Ernst Eigner hob und senkte den Schirm ein paarmal, als Peter an ihm vorbeifuhr, und winkte Sabine zu. Sabine drückte ihre Nase am Fenster platt, während ihr Vater scherzhaft einen Versuch unternahm, das Gefährt zu begleiten, aber schon nach wenigen Schritten langsamer wurde und keuchend innehielt. Unwillkürlich fragte sich Sabine, seit wann ihr Vater so kurzatmig war. Trotz seines Alters war er doch immer ein eifriger Jogger und auch sonst sehr sportlich gewesen. Täuschte sie sich, oder war Papa magerer geworden? War seine Gesichtsfarbe wirklich so blass oder ließ die düstergraue Farbe des Regentags sie so seltsam fahl erscheinen? Als Sabine Ernst Eigner schließlich begrüßte und umarmte, bedachte sie ihn immer wieder mit prüfenden Seitenblicken. Und musste feststellen, dass ihr erster Eindruck sie nicht getrogen hatte. Ganz im Gegenteil. Wenn Papa ihr gegenüber auch die alte Herzlichkeit zeigte und sich sichtlich freute, dass sie wieder da war, schien in der kurzen Zeit ihrer Abwesenheit selbst innerlich eine Veränderung mit ihm vorgegangen zu sein. Er wirkte trotz einer
ein wenig aufgesetzt wirkenden Munterkeit gedämpfter, als läge ihm etwas drückend und schwer auf der Seele. Was mochte ihn belasten? Sabine kam nicht dahinter, vergaß aber zumindest fürs Erste ihre Grübeleien, als sie sah, dass Frau Berger, Papas Haushälterin, im Wintergarten der Villa zur Feier ihrer und Peters Ankunft einen wunderschönen festlichen Kaffeetisch gedeckt hatte. Mit Sabines Lieblingstorte und zwei verschiedenen Sorten Obstkuchen: Himbeer und Aprikose. Das Gespräch an der Kaffeetafel drehte sich natürlich fast ausschließlich um die Schmuckmesse in Wien. Peter konnte sich gar nicht genug tun, seinen geschäftlichen Erfolg herauszustreichen. Doch das Lob, das Ernst Eigner seinem designierten Nachfolger angedeihen ließ, fiel diesmal um ein gutes Stück zurückhaltender und auch weniger herzlich aus als gewohnt. Dass Peter nicht wenigstens ein paar Tage zusammen mit Sabine in St. Johann geblieben war, sondern sie alleine zurückgelassen hatte, schien Ernst Eigner stärker zu missfallen, als Peter sich hätte träumen lassen. Jedenfalls wählte er sehr offene Worte, um seinen Unmut darüber zum Ausdruck zu bringen. Unruhig rutschte Peter auf seinem Stuhl hin und her. Woher wusste der alte Fuchs überhaupt davon? Bis jetzt hatten er und Sabine wie in stillem Einverständnis den Mantel des Schweigens über die Sache gebreitet. Konnte es sein, dass Sabine ihren Vater vorab informiert hatte? Dass sie ihm in den Rücken gefallen war und ihn bei ihrem Vater angeschwärzt hatte? Ein wenig mühsam versuchte Peter, seine Entscheidung zu erklären, stieß damit bei seinem zukünftigen Schwiegervater allerdings auf wenig Gegenliebe. Sabine versuchte indessen, ihren Vater abzulenken und zu beschwichtigen.
Haarklein erzählte sie, was die Besucher der Messe an ihren Entwürfen für besonders gelungen gehalten hatten. Und wiederholte dabei sogar eine Reihe von Äußerungen, die sie in ihrer Bescheidenheit eigentlich übertrieben fand und normalerweise nie erwähnt hätte. Ernst Eigner strahlte voller Vaterstolz. Doch schon im nächsten Moment umwölkte sich seine Stirn, und auf seine Miene trat der leicht mitleidige Ausdruck, der Sabine auch schon in Wien bei ihren und Peters gemeinsamen Bekannten aufgefallen war. »Ist irgendetwas geschehen? Hier in München in der Firma? Oder sonst etwas, das sich als nachteilig für uns herausstellen könnte?«, fragte sie ihren Vater. Ernst Eigner überlegte einen Moment. Er sah seine Tochter dabei durchdringend an, schüttelte dann aber energisch den Kopf. »Nein, Madl. Nicht dass ich wüsste«, sagte er und tätschelte Sabine liebevoll die Wange. »Es geht alles seinen gewohnten Gang. Aber wir wollen doch nicht nur über die Geschäfte reden, so erfreulich sie auch gelaufen sind. Erzähl mir doch ein bissel von St. Johann. Wie geht es Oma Gerlinde? Wohnt sie noch in ihrem Häuschen in der Engelsbacher Straße? Und Pfarrer Trenker, von dem du mir bei deiner Rückkehr aus den Ferien immer so viel berichtet hast … Ist er noch Pfarrer in St. Johann? Wandert und klettert er immer noch so gerne?« Sabine wollte ihrem Vater gerne von St. Johann und dem Wachnertal erzählen, aber ihr Hals fühlte sich an, als wäre er von einem dicken Kloß verstopft, der ihr das Reden fast unmöglich machte. Zum einen fragte sie sich, woher ihr Vater von ihrem St. Johanner Aufenthalt wusste. Sie hatte es schließlich bewusst vermieden, ihn davon in Kenntnis zu setzen. Hatte Peter … Sie warf ihm über den Tisch hinweg einen raschen Blick zu, aber seine Miene blieb undurchdringlich. Nur um seine Mundwinkel hatte sie ein leises Zucken bemerkt, das sie sich aber nicht so recht deuten konnte. Trotzdem wagte sie nicht, ihrem Vater mit einer Gegenfrage nach der Quelle
seines Wissens zu antworten. Stattdessen gab sie sich einen Ruck und begann, ihre Neuigkeiten vor Ernst Eigner auszubreiten. »Der Bergpfarrer«, schloss sie ihren Bericht, »hat sich im Übrigen um kein Jota verändert. Er ist net einmal gealtert. Zumindest äußerlich und was seine Sportlichkeit betrifft. Ich bin wieder mit ihm zusammen auf die Kandereralm gestiegen. Es war wirklich ein unvergessliches Erlebnis.« In Erinnerung an den Ausflug huschte sogar ein Lächeln über Sabines Gesicht. Ernst Eigner sah es mit Genugtuung, aber es täuschte ihn nicht darüber hinweg, dass in St. Johann irgendetwas vorgefallen sein musste, was seine Tochter ihm verschweigen wollte. Er kannte doch seine Sabine! Wenn er nur gewusst hätte, was! Dass Oma Gerlinde im Altersheim war, konnte Sabine doch nicht so seltsam befangen machen. »Hast du, während du in St. Johann warst, eigentlich einmal versucht herauszufinden, was aus diesem Ralf …, Ralf Sauter geworden ist, mit dem du als junges Madl immer zusammen warst?«, kam es Ernst Eigner plötzlich in den Sinn. Er hatte die Frage eigentlich mehr zufällig gestellt und sich nicht viel dabei gedacht. Doch als Sabine, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, zusammenzuckte wie unter einem Peitschenhieb, kam ihm auf einmal ein leiser Verdacht. Hatte Sabine Ralf Sauter am Ende wiedergesehen, und … »Ralf Sauter ist Fernsehjournalist geworden. Genauer gesagt, Auslandskorrespondent«, erklärte Sabine, die sich bereits wieder halbwegs in der Gewalt hatte, so sachlich wie möglich. »Net Bergsteiger, wie er es sich früher immer gewünscht hat. Ich …, ich hab ihn sogar wiedergesehen. Er war nämlich zusammen mit Pfarrer Trenker und mir auf der Kandereralm.« Ernst Eigner zog verblüfft die Augenbrauen hoch. »Er verbringt noch immer jedes Jahr seinen Urlaub in St. Johann«, plapperte Sabine indessen bereits weiter. »Dieses Jahr allerdings hat er ihn abgebrochen. Sein Sender, bei dem er erst kurze Zeit angestellt ist, hat ihn nach Amerika
geschickt.« »Vielleicht können wir Ralf Sauter schon bald einmal in der Tagesschau bewundern«, meinte Ernst Eigner. »Tüchtig, tüchtig, kann ich da nur sagen.« Sabine hielt den Blick auf das blütenweiße Tischtuch gesenkt. Nur einmal schaute sie ganz kurz in Peters Richtung und erschrak über das hämische Grinsen, das einen Moment lang sein Gesicht verzerrte. Es verflog allerdings so schnell, dass Sabine sich Sekunden später fragen musste, ob sie sich nicht doch getäuscht hatte. Wenig später verkündete Peter Korte, dass er sich nun zurückziehen wolle. Die lange Fahrt hätte ihn doch ziemlich müde gemacht. Sabine war froh, als Peter fort und sie mit ihrem Vater allein war. Wie früher, als sie noch ein Kind gewesen war. Sie würden es sich abends im Salon gemütlich machen und angesichts der kühlen Außentemperaturen vielleicht sogar ein Feuer im Kamin anzünden. Wenn sie es nur schaffen würde, sich auch alles von der Seele zu reden wie früher. Es hatte das Leben viel einfacher gemacht. Sabine seufzte. Es gab kein Zurück. Nichts mehr war einfach. Alles war anders, alles war kompliziert. Viel zu kompliziert. Alles wuchs ihr langsam, aber sicher über den Kopf.
*
Im Kamin, über dem ein großes Gemälde von den Bergen hing, prasselte ein Feuer. Der Fernseher lief ohne Ton, und aus der Stereoanlage erklang leise Musik. Sabine und ihr Vater hatten jeder ein Glas Wein vor sich stehen, aber keiner von ihnen hatte mehr als höchstens zwei Schlucke getrunken.
Ernst Eigner drehte sichtlich nervös seinen Weinkelch hin und her und warf dazwischen immer wieder einen Blick auf seine Tochter. Sie schien nicht mehr so in Peter Korte verliebt zu sein wie bei ihrer Abreise aus München. Aber hieß das wirklich, dass er Sabine sagen konnte, was er wusste, ohne ihr wehzutun? Würde sie begreifen, dass Peter nicht der Richtige für sie war? Würde sie im Zweifelsfall Peter glauben? Gegen alle Vernunft? Und ihren Vater dafür hassen, dass er versucht hatte, ihr die Augen zu öffnen? Hundertmal hatte Ernst Eigner über das alles nachgedacht. Vor allem in den langen Nächten, in denen er sich unruhig in seinem Bett gewälzt hatte und fast bis zum frühen Morgen wach gelegen war. Klaus Weber, ein Freund aus München, der ebenfalls auf der Messe gewesen war, hatte ihm ziemlich eindeutige Beweise geliefert, dass Peter Korte fast für die ganze Dauer der Schmuckmesse mit einer Geliebten in Wien gewesen war und sogar zusammen mit ihr ein Doppelzimmer im Hotel bewohnt hatte. Klaus hatte Peter und die Geliebte, die, wie er herausgefunden hatte, Larissa Paltrow hieß, bei einem Abendessen in der Hotelhalle beobachtet und war daraufhin der Sache auf den Grund gegangen. Nicht aus Neugier, sondern um sich Gewissheit zu verschaffen und um niemandem Unrecht zu tun. Erst als Klaus Weber sich sicher gewesen war, hatte er Ernst Eigner das Ergebnis seiner Nachforschungen mitgeteilt. Ernst Eigner nahm noch einen Schluck aus seinem Weinglas, dann fasste er sich ein Herz. »Ich muss mit dir reden, Madl«, sagte er mit belegter Stimme. »Weil es so net weitergehen kann. Ich kann net tatenlos zuschauen, wie du in dein Unglück rennst, Sabine.« Sabine horchte auf. Mit angespanntem Gesichtsausdruck wartete sie, was ihr Vater ihr sagen wollte, doch das Gespräch kam nicht zustande. Als Ernst Eigner sah, dass im Fernsehen Bilder von dem Erdbeben in Anatolien gezeigt wurden, beschloss er, seine Eröffnungen um ein weniges zu verschieben.
Er lenkte Sabines Aufmerksamkeit auf den Fernsehschirm, drehte die Stereoanlage ab und den Ton des Fernsehers an. »Die Zahl der Verletzten und Toten hat sich nach einem starken Nachbeben drastisch erhöht«, erklärte der Nachrichtensprecher, der einen schwarzen Anzug mit ebensolcher Krawatte trug, mit ernster Miene. »Die Zahl der Vermissten ist ebenfalls gestiegen. Unter ihnen befindet sich nach neuesten Erkenntnissen auch ein Deutscher: der Fernsehjournalist Ralf Sauter aus Bayern, der im Auftrag seines Senders kurzfristig ins Erdbebengebiet gereist war.« Sabine glaubte, ihr Herz müsste von einer Sekunde auf die andere aufhören zu schlagen. Sie konnte kaum begreifen, dass der Fernseher weiterlief, als wäre nichts gewesen. Fast noch unverständlicher war ihr, dass sie immer noch atmete und lebte. Sie schaute ihren Vater an, dem Entsetzen und Mitleid mit Ralf Sauter ins Gesicht geschrieben standen. Plötzlich konnte sie nicht mehr anders, als sich ihm mit einem heftigen Aufschluchzen an die Brust zu werfen. Wie ein Sturzbach ergossen sich Tränen aus Sabines Augen. Sie war sich sicher, nie mehr mit Weinen aufhören zu können, auch wenn ihr Vater sie noch so liebevoll in die Arme nahm und ihr noch so zärtlich und begütigend über den Rücken strich. Endlich, als Ernst Eigners Hemd schon tropfnass war, verebbte der Tränenstrom. »Du hast Ralf gern. Nein, du liebst ihn«, stellte Ernst Eigner fest. Sabine nickte. Und dann erzählte sie ihrem Vater all das, was sie am Kaffeetisch ausgespart hatte. Bis hin zu Ralfs Heiratsantrag und seinem plötzlichen Verschwinden, bis zu ihrem letzten Gespräch mit Pfarrer Trenker über den Zaun des Pfarrhausgartens hinweg. Als sie geendet hatte, blieb sie stumm an ihren Vater gekuschelt wie in längst vergangenen Kindertagen. Ernst Eigner hatte seiner Tochter aufmerksam zugehört. »Die Sache mit dem verlorenen Handy leuchtet mir ja zur Not noch ein«, sagte er schließlich. »Aber was Ralf Sauter so lange in München gemacht hat, begreife ich wirklich net. Und wieso er so sang- und klanglos abgereist ist, will mir, ehrlich gesagt, noch viel weniger in den Kopf.«
Sabine trocknete den Rest ihrer Tränen. »Wieso hat ihn sein Sender überhaupt in die Türkei geschickt?«, fragte sie nach einer Weile verzweifelt. »Pfarrer Trenker hat mir doch versichert, Ralf sei auf dem Weg nach Amerika.« Ernst Eigner zuckte die Schultern. »Der Sendechef wird angesichts der Katastrophe in Anatolien halt kurzfristig umdisponiert und Ralf zurückgepfiffen haben«, mutmaßte er. »Das ist beim Fernsehen so üblich, nehme ich an.« Gedankenverloren streichelte Ernst Eigner seine Tochter weiter, aber sein Hirn arbeitete währenddessen auf Hochtouren. »Dass Ralf Sauter net einmal Pfarrer Trenker sagen wollte, was los war, ist reichlich seltsam«, überlegte er. »Zumal die beiden doch offenbar ausgezeichnet miteinander können.« Sabine schluchzte. »Ach, lass doch, Papa«, sagte sie. »Wenn Ralf tot ist, ist sowieso alles egal.« »Nein, das ist es net«, widersprach Ernst Eigner. »Und außerdem ist Ralf Sauter vermisst und net tot. Das ist ein großer Unterschied, Madl.« Sabine schaute hoffnungsvoll zu ihrem Vater auf. »Du meinst, dass Ralf noch lebt?«, fragte sie. Ernst Eigner nickte. Und plötzlich sah er aus irgendeinem unerfindlichen Grund wieder den nachmittäglichen Kaffeetisch und Peter Korte vor sich, der bei der Erwähnung von Ralf Sauters Abreise aus St. Johann so unverschämt gegrinst hatte. Ein Verdacht keimte in Ernst Eigner auf, den er nicht mehr los wurde. Hatte am Ende Peter Korte seine Finger im Spiel gehabt? Zumindest hätte Peter, auch wenn er sich eine Geliebte hielt, durchaus ein Motiv, Sabine nicht verlieren
zu wollen: die Firma Eigner. Mit einem Mal fügte sich alles zusammen wie die Teile eines Puzzles. Eine brodelnde Wut kochte in Ernst Eigner hoch. »Ich ruf jetzt Pfarrer Trenker an«, entschied er. »So wie du mir diesen Bergpfarrer geschildert hast, kennt er Gott und die Welt. Und kann jede Menge bewegen. Im Übrigen hat Ralf Sauter vielleicht mit ihm Kontakt aufgenommen, noch ehe er sich beim Fernsehsender zurückmeldet. Es ist zwar nur eine vage Hoffnung, aber besser als gar keine.«
*
Ralf Sauter und Sabine saßen bei eitel Sonnenschein auf der Terrasse des Pfarrhofs und hielten sich so fest umschlungen, als wollten sie einander nie wieder loslassen. Pfarrer Trenker und Sophie Tappert hatten sich zurückgezogen, um die Zweisamkeit der beiden jungen Menschen nicht zu stören. Nur selbst gebackene Butterkekse und Kaffee hatte die Pfarrhaushälterin dagelassen, damit niemand hungern musste. Doch beides stand noch unberührt auf dem Tisch. »Kannst du mir so viel Dummheit verzeihen, Sabine?«, fragte Ralf. Sabine schmiegte sich an ihn. »Ich weiß wirklich net, von welcher Dummheit du redest. Und noch viel weniger, was es da zu verzeihen gäbe«, sagte sie. »Aber ich weiß es«, gab Ralf zurück. »In den bangen Stunden, in denen ich unter den Trümmern meines Hotels in Bingöl verschüttet gelegen bin und net gewusst hab, ob ich es je noch einmal ans helle Sonnenlicht schaffen werde, ist mir auf einmal klar geworden, dass Peter gelogen hat. Unverschämt und dreist gelogen. Alles, was er in der ›Pension Edelweiß‹ zu mir gesagt hat, ist wie ein schlechter Film vor mir abgelaufen. Ob ich eine junge Familie zerstören wolle, hat er mich gefragt. Dann hat er mir erzählt, dass du ein Kind von ihm erwartest. Und aus Torschlusspanik vor den Verpflichtungen von Ehe und Familie davonlaufen wolltest. Einzig aus diesem Grund seist du offen für die Liebelei
mit mir gewesen. Nun aber sei er zurück, und … Es ist kaum zu glauben, doch er hat sogar behauptet, er habe bereits das Aufgebot bestellt. Und ich Dummkopf, ich Trottel, ich … Dass du mich auf meinem neuen Handy nimmer angerufen hast und auch net in meine Pension gekommen bist, hab ich als Beweis genommen. Dabei hätte mir jede Geste und jeder Blick von Peter Korte sagen müssen, dass er ein falsches Spiel treibt. Stattdessen war ich so enttäuscht darüber, dass unser Glück zu Ende sein sollte, noch ehe es richtig begonnen hatte, dass ich von St. Johann und allem, was dazugehört, nix mehr hören und sehen wollte. Pfarrer Trenker einmal ausgenommen. Aber selbst mit dem wollte ich net reden. Ich bin also einfach abgereist. Und mit ein bissel Pech hätten wir uns nimmer wiedergesehen. So ein Fehler wird mir in meinem ganzen Leben nie mehr ieren.« »Natürlich net«, sagte Sabine und küsste Ralf zärtlich. »Ich will vor allem hoffen, dass du dich net wieder in Lebensgefahr bringst. Wenn wir erst verheiratet und eine Familie sind, darf dich dein Sender doch nimmer in gefährliche Gebiete schicken, oder?« »Natürlich net«, gab Ralf zurück. »Aber …, aber heißt das, dass du …, dass du mich wirklich noch heiraten willst?« »Was denn sonst?«, entgegnete Sabine. »Dann machst du mich zum allerglücklichsten Mann der Welt«, jubelte Ralf Sauter. Er küsste Sabine, dass sie fast keine Luft mehr bekam. Im nächsten Moment stutzte er. »Ist das Haus deiner Oma noch zu haben?«, wollte er wissen. »Ich glaub schon«, erwiderte Sabine. »Aber wieso fragst du?« »Weil ich es, als ich in München war, im Vorbeigehen im Fenster eines Maklerbüros gesehen hab«, antwortete Ralf. »Da hab ich mir spontan überlegt, es zu kaufen. Als Hochzeitsgeschenk für dich. Ich wollte meine Eigentumswohnung verkaufen und sie als Anzahlung verwenden. Deshalb hat es mit meiner Rückkehr aus München auch so lange gedauert.« Sabine fiel aus allen Wolken. »Du meinst, wenn wir erst verheiratet sind, sollen wir im Haus meiner Oma leben, in dem wir als Kinder so glücklich waren?«, fragte sie. »Genau«, erwiderte Ralf. »Dort sollen auch unsere Kinder glücklich sein. Und
wir natürlich sowieso.« Sabine strahlte. »Die Summe, die noch fehlt, gibt bestimmt mein Papa drauf«, versprach sie. »Er hat Peter Korte gefeuert und will die Firma noch eine Weile selber führen. Da freut er sich bestimmt, wenn er sich bei uns in St. Johann erholen kann. Und Oma Gerlinde wird erst Augen machen, wenn sie wieder einziehen darf.« Als Pfarrer Trenker wenig später auf die Terrasse zurückkehrte, fand er ein Paar, das sich selig küsste und in den Armen hielt. Er lächelte in sich hinein, bald würde die Hochzeit in der St. Johanner Pfarrkirche folgen. Und gab es für einen Pfarrer denn eine schönere Aufgabe, als einem glücklichen jungen Paar seinen Segen zu erteilen?
– ENDE –
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